JEFFREY A. CARVER

 

Am Ende der Ewigkeit

 

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

AM ENDE DER EWIGKEIT 

 

Danksagung 

 

ERSTER TEIL 

Prolog: Das Gespensterschiff 

Kapitel 1: Flucht aus der Gesellschaft 

Kapitel 2: Die Untersuchung 

Kapitel 3: Harriet Mahoney 

Kapitel 4: Waffenbrüder 

Kapitel 5: Harriets Methode 

Kapitel 6: Historische Wahrheiten 

Kapitel 7: Der Fandrang-Report 

Kapitel 8: Noch mehr Wahrheiten 

Kapitel 9: Auf zu den Asteroiden 

Kapitel 10: El'ken, der Historiker 

Kapitel 11: Entscheidungen 

Kapitel 12: Das Missionszentrum der Narseil 

Kapitel 13: Es geht los 

 

ZWEITER TEIL 

Prolog: Piratenpatrouille: Freem'n Deutsch 

Kapitel 14: Die Suche der Piraten 

Kapitel 15: Gefangen! 

Kapitel 16: Aus der Asche 

Kapitel 17: Faber Eridani 

Kapitel 18: Begegnungen 

Kapitel 19: Ins Herz der Finsternis 

Kapitel 20: Überfall! 

Kapitel 21: Das Cyber-Gesetz 

Kapitel 22: Außenposten Ivan 

Kapitel 23: Die Wächter 

Kapitel 24: Wiedersehen 

Kapitel 25: Yankee-Zulu/Ivan 

 

DRITTER TEIL 

Prolog: Impris 

Kapitel 26: Faber Eridani: Harriet 

Kapitel 27: Auf der Suche nach der Impris 

Kapitel 28: Gespensterjagd 

Kapitel 29: Der Fliegende Holländer 

Kapitel 30: Das Gespensterschiff 

Kapitel 31: Splitter in der Zeit 

Kapitel 32: Mit vollen Segeln durch den Quantenriss 

Kapitel 33: Gejagt 

 

VIERTER TEIL 

Prolog: Erwachen 

Kapitel 34: Die Zentristen-Connection 

Kapitel 35: Maris 

Kapitel 36: Rückkehr nach Ivan 

Kapitel 37: Abschließende Analyse 

Kapitel 38: Der Gang an die Öffentlichkeit 

Kapitel 39: Rückkehr nach Faber Eridani 

Kapitel 40: Machtspiele 

Kapitel 41: Wieder vereint 

Kapitel 42: Ein neuer Anfang 

 

Das Buch

 

Seit Jahrzehnten ist das riesige Sternenschiff Impris mit fünfhundert Passagieren an Bord in einer bisher unerforschten Region der Galaxis verschollen. Jeder Suchtrupp kehrte ergebnislos zurück. Doch als der Sternenrigger Renwald Legroeder eines Tages mit seinem Geist die mehrdimensionalen Strukturen des Hyperraums durchstreift, macht er eine unfassbare Entdeckung: Die Impris und ihre Besatzung sind dort in einer Zeitschleife gefangen. Wer oder was steckt dahinter?

Mit seinem eigenen Schiff unternimmt Legroeder einen gewagten Rettungsversuch.

Und das größte Abenteuer des Universums beginnt...

 

»Bis ans Ende der Ewigkeit und zurück – Jeffrey A. Carver nimmt seine Leser auf eine Reise mit, wie es sie noch nicht gegeben hat. Dieser Roman ist zweifellos eines der großen Science-Fiction-Werke unserer Zeit.« 

  - Analog

 

»Ein Buch voller Wunder! Zusammen mit Peter Hamilton und Alastair Reynolds setzt Carver die große Tradition von Robert A. Heinlein und Isaac Asimov fort.« 

  - SF Chronicle

Der Autor

 

Jeffrey A. Carver, Jahrgang 1949.

 

Jeffrey Allan Carver ist ein US-amerikanischer Science-Fiction-Autor. Zu seinen bevorzugten Themen gehören nach seiner eigenen Aussage Weltraumreisen, Kontakt mit Außerirdischen, künstliche Intelligenz, transzendente Wirklichkeiten und die moralischen, ethischen und spirituellen Implikationen dieser Möglichkeiten. 

Zu seinen bekanntesten Werken zählen die Chaos-Chroniken, die unter anderem von einer fremden Spezies – den Quarx – handeln, die seit Äonen die unterschiedlichsten Welten vor Katastrophen beschützen, indem sie auf geniale Weise die Prinzipien der Chaos-Theorie anwenden. Bislang sind drei Chaos-Romane erschienen: Neptun kann warten (2003 – engl. Neptune Crossing, 1994), Das Weltenschiff (2003 – engl. Strange Attractors, 1995) und Die leuchtende Stadt (2004 – engl. The Infinite Sea, 1995). 

Darüber hinaus erschienen von Jeffrey A. Carver in deutscher Sprache die Einzelromane Tachyon (1990 – engl. The Infinty Link, 1984) und Die Waffe der Begeisterung (1991 – engl. The Rapture Effect, 1987) sowie die Romanfassung der 2005er Mini-Serie Battlestar Galactica (engl. Battlestar Galactica). 

Sein Roman Am Ende der Ewigkeit (2003 – engl. Eternity's End, 2000) wurde im Jahr 2001 für den Nebula-Award nominiert und zählt – wie auch der Roman Im Hyperraum (2005 – engl. Panglor, 1979, und Dragons In The Stars, 1992) – zum sogenannten Star Rigger-Universum. 

Im Jahre 1995 entwickelte und veranstaltete er die Pädagogische Fernsehserie Science Fiction & Fantasy Writing - eine interaktive Live-Sendung aus Klassenräumen überall in den ganzen USA, die aktuell online verfügbar ist. 

 

Jeffrey A. Carver lebt und arbeitete heute in der Gegend um Boston.  

AM ENDE DER EWIGKEIT

 

 

 

 

 

 

 

Dieses Buch widme ich in Liebe meiner Familie –

Allysen, Alexandra und Julia

 

 

 

 

 

 

 

  Danksagung

 

 

 

An diesem Buch schrieb ich vier Jahre lang, eine Ewigkeit, wie es schien; ein unmögliches Unterfangen. Denen, die mir bei der Entstehung dieses Werkes halfen, schulde ich mehr als das übliche Dankeswort, das sei hiermit öffentlich festgestellt.

Normalerweise erwähnt man in diesem Zusammenhang die eigene Familie am Schluss, aber ich möchte mit dieser Konvention brechen und mich in erster Linie bei meiner Frau Allysen bedanken, ohne deren liebevolle Unterstützung dieses Buch nie zustande gekommen wäre. Dafür und für vieles mehr spreche ich ihr meinen Dank aus. Und begeistertere Fans als meine beiden Töchter kann sich kein Schriftsteller wünschen. Sie verbrachten beinahe so viel Zeit in meinem Arbeitszimmer wie ich, und vermutlich haben sie keine Ahnung, wie sehr mich ihre ständige Anwesenheit inspirierte. (Anmerkung an A. und J.: Ich hoffe, ihr werdet noch viele weitere Jahre über meine Schulter spähen und fragen: »Bist du bald fertig, Daddy?«) Ich danke auch meinem Bruder, Charles S. Carver; er weiß schon, wofür. (Anmerkung: Falls Sie sich mit Personal-, Sozial- oder klinischer Psychologie beschäftigen, kennen Sie vielleicht seine Bücher.)

Als Nächstes danke ich meiner unerschrockenen Autorengruppe, die seit nunmehr zwanzig Jahren existiert! Mary Aldridge, Richard Bowker, Craig Gardner, Victoria Bolles. Dreimal - und mehr! - lasen sie dieses Buch in all seinen unausgegorenen Stadien. Sie halfen mir beim Entwirren etlicher verschlungener Handlungsstränge und beim Ausfeilen der Charaktere; zudem markierten sie die unverständlichen Stellen, damit Sie es nicht zu tun brauchen. Die Fehler und Ungereimtheiten, die sich noch in diesem Buch befinden, gehen einzig und allein auf mein Konto.

Etwaige Unstimmigkeiten dürfen Sie auch nicht meinem Freund und Herausgeber Jim Frenkel anlasten, der langmütig wartete, derweil ich schrieb und immer wieder Änderungen am Text vornahm. Danke, Jim - nicht nur für deine Toleranz, sondern auch dafür, dass du das endgültige Redigieren übernahmst. Und wenn ich schon mal dabei bin, möchte ich mich auch bei Tom Doherty und der Belegschaft von Tor Books bedanken, nicht zuletzt bei meinem Agenten Richard Curtis, die mir ausreichend Zeit ließen, damit ich dieses Buch nicht nur in Ruhe zu Ende schreiben durfte, sondern auch eine ordentliche Arbeit abliefern konnte.

Ein ganz besonderer Dank gebührt Freeman Deutsch und Noel Friedman für ihre großzügigen Beiträge zu den Big Sisters Auktionen. Ich hoffe, ihr freut euch, wenn ihr eure Namen im Roman wiederfindet.

Und zu guter Letzt danke ich Ihnen, meinen Lesern. Ein paar von Ihnen sind neu hinzugekommen; einige warten schon seeehr lange auf dieses Buch. Manche haben mir in den CompuServe und SFF Net Foren geholfen, einen Titel zu finden. Nun, da ist er, und willkommen an Bord! Danke für Ihre Ausdauer, für all die Briefe und E-Mails, die mich zum Durchhalten ermutigten. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel mir diese Anteilnahme bedeutete.

Viel Spaß beim Lesen.

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

 

»Die Zeit ist das bewegte Abbild der Ewigkeit.«

-         Plato 

 

 

  »They who see the Flying Dutchman never, never reach the shore.« 

-         John Boyle O'Reilly 

 

 

 

 

 

 

  Prolog: Das Gespensterschiff

 

 

 

Bänder aus Licht schienen sich wie in Zeitlupe durch die Korridore des Sternenschiffs zu winden.

Die Passagiere und die Crew bewegten sich in lang gezogenen, schwerfälligen Wellen, wenn sie durch das Schiff krochen, um den alltäglichen Beschäftigungen des Lebens nachzugehen - wenn man diese Existenz noch als Leben bezeichnen konnte.

Die Passagiere atmeten, aßen und schliefen; es gab sogar eine gewisse Geselligkeit. Die Crew übte ihre Pflichten aus, kümmerte sich um die Bedürfnisse der Passagiere, reparierte Maschinen und pflegte die behelfsmäßigen hydroponischen Gärten, die die Nahrung für die über fünfhundert Menschen an Bord erzeugten. Auf der Brücke suchten die Rigger nach einem Weg, der das Schiff heimwärts führte; während sie angestrengt in die verwirrenden Nebelschwaden des Flux spähten, fragten sie sich, was, im Namen der Schöpfung, schief gelaufen war. Ihr Dasein bestand aus Langeweile und Bestürzung, ein Zustand, der nur äußerst selten unterbrochen wurde von einer Herzklopfen verursachenden Erregung, wenn sie ein anderes Schiff sichteten... Darauf folgte unweigerlich tiefste Verzweiflung, weil ihre Bemühungen, Kontakt aufzunehmen, stets misslangen.

Es war ein seltsamer und erschreckender Schwebezustand, in dem das Sternenschiff dahindriftete, gefangen in einer rätselhaften Schicht des Flux, außerhalb der »normalen« Regionen des Flux - wobei festzustehen schien, dass es niemals wieder mit seinem Ursprungsuniversum Verbindung aufnehmen konnte. Der Strom der Zeit hatte aufgehört, in einer rationalen oder verständlichen Weise zu fließen. In launischen Wellen rann die Zeit durch das Schiff, und ein zugiger Wind fuhr seufzend durch unsichtbare Spalten in den Mauern der Ewigkeit.

Unter den Passagieren befand sich das Ehepaar Jones, das zwei Tage nach dem Abflug des Schiffs geheiratet hatte. Nun verbrachten sie ihre Zeit, indem sie einander umarmten - doch nicht, wie erwartet, die Wonnen der Liebe genießend, sondern verzweifelt und in ihre Kabine eingekapselt, in der die Zeit durch einen bizarren Trick des Schicksals noch zäher dahinschlich als im übrigen Schiff. Während sie sich in einem stasisähnlichen Zustand umschlungen hielten, gab ihnen das Gefühl körperlicher Nähe zwar keine Hoffnung, jedoch einen gewissen kummervollen Trost.

Ein Deck tiefer, in der Lounge, spielten zwei alte Männer immer noch dieselbe Schachpartie, die sie irgendwann einmal vor vielen Jahren begonnen hatten. Waren sie jemals davon aufgestanden, um zu essen oder zu schlafen? Niemand vermochte sich so recht zu erinnern. Der Captain des Schiffs schien stets in der Nähe zu sein, seine Bewegungen waren schneller als die der Schachspieler, obwohl er keinerlei Spuren von Alterung aufwies. Die Korridore auf und ab stapfend, führte er gemurmelte Selbstgespräche wie ein gepeinigter Ahab der Sterne.

Und in seiner eigenen Kabine starrte der Schneider zum tausendsten Mal auf Nadel und Faden, als hätte er beides soeben erst in seiner Hand entdeckt. In gespenstischer Langsamkeit vollführte er seine Arbeit; ihm war zumute, als sei sein Leben in sich verhärtendem Bernstein eingeschmolzen. Er begriff nicht, was passierte, und hatte seit langem aufgegeben, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Dennoch kreisten selbst beim Nähen seine Gedanken um seine Schwester und ihre Familie. Zu ihrem Heimatplaneten war er unterwegs gewesen, und diese Welt lag nun unerreichbar jenseits des doppelten Abgrundes aus Zeit und Raum. Er hatte die Hoffnung aufgegeben, seine Verwandten je wieder zu sehen, doch er kam nicht umhin sich zu fragen, wie viel Zeit mittlerweile da draußen vergangen war, und ob von den Personen, die er früher gekannt hatte, noch jemand lebte.

Mit einem gedehnten Seufzer zog der Schneider die glänzende Nadel durch die Schulternaht des Jacketts, das er gerade änderte. Die Naht teilte sich und stieß einen Zentimeter weiter nach rechts wieder zusammen. Ein halbes Leben lang begutachtete der Schneider sein Werk... um dann, mit größter Bedächtigkeit, den nächsten Nadelstich einzuleiten.

 

 

 

  Kapitel 1: Flucht aus der Gesellschaft

 

 

 

Renwald Legroeders Blicke huschten hektisch hin und her auf der Suche nach anderen Fluggeräten, derweil er das Scoutschiff von den Raumdocks wegsteuerte. Sein Herz hämmerte vor Furcht. Noch war kein Alarm ausgelöst worden, Gott sei Dank; doch wie lange mochte die Ruhe dauern? Der Fluxreaktor des Scoutschiffs summte, eingeschaltet und startbereit. Auf sein Kommando hin würde sich das Rigger-Netz aufladen; doch zuerst musste er den Außenposten hinter sich lassen.

Achtern türmte sich die Piratenfestung wie eine bedrohliche Gebirgswand auf, als er mit dem winzigen Schiff ablegte. Die gigantische, bösartige Konstruktion der Raumdocks versperrte ihm größtenteils die Sicht auf den Great Barrier Nebel, der sich hinter ihm durch die Leere des Alls erstreckte. Er fühlte sich schrecklich allein.

Er schaltete das Intercom ein. »Maris - wenn du mich hören kannst, wir sind von den Docks weg!« Sie konnte nicht antworten, ihn vermutlich nicht einmal hören. Außer ihm befand sich nur noch Maris an Bord - sie hatte als Einzige den Mut besessen, mit ihm zu fliehen.

Mut - oder Wahnsinn? Lass dich nicht ablenken. Ich muss an meinen Platz...

Er stemmte sich aus dem Pilotensitz und kletterte in die Rigger-Station; mit einem heftigen Ruck zerrte er die an der Decke angebrachten sekundären Steuerkontrollen in die richtige Position. Behutsam stahl sich das Scoutschiff durch den Abflugsbereich; er wagte es nicht, das Tempo zu erhöhen. Nur keine Aufmerksamkeit erregen.

Hatte man sie schon entdeckt?

Sie hatten nur dann eine Chance, wenn sie unbemerkt blieben. Jedes einzelne Schiff von dem Dutzend, das die Piratenflotte ausmachte, konnte ihn im Nu zerstören. Gleich außerhalb der Andockzone flitzte er mit mehr Schub auf die innere Marke zu. Vorsichtig! Am liebsten wäre er mit voller Kraft losgedüst... einfach davongesprintet... Nur die Ruhe bewahren, das übliche Flugmuster beibehalten, damit ja keiner misstrauisch wird... 

Seit der Schießerei mit den Wachen in den Wartungsdocks waren ungefähr zehn Minuten verstrichen. Es musste ein Wunder geschehen, wenn sie lebend aus dieser Gegend des Weltalls und aus der Gefangenschaft der Piraten entkommen wollten.

Vielleicht war Maris jetzt schon tot. Er riskierte einen Blick, indem er einen Monitor in der Krankenstation einschaltete. Maris lag in der Medi-Zelle, die Augen geschlossen, die Arme auf der Brust verschränkt. Neutraser-Verbrennungen verliefen über ihren Hals und die Schulter. Auf dem Bildschirm flimmerten Signale ihrer Lebenszeichen... akuter Schock, neurales Versagen steht kurz bevor... Er hatte das Dämpfungsfeld aktiviert; mehr konnte er nicht tun.

Aus der Komm-Einheit schmetterte ein Befehl und riss ihn aus seinen Betrachtungen, »SCOUT-SECHS-NEUNER-SIEBEN. VERIFIZIEREN SIE IHRE STARTFREIGABE.«

Er hielt die Luft an, als er die Lautstärke herunterdrehte. Zögernd schaltete er das Mikrofon ein, derweil die Abflugkontrolle durch das statische Rauschen die Anfrage wiederholte. Jede Sekunde brachte ihn ein wenig weiter weg. Vielleicht konnte er noch mehr Zeit herausschinden, indem er Verwirrung stiftete.

Er atmete tief durch. »Abflugkontrolle, Scout Sechs-Neuner-Sieben, dies ist ein Rettungseinsatz Bravo Elf Alfa. Halten Sie mich bitte nicht auf - ich antworte auf einen Notruf aus Sektor...«

Achtern explodierte ein greller Blitz, und er verstummte mitten im Satz. In der zentralen Dockregion flammte eine Reihe von Lichtern auf, und mindestens ein großes Schiff legte ab. Um die Verfolgung aufzunehmen? Hastig führte er einen Scan durch. An drei taktisch relevanten Positionen wurden Waffenphalangen gefechtsbereit gemacht.

»SCOUT-SECHS-NEUNER-SIEBEN, KEHREN SIE SOFORT UM. VON EINEM RETTUNGSEINSATZ IST HIER NICHTS BEKANNT. SCHALTEN SIE IHRE MOTOREN AB! BEREITEN SIE SICH FÜR EINE INSPEKTION VOR! ICH WIEDERHOLE...«

Legroeder fluchte, schloss kurz die Augen und zündete die Fusionstriebwerke.

Das Scoutschiff schoss an den Merkbojen vorbei und sauste quer über Flugschneisen hinweg, einen Plasmaschweif hinter sich herziehend. Bug- und Achterscan... Die Waffenbänke der Station eröffneten das Feuer; Neutraser-Entladungen blühten glitzernd vor dem schwarzen Hintergrund des Universums auf. Er vollführte einen Schwenk, der ihn weit aus der Abflugschneise fortbrachte, und schlug eine Richtung ein, in der sie ihn am wenigsten vermuteten. Stattdessen steuerte er das Eindämmungsfeld an, das den Flugkanal sicherte, pure Energie und räumliche Verzerrungen. Ein Neutraser-Strahl flackerte über seinen Bildschirm.

Halt dich gut fest, Maris!

Eine weitere Neutraser-Salve traf seinen Backbord-Sensor und blendete ihn vorübergehend. Er steuerte nach links, dann ging er in einen Sturzflug und drehte nach rechts ab. Das Schiff taumelte, als es gegen das Schutzfeld prallte. Die Hülle bebte heftig, und beinahe verlor er die Kontrolle. Dann hatte er das Feld passiert und befand sich in der Todeszone, die die Abflugkorridore umgab.

Plasmawolken wirbelten über den Bug. Dieser Ort hieß nicht ohne Grund so. Die Raumverzerrungen machten ein Hindurchmanövrieren fast unmöglich. Aber - wenn er es schaffte - hätte er seine Verfolger abgeschüttelt.

Eine Neutraser-Entladung durchdrang das Feld und umkreiste gespenstisch das Schiff. Sein Bildschirm und die Konsole glühten im Elmsfeuer. Er konnte nicht länger warten. Entschlossen schaltete er die Steuerkontrollen ab, holte tief Luft und schloss die Augen. Auf sein stummes Kommando hin blähte sich das Rigger-Netz hinaus in den Raum, ein schimmerndes sensorisches Gespinst. Aus der Komm-Einheit schnappte er ein paar Wortfetzen auf. »...In die Zone abgetaucht... muss total verrückt sein...!« 

Alsdann streckte er die Arme in das Netz, spreizte sie ab wie Tragflächen an einem Flugzeug und ging mit dem Schiff in eine Kurve, die ihn aus dem Hexenkessel des Normalraums hinaus und in das Chaos des Flux hinein führte.

 

*

 

Der Flux der Sternen-Rigger: eine Sphäre mit einer hohen Anzahl von Dimensionen, in der sich Wirklichkeit und Phantasie auf sonderbare Weise vermischten und Seelenlandschaften mit der realen Stofflichkeit des Raums Verbindungen eingingen. Und der Raum selbst befand sich in ständigem Fluss und Bewegung. Hier vermochte ein Rigger mit einem einzigen Sprung Lichtjahre zu überbrücken, doch genauso schnell konnte er in den Tod stürzen.

Legroeder flog durch einen Gewittersturm; Scherwinde und Blitze attackierten das Schiff. Seine Sinne erstreckten sich durch das Netz in den Flux, wie wenn sein Kopf und Torso den Bugspriet des Schiffs verkörperten. Seine Arme umfingen den Sturm, während verwirbelte Nebelschwaden durch seine Finger strömten. In seiner Phantasie erzeugte er das einzige Bild, das ihm einfiel: ein Flugzeug mit Flossenstummeln, das sich durch Kumulonimbus-Wolken kämpfte und sich hartnäckig weigerte aufzugeben.

Verbissen pflügte sich das Schiff voran. Es war schwer, in diesen Turbulenzen den Kurs zu halten, doch er musste es schaffen, wenn er die Todeszone durchqueren wollte. Überall hatten die Piraten Minen ausgestreut, ein im Grunde überflüssiges Unterfangen; diese Gegend war ein natürliches Minenfeld. Alles war verzerrt und verdreht, angefangen vom Normalraum bis zum Flux. Ein fragmentarisches Überbleibsel eines urtümlichen Gewaltausbruchs der Schöpfung; der ideale Schlupfwinkel für Piraten. Nur ein Irrer würde das versuchen, was Legroeder gerade tat...

Er meisterte eine Anwandlung von Panik, während Scherwinde ihn hin und her schleuderten. Wieso hatte er geglaubt, er könnte diese Herausforderung bewältigen? Es ist unmöglich! 

Sowie ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoss, verschlimmerten sich die Turbulenzen. Er kannte den Grund und bemühte sich, die Selbstbeherrschung wiederzufinden. Sein Gemütszustand vermochte den Flux auf fatale Weise zu beeinflussen; er durfte sich keine Angst oder Hysterie erlauben.

Ruhig bleiben!

Er atmete langsam und tief durch und trachtete danach, das Bild von neuem zu erzeugen. Ich muss das Schiff fliegen. Was auch geschehen mag, alles ist besser, als bei den Piraten zu sein.

Was lag noch vor ihnen? Minen. Tückische Untiefen. Schiffswracks. Aber wo? Wechsle das Bild: mach es transparent. Leichter gesagt als getan. Die Energieströme, die sich vor ihm zu Strudeln verdichteten, erschwerten eine Umorientierung. Er blinzelte einmal, um den Kontrast zu verstärken, und nun gewahrte er in der Ferne dunkle Flecken, die sich gegen die glühenden Sturmwirbel abhoben. Verlassene Schiffe? Er konnte es nicht erkennen.

Wumm!

An Backbord breitete sich ein weißer Glast aus. Eine Mine explodierte. Er vollführte eine harte Wende, um das Schiff zu retten. Sein Herz raste. Die Explosion hatte eine Schneise durch den Sturm gerissen, ein schattiger Tunnel streckte sich durch die Wolken. Ein Durchlass? Bald würde sich die Lücke wieder schließen. Er flog eine Schleife und scannte nach Verfolgern. Nichts. Vielleicht hielten sie ihn für tot. Los jetzt – los! Die Strömungen waren gefährlich; er musste mit den Armen rudern, um das Schiff hindurchzubringen.

Als er das Schiff in eine Kurve brachte und in den Tunnel hineinfädelte, schienen die Windverhältnisse günstig zu sein - doch sogleich bemerkte er seinen Irrtum. Eine Falle. Er wendete und flog zurück in die Strömung. Jetzt war der Sog zu stark - er zog ihn in die Passage. Fluchend ließ er die Fusionstriebwerke an - im Flux ein riskantes Manöver! - und erhöhte den Schub, bis er an der Öffnung vorbeisauste. In diesem Augenblick schnürte sich die Passage zusammen, um gleich darauf einen gewaltigen Feuerstoß auszurülpsen. Die Druckwelle traf auf die Kante seiner Tragfläche und schleuderte ihn kopfüber.

Rings um ihn her quirlten und stoben die Wolken. Nachdem er das Schiff stabilisieren konnte, hatte er völlig die Orientierung verloren. Er spürte, wie er in Panik geriet.

Dann hörte er in seinem Kopf eine leise, ferne Stimme. Du musst deinen ruhenden Pol wiederfinden... gelassen bleiben. Legroeder, du schaffst es. Immerhin warst du mein Lehrer, oder? 

Sein Herz setzte ein paar Takte aus, als er die Stimme erkannte; es war sein alter Schiffskamerad Gev Carlyle, und er klang so deutlich, als stünde er hinter ihm und peilte über seine Schulter. Den ruhenden Pol in sich selbst finden... gelassen bleiben... wie oft hatte er diese Ermahnungen ausgesprochen, als der junge Carlyle gegen seine Ängste und Instinkte anzukämpfen versuchte.

Den ruhenden Pol finden...

Das Schiff tanzte und schlingerte durch die Sturmwolken wie ein Holzstück auf einer wütenden See. Abermals schöpfte er tief Atem und richtete seine Gedanken nach innen. Nachdem er seinen Geist auf einen einzigen Punkt konzentriert hatte, öffnete er sich wieder nach außen - und für einen kurzen Moment verdünnten sich die Wolken zu einer leuchtenden, transparenten Schicht. Noch einmal holte er Luft. Sich konzentrieren, läutern... auf die Intuition warten...

Einen Augenblick lang glaubte er, die körperliche Anwesenheit seines alten Freundes zu spüren. Das Gefühl war so übermächtig, dass es seine Angst noch ein bisschen mehr dämpfte, und sofort nahmen die Sturmwolken eine hellere Färbung an. Durch die Mäander und Wirbel der hastig dahinfließenden Strömungen entdeckte er einen Weg: im Flux erschien eine Falte, und eine Strömung glitt mittendurch...

 

*

 

Die Flucht ging so schnell, dass Legroeder kaum Zeit zum Nachdenken fand. Sieben Jahre lang, seit seiner Gefangennahme, hatte er auf diese Chance gelauert. Aber die Bewachung war zu streng, die Festung uneinnehmbar und Lichtjahre von jeder bewohnten Gegend entfernt. Noch nie war jemand lebend von hier entkommen; so hieß es jedenfalls. Alle sagten es; alle glaubten es. Ein paar hatten einen Ausbruch versucht: jetzt waren sie tot oder wurden in abgeschiedenen Verliesen gefoltert.

Und dennoch... selbst wenn er als Pilot ihre Piratenschiffe flog und nichts ahnenden Schiffen in der Wildnis des Golen Space auflauerte, selbst als er für die Korsaren gearbeitet hatte, um am Leben zu bleiben, ließ seine Aufmerksamkeit niemals nach; unentwegt heckte er Pläne aus, bereit, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu fliehen.

Er wagte es nicht, die anderen Gefangenen in sein Vertrauen zu ziehen. Doch er spürte, dass Maris genauso dachte wie er. Ihm war es bei den Piraten schlecht ergangen, doch ihr Los war noch entsetzlicher. Ihn hatte man wenigstens nicht vergewaltigt und missbraucht, als man ihn zwang, sich den Freibeutern anzuschließen. Maris war eine hartgesottene Frauensperson, und sie hatte eine Stinkwut im Bauch. Er betrachtete sie als eine Freundin, die er noch nicht gut genug kannte.

Als sich dann endlich die Möglichkeit zur Flucht ergab, musste er binnen Sekunden eine Entscheidung treffen. Sie kamen gerade von Wartungsarbeiten an einem Schiff in den Außendocks zurück - Jolly, Lumo, Maris und Legroeder - als ein Flux- Kondensator in der Hauptandockrampe explodierte und eine Fontäne brennenden Plasmas ausspie. Zwei Wachen, die von dem Strahl getroffen wurden, stürzten zu Boden. Mehrere andere Arbeiter halfen, die Verletzten zu bergen und ließen zwei Aufpasser für vier Gefangene zurück. Durch den Dunstschleier des ausströmenden Plasmas erspähte Legroeder unter einer Konsole eine Faustfeuerwaffe, die jemand aus der Hand gefallen war. Er sah Maris an, die erstarrte, als sie die Waffe auch entdeckte.

Legroeder dachte fieberhaft nach. Die übrigen Wachen waren mit dem Plasmaleck beschäftigt, und hinter Legroeder und den anderen Gefangenen, lediglich einen kurzen Korridor hinunter, lag angedockt ein kleines Schiff mit geöffneten Luftschleusen. Seine Crew hatte es gerade durchgecheckt; es war abflugbereit.

Maris und er schauten sich an; beide entfernten sich verstohlen von der Stelle, wo die Wachen brüllend herumfuhrwerkten und versuchten, die Plasmaentladung zu stoppen. Maris zuckte die Achseln; Legroeder fasste die Geste als Frage auf. Er deutete ein Nicken an. Er fasste Jolly und Lumo ins Auge, die ein wenig abseits herumlungerten und den Plasmastrom beobachteten.

Keiner von beiden wäre eine Hilfe. Als er wieder zu Maris hinsah, pirschte sie sich vorsichtig an die Waffe heran.

Schließlich fiel es einem der Bewacher auf. »Heh, was machst du da?«, schrie er und riss sein Neutraser-Gewehr von der Schulter. Die Plasmawolke behinderte seine Sicht, doch ein Schuss würde hindurchgehen.

Legroeder stieß einen Warnschrei aus.

Maris bückte sich nach der Waffe.

Eine Neutraser-Salve krachte. Maris schrie vor Schmerzen und taumelte verwundet zurück. Trotz ihrer Verletzung erwiderte sie das Feuer; in geduckter Haltung schoss sie dreimal. Ein schrilles Kreischen verriet Legroeder, dass sie einen der Aufseher getroffen hatte. Sie ließ die Waffe fallen und wankte.

Legroeder hob die Waffe auf und packte Maris beim Arm. Der zweite Wächter huschte an dem versiegenden Plasmastrahl vorbei. Legroeder zielte und drückte ab. Aus der Mündung fauchte ein Blitz: der Wachmann torkelte rückwärts. Jolly und Lumo pressten sich gegen die Wand, verblüfft und sprachlos. »Kommt ihr mit uns?«, brüllte Legroeder.

Jolly schüttelte den Kopf. Lumo war starr vor Schreck.

Legroeder tippte hastig ein paar Befehle in das Komm-Panel der Wachen. »Wagt ja nicht, uns aufzuhalten!«

Jolly nickte verängstigt.

»Dann mal los!«, knurrte Legroeder und versuchte, Maris mit seiner Schulter zu stützen.

»Okay«, keuchte sie. »Dann mal los!« Ihr Gesicht war schmerzverzerrt, doch sie stolperte bereits in Richtung Luftschleuse.

Er brauchte ungefähr fünf Minuten, um sie beide in das Scoutschiff zu verfrachten, die Luftschleuse zu verriegeln, Maris in der Medi-Zelle unterzubringen und Energie auf die Brücke zu leiten.

Eine Ewigkeit.

 

*

 

Das Scoutschiff flitzte aus der Todeszone wie ein Fisch durch ein zerrissenes Netz. Legroeder steuerte wie ein Wahnsinniger, auf der Suche nach Strömungen, die vom Außenposten der Piraten wegführten. Eine Gefahr hatten sie überwunden, doch sie waren noch lange nicht in Sicherheit.

Barooooom!

Das Schiff schüttelte sich heftig.

Im Flug suchte er nach dem Ursprung der Explosion. Die karmesinroten und orangefarbenen Wolken des Flux wogten vorbei wie schäumende Brandung, die vom Bug eines Unterseeboots durchschnitten wird. Aber er musste schnell sein und manövrierfähig bleiben. In Gedanken verwandelte er das Abbild eines stummelflügeligen Flugzeugs in einen rasanten, schnittigen Düsenjäger, der wie ein Pfeil durch die Nebelwolken schoss. Er schwenkte nach links und zog die Maschine hoch, dann drehte er rechts ab und ging in einen gewagten Sinkflug. Falls man ihn im Visier hatte, wollte er ein möglichst schwer zu treffendes Ziel abgeben. Sie waren wieder in der Hauptflugschneise, halbwegs auf einem Kurs, den auch ein Piratenschiff beim Verlassen dieser Zone nehmen würde. Wenn ihn die Piraten immer noch verfolgten...

Barooooom!

An Backbord zuckten Blitze durch die Wolken, und Legroeder musste in einer engen Kurve ausweichen. Drei Piratenschiffe brachen durch den Nebel und nahmen die Jagd auf. Zur Hölle! dachte er. Sie hatten hier gelauert, um zu sehen, ob er die Todeszone bezwang. Er war verdammt sicher, dass sie überrascht waren.

Sein Schiff drehte eine Korkenzieherrolle und sauste in steilem Winkel nach unten, wobei es kurz abschmierte. Über die Hauptroute würden sie es nie schaffen - womit ihnen ein einziger Ausweg blieb.

Maris!, brüllte er ins Intercom. Wir fliegen durch den Kamin raus. Wenn du mich hören kannst, halt dich fest! 

Ihm stülpte sich der Magen um, doch er ignorierte das Gefühl und ließ das Schiff schlingernd nach unten sacken. Dann fing er es ab und zog es steil hoch, um einen Blick auf seine Verfolger zu werfen. Die waren nicht ganz so verzweifelt wie er - oder verrückt - und flogen einen weiteren Bogen. Sie feuerten auf ihn, bewirkten jedoch nur, dass sich Lichtreflexe in den Wolken spiegelten. Legroeder vollführte im Rückenflug eine ganze Rolle, damit er die Wolkenschichten »darunter« inspizieren konnte, und endlich erspähte er eine verschattete Region, die die Öffnung des Kamins anzeigte, eine so schmale und riskante Passage, dass man ihr die Bezeichnung »Narrenloch« verliehen hatte. Er streckte sich in das längste und schnellste Kampfflugzeug, das er sich vorstellen konnte, und zielte geradewegs nach unten in die trübe Finsternis des Kamins.

Plötzlich brandeten Energiewellen gegen das Netz, kehr um! KEHR UM, ODER DU WIRST STERBEN!... STERBEN!... STERBEN! Die Piraten sendeten die Nachricht in den Flux.

Wuchtige Schläge wie das Dröhnen einer Kesselpauke aus Stahl schienen direkt aus dem Kamin zu hallen, wurden als Echo von der im Flux wirbelnden Materie zurückgeworfen und fingen sich in dem Rigger-Netz, sodass es ihm vorkam, als säße er in einer Trommel. Legroeder kannte die Quelle dieses donnernden Getöses, er kannte sie sogar sehr gut - hatte er sie doch selbst gegen andere eingesetzt - doch obwohl er wusste, dass es sich bloß um einen Trick handelte, um Furcht einzuflößen, fühlte er sich verunsichert. Er stand wirklich im Begriff, eine Wahnsinnstat zu begehen.

DU WIRST STERBEN... STERBEN... STERBEN...

Vor dem Lärm gab es kein Entrinnen. Er konnte nur versuchen, ihn nicht zu beachten und seine Angst nicht überhand nehmen zu lassen.

Eine tiefe, finstere Spalte öffnete sich in den unter ihm liegenden Wolken. Dort hinein musste er fliegen - und seine letzten Bedenken wurden ausgeräumt, als hinter ihm Neutraserfeuer aufflackerte und Flux-Torpedos explodierten. Er sog scharf die Luft ein und tauchte hinab in die Öffnung. In den Kamin. Von diesem Augenblick an existierten seine Verfolger für ihn nicht mehr. Um sie brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen. Wenn sie so dumm waren, ihm hinterher zu fliegen, kamen sie vielleicht allesamt ums Leben...

STERBEN... STERBEN... STERBEN...

Jähe Dunkelheit umfing ihn - die Mitternacht des Kamins. Lichtfunken tanzten durch die Wolkenbänke vor dem Bug. Tödliche Flux-Abszesse oder andere Fallen, die ihnen ein entsetzliches Ende bescherten.

Er blickte zurück. Verdammt! Sie waren immer noch hinter ihnen her. Keine Zeit, um sich zu sorgen; er stürzte mit ungeheurer Geschwindigkeit durch einen Schacht, in dem Turbulenzen tobten. Ein Schwindel packte ihn, als die Wolkenwände in raschem Wechsel aufflammten und sich wieder verfinsterten, bis er nicht mehr klar sehen konnte.

Von oben sauste etwas an ihm vorbei, ein glänzender Lichtschleier, der sich umkehrte und ihn einzuholen trachtete, wie ein gigantisches Fischnetz aus Energie, das seiner Beute hinterherstob. Vor Wut knurrend verdichtete er das Rigger-Netz zu einer Nadel und stieß urplötzlich damit hinunter. Mit einem lauten Knattern blähte sich der leuchtende Schleier auf, und abermals hüllte ihn ein Sturm aus glitzernden Funken ein. Das Schiff schlingerte und strengte sich mächtig an, um vorwärts zu kommen, aber es flog tapfer weiter - bis es die Schockwelle einer Turbulenz traf.

Kreischend geriet das Schiff außer Kontrolle, dieses Mal endgültig, und krängte in hohem Tempo gegen die tödliche Wand des Kamins.

 

 

 

 

 

 

  Kapitel 2: Die Untersuchung

 

 

 

Im Anhörungsraum der Rigger-Gilde herrschte Totenstille.

Die gewölbte Decke trug eine Schicht aus einem multi-optischen Laminat, sodass es aussah, als funkelten Sterne an einem dunklen Himmel. Legroeder ließ den Blick durch die Kuppel schweifen, und einen Augenblick lang verwandelten sich die Sterne in die leuchtenden Phänomene des Flux.

Er raste auf die Kaminwand zu, in der Lichterscheinungen pulsierten: Nischen aus Quantenchaos, in denen sich Bilder ohne Vorwarnung verzerrten. Das Schiff taumelte hindurch, und plötzlich flimmerte die Landschaft in grellen Kontrasten, und die Konturen lösten sich auf. Hinter ihm blitzte Waffenfeuer. Ehe er wusste, wie ihm geschah, explodierte eine Breitseite von Flux- Torpedos und erzeugte eine Kaskade von Verwerfungen, die sein Schiff ins Trudeln brachten...

Die Hologramme der drei Mitglieder des Untersuchungsausschusses saßen an dem halbrunden Tisch vorn im Zimmer. Legroeder saß mit seinem jungen, von der Gilde bestellten Anwalt, Mr. Kalm-Lieu, an einem kleineren halbrunden Tisch mitten im Raum, dem Komitee gegenüber. Trotz des offenen Designs war die Räumlichkeit so ausgelegt, dass zwischen dem Ausschuss und den zu befragenden Personen eine strikte Distanz gewahrt blieb. Nur Legroeder und Kalm-Lieu waren körperlich anwesend.

Das Hologramm der Vorsitzenden des Untersuchungsgremiums der Rigger-Gilde ergriff das Wort. Die Stimme klang hohl und mechanisch. Legroeder konnte sich an den Namen der Frau nicht erinnern, persönlich hatte er sie nie kennen gelernt. »Rigger Legroeder, bitte denken Sie daran, dass dies eine Anhörung ist und keine Anklage. Uns geht es nicht darum, Schuld oder

Nichtschuld festzustellen, sondern zu entscheiden, ob Sie in dieser Angelegenheit von der Rigger-Gilde vertreten werden sollten. Wir hoffen, dass Sie den Unterschied begreifen.«

Legroeder zuckte verständnislos die Achseln und starrte nach oben in die Kuppel.

Die mit Flux-Geschwüren übersäte Nische stülpte sich durch den Torpedo-Treffer nach außen und schleuderte ihn in eine Spalte, die er mehr spürte als sah, einen Riss, den der Torpedo-Beschuss verursacht hatte. Er lenkte das Schiff mit einer Intuition, die in ihrer Genauigkeit an Zauberei grenzte, und schlängelte sich durch die Lücke...im Handumdrehen dümpelte er im freien Flux, weit weg vom Kamin und von den Piraten. Ihre Verfolger hatte er offensichtlich abgehängt.

Als er eine Strömung entdeckte, die aus dieser Region hinausführte, ließ er sich so lange darin treiben, bis er sich für einen Zielplaneten entschied. Letzten Endes wurde ihm die Wahl abgenommen; in Reichweite lag nur eine größere Welt, die nicht von den Piraten beherrscht wurde: Faber Eridani, weit entfernt von den Grenzen zum Golen Space. Kein leichter Flug für ein kleines Schiff; doch wenn er frei sein wollte, wirklich frei, blieb ihm nichts anderes übrig, als das Risiko einzugehen. Häufig nach Maris schauend, die immer noch in Beinahe-Stasis im Dämpfungsfeld lag, riggte er ihr Schiff zu neuen, hoffnungsvollen Ufern, wo sie beide in Freiheit leben konnten. Hier genossen sie die Sicherheit der Zentristen-Welten und den Schutz der Rigger-Gilde; hier gehörten sie hin...

Legroeder zitterte vor Wut. Er vermied es, die Ausschussmitglieder anzusehen. Hatte er es geschafft, den Piraten zu entkommen und Maris in ein Krankenhaus zu bringen, nur um beschuldigt zu werden, er hätte bei seiner Gefangennahme mit den Piraten kollaboriert? Das war lachhaft. Nicht zu fassen!

»Herr Anwalt, dürfen wir das Schweigen als Zustimmung auffassen?«, fragte die Stimme der Vorsitzenden.

Kalm-Lieu blickte unsicher zu Legroeder hin. »Ja, Ma'am.«

»Wenn das so ist, Rigger Legroeder, erbitten wir noch einmal Ihre Aussage. Schildern Sie uns, was Sie vor sieben Jahren taten, als die Ciudad de los Angeles von den Piraten im Golen Space gekapert wurde.«

Legroeder kam es vor, als stünde er neben sich und würde sich selbst beobachten - ein schmächtiger Mann mit olivfarbener Haut und traurigen Augen, der zu begreifen versuchte, in welche Falle er getappt war. Seufzend rieb er sich die Schläfen und zwang sich dazu, dieses Bild zu verdrängen.

»Lassen Sie mich Folgendes feststellen«, begann er gedehnt. »Ich entfloh interstellaren Piraten, die mich gewaltsam in ihre Dienste pressten, suchte hier auf Faber Eridani Asyl und bot Ihnen an, alles zu erzählen, was ich über die Operationen der Piraten weiß. Aber das Einzige, was Sie interessiert, sind die Vorgänge, die bei der Kaperung meines Schiffs vor sieben Jahren passierten und ob Sie mir eine Mitschuld zuweisen können?«

»Keineswegs, Rigger Legroeder. Wir möchten nur sämtliche Fakten kennen.«

»Einschließlich der Sichtung des Gespensterschiffs? Der Impris

Die virtuelle Ausschussvorsitzende neigte den Kopf. »Sie dürfen Ihre Gefangennahme mit den Worten beschreiben, die Ihnen angemessen erscheinen. Wenn Sie nun bitte beginnen würden...«

Legroeder schloss die Augen und rief sich die Ereignisse vor sieben Jahren in Erinnerung. Der Anfang eines Albtraums...

 

*

 

Die Ciudad de los Angeles war ein Linienschiff, das Passagiere und Fracht beförderte. An Bord befanden sich damals zweiundfünfzig Passagiere, eine bescheidene, wenn auch solide Anzahl, vierundzwanzig Crewmitglieder, einschließlich der sieben Rigger. Legroeder gehörte zu den erfahrensten Riggern; drei befanden sich ständig im Netz. Legroeder war auf die Heckrigger-Station spezialisiert, den Anker. Er sorgte dafür, dass sie nicht aufliefen und dass der gesunde Menschenverstand siegte, besonders wenn die Lotsen- und Kielrigger sich von den Trugbildern des Flux mitreißen ließen. Er galt als Rigger mit düsteren Visionen aber hoher Verlässlichkeit.

Die Ciudad de los Angeles war unterwegs nach Varinorum Prime - ungemütlich nahe an der Grenze zum Golen Space, aber auf einer Route, auf der man kaum Piratenangriffe zu befürchten hatte. Legroeder war es, der als Erster das andere Schiff im Flux entdeckte, als es sich an der Backbordseite der L.A. ins Blickfeld schob. Es schien sich auf einem Parallelkurs mit ihnen zu befinden. Die Sichtung eines weiteren Schiffs im Flux kam so selten vor, dass sich das Bild in sein Gedächtnis eingebrannt hatte: wie ein Wal glitt das lange, schmale, silberne Schiff gemächlich durch die Nebel des Flux. Er sah es nicht nur, er konnte es auch hören: das leise Pfeifen des Notsignals, so schwach und so weit entfernt, dass es kaum noch zu vernehmen war.

Schaut mal nach links und sagt mir, ob ihr seht, was ich sehe, machte er seine Rigger-Kameraden auf die Erscheinung aufmerksam. Er strengte sich an, das Notsignal zu verstärken. Es blieb so unklar und unverständlich wie der Kurs des Schiffes; es schien sich durch eine Ebene des Flux zu bewegen, die von der L.A. durch eine leichte Phasenverschiebung getrennt war, doch eine begrenzende Schicht, eine Art Horizont, vermochte er nicht zu erkennen. 

Ich sehe es auch, antwortete Jakus Bark von der Kielrigger-Position. Ist das ein Notruf? Wir sollten wohl lieber den Captain verständigen. Brücke... Captain Hyutu...? 

Als Captain Hyutu sich einloggte, berichtete er, er könne das Schiff nur vage auf den Brückenmonitoren ausmachen. Unterdessen hatte sich die Lautstärke des Notsignals erhöht. Die Codes konnten vom Computer der L.A. nicht entschlüsselt werden, doch bald hörten sie Stimmen, die über den Abgrund hallten: »Dies ist die Impris... das Schiff Impris ruft... bitte antworten Sie... wir brauchen Hilfe... dies ist die Impris von Faber Eridani...«

Legroeder und die restlichen Crewmitglieder waren sprachlos.

Die Impris.

Der legendäre Fliegende Holländer, das Geisterschiff der Sternenozeane? Ausgeschlossen! Offiziell war die Impris nichts weiter als eine Legende - ein Schiff, das vor über hundert Jahren während einer Routinefahrt im Flux verschwand. Die Impris war nicht das erste und auch nicht das letzte Schiff, das unterwegs verloren ging, besonders in Kriegszeiten. Was sie zu einer Legende machte waren die ständig wiederkehrenden Gerüchte, man hätte das Gespensterschiff gesichtet - und nicht nur ein oder zwei Schiffe behaupteten, dem Spuk begegnet zu sein, sondern Generationen von Riggern. Keine der Sichtungen war deutlich genug, um als Beweis für ihre Existenz zu dienen, doch die Anzahl der angeblichen Beobachtungen reichte aus, um den Mythos am Leben zu erhalten.

Es war, als hätte sich die Impris mit dem Flux verbunden, um niemals mehr in den Normalraum zurückzukehren; aber zugrunde gegangen war sie nicht. Also wucherten die Geschichten in den Bars der Sternen-Rigger: sie sei wie der alte Fliegende Holländer, das legendäre verwunschene Hochseeschiff, dessen Kapitän und Mannschaft dazu verdammt waren, bis in alle Ewigkeit über die Meere zu segeln, verirrt, unsterblich und ohne Hoffnung.

Ein Mythos, stand in den Archiven der Raumfahrtbehörde.

Die Wirklichkeit, tönten die Rigger in den Bars.

Im Flux war es manchmal schwer, den Unterschied zu erkennen.

Doch nicht dieses Mal. Legroeder sah, wie das Schiff durch die Nebelschwaden des Flux kroch, und seine Crewkameraden sahen es auch. Captain Hyutu von der L.A. war zwar kein Rigger aber ein erfahrener Schiffsführer, der die Zeichen auf den Monitoren zu lesen verstand wie kein anderer. Als er den Notruf empfing, erteilte er den Riggern den Befehl: Langsame Fahrt voraus in Richtung auf dieses Schiff. Versucht, uns längsseits zu bringen. Eine Durchsage wurde über Bordlautsprecher in der ganzen L.A. verbreitet. Man bereite sich darauf vor, einem Schiff in Not zu helfen.

Die L.A. schloss zu dem anderen Schiff auf.

In diesem Augenblick begann der Flux zu leuchten, die Dunstschleier rings um die L.A. blitzten wie in einem psychedelischen Lichtspektakel. Was, zum Teufel...?, murmelte Legroeder.

Dann begann der Lärm... droom! droom! droom!... wie wummernde Kesselpauken, die das Notsignal übertönten. Legroeders Herz raste, als die Impris Kurs auf die L.A. nahm, und ein paar Sekunden lang dachte er, das Getöse käme von der Impris selbst.

Machen sie eine Wende, um bei uns anzudocken?, fragte Jakus, der die Position im Kiel innehatte. 

Sie sind auf Kollisionskurs!, schrie der Lotsenrigger. Hart nach Steuerbord! Captain, wegtauchen, Kollision! 

Legroeders Magen verkrampfte sich, während er versuchte, in einem Flux, der sich plötzlich in einen unberechenbaren Mahlstrom verwandelt hatte, das Heck herumzureißen. Captain Hyutu singsangte Recht so! Stütz! Die Rigger gehorchten. Legroeder hielt den Atem an. Und dann erblickte Legroeder, was Hyutu auf den Monitoren gesehen haben musste: das andere Schiff schimmerte in einem unwirklichen Licht und verlor seine Stofflichkeit. Als es sich der L.A. näherte und einschwenkte, streifte die Spitze des Netzes das nach Backbord ausgerichtete Bugnetz der L.A. 

Einen kurzen Augenblick lang spürte Legroeder die Anwesenheit der Rigger-Crew auf dem anderen Schiff, er hörte ihre ängstlichen und verzweifelten Schreie, fühlte, dass sie wiederum ihn wahrnahmen... und dann verflüchtigte sich das Bild, die Impris mitsamt ihrer Besatzung wurde durchsichtig und verschwand.

Sie verschwand einfach.

Einen Herzschlag später tauchte an derselben Stelle ein anderes Schiff aus den Nebelwolken auf: ein stacheliges, unförmiges Schiff mit einer grotesken, hämisch grinsenden Fratze am Bug und einem waffenstarrenden Rumpf. Was...?, hauchten Legroeder und seine Kameraden im Netz, und dann schrie jemand: Golen Space Piraten! Das dröhnende Schallbombardement steigerte sich zu einem furiosen Crescendo: doooom!... doooomm-m! Der Flux stand lichterloh in Flammen, in Brand gesteckt vom Schiff der Marodeure. Es hatte sich hinter der Impris versteckt, das Schiff der Verdammten als Tarnung benutzt.

Weg hier!, brüllte Legroeder, und sie versuchten, die L.A. zu wenden und zu fliehen, aber dazu war es bereits zu spät. Die Rigger der Piraten hatten ein Netzwerk aus Täuschung und Angst gesponnen, und sie schienen die Materie des Flux in einer Weise zu manipulieren, die der Crew der L.A. fremd war. 

Binnen Minuten hatten die sich windenden, verdrehten Strömungen des Flux die Schiffe miteinander verbunden, und dann zog das Schiff der Marodeure sie durch die Schichten des Flux hinauf in die Leere zwischen den Sternen. Als sie in den Normalraum eintraten, Lichtjahre entfernt von der nächsten Welt, die ihnen hätte helfen können, versperrte der smaragdgrüne und blutrote Schleier des Great Barrier Nebels sogar die Sicht auf die fernen Sterne, die das Ziel der L.A. gewesen waren.

Das Entern war eine kurze, gewaltsame Angelegenheit. Das Linienschiff, das nur mit leichten Verteidigungswaffen gegen die Fährnisse des Golen Space ausgerüstet war, vermochte sich gegen die Übermacht der Piraten nicht zu wehren. Der Kampf dauerte ungefähr zehn Sekunden, und danach waren mindestens sechs von der Crew tot. Legroeder nahm alles nur verschwommen wahr, wie durch einen Nebel - als er das Netz verließ und auf die Brücke taumelte, fingen ihn Piraten ab und trieben ihn mit vorgehaltener Waffe durch die Korridore des Schiffs, in denen sich toxische Gase und Qualm ausbreiteten. Man stieß ihn durch die Luftschleuse und einen Verbindungstunnel entlang, der im Piratenschiff mündete - alsdann sperrten sie ihn zusammen mit rund dreißig anderen Leuten in einen Frachtraum; damit endete sein Leben als freier Mann.

 

*

 

Die Kommission unterbrach ihn und verwies darauf, dass man über die Zeit seiner Gefangenschaft später reden wolle. Legroeder verstummte und starrte den Rat an. »Wir möchten gern wissen«, sagte ein Mann, der zur Rechten der Vorsitzenden saß, »ob Ihnen Einzelheiten über das Schicksal anderer Personen von der Ciudad de los Angeles bekannt sind.« Dieser Mann repräsentierte die Raumfahrtbehörde, die Vollzugsinstanz, die sich mit Piraten befasste. Was hatte er hier zu suchen, wenn Legroeder nicht angeklagt war? »Wie viele gerieten Ihrer Ansicht nach in Gefangenschaft, und wie viele wurden von den Piraten getötet?«

Legroeder starrte ihn an. »Schwer zu sagen. Ich habe nicht alles gesehen.«

Der Mann setze eine gequälte Miene auf, als sei es ihm zuwider, solche Fragen zu stellen. »Was würden Sie denn schätzen?«

Frustriert wandte sich Legroeder an Kalm-Lieu.

Kalm-Lieus weiche, jungenhafte Züge wirkten angespannt, als er sich erhob. »Die Kommission möge bitte zur Kenntnis nehmen, dass mein Mandant über keine diesbezüglichen Informationen verfügt.«

»Herr Anwalt«, beschied ihm die Vorsitzende, »wir versuchen lediglich, uns ein möglichst vollständiges Bild von der Situation zu machen. Vielleicht kann Ihr Mandant hochrechnen, wie viele Gefangene es gab und wie viele Exekutionen...«

Kalm-Lieu sah Legroeder an und zuckte die Achseln.

Legroeder seufzte. »Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, dass in etwa die Hälfte bis zwei Drittel der Crew und Passagiere gefangen genommen wurden, und der Rest kam während des Enterns ums Leben. Meinen Sie das, wenn Sie von Exekutionen sprechen?«

»Würden Sie es nicht als Hinrichtung bezeichnen, wenn unschuldige Menschen beim Aufbringen eines Schiffs getötet werden?«, hakte der Mann von der Raumfahrtbehörde nach.

»Doch, sicher, das würde ich«, räumte Legroeder ein. Aber während seiner sieben Jahre in Gefangenschaft hatte er gesehen, wie man massenhaft Leute umbrachte, die noch nicht einmal Widerstand leisteten. Selbst jetzt noch machte der Gedanke daran ihn krank. Allerdings hatte er keine Ahnung, wie viele Personen beim Entern starben, weil er die meisten der Passagiere und Crewmitglieder nie wieder sah - auch nicht Captain Hyutu. Doch an ihn hegte er eine höchst merkwürdige Erinnerung, die ihn in all diesen Jahren immer wieder beschäftigte. Als er Hyutu das letzte Mal sah, während die Piraten das Schiff stürmten, bemerkte er auf dem Gesicht des Captains einen Ausdruck von Wut und Groll. Bei einem anderen Mann hätte er dies als natürliche Reaktion empfunden. Aber nicht bei Hyutu; der verzog niemals eine Miene, wenn er zornig war. Legroeder hatte ständig darüber nachgegrübelt, was die Wandlung in dem Captain bewirkt haben mochte.

»Ich verstehe«, erwiderte der Mann.

Die Vorsitzende sprach unhörbar ein paar Worte zu den beiden anderen Ausschussmitgliedern. Dann wandte sie sich an Legroeder. »Das wäre alles für heute, Rigger Legroeder. Vielen Dank für Ihre Kooperation.«

 

*

 

gesehen