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GABRIELA ADAMEŞTEANU

Begegnung

Roman

Aus dem Rumänischen
von
Georg Aescht

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Die Herausgabe dieses Buches erfolgte mit freundlicher
Unterstützung durch das Rumänische Kulturinstitut.

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A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12
Tel. + 43(0)463 370 36, Fax. + 43(0)463 376 35
office@wieser-verlag.com
www.wieser-verlag.com

Copyright © dieser Ausgabe 2018 bei Wieser Verlag GmbH,
Klagenfurt/Celovec
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Josef G. Pichler
ISBN 978-3-99029-287-7
eISBN 978-3-99047-097-8

Meinem Onkel,
dem Archäologen Dinu Adameşteanu,
der, ohne es (von mir) zu wissen,
mein Leben aus der Ferne geprägt hat

Inhalt

Erster Teil Der Abschied

Kapitel 1 Der Weg nach Hause

Kapitel 2 Autobahn nach Rom

Kapitel 3 Besuch bei unserem Akademiemitglied

Kapitel 4 Das Haus, in dem wir alle gefroren haben

Kapitel 5 Seine Geschichte wird nie jemand hören

Kapitel 6 Christas Briefe

Kapitel 7 Die abgelaufene Generation

Zweiter Teil Zu Hause

Kapitel 8 Daniel am Flughafen

Kapitel 9 Die erwartete Generation

Kapitel 10 Der Tod der Penelope

Kapitel 11 Das Leben des unbekannten Traian Manu, I

Kapitel 12 Zwischenbericht

Kapitel 13 Das Leben des unbekannten Traian Manu, II

Kapitel 14 Der Unfall

Kapitel 15 Akte »Wissenschaftler« (1)

Dritter Teil Die Rückkehr

Kapitel 16 Akte »Wissenschaftler« (2)

Kapitel 17 »Auf ewig Verlobte, Ehefrau nie«

Kapitel 18 Akte »Wissenschaftler« (3)

Kapitel 19 Abschiedsgeschenke

Kapitel 20 Rede der Kassandra

Kapitel 21 Vertrauenswürdige Leute

Kapitel 22 Ein Goldjunge

Kapitel 23 Familiensinn

Kapitel 24 Akte »Wissenschaftler« (4)

Kapitel 25 Der misslungene Vortrag

Kapitel 26 Akte »Wissenschaftler« (5)

Kapitel 27 Eine Folge verschiedener Leben

Kapitel 28 Akte »Wissenschaftler« (6)

Kapitel 29 Die Karriere eines Schiffbrüchigen

Kapitel 30 Verhaltenskategorien

Kapitel 31 Ungebüßte Sünden

Kapitel 32 Ein Grufti sein oder nicht sein

Kapitel 33 Verdeckter Offizier mit Diplomatenstatus oder Stipendiat in den Staaten?

Kapitel 34 Der nächtliche Besucher

Erster Teil
Der Abschied

Jeder Exilant ist ein Odysseus auf dem Weg nach Ithaka … Der Weg nach Ithaka ist der Weg zur Mitte. Das alles wusste ich schon lange. Plötzlich geht mir aber auf, dass sich jedem Exilanten die Chance eröffnet, ein Odysseus zu sein (gerade weil er von den »Göttern«, also von den Mächten, die die historischen, irdischen Schicksale entscheiden, verurteilt worden ist).

Damit er sich aber dessen innewird, muss der Exilant imstande sein, zum verborgenen Sinn seiner Irrfahrten vorzudringen und sie als eine lange Reihe (von den »Göttern« gewollter) initiatorischer Versuchungen und als ebenso viele Hindernisse auf dem Weg nach Hause (zur Mitte) zu begreifen.

Das bedeutet: in den alltäglichen Leiden, Erniedrigungen, Entbehrungen verborgene Zeichen, Bedeutungen, Symbole zu sehen.

Sie zu sehen und zu lesen, selbst wenn es sie nicht gibt; denn wenn man sie sieht, kann man in den amorphen Fluss und den monotonen Ablauf der historischen Tatsachen eine Struktur einbringen und darin eine Botschaft lesen.

Mircea Eliade

Kapitel 1
Der Weg nach Hause

War das nicht die Tür des Nebenabteils? Ein Schaffner, wer sonst könnte die Worte dermaßen klar und deutlich aussprechen:

»Guten Tag, Ihre Fahrkarten bitte!«

Du bist angespannt, ja fiebrig, suchst deine Schnappatmung in den Griff zu kriegen. Abgewandt starrst du auf das dunkel schimmernde Fenster, kannst aber die Landschaften, die in der Nacht vorüberjagen, nicht ausmachen, du sitzt in einem Express, einem Intercity.

»Den Fahrschein, bitte!«

Du tastest deine Taschen ab, als wolltest du auf den Gang rauchen gehen, die Leute im Abteil haben ihre Augen auf dich gerichtet, schauen sie? Schauen sie nicht?

»Bonjour, mesdames, messieurs! Vos billets, s’il vous plaît!«

Du erhebst dich lässig von der Sitzbank, musterst dein erstarrtes Gesicht, das dir aus der Leere eines Spiegels entgegenblitzt, ist es deins? Oder auch wieder nicht.

»Your ticket, please!«

Du drückst dich an Mänteln, Jacken, Hüten vorbei, steigst über blankgewichste Schuhe, stets bemüht, nicht draufzutreten, hoffst, dass die reglosen Gesichter hinter den Fenstern, an denen dein Schatten in gleichmäßigem Rhythmus vorüberhuscht, überzeugt sind, dass du zum Speisewagen, zum Bistro, zum Klo gehst, schnell, schneller, immer schneller, immer schneller, immer schneller, immer …

»Den Fahrschein, bitte!«

Die Geschwindigkeit des Zuges lässt dich gegen die Wände prallen, du bist in einem Express, einem TGV, in dem Zug nach Drăgăşani, dritter Klasse, schwarze Rußwölkchen nehmen dir den Atem, und eine Biene summt schon lange um dich herum. Da taucht zwei Schritt vor dir die Uniform des Bahnbeamten auf, mit der Schildmütze des Schaffners, er streckt die Hand aus, will deine Fahrkarte knipsen.

»Good morning, Sir! Your ticket, please!«

Jetzt wird sich eine Falltür unter dir auftun, und du wirst beschämt und verschwitzt nach Erklärungen suchen, die Aussprache, die Deklinationen und Konjugationen durcheinanderbringen und zwischen die rasenden Räder hinunter in die feuchte Finsternis stürzen …

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Welch ein Glück, der Schaffner war nur zwei Schritt entfernt, aber er hat dich nicht gesehen! Was für ein Glück, dass niemand sieht, wie du dich unter einem Haufen Kleidern, schweren Mänteln, Uniformen, Smokings, raschelnden Trenchcoats, weißen Betttüchern, Linnen windest, aus denen Wolken von Motten emporschwirren. Nicht doch, es ist immer noch dieselbe Biene.

»Den Fahrschein, bitte!«

Du bist aus dem Schrank hervorgeschnellt und abgehauen, hinter dir hörst du die Stiefel der Soldaten, deine Pyjamabluse ist offen, deine Wange eingeseift, erst zur Hälfte rasiert. Im Rennen prallst du gegen die Wände mit düster schimmernden Fenstern, du bist in einem TGV, einem Güterzug, einem Intercity, und die fremden Gesichter starren dich gespannt an, du aber lauf, lauf, lauf! Da, ein leeres Abteil, schieb die Tür mit sicherer Hand auf, sag mit aller Bestimmtheit:

»I biglietti, prego!«

Die misstrauischen Gesichter auf dem Gang werden glauben, er hätte das leere Abteil betreten, seine Schildkappe blitzt in der Leere des Spiegels auf, es ist seine Schildmütze, es ist dein Gesicht, schnell, versteck’ dich, aber wo?

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Beruhige dich, es ist derselbe Traum, das hat es schon gegeben, das hast du schon erlebt, aber wo? Du erinnerst dich nicht, wann, du erinnerst dich nicht, wo das war, ach, wie langweilig … Du durchwühlst deine Taschen nach den Blutdrucktabletten, stößt auf Zigaretten, Drops, zerknitterte Blätter, allerdings erkennst du nicht, in welcher Sprache der Vortrag abgefasst ist, noch nicht einmal das Alphabet. Was wirst du der Hörerschaft denn bieten? Das weißt du nicht.

Du bist von deinem Fensterplatz aufgestanden, reinigst ostentativ deine Pfeife, als wolltest du auf den Gang hinaustreten, aber was soll dieses missbilligende Schweigen? Ach ja! Es ist ein Nichtraucherabteil! Du kriechst unter die Bank, kauerst dich zusammen, machst dich klein, immer kleiner zwischen den wirbelnden Rädern. Du kauerst auf allen vieren und hältst den Atem an, dort oben in dem Gepäcknetz, in das du dich geflüchtet hast, siehst den Schatten, der das Fenster verdunkelt.

»Good morning, bitte! Vos billets, mesdames, messieurs, s’il vous plaît!«

Jetzt wird sich die Tür des Abteils auftun und du wirst, zusammengekauert vor Schreck, in die Finsternis stürzen, die von blendenden Lichtkegeln durchfurcht wird.

Oben auf dem Bahnübergang ein Soldat mit schussbereiter Waffe, reglos wie eine Statue.

»Wer bist du? Woher kommst du? Wo willst du hin? Zeig deine Papiere! Antworte!«

Du bist unter einer Bank hervorgeschossen, dein verschrecktes Gesicht blitzt in der Leere eines Spiegels auf.

»Papiere!«, brüllen die Zöllner, die Grenzer, und sie hämmern mit den Gewehrkolben gegen die Abteiltür.

»Papiere! Wer bist du?«

»Wohin fährst du?«

»Was suchst du hier?«

»Red’, oder ich schieße!«

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Nicht erschrecken, ganz ruhig, es ist derselbe lästige Traum, du hast, damit du erwachst, deine weichen Nägel ins weiche Fleisch gegraben, du versuchst, die schlaffe Hand zur Faust zu ballen, aber du bist immer noch da. Was immer du tust, es ist umsonst, du kommst nicht weg, du rennst wie verrückt, da ist die Uniform des Schaffners am Ende des Ganges, darauf rennst du zu wie verrückt, es ist zu spät, ihm den Rücken zu kehren, so zu tun, als hättest du ihn nicht gesehen, er steht zwei Schritt vor dir.

»Die Papiere!«, hörst du in deinem Rücken.

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Wie oft hast du doch so dagestanden auf dem menschenleeren Bahnhof, vor der Weiterfahrt von der Schule, hast mit zitternder Hand über deine feuchten Schläfen und Wangen gestrichen, nur gut, dass du dem Zug voller Schaffner und bewaffneter Soldaten entkommen bist! Verschwänden doch nur auch die blutroten Flecken auf dem feuchten Betonboden und das Sirren, das sich durch deine Schläfen, in deinen Nacken bohrt … Beiläufig lässt du deinen Blick über das rötliche junge Fell schweifen, das sich auf den Schwellen, den Schienen unter dem Zug hinstreckt, wie sehr ähnelt doch dieser Hund, der seinen buschigen Schwanz zwischen die angespannten Hinterläufe geklemmt hat, Federigo, deinem Hund daheim!

»Fede! Fede!«, rufst du, aber der Hund unter dem Zug röchelt und verstummt.

Wessen Spur haben sie aufgenommen? Nicht etwa deine? Du hast dich umgedreht, damit dich nicht etwa die beiden düsteren Soldaten erkennen, die sich verkrampft an ihren Waffen festhalten.

»Die Papiere!«

»Wohin fährst du?!

»Woher kommst du? Deine Papiere!«

»Halt! Halt, oder ich schieße!«

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Hastig gehst du, rennst immer schneller, immer schneller, du spürst, wie der Bahnhof in deinem Rücken immer kleiner wird, die Flecken mit dem Rot frischen Blutes flimmern über dem nebligen Pfad, auf dem du vorwärtsstrebst mit immer weicheren Beinen, die Schuhe nass vom Tau.

Plötzlich ändert sich die Szene, wechseln die Laute, die Farben, das Licht. Das intensive Grün der Tannen zieht sich hinauf zur dunstumwölkten Spitze, darunter das zarte Grün der Almwiesen, strähnige Grasbüschel auf dem lehmigen Pfad trittst du mit den schweren Stiefeln nieder, die dich drücken. Gib acht, dass du nicht ausrutschst! Gib bloß acht …

Wie oft bist du doch hier entlanggegangen, mit immergleichem Schritt, unzählige Füße steigen mit dir die Betontreppen der Brücke hinauf, darunter winden sich drei Rinnsale über rundgeschliffene Steine, Sandzungen lecken daran, auf denen bescheidene Saisonurlauber liegen, weiche bleiche Leiber, die vergeblich darauf warten, dass die Sonne sich zeigt über dieser verschatteten Erde.

Jetzo erreichen wir des tiefen Ozeans Ende,

allda liegt das Land und die Stadt der kimmerischen Männer.

Diese tappen beständig in Nacht und Nebel, und niemals

schauet strahlend auf sie der Gott der leuchtenden Sonne …

Da ist auch die CHEMISCHE REINIGUNG, das Firmenschild an der schmutziggelben Mauer, die aus der sandigen Erde ragt, da sind auch die Bettüberzüge, grobe gelblichweiße Sargtücher, zum Trocknen gehängt, über ihnen schweben schwarze Qualmwolken, die sich auf die Häupter derer herabsenken, die unablässig Reisetaschen, Rucksäcke, Koffer, Säcke, Kerzen, mit Papierblumen geschmückt, große Holzkisten, Särge hinauf und hinunter schleppen. Du keuchst, fährst dir mit zitternder Hand über die schweißnassen Wangen, klammerst dich ans Geländer, wagst es nicht, in die schwindelerregende Leere hinabzusehen aus Angst, du könntest die Betontreppen hinunterrutschen in die kalte Finsternis.

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Gerade weil du den Vers sehr gut kennst, merkst du, dass du ihn verfehlt hast, warum verließest du doch das Licht der Sonne, was aber folgt dann? Deine Bank steht unmittelbar an dem offenen Fenster, der blühende Zweig des Apfelbaums berührt das Fensterbrett, in Trauben hängen flauschige Bienen und rosa Blüten zwischen den grünen Blättchen.

»Komm doch, komm herein«, flüsterst du deiner Biene zu, »komm herein und stich den Herrn Lehrer.«

»Statt dort in deiner Ecke Selbstgespräche zu führen, tritt vor die Klasse und trag vor«, sagt der Herr Lehrer und wappnet sich mit dem Lineal, das er sich vom Lehrerpult schnappt.

Du fürchtest dich nicht vor dem Lineal des Herrn Lehrers, für kleines Geld machst du Übungen in Altgriechisch und Latein für die Schüler höherer Klassen, jetzt aber hast du einen Lapsus und sagst dir deshalb das Gedicht auf dem Weg zum Lehrerpult insgeheim auf, wie kamst du hinab ins nächtliche Dunkel, / da du noch lebst? Denn schwer wird Lebenden, dieses zu schauen. Auf dem petroleumgeschwärzten Bretterfußboden zwischen den beiden Bankreihen flimmern rosarote Flecken unter deinen Schnürstiefeln, es sind die rosaroten Apfelblüten, ein Windhauch hat sie zum Fenster hereingeweht, fieberhaft angespannt gehst du über die blanken Dielen, Vorsicht, nicht ausrutschen, Vorsicht, nicht ausrutschen! Du räusperst dich, glättest dein Gesicht, das in der Leere des offenen Fensters aufblitzt. Ist es dein Gesicht? Eher nicht. Du rezitierst:

Schweifst du jetzo hieher, nachdem du vom troischen Ufer

Mit dem Schiff und den Freunden so lange geirret?

Und kamst du

Noch gen Ithaka nicht … ?

Du verhaspelst dich, das Wort liegt dir auf der Zunge, aber es fällt dir nicht mehr ein, du hast einen Lapsus und deine Zunge ist schwer, hastig greifst du in die Innentasche, wo du die Geldbörse trägst, sie ist leer bis auf eine kleine schwarze, in der Mitte gelochte Münze, mykenisch, assyrisch, ägyptisch, du hältst sie in der geballten Faust, man wird sie dir auf dem Parkplatz abverlangen, wenn du über die Brücke kommst. Du findest die zerknüllten Blätter mit dem Vortragstext nicht, wo du den Fehler suchen könntest, aber, was ein Glück!, der Lehrer ist taub, er hört nichts, auch er ist inzwischen älter geworden.

»Good morning, mesdames, messieurs, vos billets, s’il vous plaît«, intoniert der Herr Lehrer in melodiösem Bassbariton.

Er hat die Schildmütze aufgesetzt und ist hinausgegangen, die Tür hat einen Schlag mit dem Lineal abbekommen. Du sitzt allein im leeren Klassenzimmer, du kannst nicht gehen, ehe du den Vers zusammenkriegst, auch wenn sie dich zu Hause am gedeckten Tisch erwarten.

Ob sie dich wiedererkennen oder nicht wiedererkennen nach all den Jahren, kehrst du doch spät, unglücklich und ohne Gefährten, zur Heimat?

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Da, der Kirchturm im Tal, wenn du bei ihm bist, musst du nur noch über die Straße gehen, dann bist du zu Hause. Was werden die für erstaunte Gesichter machen, was werden sie für Freudenschreie ausstoßen, wenn sie dich sehen! Werden sie dich wiedererkennen? Oder werden sie dich nicht wiedererkennen nach all den Jahren, die du einsam durch nächtliches Dunkel geirrt bist? So viele Jahre sind vergangen, seit du weggegangen bist, wie gestern Abend war’s, dass sie dich zum Bahnhof begleitet haben.

Du versuchst zwischen den alten Zaunlatten hindurchzusehen, stellst dich auf die Zehenspitzen, um einen Blick in den Hof zu erhaschen, aber der Zaun ist zu hoch, und grüne Farbe klebt an deinen Fingerkuppen. Der Zaun ist frisch gestrichen, du selbst hast ihn gestrichen gestern, bevor ihr euch auf den Weg zum Bahnhof gemacht habt. Das Haus ist ziegelrot, die Backsteinmauern sind nicht verputzt, sie haben es nicht zu Ende gebracht, weil die Bank Pleite gemacht hat. Die Banken sind alle verstaatlicht worden. Die Bank hat ihnen keinen Kredit mehr gewährt, weil du von zu Hause abgehauen bist.

Jetzt stehst du unter der Zypresse und fragst dich, ob du den Riegel öffnen sollst. Oder nicht? Da ist der lange Tisch im Hof, gedeckt zum Hochzeitsmahl, zum Taufmahl, zum Totenmahl.

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Wie langweilig, wie herzzerreißend! Wie oft hast du doch schon hier unter dem Pflaumenbaum gestanden, die Hand an der angelehnten Tür, im Begriff, sie aufzustoßen.

Ein Kind mit verschmiertem Gesicht und nacktem Hintern richtet sich hinterm Zaun auf und zieht die Hose hoch, zu wem gehört wohl dieses Kind mit Rotzschlieren im Gesicht, die silbrig glänzen wie die Schleimspur einer Schnecke, an der Sonne getrocknet? Du hast es aus den Augen verloren auf dem Hof voller Bienensummen, voller Sonne, es ist Sommer, es ist Frühjahr …

Und du kennst dieses Kind, das unbehütet aufwächst wie Unkraut, du hast es schon einmal irgendwo gesehen, aber wo? Ach ja! Mutter trug ständig sein Bild in der Handtasche, eine Sepiafotografie mit Kaffee- oder Ölflecken und abgeknickten Ecken.

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Fest trittst du auf, unter deinen harten Schuhen aus rissigem Leder knirscht der Kies, du möchtest, dass sie alle zu dir aufblicken, dich sehen, dir zuhören. Sie sitzen am Tisch, und die Tanne verschattet ihre Gesichter – aber gab es denn eine Tanne? Gab es denn eine Zypresse bei euch auf dem Hof? Die Tanne auf dem Hof bringt Unglück, das weiß man, und Zypressen hast du nur in Rom gesehen.

Dein rissiges, verstaubtes Schuhwerk poltert auf dem Kies, du trittst fest auf, vielleicht bekommst du doch ihre Augen zu sehen, wie sie sich dir zuwenden, damit du zu ihnen sagen kannst: »Schön, euch wiederzusehen! Guten Appetit!«

Ihnen aber ist’s weiter nur ums Essen zu tun, sie sehen dich gar nicht.

Und doch müssen sie gewusst haben, dass du kommst, sonst wären sie nicht alle da. Alle, alle! Sie leben also alle, keiner ist gestorben. Also waren die Briefe, die Telegramme, die Anzeigen alle gelogen! Welch ein Glück, welch eine Erleichterung, mein Gott! Mutter und Vater, da sitzen sie wie immer an der Spitze der Tafel. Wieder und wieder steht Mutter auf, wie sie das immer macht, holt einen Krug Wein oder einen Korb Brot! Also leben sie, sind sie lebendig! Mein Gott, welch ein Wunder, welch ein Glück, wie gut! Alles andere war Lüge, Traum, Einbildung … Alles, was du geglaubt, gelitten hast in diesen Jahren, es erübrigt sich …

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Mit breitem, glücklichem Lächeln trittst du heran, obwohl sie weiter gedämpft miteinander reden, als hätten sie dich nicht gesehen, als hörten sie deine Schritte nicht … Niemand schaut zu dir auf, sie schenken sich nur gegenseitig ein, Wein, Wasser.

Dabei hast du einen so langen Weg zurückgelegt, bist so viele Nächte durch Züge voller Schaffner und Soldaten gehetzt, du bist zu müde, als dass du ihrem Scherz noch etwas abgewinnen könntest. Wenn schon die alle nichts begreifen, dann könnte doch wenigstens diese eine verstehen, wenigstens sie!

»Mutter!«, sprichst du sie leise an.

Aber offenbar hat sie dich nicht gehört, sie ist alt, die Ärmste, ihre Sinne haben nachgelassen.

»Mutter!«

Du versuchst, lauter zu rufen, aber umsonst strapazierst du deine Kehle, deinen angespannten Stimmbändern entringt sich nur ein Keuchen.

»Mutter!«

Du strengst dich an in verzweifeltem Krampf, aber du hörst deine Stimme nicht, auch dein Schatten fällt nicht auf das Gras, sollte denn nicht wenigstens sie sich dir zuwenden? Sollte denn nicht wenigstens sie dich bemerken? Dabei bist du die ganze Nacht aus einem Zug in den andern gehetzt, hast dich unter Sitzbänken verkrochen in Zügen, die von bewaffneten Soldaten bewacht wurden, bist bis hierher gelangt im Schlafanzug, barfuß, mit Schaum im halbrasierten Gesicht! Wie aus einem anderen Leben, aus einem Traum kommt alles hoch, was du erlitten hast auf diesem endlosen Weg, und da sollte noch nicht einmal sie fragen: »Du bist es, mein Lieber?, ausrufen: »Er ist’s! Er ist’s, Herr im Himmel, wie soll ich dir danken, dass ich diesen Tag erleben darf, an dem ich ihn hier unter uns sehe? Komm her zu mir, du mein Liebster, erwarten dich doch so viele Leute schon seit so langer Zeit! Hast du Durst? Hast du Hunger? Bist du müde? Nun sag doch schon was! Gibt es doch nichts …«

Sie aber schweigt. Sie sitzt gekrümmt da, abgewandt, der Schatten der Zypresse bedeckt ihr Gesicht, was kannst du schon anderes tun, als noch einmal zu rufen:

»Mutter!«

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Sie schaut dich verwundert an.

»Was willst du, Fremder?«

Ob du dich so verändert hast, dass nicht einmal sie dich noch erkennen kann?

»Ich bin es, Mutter! Ich bin es, dein Sohn! Wieso nennst du mich Fremder?«

Wie schlecht musst du doch aussehen, dass Mitleid in ihr Gesicht tritt und ihre Stimme plötzlich weich wird:

»Du Ärmster! Wer weiß, wo du herkommst? Wie viel du wohl gelitten hast, wenn du dich nicht einmal mehr an deine Mutter erinnern kannst! Komm, setz dich, nimm ein Glas Wein, ein Stück Brot! Es ist kein Beinbruch, wenn du ein wenig rastest, bevor du weiterziehst!«

»Wohin soll ich denn gehen?«, flüsterst du erschöpft.

»Was heißt denn, wohin? In dein Land, aus dem du gekommen bist! Sieht man doch, dass du nicht unsereins bist …«

»Woran sieht man das?«

»Was heißt denn, woran? Am Gang, an der Kleidung …«

»Lass doch die Scherze, Mutter! Du siehst doch, ich bin müde und mir ist nicht nach Scherzen zumute!«

»Ärmster, du warst wohl im Gefängnis und hast den Verstand verloren nach allem, was du dort durchgemacht hast, wenn du so stur weiter behauptest, ich wäre deine Mutter!«

Nein, sie scherzt nicht! Sie hat dich wirklich nicht erkannt, die Ärmste! Wie hat ihr das Alter doch zugesetzt, wenn sie nicht einmal bemerkt, dass es deine Stimme ist, die da bebt vor Ungeduld, vor Aufregung.

»Wie sonst sollte ich dich denn ansprechen? Ich habe doch nie anders als Mutter zu dir gesagt!«

»Du musst krank sein, sehr krank, du Armer, wenn du noch nicht einmal weißt, ob du wach bist oder träumst, Dinge, die selbst ein Kind weiß! Es ist eine schwere Krankheit, wenn man nicht mehr weiß, wer man ist!«

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»Wer werde ich schon sein? Ich bin’s!«

Sie haben alle ihre Köpfe gehoben, sie sehen dich an.

»Ich bin’s, Herrgott nochmal! Seht ihr denn nicht, dass ich es bin?! Ich, ich, ich!«

Sie schweigen.

»Ich bin’s, euer Sohn, Bruder, Neffe, Onkel, Schwager!«

Die angespannten Gesichter um den Tisch betrachten dich wie durch eine Glasscheibe. Sie lächelt traurig, winkt ab:

»Schön wäre es, wenn du es wärst, das kannst du aber nicht! Wenn du es wärst, dann wärst du nicht hier, bei uns, dann wärst du weit weg! Wenn du es wärst, dann wärst du drüben! So gut wie tot!«

»Schaut mich an!«, rufst du. »Ich bin es immer noch, nur sind sieben Jahre vergangen, vierzehn, zwanzig Jahre, seit ich weg bin! Ich kann nicht mehr aussehen wie auf dem Foto! Ich bin dünner, älter geworden, auch der Weg hierher war lang! Ich bin ungewaschen, ungepflegt, unrasiert, ich habe mich nicht einmal bei Kerzenschein sehen können! Und ich weiß selbst nicht, wie sehr ich mich verändert habe, denn hier bei euch sind alle Spiegel verhangen …«

Wie langweilig, wie herzzerreißend! Wie oft hast du diese immer gleiche Szene schon durchlebt. Sie sitzen schweigend um den gedeckten Tisch, zum Taufmahl, zum Totenmahl, zum Hochzeitsmahl, schweigend, mit verlegenem Grinsen, und du rufst aufgeregt:

»Ich bin’s, nur habe ich ein paar Kilo zugelegt, seit ich von Zigaretten auf Pfeife umgestiegen bin. Aber so dick bin ich nun auch nicht, dass ihr mich nicht wiedererkennt!«

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Sie haben sich von den Stühlen erhoben, wollen auf dich zukommen, tuscheln miteinander, plötzlich schreien sie alle durcheinander, ihre Stimmen überlagern sich.

»Was bist du bloß für einer?«

»Er sagt, er gehört zur Familie!«

»Wo bitte sind deine Koffer?«

»Wenn du er wärst, dann wärst du nicht barfuß und unrasiert zur Hochzeit erschienen!«

»Mit wem will er verwandt sein?«

»Wenn du er wärst, hättest du eine Rolex am Handgelenk und einen dicken Mercedes vor dem Tor!«

»Er ist es nicht, schau mal an, was er für blitzblanke Schuhe hat! Schau an, was für eine teure Jacke!«

»Ein Hochstapler, hört doch auf!«

»Was bist du für einer? Was suchst du hier bei uns?«

»Was bist du bloß für einer, antworte!«

»Psst! Lasst ihn gehen! Seht ihr denn nicht? Der ist von der Securitate!«

»Ein armer Irrer! Wie der ausschaut! Ein armer Irrer, der aus dem Narrenhaus abgehauen ist!«

»Ein gefährlicher Irrer!«

»Gebt acht, ich habe euch gesagt, was das für einer ist!«

»Die haben den hergeschickt, um uns auf die Probe zu stellen! Der will hören, was wir sagen, worüber wir reden, und uns dann verpfeifen!«

»Psst! Wir haben keine Verwandten drüben, Fremder!«

»Wir haben nur einen, der ist schon lange tot!«

»Wir haben seiner gedacht, zum siebten Todesjahr!«

»Zum vierzehnten!«

»Zum einundzwanzigsten!«

»Keiner von den Unsrigen ist abgehauen, keiner hat rübergemacht, versteh das, Fremder!«

»Wir haben keine Verwandten drüben!«

»Wir brauchen nicht aus dem Land zu gehen!«

»Wir sind nie von unserem Hof weggegangen!«

»Gebt acht! Der macht uns was vor, um zu hören, was wir sagen, und uns nachher zu verpfeifen!«

»Ein Hochstapler!«

»Ein Spitzel!«

»Siehst du nicht, dass er seine Augen überall hat? Wie er …«

»Wärst du er, hätte man dich nicht über die Grenze gelassen!«

»Wärst du er, dann würdest du keine Koffer mit kaputtem Reißverschluss und notdürftig mit Bindfaden verschnürt herumschleppen!«

»Wärst du er, wärst du im Donbass gestorben!«

»Bei Stalingrad …«

»Wir haben doch, verdammt nochmal, beschlossen, zu sagen, er sei an der Westfront gestorben, in der Tatra!«

»Hat dich jemand gesehen, Fremder, als du auf unseren Hof gekommen bist?«

»Er soll verschwinden und seiner Wege gehen! Die Leute haben sich an unserem Zaun versammelt wie auf dem Jahrmarkt!«

»Komm schon, gib ihm etwas mit auf den Weg, stell dich nicht so an! Hier, eine Plastiktüte, Äpfel, Brot, nimm, was du kriegen kannst, und geh!«

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Sie haben sich von dir abgewandt, essen in aller Ruhe, schauen starr auf ihre Teller, schenken sich wohlwollend gegenseitig ein, Wein, Wasser.

»Ich bin’s. Einer von euch! Schaut mich doch an«, rufst du ihnen zu, »ich bin euer Sohn, Bruder, Neffe, Vetter! Wir waren doch alle zusammen vor drei Monaten, vor dreißig Jahren. Wir kennen uns aus der Wiege, von klein auf, wir haben im selben Bett geschlafen, aus demselben Topf gegessen, haben dasselbe Mädchen geliebt. Ich habe den ganzen Weg auf mich genommen, euch zu sagen, dass ich, hätte ich gewusst, was ich durchmachen würde, niemals von unserem Hof gegangen wäre! Ich habe nur deshalb den ganzen Weg auf mich genommen, weil ich euch versprochen habe, zurückzukehren, sonst hätte ich diesen Hof nie wieder betreten!«

Du bewegst nur die Lippen. Aus der Kehle dringt ein abgehacktes Röcheln, eine Biene fliegt über dir, und die Zypresse überschattet dein Gesicht. Deine Stimme ist nicht zu hören, und dein Körper wirft keinen Schatten aufs Gras.

Ganz ruhig, es ist nur ein Traum, stets derselbe lästige, langweilige Traum …

Kapitel 2
Autobahn nach Rom

»Aufwachen, Traian! Komm schon, wach auf! Du weißt, Schlaf ist ansteckend! Komm, streng dich an und wach auf! Willst du, dass ich am Steuer einschlafe? Wir sind etwas spät dran, wir haben die Ausfahrt verpasst, aber jetzt halten wir uns rechts, und spätestens in drei Stunden sind wir im Hotel!«

Verstört schlägt er die trüben Augen auf. Würgt. Sein Nacken ist steif, der linke Arm ist taub.

»Du bist gut. Das kann man nicht … Schlaf … nennen …«

Die Zunge klebt ihm am Gaumen, als hätte er die Nacht durchgesoffen.

»Eingenickt bin ich vielleicht, geschlafen habe ich nicht, erzähl mir nichts …«

Das schale Maul des Alters. Er greift nach der Schachtel Tic Tac und legt das frische Bonbon auf die lahme Zunge. Sollte er eingenickt sein, dann nur wegen des blendenden Lichts und der Hitze, die wie glühender Atem durch das offene Fenster hereinweht. Links und rechts der Autobahn Hügel mit silbrig schimmernden Olivenbäumchen und den weißen Flecken uralter Dörfer, die an den Hängen kleben.

»Eingenickt? Von wegen! Richtig gepennt hast du, ich glaube, du hast auch geträumt … Du hast etwas gemurmelt wie immer, wenn du im Schlaf rumänisch redest …«

Ob er noch im Schlaf rumänisch redet, wie Christa meint? Was sagst du, mein Lieber? Was sagst du …? Sag’s auch mir … Red’ lauter … damit auch ich versteh’, was du sagst …

Seit wann redet er nicht mehr rumänisch, wenn er mit einer Frau schläft? Seit wann redet er überhaupt nicht mehr rumänisch? Sind es 45 Jahre? Weniger, mehr? Nur unartikulierte Laute, der Aufschrei aus dem Innersten des Körpers …

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»Kann durchaus sein, dass ich geträumt habe, wieso auch nicht …«

Er gibt klein bei, damit das Thema schnell vom Tisch ist. Was Christa wohl gehört hat? Noch tastet er nach dem Traum, aber er hat die Augen zu schnell aufgeschlagen und dem Licht ausgesetzt, sodass der Film einen Grauschleier bekommen hat. Versengte Papiere, die mit einem trockenen Rascheln zerstäuben, wenn man sie berührt.

»Der Schlaf hat mich übermannt, weil es so heiß ist …«

Er löst den Gurt, in dem er eingeschlafen ist wie ein Pferd in den Sielen, dann zurrt er ihn wieder fest. In nicht fassbaren Fetzen flattert der Traum vor seinen Augen, während die stummen Schreie speichelgetränkt zwischen den steifen Muskeln des Halses, der Zunge verhallen.

Eigentlich erahnt er den Traum, der wiederholt sich, sooft sein Bein schmerzt, sooft er krank ist oder unbequem schläft. Zudem ist er ihm hunderte Male erzählt worden, in allen möglichen Varianten. Er teilt die Albträume des Exilanten mit all jenen, die wie er von der gefährlichen Reise träumen, die einen werden in dem ehemaligen Vaterland festgesetzt und dürfen nicht mehr zurück, die anderen freuen sich, dass sie von Verwandten und Freunden mit Blumen auf dem Bahnhof erwartet werden. Seit er in diesem Land lebt, dessentwillen er gelitten hat, weil er es zu dem eigenen machen wollte, hat er so viele Varianten dieses Traums geträumt, welche aber war die heutige?

»Es ist so heiß, weil du ständig die Klimaanlage ausmachst! Wer fährt schon mit offenem Fenster, wenn es draußen vierzig Grad hat?! Riskieren denn die anderen nicht ebenso eine Hals- oder Nasen- oder Ohrenentzündung oder irgendeine andere Krankheit, die du fürchtest? Wenn du aber moderne Technologien hintertreiben kannst, dann bist du der glücklichste Mensch … Du und dein balkanischer Archaismus …«

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Christa und die moderne Technik! Sie, die einst kein Reagenzglas angerührt hätte, ohne ihn fragend anzublicken – ob das denn auch das richtige ist! Wo wäre Christa, wenn sie auf sich selbst gestellt gewesen wäre, wenn nicht ihre teutonische Hartnäckigkeit sie fast eine Stunde lang vor seiner verschlossenen Tür hätte ausharren lassen, während sie mit dem Hintern fest auf der billigen Leinentasche klebte, die Haut an den Fingernägeln abkaute, eine schlechte Angewohnheit aus Tagen einer stressigen Kindheit, die hochhackigen, aus Bindfäden geflochtenen Sandalen allerdings ordentlich nebeneinandergestellt? Zu jener Zeit sah sie noch aus wie eine anorektische Jugendliche, aber wie unglaublich elastisch war doch ihr Körper, als hätte er gar keine Knochen! Beschämt, weil er die Verabredung vergessen hatte, wollte er sie umfassen, sie aber rollte sich in seinen Armen ein wie eine Katze, barfuß und mit offenem Haar, und so trug er sie zum Bett. Wo hätte er sie auch sonst hintragen sollen, wo doch der Tisch, die Stühle, der Parkettboden voller offener Bücher, Typoskripte, Laborproben, Gläsern mit billigem Wein, gebrauchten Kaffeetassen und vergammelten Brötchen vollstanden? Ihre kleinen, straffen Hinterbacken, die seine Erektion bebend aufnahmen, und der billige Chianti, den er seit fast zehn Jahren in ritueller Regelmäßigkeit mit Vertriebenen wie er selbst in der Trattoria trank, erregten ihn dermaßen, dass er, während er ihr die Kleider vom Leib riss, fieberhaft stammelnd von dem Hochzeitsritual in dem Land erzählte, das er verlassen hatte. Wie der Bräutigam die Braut auf Händen über die Schwelle trägt, weil sie diese nicht betreten darf.

Wieso tat er das? Schmeichelte ihm, dass sich die Erbin einer Familie mit dreihundert Jahre alten Urkunden und Wappen dem Zugereisten, dem Ausländer hingab, oder übermannte ihn nach dem Gelage mit den alten Freunden die Nostalgie und der Wunsch, die Schwelle des Hauses in seinem Cărbuneşti mit einer Braut in den Armen zu überschreiten, welche das auch sein mochte?

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An Ana Maria, die im ehemaligen Land, drüben, geblieben war, und wie er zu ihr hinüberschielte, wenn sie am Klavier übte im Haus Dobrotă, hatte er schon lange aufgehört zu denken: Sie war so gut wie tot.

Und doch war es ihm, als sähe er, während er Christa zum Bett trug und mit der Hand nach ihrem heißen Geschlecht zwischen den schlanken Schenkeln tastete, sich selbst, den von einst, Anton Dobrotăs Nachhilfelehrer für Griechisch und Latein, wie er steif auf dem mit einem rauen Teppich bedeckten Sofa saß, ein Album über Rom aufgeschlagen auf den Knien. Das dünne Seidenpapier raschelte durchdringend, wenn er es von den vergilbten Stichen mit Zypressen und Ruinen löste. Ana Marias Konzerte, die in dem geräumigen Haus vorbereitet wurden, das er zweimal die Woche mit der Vorfreude auf den Kaffee mit Sauerkirschkonfitüre und das Schälchen Mandeln betrat, waren die einzigen Anlässe, zu denen er sich damals, während er Brahms hörte, erlaubte, Zeit zu verschwenden. Schließlich musste er mit Nachhilfestunden zu Geld kommen, die Stufenprüfung fürs Gymnasium schaffen und vielleicht – wieso auch nicht? – auch zu den Huren am Steinernen Kreuz gelangen, denn er war der Einzige in der Klasse, der noch nie einen Fuß dorthin gesetzt hatte. Oder vielleicht der Einzige, der den Mut hatte, das einzugestehen.

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Während er sich finster umsah, mied er den Anblick seines geröteten, griesgrämigen Gesichts in dem riesigen Spiegel mit vergoldetem Rahmen. Sein einziger Ausgehanzug war voller Haare von der rötlichen Katze mit schwerem trächtigem Bauch, die er linkisch zu streicheln versuchte, bis sie, nervös wie das gesamte weibliche Geschlecht, ihn anfauchte oder in aller Stille eine holzige Kralle durch den billigen Stoff bohrte. Von der Brahms’schen Sonate bekam er so gut wie nichts mit, zumindest aber übertönte die Klanglawine das peinliche Grollen seiner Eingeweide, die unter den langen Fastenzeiten mit Kohl und Bohnen in der Kantine des Theologischen Seminars litten. Dabei hatte er ein scharfes Auge auf das schmale, zunehmend erhitzte Gesicht von Ana Maria, entblößt von dem schweren, im Nacken gefassten Haar, und die Umrisse der spitzen Brüste unter der luftigen rosafarbenen Bluse. Ihm erschien es unanständig, wie sie sich sehen ließ, gebeugt über die weißen und schwarzen Tasten, mit besinnungslos zuckenden Muskeln. Er hätte ihren schmächtigen Körper entkleidet und wäre langsam, verzweifelt langsam in sie eingedrungen, bis sie sich fieberhaft aufgebäumt, ihre Muskeln rhythmisch zu zucken begonnen hätten, er hätte mit halboffenen Lidern gelauert, bis ihr immer fremderes Gesicht in schamlos krampfiger Verzerrung die Befreiung angekündigt hätte, wobei sie mit den Ringen um die Augen mit einem Mal gealtert erschienen wäre.

Wie erregt, wie peinlich er dann plötzlich darauf bedacht war, dass die um ihn nicht seinen vorgewölbten Hosenstall bemerkten; ja manchmal, wenn er es nicht mehr ertrug, ging er auf die parfümierte Toilette des Hauses Dobrotă und verschaffte sich, nachdem er die Verriegelung der Tür noch und noch geprüft hatte, Erleichterung. Auf Zehenspitzen kehrte er sodann zurück und dämmerte, erschöpft von schamloser Lust und beschämt ob der unnütz vergeudeten Kraft, dahin, um mit dem Endakkord zu erwachen und mechanisch Beifall zu klatschen.

Der große Kristalllüster strahlte zu heftig, als dass er noch den Mut gehabt hätte, sie aufmerksam zu betrachten, sie drehte sich kindlich behände auf ihrem Klavierstuhl und fuhr sich, noch bevor sie ihre Verbeugung vollführte, mit nervösen Fingern über die geröteten Wangen und prüfte den Knoten der rosaroten Samtschleife, die ihre schwarzglänzenden Haare im Nacken zusammenhielten.

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Sollte er sich an Ana Maria erinnert haben an dem Abend, als er Christa auf Händen über die Schwelle getragen hatte? Sein Kopf war am Morgen danach bei Licht noch viel zu dumpf, als dass er sich hätte erinnern können, der von Christa aber war, wie immer, wach und auf der Lauer.

Als sie aus dem Bad über den Flur kam, während er nach Entschuldigungen für die Unordnung in seinem Zimmer suchte, lachte sie laut auf und erinnerte ihn an sein Gestammel über die archaischen Riten in seinem Land, das sie als Heiratsantrag aufgefasst hatte. Sie ließ ihn aber gar nicht mehr zu sich kommen, sondern sprang ihn flink an, schlug ihre Arme und Beine um ihn, ich bin eine Spinne und habe ein Käferchen in meinem Netz gefangen! oder möchtest du ein Mücklein sein? säuselte sie ihm ins Ohr. Ein unbekanntes Kinderliedchen, oder improvisierte sie? Und mit einer Direktheit, die ihn auch jetzt noch schockiert, gestand sie ihm, dass sie schon an dem Tag, als er zum ersten Mal das Labor betreten hatte, ein Auge auf ihn geworfen hatte. Wobei sie in ihm nicht einen Liebhaber auf Zeit, sondern den Nachfahren von Hermann sah.

Für seine Karriere war das ein gutes Zeichen.

Er hatte immer schon die Meinung derer geteilt, die glauben, dass die Frauen von allem Anfang an nicht nur die Männlichkeit des künftigen Partners, sondern auch dessen gesellschaftlichen Stand abwägen: So treffen sie ihre Wahl, selbst jene, die sich aus überbordendem oder umgewidmetem Mutterinstinkt den Gescheiterten, den Lebenskrüppeln verschreiben.

Das war allerdings bei Christa nicht der Fall, die, bekleidet nur mit einem seiner Hemden, das sie über ihren kleinen, leicht erschlafften Brüsten (sie hatte ja schon zweimal gestillt) schief geknöpft hatte, die Fenster aufriss, ohne sich darum zu kümmern, dass man sie aus dem gegenüberliegenden Dachstübchen sehen konnte, und, während sie die vollen Aschenbecher, die schmutzigen Teller, die ausgeschlagenen Tassen abtrug, schwatzend Pläne zu ihrem künftigen Haus, ihrem künftigen Zusammenleben entwarf.

Er aber lauschte, geschmeichelt, als würde ihm eine Beförderung mitgeteilt: Hatte er damals Christas Beharrlichkeit mit Hingabe und Liebe verwechselt und diese mit seinem Wunsch nach Anerkennung im Adoptivland verbunden?

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»Diese Trennung hat dich umgeworfen, du schläfst unruhig, ich bin sicher, du hast Albträume …«

Er brummt vor sich hin, nein, ja, vielleicht. Darauf hustet er eine Weile, er hat sich an der Tablette verschluckt, dann starrt er unverwandt auf die eintönige, von einem Streifen mit weißem und rosarotem Oleander geteilte Autobahn, die sich windet und hinter dem Auto in den steinigen Hügeln mit verkümmerten Ölbäumen und vielerlei Gesträuch zurückbleibt.

»Ich habe nicht den Anspruch, dass du es mir gegenüber eingestehst, aber gesteh es zumindest dir selbst ein, dass du dich selbst kasteist, seit du dich entschlossen hast, diese Reise anzutreten. Eigentlich sollte elementare Vorsicht dich davon abhalten, solche Risiken einzugehen, selbst wenn es um dein Land geht, das …«

Sein Land? Das Land der buckligen Verwandtschaft, mit dem er nicht in Zusammenhang gebracht werden möchte, weil es ihm peinlich ist? All diese Würdenträger, schmerbäuchige Männer mit Stiernacken und Doppelkinn, mit dunklem, von fettglänzenden Poren durchsetztem Teint und ewig zerknitterten Anzügen, die Freund Alexandru Stan ihm unausgesetzt vorstellen will? Die er noch abstoßender findet, wenn sie den Mund auftun und er hört, wie sie diese kaputte, zur Unkenntlichkeit verstümmelte, vulgäre Sprache sprechen? Was haben sie bloß aus der armen Sprache, was haben sie aus dem armen, seinem ehemaligen, nun verwilderten Land gemacht?

Ihr Land ist es, ihres. Nicht seins. Es ist das Land, das unseres war, aber niemandes mehr ist … Das könnte er Christa antworten, würde er aber weiter auf Ciorans Brief aus Paris an seinen Freund in Rumänien eingehen und erzählen, wie alle, die ihn gelesen hatten, ins Gefängnis gekommen waren, so wäre das nur Wasser auf die Mühlen ihrer Besorgnis. Wie sollte sie beispielsweise begreifen, dass er, obwohl sie diese Sprache dermaßen vulgär verballhornen, wie von einem Magneten angezogen den Ort anpeilt, wo er sie vernimmt?! Er strebt auf die Laute zu, die von irgendwo aus seinem Inneren kommen und die Welt auf der Stelle freundlicher, transparenter werden lassen. Was ist das für eine Sprache, und wieso verstehe ich sie so gut? Wieso bin ich, sobald ich sie höre, plötzlich entspannt? Ist diese Sprache, vielleicht, mein eigentliches Land?

Er aber will sehen, wie ein Rauch aufsteigt über seinem Land, und dann sterben …

Sollten Homer und Christa ihn besser kennen als er sich selbst?

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»Du magst noch so viele Jahre hier gelebt haben, dein Land wird in alle Ewigkeit das bleiben, aus dem du weggegangen bist! Es ist dein Land, selbst wenn du es nicht wiedersiehst, was besser wäre! Das weißt auch du, selbst wenn du mir widersprichst, selbst wenn du schweigst. Nach den vielen Jahren, die wir zusammen sind, errate ich, was sich hinter deinem Schweigen verbirgt …«

Kann sie wirklich erraten, was sein Schweigen verbirgt, wo es ihm selbst doch schwerfiele, es zu sagen? Und sollte sein Land in alle Ewigkeit jenes ferne, von Mutanten besiedelte Gefilde bleiben?! Was haben dann so viele Jahre Arbeit hier, im Adoptivland, gebracht? Was nützen die Ehren, die ihm hier zuteilwerden, der Respekt der Kollegen, die Anerkennung von offizieller Seite, die Zuneigung der Mitarbeiter und Studenten, wenn Christa ihn mit gerade mal zwei Worten – dein Land – zurückschickt in jene wilde, verwilderte Landschaft. Es ist das Land, das unseres war, aber niemandes mehr ist, hat Cioran dem Freund geschrieben, der dafür Stockhiebe auf die Fußsohlen und Jahre schwerer Haft bekommen hat.

»Du glaubst, was du willst, meine Liebe … Aber die, die mir vor einem Monat eine Auszeichnung verliehen haben, die mich in die Akademie berufen haben, die glauben etwas anderes …«

Seine nachgiebige Stimme und die Art und Weise, wie er den Blick durch die Windschutzscheibe nach vorne richtet, ohne noch ein Wort zu sagen, das ist erst die Grundstellung seiner Sturheit. Christa weiß, dass er in der nächsten Phase einen cholerischen Anfall kriegen, brüllen, herumfuchteln könnte. Dennoch lässt sie nicht locker. Sie hakt nach:

»Noch kannst du es dir anders überlegen, du sagst, es geht dir schlecht …«

Christa lässt nicht locker, obwohl sie weiß, dass sie diese Reise nicht mehr verhindern kann, mit ihrer Stimme, die mit zunehmendem Alter immer schriller wird. Älter werden sie beide, sie allerdings schneller als er. Trotz des Familienwappens und des Altersunterschieds zwischen ihnen, trotz der Aerobic-Kurse und Massage-Sitzungen sind ihre Hinterbacken schlaff geworden, ihre Brüste und ihr Bauch hängen herab wie halbleere Säckchen.

Der Leib wird fülliger, dafür der Blick immer selbstgewisser. Wieso? Nur weil sie ihre Augen in dieser Welt aufgetan hat und glaubt, ihre Regeln viel besser zu kennen als er, der von fernher gekommen ist und sie mit Mühe gelernt hat, wie aus dem Lehrbuch? Aber welches ist jeweils die Entfernung, die sie und die er durchmessen haben, um dahin zu gelangen, wo sie jetzt sind? Wohin hat es Christa geschafft, und wohin er, der Zugereiste, der Ausländer, der Fremde?

Wenn ihm solche Gedanken durch den Kopf gehen, fühlt er sich schuldig, als sei sie in diesen Augenblicken Zeugin seiner Unaufrichtigkeit. Er reckt sich im Sitz auf.

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»Ich halte dich nicht von dieser Reise ab! Das könnte ich auch gar nicht! Aber ich warne dich, es ist ein Entschluss, den du bereuen wirst …«

Er mag es nicht, wenn sie am Steuer nervös wird, darum versucht er, die Wogen ihrer Verbitterung zu glätten. Im Autositz zusammengekauert rezitiert er:

» Wieso guckst du so misstrauisch? Kalypso sagt das, meine Liebe, nicht du! Die Nymphe Kalypso! In der ! «