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Rüdiger Voigt

Die Arroganz der Macht

Rüdiger Voigt

Die Arroganz der Macht

Hochmut kommt vor dem Fall

Tectum Verlag

Rüdiger Voigt

Die Arroganz der Macht

Hochmut kommt vor dem Fall

 

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018

 

ISBN 978-3-8288-6924-0


(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4077-5 im Tectum Verlag erschienen.)

 

Umschlaggestaltung: Tectum Verlag, unter Verwendung des Bildes
# 95241934 von picture alliance / Westend61; Fotograf: Frank Blum

 

 

 

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Weissagung des Propheten

„Eines Tages wird es einen Riss in Amerika geben.
Ein beträchtlicher Teil der Wählerschaft
wird zu dem Schluss kommen, dass das ‚System‘
gescheitert ist, und wird sich nach
dem starken Mann umsehen, den es wählen kann.
Der wird ihnen versichern, dass nach seiner Wahl
die schmierigen Bürokraten, die Winkeladvokaten,
die überbezahlten Fondsmanager
und die postmodernen Professoren
nichts mehr zu sagen haben werden.
Ist ein solcher ‚Strongman‘ einmal gewählt,
vermag niemand zu sagen, was passieren wird.“

Richard Rorty, Stolz auf unser Land, 1999

Vorwort

Ist Demokratie womöglich eine „beliebige Laune des Volkes“? Platon selbst war davon überzeugt, dass eine ‚vernünftige‘ Regierung nur dann funktionieren kann, wenn sie sich von diesen Launen fernhält. Platon hat gewissermaßen ‚Hochkonjunktur‘ in unseren Zeiten. Der US-amerikanische Philosoph Jason Brennan (Brennan 2017) knüpft an diesen Befund Platons an und argumentiert gegen die Demokratie wie wir sie kennen. Statt die Macht in die Hände von schlecht informierten, irrationalen Menschen zu legen, empfiehlt er eine Herrschaft der Wissenden. Vielleicht muss man sogar so weit gehen wie der belgische Historiker David van Reybrouck (Van Reybrouck 2017), der Wahlen und Abstimmungen für nicht demokratisch hält. Stattdessen empfiehlt er eine Wiederbelebung des Losverfahrens – wie im Alten Athen. Und der französische Historiker Pierre Rosanvallon (Rosanvallon 2017) stellt nüchtern fest, dass es ein „eindeutig formuliertes und explizit in Frage gestelltes ‚Originalmodell‘ der Demokratie“ ohnehin nie gegeben habe.

Wenn man die Sorgen der Menschen, ihre Unzufriedenheit und ihr Misstrauen gegenüber Politik und Politikern nicht ernst nimmt, droht eine Entscheidung des Volkes mit weitreichenden Folgen, wie etwa das Votum der Briten, aus der Europäischen Union auszuscheiden (Brexit). Wenn Frust und Wut der Wahlbürger überkochen, kann es zur Wahl eines Donald Trump zum US-Präsidenten und damit zur Abkehr von fast allen bisher geltenden Regeln kommen. Das Ende der Rationalität in der Politik scheint nahe zu sein. Offenbar stellt das Jahr 2017 eine Zäsur dar, die mit der des Jahres 1917 vergleichbar ist. Ein neues Zeitalter hat begonnen, der Untergang der Demokratie ist ebenso möglich wie ihre Renaissance.

Die Herrschenden sind nicht nur überrascht von der Reaktion der Beherrschten, sondern sie sind entsetzt. Sie fallen gewissermaßen „aus allen Wolken“. Offenbar ist alles möglich – auch der Verlust der eigenen Position –, wenn man das Volk entscheiden lässt. Trifft also Richard Rortys pessimistische Sicht zu, dass die Eliten – angesichts der vielfältigen Gefahren – davon überzeugt sind, dass die Demokratie zerstört werden muss, um sie zu retten? Schließlich wissen diese Eliten doch offenbar sehr viel besser, was für die Menschen gut ist, als diese selbst. Mit anderen Worten: Zunächst müssen die Bürgerinnen und Bürger zum ‚Guten‘ erzogen werden, bevor man sie wählen lassen kann. Der Siemens-Vorstandsvorsitzende Joe Kaeser hat diese Arroganz der Mächtigen in nüchternen Worten kritisiert, indem er das Ergebnis der Bundestagswahl 2017 bewertete: „Das ist auch eine Niederlage der Eliten in Deutschland“.

Die „Sackgasse der Gegenwart“ war und ist allgegenwärtig, wurde bislang aber verdrängt. Das scheint sich jetzt – zumindest partiell – geändert zu haben. Es geht mir daher in den folgenden Kapiteln darum, den jüngsten Verwerfungen in der politischen Landschaft nachzuspüren, die mit den Begriffen Postdemokratie, Populismus und postfaktische Demokratie nur unzureichend zu erfassen sind. Krise und Grenzen der Demokratie müssen ausgelotet, das Macht-Dreieck „Staat – Macht – Legitimität“ beleuchtet und schließlich die Zukunft der Demokratie in den Blick genommen werden. Die gebetsmühlenartig wiederholte Formel von der Alternativlosigkeit der Politik hatte sich wie Mehltau auf die deutsche Gesellschaft gelegt. Die Forderung nach politischer Korrektheit diente als Instrument einer uneingestandenen Zensur und lähmte jede politische Diskussion in der Öffentlichkeit. Eine Demokratie ohne die Diskussion ihrer Bürger und Bürgerinnen ist aber ein Widerspruch in sich und auf Dauer nicht lebensfähig.

Die terroristische Bedrohung ist durch die jüngsten Anschläge nun auch für Deutschland hautnah zu spüren. In Verbindung mit dem zeitweisen Kontrollverlust des Staates in der Flüchtlingspolitik, als im Herbst 2015 durch Öffnung der Grenzen der Schutz des deutschen Staatsgebietes aufgegeben wurde, führt dies zu einer brisanten Situation der Unsicherheit. Sie kann nicht wegdiskutiert werden, weil das Sicherheitsversprechen des Staates zu seinen wichtigsten Legitimationsgrundlagen gehört. Thomas Hobbes (1588–1679) hat bereits im 17. Jahrhundert davor gewarnt, dass ein Staat (Leviathan), der die Sicherheit seiner Bürger nicht mehr zu garantieren in der Lage oder willens ist, seine Existenzberechtigung verlieren kann.

Bei näherer Betrachtung des politischen Geschehens wird deutlich, welch große Bedeutung der Symbolik für Staat und Politik zukommt. „Ich glaube fest daran, dass das moderne politische Leben den Sinn für das Symbolische wiederfinden muss“, sagt der französische Staatspräsident Emmanuel Macron im Gespräch mit dem Spiegel. Mit Symbolen lassen sich sowohl Glanz und ‚gloire‘ erzeugen als auch – u. U. gleichzeitig – unlautere politische Machenschaften verbergen. Meist geschieht dies mit Hilfe der „arcana imperii“, der geheimen Herrschaftstechniken, im Verborgenen; die Bürger sollen nicht wissen, was die Politiker so treiben. Symbolische Politik – also die Ankündigung von Maßnahmen, von denen man bereits im Vorhin­ein weiß, dass sie sich so gar nicht durchführen lassen – ist ein beliebtes Instrument der Politik, vor allem vor und in Wahlkämpfen. Sehr zu Recht hat Pierre Bourdieu (1930–2002) der symbolischen Macht daher außerordentliche Bedeutung beigemessen. Er ist auch derjenige, der die gewaltlose, nahezu absolute Macht der Herrschenden über die Beherrschten verblüffend plausibel erklären kann.

Mit dem Brexit und der Wahl Donald Trumps scheint alles anders geworden zu sein. Die politische Landkarte der Welt hat sich wie nach einem riesigen Erdbeben verändert („Armageddon“). Wie tektonische Platten verschieben sich die Weltmächte über und unter das von ihnen beherrschte bzw. beanspruchte Territorium. Die einen driften auseinander, die anderen bewegen sich aufeinander zu. Die Grenzen von Interessensphären werden neu vermessen. Nach einer quälend langen Phase der Stagnation steht auch die Demokratiefrage wieder im Zentrum der Diskussion. Führende Politiker beginnen sich für ihr Untätigsein in der Krise zu rechtfertigen. Das verheerende Abschneiden der beiden Partner der Großen Koalition, CDU/CSU und SPD, und der Wahlerfolg der AfD bei der Bundestagswahl 2017 befeuern die Diskussion.

Die Demokratie lebt aber nicht nur vom Engagement der Politiker, sondern vor allem auch von der Zivilcourage ihrer Bürger. Politische Rechte müssen mutig eingefordert und verteidigt werden. Sie existieren nicht, weil sie auf einem Blatt Papier (Text des Grundgesetzes) stehen, „sondern erst, wenn sie der Bevölkerung in Fleisch und Blut übergegangen sind und jeder Versuch, sie außer Kraft zu setzen, gewaltsamen Widerstand hervorruft“ (Rücker 1989). Wenn aus Wutbürgern Mutbürger werden, die mutig genug sind, ihre Rechte trotz möglicher Repressalien auch öffentlich zu verteidigen, ist die Demokratie trotz aller Widrigkeiten und Widerstände doch noch zu retten.

Die Kapitel dieses Buches sind teils überarbeitete Fassungen von Beiträgen, die ich in anderem Zusammenhang an anderer Stelle veröffentlicht habe, teils von unveröffentlichten Vorträgen, die ich in der letzten Zeit gehalten habe. Ziel dieser Abhandlung ist es, sowohl die Widerstandsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem unbeschränkten Machtanspruch der herrschenden Eliten zu stärken als auch das große und bisher weitgehend ungenutzte Selbstregierungspotenzial des Souveräns Volk im Rahmen einer partizipatorischen Demokratie zu stärken. Dabei geht es um die politische Mitwirkung möglichst Vieler in möglichst vielen Bereichen.

Inhalt

Vorwort

Abkürzungsverzeichnis

EINLEITUNG

Die Arroganz der Macht – Muss die Demokratie wirklich zerstört werden, damit sie gerettet werden kann?

1. Wer herrscht in der Demokratie?

2. Meinungsforschung und Politikwissenschaft

3. Erziehungsfantasien

4. Ende eines Mythos

5. Die wahren Herren Europas

6. Herrschaft des Volkes

7. Der Don-Quijote-Effekt

8. Grenzen der Demokratie

DEMOKRATIE IN DER KRISE

Krise der Demokratie? Überlegungen zu einer aktuellen Frage

1. Der Staat als Garant der Demokratie

2. Globale Krisen

3. Die Frage der Grenzen

4. Alle Macht geht vom Volke aus

5. Was ist eine Demokratie?

6. Zwischen Freiheit und Sicherheit

7. Regierung nach ‚Gutsherrenart‘

8. Herrschaft der ‚Weltbürger‘

9. Wahlrechtssysteme

10. Direkte Demokratie

11. Gelebte Volkssouveränität

12. Folgeerscheinungen der Krisen

13. Freiheit der Andersdenkenden

Herrscht bereits der Ausnahmezustand? Sicherheit versus Freiheit

1. Die Vorderbühne der Politik

2. Die „unheilige Allianz“ der Herrschenden

3. Überwachen und Strafen

4. Kapitalismus und Demokratie driften auseinander

Grenzen der Demokratie Muss sich die Regierung ein anderes Volk wählen?

1. Humanitäre Mindeststandards

2. Rahmenbedingungen

3. Die Repräsentativregierung

4. Treuhänder des Volkes

5. Übertragung des Volkswillens

6. Die postdemokratische Konstellation

7. Gefahr für die Legitimität

8. Verantwortung der Politiker

STAAT – MACHT – LEGITIMITÄT

Staatsgeheimnisse. Die dunkle Seite der Macht

1. Geheimes Herrschaftswissen

2. Politisch-gesellschaftliche Rahmenbedingungen

3. Geheimnisse der Herrschaft

4. Zur ‚Kultur‘ des Geheimnisses

5. Private Geheimnisse lüften

6. Geschichte der Geheimdienste

7. Die Lüge in der Politik

8. Die Schlacht um die ‚Wahrheit‘

9. Tarnen und Täuschen

10. Fazit

Muss man dem König den Kopf abschlagen? Hobbes „sterblicher Gott“ in der ikonographischen ­ Körper-Metaphorik

1. Der Staat als ‚göttlicher Mensch‘

2. Der politische Körper des Königs

3. Der Staat als Kunstwerk

4. Der Kopf des Königs

5. Die leere Stelle der Autorität

6. Gesetz – Verfassung – Nation

7. Selbstinszenierung der Republik

8. Schlussbetrachtung

Das Macht-Dreieck „Staat – Macht – Demokratie“ Bourdieus Versuch, die Mechanismen der Macht zu entschlüsseln

1. Gewaltmonopol des Staates

2. Was ist der Staat?

3. Konsens über den Sinn der Welt

4. Die verinnerlichte Seite des Staates

5. Was ist Politik?

6. Verwandlung von Macht in Charisma

7. Zentralbank für symbolisches Kapital

8. Der Staat als Fiktion und als Realität

9. Autonomie der intellektuellen Welt

DIE ZUKUNFT DER DEMOKRATIE

Vater Staat Können wir auf den „beschützenden Staat“ verzichten?

1. Der Friedensstaat

2. Der Einzelne als Souverän

3. Der „arbeitende Staat“

4. Die SPD zwischen Lassalle und Marx

5. Der Staat als Erzieher

6. Der Mensch und das „nackte Leben“

7. Diskussion um den patriarchalischen Wohlfahrtsstaat

8. Das postmoderne Wissen

9. Der postdemokratische Staat

10. Kapitalismus und Demokratie

11. Vom mitfühlenden zum harten Staat

Alternativlose Politik Ist die Demokratie noch zu retten?

1. Konsenspolitik

2. Demokratie und Populismus

3. Der kosmopolitische Staat

4. Krise des kapitalistischen Systems

5. Auf dem Weg zu einer neuen Demokratie?

Vom Wutbürger zum Mutbürger Die Demokratie lebt vom Engagement ihrer Bürger

1. Keine Diskreditierung aktiver Bürger

2. Mutbürger – ein Segen für die Demokratie

Literatur

Nachweise

Abkürzungsverzeichnis

AEMR

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

AfD

Alternative für Deutschland

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BND

Bundesnachrichtendienst

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

CCTV

Closed Circuit Television, Videoüberwachung in Großbritannien

CDU

Christlich Demokratische Union

CIA

Central Intelligence Agency

CSU

Christlich-Soziale Union in Bayern e. V.

EG

Europäische Gemeinschaften

EU

Europäische Union

EuGH

Europäischer Gerichtshof

e.V.

eingetragener Verein

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

EZB

Europäische Zentralbank

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

FDP

Freie Demokratische Partei

Fidesz

Fiatal Demokraták Szövetsége (Bund Junger Demokraten) in Ungarn

FOM

(Fach-)Hochschule für Oekonomie und Management

FPÖ

Freiheitliche Partei Österreichs

Gestapo

Geheime Staatspolizei im NS-Regime

GG

Grundgesetz

ggf.

gegebenenfalls

GSM

Global System for Mobile Communications, Standard für digitale Mobilfunknetze

IFG

Informationsfreiheitsgesetz

IS

Islamischer Staat

ISGH

Internationaler Strafgerichtshof

IWF

Internationaler Währungsfonds

KPD

Kommunistische Partei Deutschlands

MEW

Marx-Engels-Werke, die gesammelten Werke von Karl Marx und Friedrich Engels

MWD

Ministerswo Wnutrennich Del, Ministerium für Innere Angelegenheiten der Russischen Föderation

NPD

Nationaldemokratische Partei Deutschlands

NRA

National Rifle Association, Dachverband der US-amerikanischen Waffenlobby

NSA

National Security Agency, Auslandsgeheimdienst der USA

NYSE

The New York Stock Exchange, die New Yorker Börse

OECD

Organisation for Economic Co-operation and Development, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

OMT

Outright Monetary Transactions, vorbehaltlose geldpolitische Geschäfte

ÖVP

Österreichische Volkspartei

PEGIDA

Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes

PiS

Prawo i Sprawiedliwośćc (Recht und Gerechtigkeit)

PR

Public Relations (Öffentlichkeitsarbeit)

PVS

Politische Vierteljahresschrift

PVV

Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit)

RAF

Rote Armee Fraktion

SED

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SPÖ

Sozialdemokratische Partei Österreichs

SRP

Sozialistische Reichspartei

StGB

Strafgesetzbuch

StPO

Strafprozessordnung

TTIP

Transatlantic Trade and Investment Partnership

UCAV

Unmanned combat air vehicle (sog. Drohnen)

UNHCR

United Nations High Commissioner for Refugees

UNO

United Nations Organization, Vereinte Nationen

u. U.

unter Umständen

VEB

Volkseigener Betrieb

VO

Verordnung

EINLEITUNG

Die Arroganz der Macht – Muss die Demokratie wirklich zerstört werden, damit sie gerettet werden kann?

„Es gibt immer zwei Parteien,
die Partei der Vergangenheit
und die Partei der Zukunft […],
das Establishment und die Bewegung.“

Ralph Waldo Emerson, 1803–1882

Die schier unglaubliche Arroganz der Macht scheint an ihre Grenzen gekommen zu sein. Die Selbstverständlichkeit, mit der bislang selbst ernannte Eliten in Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien, das sog. „Establishment“, den „einfachen Leuten“ ihre ideologische Sicht der Politik aufgenötigt haben, ist erschüttert worden. Die Menschen sind plötzlich aufgewacht und nutzen ihre Bürgerrechte und nicht zuletzt ihr Wahlrecht, um der unerwünschten ‚Erziehungsdemokratie‘ eine Abfuhr zu erteilen. Sie wollen nicht länger wie unmündige Schüler ‚umerzogen‘ werden. Den überaus anmaßenden ‚Alleinvertretungsanspruch‘ der Herrschenden für den Besitz der Wahrheit nehmen sie nicht mehr ohne Weiteres hin. Nach einer quälend langen Phase der Stagnation steht die Demokratiefrage – scheinbar unerwartet – wieder im Zentrum der Diskussion. Das Establishment ist ratlos.

1. Wer herrscht in der Demokratie?

Ein kleiner Teil des Staates ist in tatsächlicher, ein großer in symbolischer Demokratie verfasst. Das ist eine bittere Erkenntnis angesichts des Versprechens der Demokratie auf ein Leben aller Bürgerinnen und Bürger in Würde und Selbstbestimmung. Ist die real existierende Demokratie lediglich ein Herrschaftssystem, in dem der Wähler alle vier bis fünf Jahre bestenfalls zwischen verschiedenen Gruppierungen der „politischen Klasse“ auswählen kann, wobei sich zumeist wenig ändert? „Streng genommen haben wir bisher eigentlich noch kein vollkommen ‚demokratisches‘ System erlebt“, schreibt dazu der französische Historiker Pierre Rosanvallon in seinem Buch Die Gegen-Demokratie (2017). Gehört also mehr dazu, wie z. B. die Mitwirkung des Staatsvolkes an wichtigen politischen Entscheidungen von nationalem Interesse? Wer ‚herrscht‘ in der Demokratie, das Volk, wie es der griechische Ursprung des Wortes vermuten lässt, eine ‚wohlmeinende‘ Regierung oder eine selbst ernannte Elite aus Wirtschaft, Politik und Medien? Lässt sich Demokratie auch außerhalb des Nationalstaates verwirklichen, z. B. als kosmopolitische Demokratie, und ergeben sich daraus Verpflichtungen für die Gesellschaft als Ganze sowie für den einzelnen Bürger? Und wozu ist die Demokratie überhaupt da? Gibt es übergeordnete Kriterien, hinter denen das Demokratische zwingend zurücktreten muss? Wer entscheidet darüber: Parlamente, Regierungen, Gerichte, Medien, die Zivilgesellschaft, die heimischen Konzerne, der internationale Finanzsektor oder die ‚Weltmeinung‘? Ist das allgemeine Wahlrecht noch ‚zeitgemäß‘, wäre ein Lossystem nach Athenischem Vorbild vorzuziehen oder sollten überhaupt nur ausgewählte Personen wählen dürfen? Ist das Parlament der richtige Ort, um weitreichende politische Entscheidungen zu treffen? Und ist der Nationalstaat hierfür der ‚passende‘ Rahmen? Trifft die pessimistische Sicht des US-amerikanischen Philosophen Richard Rorty (1931–2007) zu, dass die Eliten davon überzeugt seien, dass die Demokratie – angesichts der akuten Terrorgefahr – zerstört werden müsse, damit sie gerettet werden kann?

Das Jahr 2017 ist zu einem ‚Schlüsseljahr‘ geworden, weil das ‚Phlegma‘ der Wähler endlich durchbrochen wurde. Große Ereignisse haben zu erheblichen Verwerfungen der politischen Landschaft geführt. Es ist, als ob ein neues Zeitalter angebrochen wäre. Das ‚lange‘ 20. Jahrhundert ist endgültig zu Ende. In den Medien – und nicht nur in den Leserbriefen – werden plötzlich Meinungen geäußert und Fragen gestellt, die bisher als „politisch unkorrekt“ tabu­isiert waren. Der Mut zur eigenen Meinung kehrt allmählich zurück. Politiker und Journalisten ergehen sich plötzlich in – allerdings oft nur scheinheiligen – Appellen an die Bürger zur Diskussionsbereitschaft. Noch sind politische Praxis und Politikwissenschaft ratlos, wie die Situation einzuschätzen ist und wie es weitergehen wird. Erste – erkennbar unzureichende – Erklärungsansätze unter dem Stichwort ‚Populismus‘ machen die Runde. Die Entscheidung des britischen Volkes, das in einem Referendum am 23. Juni 2016 mehrheitlich gegen den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union gestimmt hat, sowie die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika haben die politischen Rahmenbedingungen drastisch verändert. Nichts ist mehr so wie es noch bis vor kurzem zu sein schien. Die etablierten Politiker versuchen mühsam, sich in der neuen politischen Umwelt zurechtzufinden und vor allem ihren ‚Besitzstand‘ zu verteidigen. Überall macht sich „Status-quo-Furcht“ der Mitglieder des Establishments breit.

2. Meinungsforschung und Politikwissenschaft

Die Prognosen der Meinungsforschungsinstitute lagen in beiden Fällen – in Großbritannien wie in den USA, aber auch in Frankreich – ebenso falsch wie die Analysen der Politikwissenschaftler. Offenbar haben sich beide Seiten auf diejenigen eingestellt, die in der Lage sind, sich so zu artikulieren, dass ihre Meinung als ‚relevant‘ angesehen wird. Die „einfachen Leute“ (‚plebs‘), die sich – meist nicht so eloquent wie die Mitglieder der Elite – allenfalls am Stammtisch über Politik äußern und bislang nicht zu Unrecht davon überzeugt waren, dass ihre Meinung niemanden interessieren und auf keinen Fall etwas verändern würde, wurden schlichtweg ignoriert. Sie ‚zählten‘ nicht, ihre Ansichten wurden für unerheblich erklärt. Die öffentliche Meinung nahm davon allenfalls in Form von Leserbriefen, die als „demokratisches Feigenblatt“ dienten, Kenntnis und beschäftigte sich im Übrigen vorwiegend mit sich selbst. Der ‚Stammtisch‘ wurde zum Zerrbild und als der Ort definiert, an dem alkoholisierte Menschen ihrem Frust und ihrer Wut heimlich Luft machen. Dabei ist jedoch nicht bedacht worden, dass das Internet inzwischen Möglichkeiten für Unzufriedene bietet, sich jenseits der „öffentlichen Meinung“ Gehör zu verschaffen („digitaler Stammtisch“). Zudem handelt es sich um Wahlberechtigte, die ihre Enttäuschung auch auf dem Stimmzettel zum Ausdruck bringen können. Bislang konnte die „politische Klasse“ davon ausgehen, dass diese Unzufriedenen mangels Alternative entweder die etablierten Parteien wählen oder gar nicht erst zur Wahl gehen. Sobald sich bei den Wahlen jedoch politische Alternativen auftun, sinkt die Zahl der Nichtwähler auffällig, populistische Parteien verzeichnen Stimmengewinne, während die etablierten Parteien Stimmen verlieren. Die Arroganz der Macht hat sich womöglich verrechnet.

Der Frust der schweigenden Mehrheit

Insbesondere Trumps Wahlkampf, der auf Vorurteile, auf Diskriminierung von Minderheiten und nicht zuletzt auf Lügen, Verleumdungen und Beleidigungen setzte, hat die Menschen in Europa und anderswo abgestoßen, aber auch aufgerüttelt. Tatsächlich wurde damit vor allem der Frust der „schweigenden Mehrheit“ der Amerikaner artikuliert, die sich als wirtschaftliche Verlierer der Globalisierung und in jeder Hinsicht Benachteiligte fühlen und sich zudem von einer selbsternannten Elite bevormundet sehen. Ihnen wird nicht nur vorgeschrieben, wie sie zu handeln und zu sprechen haben, sondern auch, wie sie denken sollen. Trump gerierte sich als Kämpfer gegen das Establishment, gegen Genderism und Political Correctness. Die Massenmedien waren dabei zugleich seine größten Feinde und seine stärksten Unterstützer, indem sie dem politischen Enfant Terrible nahezu unbegrenzt Fernseh-Sendezeit und – durchaus auch negative – Presseberichterstattung widmeten. Trump kam bei den Wählern als erfolgreicher Geschäftsmann, geübter Entertainer und unerschrockener Wahlkämpfer an, der die Nöte der „kleinen Leute“ versteht und auch – in einer z. T. drastischen bis obszönen Sprache – sehr deutlich beim Namen nennt. Kurz vor der Präsidentenwahl gab Trump seine Kriegserklärung ab „an das Establishment in Washington und die Finanz- und Medienkonzerne, die es stützen. Unsere Bewegung stellt für sie eine existentielle Bedrohung dar. So etwas haben sie noch nie erlebt“.

Der regierungserfahrenen, aber kühlen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton gelang es nicht, die Herzen der Wählerinnen und Wähler zu gewinnen. Weder konnte sie einen Plan gegen Einkommens- und Jobverlust der Amerikaner vorweisen, noch stand sie – im Gegensatz zu ihrem demokratischen Konkurrenten Bernie Sanders  – glaubwürdig für soziale Gerechtigkeit ein. Die Tatsache, dass sie als Außenministerin dienstliche Korrespondenz auf einem privaten E-Mailkonto geführt hatte, schadete ihr. Quasi unwählbar wurde Clinton aber für die „kleinen Leute“ erst dadurch, dass sie ihrer Arroganz freien Lauf ließ, indem sie im Wahlkampf die Trump-Anhänger pauschal diskreditierte: „Krass verallgemeinert: Man kann die Hälfte der Trump-Unterstützer da hineinstecken, was ich einen Sack von Kläglichen nenne“. Sie sprach von diesen Menschen als „hoffnungslos, aber zum Glück sind sie nicht Amerika“. Auch ein Dementi am nächsten Tag konnte den Schaden, den diese überhebliche Aussage angerichtet hatte, nicht wiedergutmachen. Sie verlor die Wahl. Hochmut kommt vor dem Fall!

Wesentlich erfolgreicher war Emmanuel Macron bei der Wahl zum französischen Staatspräsidenten. Er gab sich als der jugendlich und modern wirkende Präsident für alle Franzosen. Sein wahres Gesicht – das eines ehemaligen Investmentbankers, der die „kleinen Leute“ verachtet – zeigte Macron jedoch, als er im Oktober 2017 beim Besuch einer Berufsschule über die Blockade protestierender Arbeitsloser sagte, die französischen Arbeiter sollten sich lieber eine neue Arbeit suchen als den „Laden aufzumischen“. Das französische Original­zitat „foutre le bordel“ klingt allerdings deutlich vulgärer. Christian Jacob, der Fraktionsvorsitzende der bürgerlich-konservativen Republikaner in der französischen Nationalversammlung, hielt ihm daraufhin unerträgliche Arroganz vor. Die Linksparteien warfen Macron vor, alle Franzosen aus prekären Verhältnissen „zu verachten“.

Mit ähnlichem Schwung hat Sebastian Kurz, der 31 Jahre alte bisherige Außenminister, die Wahlen zum österreichischen Nationalrat mit 31,47 % der Stimmen gewonnen. Mit einem kleinen Trick gelang es ihm, den Makel der alten Partei ÖVP loszuwerden. Nachdem er seine Partei dazu gebracht hatte, ihm Vollmachten zu geben, die bisher noch keinem Parteivorsitzenden (Bundesparteiobmann) zugestanden worden waren, trat er unter einem neuen Label an: „Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei“. Kurz will die Idee der Volkspartei zu einer breiten gesellschaftlichen Bewegung weiterentwickeln. Damit erinnert er ein wenig an Macron mit seiner Bewegung „En Marche!“. Offenbar sind die Menschen in Frankreich und in Österreich der Machenschaften der etablierten Parteien überdrüssig. Wie in Neuseeland (Jacinda Ardern) wählen sie junge unverbrauchte Politiker – sehr zum Ärger der etablierten Parteifürsten.

3. Erziehungsfantasien

Ähnliche Probleme zeigen sich im übrigen Europa, wo die Menschen ebenfalls der Arroganz der Macht der sog. Elite, der ‚Regierungs­oli­garchie‘, die sich für den berufenen Erzieher der ‚einfachen‘ Menschen hält, überdrüssig sind. Es ist aber keineswegs leicht, sich dem Zugriff dieser Erziehung zu entziehen. Die Schulen, aber auch die Erwachsenenbildung bieten sich für diese „Erziehung zum guten Bürger“ an. Mit Hilfe dieser ‚Hegemonieapparate‘ (Antonio Gramsci) gelingt es den Herrschenden, ihre Sicht der Dinge allgemeinverbindlich zu machen. Von dieser Warte aus wird nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit beurteilt, konfiguriert und ggf. ‚korrigiert‘. Erst unter diesem Aspekt wird die Aktion des damaligen Bundesjustizministers Heiko Maas (SPD) verständlich, der die Ver­urteilungen homosexueller Männer durch bundesdeutsche Gerichte nach dem damaligen Paragraphen 175 StGB durch den Bundestag aufheben, die Betroffenen rehabilitieren und finanziell entschädigen ließ. „Aus heutiger Sicht war das ein klarer Verstoß gegen die Menschenwürde und damit verfassungswidrig. […] Ein Rechtsstaat sollte auch die Kraft haben, seine eigenen Fehler zu korrigieren“. Dieser Vorgehensweise steht allerdings das in Art. 20 Grundgesetz festgelegte Gewaltenteilungsprinzip entgegen, das zu den wichtigsten Elementen des Rechtsstaatsprinzips gehört. Das Aufheben von Urteilen der unabhängigen Justiz ist nicht die Aufgabe der von der Exekutive beherrschten Legislative.

Ein besonders krasses Beispiel für den Willen der Herrschenden zur Erziehung der Beherrschten zum ‚Guten‘ ist der „Bildungsplan 2015“ der grün-schwarzen Landesregierung in Baden-Württemberg. Mit Hilfe der Schule sollen nicht nur die Schüler, sondern auch Lehrer und Eltern umerzogen werden. In den für Lehrer verpflichtenden „zukunftsorientierten Leitprinzipien“ soll den Schülern die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ nahegebracht werden. Dabei geht es vor allem um die verschiedenen Formen des Zusammenlebens von und mit LSBTTI-Menschen: Die Schüler sollen über die „Vielfalt in der sexuellen Identität (Hetero-, Homo-, Bisexualität; Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle)“ informiert werden und andere sexuelle Identitäten als die eigene akzeptieren und respektieren. Gegen diese von vielen als „Generalangriff auf Familie und Gesellschaft“ empfundene Schulpolitik erhob sich jedoch so massiver Widerstand in der Bürgerschaft des Landes, dass Ministerpräsident Winfried Kretschmann (GRÜNE) den Entwurf zunächst zurückziehen musste; allerdings ist er in überarbeiteter Form im August 2016 dann doch zum Gesetz geworden. Die Befürchtungen der Gegner richten sich darauf, dass womöglich künftig auch bei schulfremden Angelegenheiten, wie z. B. bei der Vergabe öffentlicher Aufträge oder von Forschungsgeldern an die Universitäten, LSBTTI-Belange und ‚Diversity‘ (Antidiskriminierung) eine entscheidende Rolle spielen sollen.

Erziehung zur Demokratie

Niccolò Machiavelli (1469–1527) hat bereits im 16. Jahrhundert die erwachsenen Bürger, auf deren virtú (Tugend) der Staat angewiesen ist, zum Gemeinsinn erziehen wollen. Seither spielt die ‚Erziehung‘ der Bürger in allen politischen Systemen eine große Rolle. Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes 1945 hatte die US-amerikanische Besatzungsmacht die Erziehung der Deutschen zur Demokratie (reeducation to democracy) auf ihre Fahnen geschrieben. In Vorschlägen einer amerikanischen Erziehungskommission von 1948 heißt es dazu: „Schon die Erhaltung einer Demokratie fordert von jedem einzelnen Bürger Wissen und klares soziales Zielbewusstsein. Wie viel mehr gilt dies für ihren Aufbau von Grund aus! […] Das einzige und beste Werkzeug, um noch im gegenwärtigen Geschlecht in Deutschland eine Demokratie zu errichten, ist die Erziehung“. Vor dem Hintergrund der damaligen wie auch der heutigen Situation der Demokratie in den USA erscheint die Arroganz der amerikanischen Siegermacht, die hierin zum Ausdruck kommt, geradezu atemberaubend.

Zu dem Maßnahmenspektrum dieser Umerziehungspolitik gehörten u. a. die Neustrukturierung der Medienlandschaft, die Orientierung der Schulreform an amerikanischen Vorbildern, die Einrichtung von Amerikahäusern und die Initiierung von Aus­tausch­programmen. An den westdeutschen Universitäten wurden Lehrstühle für Politische Bildung sowie für die Wissenschaft von der Politik (Politikwissenschaft) eingerichtet und mit ‚zuverlässigen‘ Professoren besetzt. In allen Besatzungszonen wurden Lizenzzeitungen herausgegeben, wie z. B. die Frankfurter Allgemeine Zeitung (US-Lizenz vom 1. August 1945) oder die Süddeutsche Zeitung (US-Lizenz vom 6. Oktober 1945). Auch für den Spiegel, dessen erste Ausgabe am 4. Januar 1947 erschien, wurde eine Lizenz – in diesem Fall allerdings von der britischen Besatzungsmacht – erteilt. Für die Gründung bzw. Zulassung politischer Parteien war ebenfalls eine Lizenz der zuständigen Besatzungsmacht erforderlich. Es waren zunächst vier Parteien, die von den vier Siegermächten in ihren Besatzungszonen erlaubt wurden: CDU, SPD, FDP und KPD, andere Parteien folgten später.

In Fortsetzung der von den Alliierten begonnenen Bildungsarbeit beschloss die Ministerpräsidentenkonferenz der Länder im Februar 1954, zentrale Einrichtungen für die staatsbürgerliche Bildungsarbeit in allen Bundesländern ins Leben zu rufen. Die Bundeszentrale – 1952 als Bundeszentrale für Heimatdienst gegründet – sowie die Landeszentralen für Politische Bildung haben seither das Ziel, das Gedankengut der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu verbreiten und zu festigen sowie die Bereitschaft der Bürger zur politischen Mitarbeit zu stärken. Die Leitung der Bundeszentrale wird abwechselnd von Politikern der CDU und der SPD wahrgenommen. Durch das Bundesverfassungsgericht wurde die Bundeszentrale im September 2010 aus konkretem Anlass zu Ausgewogenheit und rechtsstaatlicher Distanz ermahnt. Ähnliche Aufgaben, wenn auch noch stärker auf die sie tragenden Parteien bezogen, nehmen die Parteistiftungen wahr, von denen die Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU) und die Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD) die bekanntesten sind. Die im Bundestag vertretenen Parteien erhalten hierfür staatliche Mittel in beträchtlichem Umfang. Allein für 2017 wurden für die sechs Parteistiftungen Bundesmittel in Höhe von 581 Mio. Euro genannt – eine merkwürdig anmutende Subvention für die Erziehungsarbeit (Propaganda) der politischen Parteien, für die es in anderen Ländern kaum Parallelen gibt.

Enttäuschung der Wähler

Als hilflose Reaktion auf den Wahlsieg Trumps werden von Politik und Medien ‚Horrorszenarien‘ entworfen, in denen das Menetekel vom Untergang Europas an die Wand gemalt wird. Hätten sich diese Prognosen bewahrheitet, wäre heute Marine Le Pen französische Präsidentin, die AfD wäre stärkste Partei im Bundestag, niederländische, österreichische und italienische Populisten hätten enorme Stimmengewinne erzielt. Zusammen mit der PiS-Regierung Polens und Viktor Orbáns Fidesz-Regierung in Ungarn würden sie Europa ‚zerstören‘. Nichts von dem ist eingetroffen, auch wenn populistische Parteien an Boden gewonnen haben. Der offiziell hochgelobten EU, deren Protagonisten immer mehr Kompetenzen nach Brüssel verlagern und die das Selbstbestimmungsrecht des Volkes in den Mitgliedstaaten geringachten, schlägt dennoch Ablehnung, partiell sogar Widerwille entgegen. Das ist zwar an sich kein neues Phänomen, wird jetzt aber vor dem Hintergrund der politischen Turbulenzen erst richtig wahrgenommen. Die europäische Idee ist in Gefahr, durch die arroganten Eliten großen Schaden zu nehmen.

Tatsächlich ist das Misstrauen gegenseitig, wir leben in einer „Misstrauensgesellschaft“ (Rosanvallon). Viele Menschen sind von den Politikern tief enttäuscht, die ihnen jahrzehntelang „ein X für ein U“ vorgemacht haben. Sie glauben ihren Verlautbarungen und denen der meisten Medien nicht mehr. Vor allem den jüngeren Bürgern erscheinen Volksparteien als „Endmoränen eines vergangenen Jahrhunderts“ (Wolfgang Merkel). Erschwerend kommt ein Kommunikationsproblem hinzu: Die Parteien sprechen und verstehen die ‚Sprache‘ ihrer potenziellen Wähler nicht. Sie sind durch „sakralisierte Populismen“ gesprächsunfähig geworden. Die zunehmende „Homogenisierung der politischen Elite“ führt dazu, dass Meinungsunterschiede hinsichtlich gesellschaftspolitischer Fragen geringer sind als in der Bevölkerung. „Die Parteien streiten zwar über den Grad an Veränderung […] – das Ziel selbst steht nicht in Frage“. Die Bundeskanzlerin tut alles, um durch ihre Sprache möglichen Krisen die Dramatik zu nehmen. Die Menschen trauen den „politischen Sprachformeln“ dennoch nicht mehr so recht. Es zeugt von der Arroganz der Macht, wenn der damalige Bundespräsident Joachim Gauck diese enttäuschten Bürger ‚Kommunikationsflüchtlinge‘ nennt. Die eigene Sprache wird zudem durch zahlreiche Anglizismen verändert, die es den „kleinen Leuten“ erschweren, das politische Geschehen zu verstehen, geschweige denn darüber mitreden oder gar daran teilhaben zu können. Unsere Wahrnehmung wird aber in starkem Maße durch die Sprache geformt. Während wohlhabende Familien ihre Kinder auf britische Privatschulen und US-amerikanische Universitäten schicken, um Englisch wie ihre Muttersprache zu sprechen, verzweifeln vor allem ältere Menschen angesichts der unzähligen aus dem Englischen übernommenen neuen Ausdrücke. Auf dem Umweg über die schlecht übersetzten synchronisierten US­-­Serien schleichen sich zudem neue Wortbedeutungen auch für deutsche Begriffe ein. In den Vorständen großer deutscher Unternehmen – wie z. B. Volkswagen – wird Englisch zur Konzernsprache gemacht. Aus Protest dagegen verkaufte die Stiftung Deutsche Sprache ihre VW-Aktien. Der Vorstandssprecher der Stiftung, Walter Krämer, kommentierte die VW-Entscheidung so: „Ich bin entsetzt, wie bedenkenlos unsere Eliten ihre eigene Sprache und Kultur aufgeben“.

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen berichtet nicht selten einseitig und geriert sich allzu oft als eine Art „Staatsfernsehen“. In Deutschland wird es durch eine Zwangsabgabe finanziert, die wie eine Steuer alle – unabhängig von ihren tatsächlichen Sehgewohnheiten – trifft. Seine Kommentatoren verkünden eine „Wahrheit“, die keineswegs allgemein akzeptiert wird. Das führt geradezu zwangsläufig zu einem Vertrauensverlust bei den Menschen. Sie glauben nicht mehr umstandslos, was man ihnen als Fakten vorsetzt (‚verkauft‘). Manche flüchten sich in eine Welt, in der Fakten nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Lieber verlässt man sich auf sein Gefühl. Donald Trump treibt diese Art zu denken und zu argumentieren auf die Spitze, indem er Lügen und Halbwahrheiten verbreitet. Er macht sich über wissenschaftliche Forschung lustig, falls deren Ergebnisse ihm nicht passen. Im Januar 2017 sagte die US-amerikanische Wahlkampfmanagerin Kellyanne Conway, dass es sich bei den – offensichtlich falschen – Zuschauerzahlen bei der Amtseinführung von Trump nicht um falsche, sondern um „alternative Tatsachen“ (alternative facts) gehandelt habe. In Anlehnung an die englischen Adjektive post-truth und post-fact wird von einer „postfaktischen Demokratie“ gesprochen.

Diese Entwicklung erklärt sich der Präsident der Oxford Dictionaries, Casper Grathwohl, folgendermaßen: Eine postfaktische Weltsicht wird befördert „durch den Aufstieg sozialer Medien als Nachrichtenquelle und das wachsende Misstrauen gegenüber Fakten, die vom Establishment angeboten werden“. Damit droht ein wichtiges Instrument zur Bürgererziehung seine Wirkung zu verlieren. Kein Wunder also, dass die Herrschenden alles daransetzen, ‚ungefilterte‘ Nachrichten im Internet zu verhindern. Falschmeldungen (fakes) jeglicher Art sollen eliminiert werden, bevor sie Schaden anrichten. Die Frage ist allerdings, wer definiert, welche Informationen ‚Falschmeldungen‘ sind, welche Schaden anrichten, und welche ungehindert verbreitet werden dürfen.

Das Misstrauen der Eliten

Umgekehrt misstrauen die selbsternannten Eliten dem Volk nicht nur, sondern sie fürchten es auch. „Das Volk gilt der Regierung als gefährlicher Feind, der um seines eigenen Besten willen kontrolliert werden muss“ (Noam Chomsky). Wer weiß, was dabei herauskommen würde, wenn man das Volk entscheiden ließe. Zahlreiche Mechanismen und ideologische Denkfiguren werden ersonnen, um das Volk von politischen Entscheidungen möglichst fern zu halten. Damit soll nicht nur die eigene Macht erhalten, sondern auch eine übergeordnete Erziehungsaufgabe wahrgenommen werden. Die Eliten sind nämlich überzeugt davon, es von einer höheren Warte aus besser zu wissen und die ‚Bevölkerung‘ – sie sprechen in aller Regel nicht von ‚Volk‘ – auf den rechten Weg führen zu müssen. Sie wollen die Menschen nach ihren Vorstellungen erziehen. Diesem Ziel muss dann gelegentlich eine vollständige und wahrheitsgemäße Information der Menschen durch die Medien geopfert werden. Geert Wilders, der Chef der niederländischen Partij voor de Vrijheid (PVV), die als rechtspopulistisch eingestuft wird, schloss sein Plädoyer in einem Prozess gegen ihn mit den Worten: „Den Kampf der Eliten gegen die Bevölkerung wird das Volk gewinnen!“

4. Ende eines Mythos

„Seid umschlungen, Millionen!“ Ludwig van Beethovens 9. Symphonie mit dem Text der Ode An die Freude von Friedrich Schiller – seit 1985 offizielle Europahymne der EU – zeigt die naive Grundhaltung der europäischen ‚Gutmenschen‘. Wer wäre nicht für eine harmonische Beziehung zu den Nachbarn in Europa, wer möchte nicht „eines Freundes Freund seyn“, wie Schiller gedichtet hat? Völkerfreundschaft sollte an die Stelle von Erbfeindschaft treten. Und wer möchte nicht ein einiges, starkes Europa, das die Interessen seiner Bürger selbstbewusst und einmütig in der Welt vertritt? Allerdings glauben immer weniger Menschen daran, dass die Europäische Union diesem Idealbild tatsächlich entspricht oder auch nur nahekommt. Denn dieser „Mythos Europa“ hat mit der aus der Montanunion, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Euratom aus ganz anderen Gründen entstandenen EU nur wenig zu tun. An die Stelle einer (vorgeschobenen) Vision von der „europäischen Integration“ ist in der politischen Realität ein zentralistischer Moloch getreten, der sich verselbständigt hat und immer mehr Kompetenzen an sich zieht. Ein Kardinalfehler der Protagonisten ist zudem die angestrengt positive Anthropologie, die dem Mythos zugrunde liegt. Menschen sind aber nicht grundsätzlich gut, sondern im Allgemeinen eher selbstbezogen, ehrgeizig und herrschsüchtig, wie Machiavelli bereits im 16. Jahrhundert festgestellt hat. Sie suchen ihren eigenen Vorteil auf Kosten anderer, wo immer man sie machen lässt. Politiker sind nicht anders, man kann daher von ihnen nicht erwarten, dass sie anders denken und handeln als die ‚gewöhnlichen‘ Menschen – vor allem dann, wenn es um ihren eigenen Vorteil geht. Eine realitätsbezogene, nicht durch eine ideologische ‚Brille‘ getrübte Sichtweise erkennt das ohne Weiteres.

Checks and Balances

Um Machtballung und Machtmissbrauch zumindest tendenziell zu verhindern, bedarf es daher wirksamer Kontrollmechanismen und eines austarierten Machtgleichgewichts (checks and balances). Rosanvallon sieht hier die Notwendigkeit einer Gegen-Demokratie, die aus drei Gegenmächten besteht: Überwachungsbefugnisse, Verhinderungsformen und Urteilsprüfungen. Weder Personen noch Institutionen dürften in eigener Sache entscheiden, das gilt auch für den Deutschen Bundestag, z. B. bei der Festsetzung von Diäten und Ver­­sor­gungs­ansprüchen der Abgeordneten. Andernfalls tritt genau das ein, was in den letzten Jahrzehnten auf nationaler wie auf supranationaler Ebene zu beobachten war. Die Bundeskanzlerin trifft einsame Entscheidungen, die niemand so recht nachvollziehen kann. Da wird aus der von ihr durchgesetzten Verlängerung der Laufzeiten alter und zum großen Teil veralteter Atomkraftwerke urplötzlich – nach der Katastrophe von Fukushima (11. März 2011) – der Totalausstieg aus der Atomenergie (‚Energiewende‘). Quasi im Alleingang verfügt die Bun­­des­kanzlerin die Öffnung der deutschen Grenzen für fast eine Million ‚gestrandeter‘ Flüchtlinge. Der Bundestag und damit das Repräsentationsorgan des Souveräns Volk wird nicht eingeschaltet. Regiert wird nach eigenem Gutdünken, ohne Rücksicht auf die ‚Untertanen‘.

Das Subsidiaritätsprinzip

Alle europäischen Institutionen haben zudem erkennbar über die Stränge geschlagen, indem sie ihre vertraglich vereinbarten Kompetenzen systematisch erweitert und auf dieser Basis gravierende Fehlentwicklungen verursacht haben. Das Subsidiaritätsprinzip, demzufolge eine Aufgabe immer dann von der kleineren Einheit wahrgenommen werden soll, wenn diese dazu im Stande ist, sollte die ausufernde Zentralisierung der Europäischen Union verhindern. Entsprechende Klauseln sind auch tatsächlich in die Europäischen Verträge aufgenommen worden. Art. 5 Abs. 3 des EU-Vertrages lautet: „Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind“.

In der Praxis wird das Subsidiaritätsprinzip von den Politikern in der Brüsseler Zentrale allerdings so gut wie gar nicht beachtet. Das Europäische Parlament, von Politikern und Journalisten stets lobend hervorgehobenes demokratisches ‚Feigenblatt‘ der EU, ist kein ‚echtes‘ Parlament, weil bei seiner Wahl das wichtigste Prinzip der Repräsentation verletzt wird: „one man one vote“. Um die Interessen der kleinen Mitgliedstaaten zu wahren, tatsächlich aber vor allem, um Deutschlands Einfluss zu verringern, werden die Abgeordneten nicht nach dem (einfachen) Proportionalitätsprinzip, sondern nach dem Prinzip der degressiven Proportionalität gewählt. Große Staaten wie Deutschland entsenden zu wenige, kleine Staaten wie Malta entsenden überproportional zu viele Abgeordnete. Zudem hat das ‚Parlament‘ der EU nur eingeschränkte Zuständigkeiten gegenüber Rat und Kommission. Die Legitimationskraft seiner Beschlüsse ist gering, dennoch werden sie von den Regierungen der Mitgliedstaaten umgesetzt bzw. deren Umsetzung notfalls durch Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) erzwungen.

5. Die wahren Herren Europas

Der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU, hat sich von jeder demokratischen Kontrolle weitgehend abgekoppelt und agiert quasi im „luftleeren Raum“ als eine Art Zentralregierung. Es ist eine ‚Regierung‘, die von keinem Parlament, weder vom Europäischen Parlament noch von den nationalen Parlamenten, geschweige denn vom Volk abgewählt werden kann. Was dort – im Konsens – von den Spitzenpolitikern beschlossen wird, gilt und muss nur noch von den nationalen Gremien ‚abgenickt‘ werden. Die Regierungen und Parlamente der Mitgliedstaaten haben kaum Einwirkungsmöglichkeiten. Sie können nur die zuvor bereits ‚geschnürten‘ Pakete annehmen oder – zumindest theoretisch – als Ganzes ablehnen, damit sind sie zu bloßen Akklamationsgremien herabgesunken.

Der Europäische Gerichtshof

Der EuGH sichert nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EU-Vertrag „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“. Er hat sich jedoch – gegen den Vertragswortlaut – zu einem Supreme Court entwickelt, der für alles zuständig ist und zunehmend auch über Verfassungsfragen befindet. Es ist kein Geheimnis, dass er dabei regelmäßig zugunsten des europäischen Zentralstaats entscheidet. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat lange für sich das Monopol beansprucht, über das Grundgesetz und deutsche Verfassungsfragen allein zu urteilen. Das sekundäre Gemeinschaftsrecht findet danach seine Grenzen in den Grundrechten des Grundgesetzes. Dazu hat das Gericht in einer Entscheidung des Jahres 1974 („Solange I“) formuliert:

„Solange der Integrationsprozess der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, dass das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Grundrechtskatalog enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist […] die Vorlage eines Gerichtes der Bundesrepublik Deutschland an das BVerfG im Normenkontrollverfahren zulässig […]“ (BVerfGE 37, 271f).

In einem Beschluss vom 22. Oktober 1986 („Solange II“) hat das BVerfG diese strikte Haltung jedoch erheblich eingeschränkt. Seit dem Maastricht-Urteil übt das BVerfG seine Rechtsprechung über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem ‚Kooperationsverhältnis‘ zum EuGH aus (BVerfGE 89, 155). Schließlich hat das BVerfG einen brisanten Rechtsstreit dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt. Es geht dabei um die sog. Outright-Monetary-Transactions (OMT), ein Programm, mit dem die Europäische Zentralbank (EZB) in unbeschränktem Ausmaß kurzfristige Anleihen von Staaten im Euro-Währungsgebiet aufkaufen kann. Wie zumindest von EU-Skeptikern nicht anders erwartet, hat der EuGH in seinem Urteil vom 16. Juni 2015 die Befugnisse der EZB deutlich gestärkt, indem er ihr einen erheblichen Ermessensspielraum bei geldpolitischen Maßnahmen, vor allen in Krisensituationen, eingeräumt hat.

Die Europäische Zentralbank

Die EZB ist eine unabhängige supranationale Institution mit eigener Rechtspersönlichkeit nach dem Vorbild der Bundesbank (Art. 13 EU-Vertrag). Sie hat sich weitgehend verselbständigt und versteht sich – besonders unter ihrem Präsidenten Mario Draghi – längst als zentrales Lenkungsgremium der EU für Währung und Finanzen. Durch die Bankenaufsicht (Single Supervisory Mechanism