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Der Autor

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Gunzelin Schmid Noerr, Jg. 1947, wurde 1977 in Philosophie promoviert. 1978 baute er an der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. das Max-Horkheimer-Archiv auf und leitete es bis 1995. In dieser Zeit edierte er, zusammen mit Alfred Schmidt, die „Gesammelten Schriften und Briefe“ Max Horkheimers in 19 Bänden (Frankfurt a. M. 1985–1996). 1991 wurde er mit der Arbeit über „Das Eingedenken der Natur im Subjekt. Zur Dialektik von Vernunft und Natur in der Kritischen Theorie Horkheimers, Adornos und Marcuses“ (Darmstadt 1990) an der Universität Frankfurt a. M. habilitiert. 1992–2001 übernahm er verschiedene Vertretungsprofessuren für Soziologie und Philosophie an den Universitäten Frankfurt a. M. und Dortmund sowie an der Hochschule Darmstadt. 2002–2015 war er Professor für Sozialphilosophie, Sozialethik und Anthropologie am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach.

Schwerpunkte seiner Forschungen und Publikation sind neben der Kritischen Theorie der Gesellschaft u. a. Ethik (insbesondere Angewandte Ethik der Sozialen Arbeit), Kulturtheorie sowie das Verhältnis von Philosophie und Psychoanalyse.

Weitere Buchpublikationen: Sinnlichkeit und Herrschaft. Zur Konzeptualisierung der inneren Natur bei Hegel und Freud, Meisenheim/Glan, 1980. – Gesten aus Begriffen. Konstellationen der Kritischen Theorie, Frankfurt a. M. 1990. – Kultur und Unkultur (Hrsg.), Mönchengladbach 2005. – Geschichte der Ethik. Leipzig 2006. – Geflüchtete Menschen. Ankommen in der Kommune. Theoretische Beiträge und Berichte aus der Praxis (Hrsg. mit Waltraud Meints-Stender), Opladen, Berlin und Toronto 2017.

Gunzelin Schmid Noerr

Ethik in der Sozialen Arbeit

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034438-9

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-034439-6

epub:   ISBN 978-3-17-034440-2

mobi:   ISBN 978-3-17-034441-9

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Vorwort zur Reihe

Mit dem so genannten „Bologna-Prozess“ galt es neu auszutarieren, welches Wissen Studierende der Sozialen Arbeit benötigen, um trotz erheblich verkürzter Ausbildungszeiten auch weiterhin „berufliche Handlungsfähigkeit“ zu erlangen. Die Ergebnisse dieses nicht ganz schmerzfreien Abstimmungs- und Anpassungsprozesses lassen sich heute allerorten in volumigen Handbüchern nachlesen, in denen die neu entwickelten Module detailliert nach Lernzielen, Lehrinhalten, Lehrmethoden und Prüfungsformen beschrieben sind. Eine diskursive Selbstvergewisserung dieses Ausmaßes und dieser Präzision hat es vor Bologna allenfalls im Ausnahmefall gegeben.

Für Studierende bedeutet die Beschränkung der akademischen Grundausbildung auf sechs Semester, eine annähernd gleich große Stofffülle in deutlich verringerter Lernzeit bewältigen zu müssen. Die Erwartungen an das selbstständige Lernen und Vertiefen des Stoffs in den eigenen vier Wänden sind deshalb deutlich gestiegen. Bologna hat das eigene Arbeitszimmer als Lernort gewissermaßen rekultiviert.

Die Idee zu der Reihe, in der das vorliegende Buch erscheint, ist vor dem Hintergrund dieser bildungspolitisch veränderten Rahmenbedingungen entstanden. Die nach und nach erscheinenden Bände sollen in kompakter Form nicht nur unabdingbares Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit bereitstellen, sondern sich durch ihre Leserfreundlichkeit auch für das Selbststudium Studierender besonders eignen. Die Autor/innen der Reihe verpflichten sich diesem Ziel auf unterschiedliche Weise: durch die lernzielorientierte Begründung der ausgewählten Inhalte, durch die Begrenzung der Stoffmenge auf ein überschaubares Volumen, durch die Verständlichkeit ihrer Sprache, durch Anschaulichkeit und gezielte Theorie-Praxis-Verknüpfungen, nicht zuletzt aber auch durch lese(r) freundliche Gestaltungselemente wie Schaubilder, Unterlegungen und andere Elemente.

 

Prof. Dr. Rudolf Bieker, Köln

 

Zu diesem Buch

Jedes zwischenmenschliche Handeln hat einen moralischen Anteil. Denn in ihm drückt sich eine bestimmte Beziehung zur sozialen Mitwelt aus, ein bestimmtes Maß an Wahrnehmung und Achtung Anderer, an Berücksichtigung ihrer Interessen und ihres Wohlergehens, an Schuldigkeit und an Fürsorge. Das Maß des in dieser Hinsicht Wünschenswerten wird als moralischer Wert bezeichnet, die Orientierungsleitlinie des entsprechenden Handelns als moralische Norm. Wenn wir uns über moralische Fragen Klarheit verschaffen, Situationen erklären, Handlungen verstehen und bewerten, betreiben wir Ethik. In diesem Sinn ist Ethik die Reflexion der Moral. Ethische Fragen haben es einerseits mit dem zu tun, was mit guten Gründen erstrebenswert ist, andererseits mit dem normativ Verpflichtenden.

In der Sozialen Arbeit spielt die Ethik vor allem deshalb eine wichtige Rolle, weil Entscheidungen, die Sozialarbeiterinnen treffen, stark in die Lebensführung ihrer Klienten eingreifen können. Wie die professionsethische Verpflichtung des Arztes den Patienten davor schützen soll, dass der Arzt die Grenze ihrer körperlichen Integrität mehr als unbedingt notwendig und nur zu seinem Wohl verletzt, unterliegt auch die Soziale Arbeit der ethischen Verpflichtung, Schaden zu vermeiden und Gutes zu tun. Aber diese Verpflichtung gilt allgemein, nicht nur in der Sozialen Arbeit, und insofern gibt es auch nur eine umfassende Ethik und keine „Ethik der Sozialen Arbeit“ im Sinne eines Systems spezieller Werte und Normen. Wohl aber kann die ethische Orientierung in der Sozialen Arbeit andere Formen annehmen als in anderen Lebensbereichen und Berufstätigkeiten. Deshalb lautet der Titel dieses Buches „Ethik in der Sozialen Arbeit“.

Moralische Vorstellungen werden im Alltag zwar häufig verwendet – wir finden Handlungen richtig oder falsch, akzeptabel oder unakzeptabel, empörend oder bewundernswert usw. –, aber selten als solche thematisiert. Wir verwenden sie eher intuitiv als begrifflich. Wir beurteilen Handlungen oder Zustände als ungerecht oder menschenunwürdig, aber was Gerechtigkeit oder Menschenwürde an sich sind, wissen wir im Alltag kaum zu sagen. Wir verhalten uns ähnlich wie ein Maurer, der eine Wand hochzieht und dabei, ohne Wasserwaage und Metermaß zu benutzen, nur „über den Daumen peilt“.

Das zentrale Thema der Ethik ist das moralisch Gute. Was aber ist das Gute (und das Schlechte) in der Sozialen Arbeit? Endgültig vorbei sind die Zeiten, in denen die Soziale Arbeit an sich als gut, richtig, gerecht oder verdienstvoll angesehen wurde. Deshalb ist heute zu fragen und zu beantworten, ob und wie die Soziale Arbeit in ihrer Alltagspraxis ethischen Maßstäben gerecht wird.

Um diese Frage in konkreten Zusammenhängen überhaupt formulieren zu können, ist es einerseits notwendig, sich über zentrale Begriffe der allgemeinen Ethik zu verständigen: Was ist Moral? Was sind moralische Werte und Normen? Was ist Menschenwürde? usw. Andererseits diese Begriffe auf die Praxis der Sozialen Arbeit zu beziehen. Die ethische Reflexion lebt von der persönlichen Motivation und Bereitschaft der Einzelnen, das zunächst Selbstverständliche, Gewohnte und Alltägliche auf seine Geltung hin zu befragen. Aber sie ist auch nicht nur etwas Persönliches, sondern baut auf Argumenten und Prinzipien auf, die im geschichtlichen Verlauf entwickelt wurden. Philosophiegeschichtliche Rückgriffe müssen jedoch nicht unbedingt in ausdrücklicher Form erfolgen, und so tauchen auch im vorliegenden Buch, das der Einführung in die Thematik dient, Darstellungen von Ansichten oder Theorien aus der Geschichte der Ethik nur ausnahmsweise auf. Im Vordergrund stehen vielmehr konkrete ethische Problemstellungen.

Der Praxisbezug der theoretischen Überlegungen soll auch durch Passagen aus Interviews deutlich werden. Diese wurden von Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Hochschul-Seminare über die ethischen Grundlagen der Sozialen Arbeit im Laufe der letzten Jahre mit professionellen Praktikern durchgeführt. Sofern es sich dabei um unveröffentlichte Transkriptionen dieser Interviews handelt, werden diese nicht bibliographisch nachgewiesen. Die Interviewauszüge sind selbstverständlich hinsichtlich der Personen und Orte anonymisiert. Die Interviews werden nicht jeweils als ganze interpretiert, vielmehr dienen die Auszüge nur als praxisnahe Illustrationen der theoretischen Fragestellungen. Den Studierenden, die die Interviews durchgeführt haben, und den Praktikern, die die Interviews gegeben haben, danke ich hiermit.

Das Verständnis der Darlegungen soll dadurch erleichtert werden, dass jedem Kapitel eine kurze Vorschau vorangestellt wird, durch die die Leserinnen und Leser erfahren können, was sie inhaltlich erwartet. Längere Begriffserläuterungen oder historische Hintergrundinformationen sind in separaten Textfeldern untergebracht. Am Ende eines jeden Kapitels befindet sich unter der Zwischenüberschrift „Gut zu wissen – gut zu merken“ eine knappe Zusammenfassung.

Auf eine einheitliche Verwendung der männlichen oder weiblichen Form bei der Bezeichnung von Personengruppen wird in diesem Buch verzichtet. Aus stilistischen Gründen konnte ich mich zu einer andauernden Berücksichtigung beider Geschlechter mittels Verdoppelungen oder künstlicher Wortzusammensetzungen nicht durchringen. Die Verwendung von geschlechtssignifikanten Ausdrücken wie „Sozialpädagogin“, „Sozialarbeiter“ und anderen ist der jeweiligen Fallgeschichte angepasst. Sofern dabei, ausdrücklich oder darin mit enthalten, allgemeine Aussagen über die Soziale Arbeit gemacht werden, ist das jeweils andere Geschlecht mit gemeint.

 

Mönchengladbach, September 2012

Gunzelin Schmid Noerr

 

Für die zweite Auflage wurden inhaltliche und formale Fehler korrigiert. Außerdem wurden zum Zweck der besseren Benutzbarkeit des Buches ein Personen- und ein Sachregister hinzugefügt.

 

Frankfurt am Main, April 2018

Gunzelin Schmid Noerr

Inhalt

  1. Vorwort zur Reihe
  2. Zu diesem Buch
  3. 1 Soziale Arbeit ohne „Sandalen“
  4. 1.1 Vier geläufige, aber fragwürdige Ansichten über das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Moralität
  5. 1.2 Ethische Reflexion in der Sozialen Arbeit
  6. 2 Wozu Ethik in der Sozialen Arbeit?
  7. 2.1 Ein Fall aus der Bewährungshilfe: Moralische Verpflichtungen und Verletzungen
  8. 2.2 Verankerung der Moral in Persönlichkeit und Kultur
  9. 2.3 Von der moralischen Orientierung zur ethischen Reflexion
  10. 2.4 Welchen Nutzen hat die Ethik in der Sozialen Arbeit?
  11. 3 Was ist Ethik?
  12. 3.1 Herkunft und Bedeutung des Ausdrucks „Ethik“
  13. 3.2 Moralische Werte und Normen
  14. 3.3 Verschiedene Reflexionsweisen der Moral
  15. 3.4 Das ethisch Gute
  16. 4 Was ist Moral?
  17. 4.1 Moral in der Alltagskommunikation
  18. 4.2 Ungenauigkeiten und Schwächen der moralischen Grammatik
  19. 4.3 Moralische Regeln im Unterschied zu anderen sozialen Regeln
  20. 4.4 Muss jeder selbst wissen, was moralisch richtig ist?
  21. 5 Deskriptive und normative Ethik – Individualethik und Sozialethik – Strebensethik und Sollensethik
  22. 5.1 Aus einem Interview mit einer Praktikerin der Sozialen Arbeit
  23. 5.2 Deskriptiv-explanatorische und normative Ethik
  24. 5.3 Individualethik und Sozialethik
  25. 5.4 Strebensethik und Sollensethik
  26. 6 Was ist warum moralisch gut? Grundmodelle der Sollensethik
  27. 6.1 Asymmetrie der Macht und deren ethische Begrenzung
  28. 6.2 Ethischer Egoismus: Kontraktualismus
  29. 6.3 Folgenethik: Utilitarismus
  30. 6.4 Gesinnungsethik (1): Deontologische Ethik
  31. 6.5 Gesinnungsethik (2): Mitleidsethik
  32. 6.6 Verantwortungsethik
  33. 7 Professionsethik der Sozialen Arbeit
  34. 7.1 Der geschichtliche Ursprung der Berufsethik
  35. 7.2 Professionalisierung der Sozialen Arbeit: Vom beruflichen Ethos zur Professionsethik
  36. 7.3 Vom Doppelmandat zum Tripelmandat der Sozialen Arbeit
  37. 7.4 Formen der Professionsethik
  38. 7.5 Die Berufsfeldstruktur der Sozialen Arbeit
  39. 7.6 Vier Bereiche der Professionsethik
  40. 8 Zur Entwicklung der moralischen Kultur
  41. 8.1 Vom Partikularismus zum Universalismus in der Moral
  42. 8.2 Soziale Hilfe in archaischen Gesellschaften
  43. 8.3 Soziale Hilfe in hochkulturellen Gesellschaften
  44. 8.4 Soziale Hilfe in der modernen Gesellschaft
  45. 8.5 Drei Wurzeln der sozialen Kultur heute
  46. 8.6 Universelle und partikulare Orientierungen: Minimal- und Maximalmoral
  47. 9 Wie lernt man Moral?
  48. 9.1 Ein Schritt moralischen Lernens
  49. 9.2 Mittel und Wege des moralischen Lernens
  50. 9.3 Neuronale Grundlagen des moralischen Lernens
  51. 9.4 Stufen der moralischen Entwicklung des Individuums
  52. 10 Moralskeptische Perspektiven
  53. 10.1 Moralfallen
  54. 10.2 Moralische Täuschung und Selbsttäuschung
  55. 10.3 Moral zwischen Bindung und Selbstbehauptung, Fürsorge und Kampf
  56. 11 Moral und Gewalt
  57. 11.1 Wie aus Opfern Täter werden
  58. 11.2 Tätermoral
  59. 11.3 Erosion der moralischen Bindekräfte
  60. 12 Individuelle und institutionelle Verantwortung
  61. 12.1 Strukturmerkmale der Verantwortung
  62. 12.2 Kausale und fürsorgende Verantwortung
  63. 12.3 Korporative und kooperative Verantwortung
  64. 12.4 Institutionsethik als kollektive Reflexion
  65. 13 Was ist Menschenwürde?
  66. 13.1 Menschenwürde als sollensethischer Terminalwert
  67. 13.2 Die Achtung der Menschenwürde im Selbstverständnis von Praktikerinnen
  68. 13.3 Zur Geschichte des Begriffs der Menschenwürde
  69. 13.4 Dimensionen der Menschenwürde heute
  70. 13.5 Das Menschenwürdegebot im Alltag der Sozialen Arbeit
  71. 14 Für einen besser gelingenden Alltag
  72. 14.1 Vier mögliche Bedeutungen des „gelingenden Lebens“
  73. 14.2 Eine strebensethische Beratung
  74. 14.3 Eine Minimaltheorie des gelingenden Lebens
  75. Literatur
  76. Personenregister
  77. Sachregister

 

1          SOZIALE ARBEIT OHNE „SANDALEN“

Was Sie in diesem Kapitel lernen können

Hat das, was Sozialarbeiterinnen tun, in sich einen besonderen moralischen Wert, oder ist Soziale Arbeit heute in moralischer Hinsicht ein Beruf wie jeder andere? Darüber gehen die Ansichten in der Öffentlichkeit wie auch bei Studierenden und Praktikern der Sozialen Arbeit auseinander. In diesem Kapitel wird gezeigt, dass diese geläufigen Ansichten die eigentliche Aufgabe einer ethischen Reflexion zumeist verfehlen, und worin alternativ dazu die Aufgabe der Ethik besteht.

1.1       Vier geläufige, aber fragwürdige Ansichten über das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Moralität

Alle zwei Jahre treffen sich Sozialarbeiter aus aller Welt zu Konferenzen, die von den drei Dachverbänden „International Federation of Social Workers“, „International Association of Schools of Social Work“ und „International Council on Social Welfare“ organisiert werden. Als eine dieser Weltkonferenzen mit mehr als tausend Fachteilnehmerinnen vor einiger Zeit in Deutschland abgehalten wurde, brachte ein Nachrichtenmagazin darüber einen Artikel mit dem Titel „Die Sandalen des Guten. Ortstermin: In München tüfteln Sozialarbeiter an der Veredelung des Menschen“. Warum die Sandalen im Titel?

In dem Bericht wurden viele Vorträge und Workshops zum Elend dieser Welt aufgeführt. Dabei ging es u. a. um Hilfe für die Opfer von Naturkatastrophen und Vergewaltigungen, für HIV-Patienten, Drogenabhängige, Menschen mit Sprachbarrieren und emotionalen Störungen. Thema waren auch Möglichkeiten der Konfliktlösung in Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten und bei Vertreibungen: Tibet, Kongo, Naher Osten. „Sozialarbeiter“, hieß es in dem Bericht, „gehen in die Ecken der Welt, in die sonst niemand will, sie sind unentbehrlich, werden lausig bezahlt, sie bringen die Dinge in Ordnung, die unser schönes Erste-Welt-Leben in der Dritten Welt hinterlässt, und man möchte ihnen Glück wünschen, aber dann sieht man die Sandalen. Viele Konferenzteilnehmer tragen Sandalen. Sandalen sind die Besohlung des Weltgewissens“ (Gutsch 2006, 72).

Na und?, mag sich die Leserin und der Leser denken, sagt denn das Schuhwerk etwas über die Qualität der jeweiligen Sozialen Arbeit aus? Aber die „Sandalen“ sind ja symbolisch zu verstehen. Ihre Bedeutung erschließt sich im Kontrast zu den Schuhen der Politiker und Militärs: „Es ist nur leider so, dass man mehr an die Jungs in den harten polierten Schuhen glaubt. Man glaubt eher an Sicherheitskonferenzen, […] an schnelle Eingreiftruppen.“ Währenddessen laufen die Konferenzteilnehmer „von einem Raum in den nächsten, von einem Weltproblem zum anderen. Kinderarmut, sexuelle Gewalt, Drogen, Rassismus. Es hört nie auf. […] Der Mensch ist schlecht, dunkel und verloren. Man kann aber auch sagen, dass es glücklicherweise ein paar Leute gibt, die daran arbeiten, ihn besser zu machen“ (ebd.). Im Allgemeinen lassen sich die Menschen, dieser Darstellung zufolge, allenfalls mit Zwang und Gewalt zur Vernunft bringen. Angesichts dessen erscheinen die Sozialarbeiter und Sozialpädagogen, die von einer heilen Welt träumen, als hoffnungslos naive Möchtegern-Weltverbesserer.

Dieses Bild ist zweifellos eine Karikatur. Aber sie entspricht einer teilweise immer noch verbreiteten Vorstellung davon, was für eigenartig moralselige Menschen doch Sozialarbeiter seien. Vertreten wird diese Ansicht von Leuten, die offenbar davon überzeugt sind, dass das Leben ein Kampf ist, in dem man sich keine Schwächen erlauben darf. Solche Schwächen werden für sie durch den „Sozialarbeiter“ verkörpert. Demnach muss man sich eine weiche, „sozialarbeiterische“ Einstellung verbieten, wenn man in dieser harten Welt bestehen will.

Zwei weitere Beispiele für dieses Bild von Sozialer Arbeit: Als im September 2001 kurz nach den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center in Deutschland einige Politiker und Publizisten in Deutschland vor einer kriegerischen Reaktion darauf warnten, ja überhaupt ein Verstehen (nicht ein Entschuldigen!) der politischen, sozialen, kulturellen, psychischen und geschichtlichen Hintergründe des Terrorismus einforderten, da wurde dies in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als „deutscher Sozialarbeitermodus“ verspottet, dem zufolge man angeblich nur „geeignete Jugendhilfe-Maßnahmen zur Resozialisierung“ der Terroristen durchzuführen habe (Gaschke 2001, 2).

Auf der anderen Seite, und gleichsam spiegelbildlich dazu, beschworen auch deutsche Terroristen selbst das Kontrastbild des Sozialarbeiters, um sich diesem gegenüber zu profilieren. Nachdem RAF-Mitglieder der so genannten dritten Generation einen US-Soldaten erschossen hatten, um mit Hilfe seines Dienstausweises innerhalb eines zugangskontrollierten militärischen Areals eine Autobombe zünden zu können, sahen sie sich der Kritik von ehemaligen Sympathisanten ausgesetzt und verkündeten trotzig: „Wir haben nicht diesen verklärten, sozialarbeiterischen Blick“ (zit. in: Bönisch;Sontheimer 2007, 68).

Ist Moral insgesamt, wie ein bekannter Liedermacher einmal in der Frankfurter Rundschau provokatorisch schrieb, nur etwas für die „weiblich-süß-weiche Kinder-Küchen-und Kirchen-Welt“, während in der „männlich-herb-rauen Berufswelt“ Eigennutz, Ellbogen, ja Betrug die wichtigsten Tugenden sind? Produziert „die Moral das Kanonenfutter fürs Kapital“, während „das Kapital unermüdlich Anlässe für die moralische Schadensabwicklung“ (Kiesewetter 2007) bietet – wofür dann offenbar die Soziale Arbeit zuständig ist?

Gegenüber der spöttisch-abschätzigen Bewertung eines angeblich vorhandenen sozialarbeiterischen Moralismus kann man aber auch darauf beharren, dass es (wie der „Sandalen“-Autor sich am Ende zu sagen erlaubte) doch immerhin erfreulich ist, dass Menschen sich für andere einsetzen. Tun denn Sozialarbeiterinnen nicht tatsächlich „Gutes“ in dem Sinn, dass sie anderen Menschen bei ernsthafter Gefährdung ihrer Lebensqualität beistehen? Leisten sie nicht Hilfe bei sozialen Problemlagen, denen die Betroffenen sonst weitgehend schutzlos ausgeliefert wären? Sind nicht soziale Benachteiligung, Gewalt und Gewalterfahrung, Sucht, Krankheit, Wohnungs- oder Arbeitslosigkeit als Problembereiche, mit denen es die Soziale Arbeit zu tun hat, auf selbstverständliche Weise das „Schlechte“, durch das die Soziale Arbeit selbst als etwas „Gutes“ ausgewiesen ist?

Wenn man derartiges von anderen Menschen im Alltagsleben berichten kann, zum Beispiel von einer Zahnärztin, die einmal in der Woche, an ihrem freien Nachmittag, in einem kirchlichen Gemeinderaum auf eigene Kosten nicht krankenversicherte Wohnsitzlose behandelt (vgl. Billerbeck 2001), oder von einer anderen, die ehrenamtlich in einem Hospiz Sterbende betreut, oder von einer weiteren, die Kindern von in Vollzeit arbeitenden Eltern nachmittags bei den Hausaufgaben hilft, oder schließlich von den vielen, die Geld in einer für sie spürbaren Höhe an Bedürftige spenden, dann bewerten wir im Alltag solche Einstellungen, Handlungen oder Menschen als moralisch sehr achtbar. Wenn nun Sozialarbeiter Ähnliches von Berufs wegen tun, dann besteht der Unterschied, so könnte man zunächst einmal sagen, weniger im Resultat als in dem „Von-Berufs-Wegen“. Ist also Soziale Arbeit allein auf Grund ihrer Zielsetzung und ihrer Ergebnisse ebenso moralisch achtbar?

In den vergangenen Jahrhunderten vor der staatlichen Institutionalisierung der Sozialen Arbeit war die Fürsorge für Arme, Kranke, Verletzte, Behinderte, Wohnsitzlose, Bettler, Aussätzige, Ausgestoßene davon abhängig gewesen, ob sich Andere von diesen Schicksalen rühren und Barmherzigkeit walten ließen. Auch die öffentliche Armenpflege wurde von ehrenamtlich Tätigen besorgt, bis dann – in Deutschland etwa seit 1910 – eigens dafür eingestellte und kommunal bezahlte Bedienstete sich der Menschen in besonderen Notlagen anzunehmen begannen. Dabei ist aber fast nur noch Historikern bekannt, dass mit den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zur Zeit der Industriellen Revolution, eingeführten Absicherungen gegen Krankheit, Armut und Arbeitslosigkeit in erster Linie der politische Zweck verfolgt wurde, die öffentliche Ordnung zu sichern und mögliche soziale Unruhen einzudämmen.

Im allgemeinen Bewusstsein geblieben ist dagegen das persönliche Engagement der Pioniere der Sozialen Arbeit und ihrer Mitarbeiter für die damaligen Modernisierungsverlierer, die verwahrlosten Jugendlichen, die Landflüchtigen, die Armen und Kranken. So zehrt der moralische Ruf der heutigen professionellen Sozialen Arbeit teilweise immer noch von ihrer privaten und kirchlichen Vorgeschichte. Man sieht diese Profession als eine „moralische“ (Pantucek/Vyslouzil 1999) an.

Bisher war von zwei Sichtweisen auf die Soziale Arbeit die Rede:

a)    von einer, in der die angebliche Naivität eines moralischen Einspruchs gegenüber den Übeln der Welt belächelt wird, und

b)    von einer anderen, in der die fürsorgende und emanzipatorische Tätigkeit der Sozialen Arbeit von sich aus als Grund ihrer moralischen Wertschätzung gilt.

Beide aber sind offensichtlich unzureichend und erfassen nicht die spezifisch moralische Dimension der Sozialen Arbeit: die erste, weil sie Moralität mit unaufgeklärter Naivität gleichsetzt, die zweite, weil sie den Unterschied zwischen der Moral des alltäglichen Handelns und der des professionellen sozialarbeiterischen Handelns vernachlässigt. Wenn überhaupt Moral keine bloße Illusion ist, kann sie nicht in Realitätsangepasstheit aufgehen, aber ebenso wenig auf Realitätssinn verzichten. Und dieser Realitätssinn besteht im Rahmen der professionellen Sozialen Arbeit nicht nur in Alltagserfahrung, sondern lässt sich theoretisch und methodisch absichern.

Über die tatsächlich in der Bevölkerung heute am meisten verbreiteten Einschätzungen der Sozialen Arbeit gibt eine Umfrage Auskunft, die vom Deutschen Berufsverband für Soziale Arbeit in Auftrag gegeben wurde. Erkundet werden sollten „Stellenwert und Funktionen der Sozialen Arbeit im Bewusstsein der Bevölkerung in Deutschland“ (DBSH 1998). Hier kommt

c)    eine weitere Meinung über den Wert der Sozialen Arbeit zum Vorschein, der besonders stark an der sozialen Problemlösung orientiert ist.

Die Ergebnisse dieser Umfrage beziehen sich nicht schlicht und einfach auf „die deutsche Bevölkerung“, vielmehr wird zwischen vier Bevölkerungsgruppen bzw. sozialen Milieus mit unterschiedlichen Werthaltungen unterschieden: zwischen einem „konservativen“ und einem „progressiven“ sowie zwischen einem konsummaterialistisch „außengerichteten“ und einem postmaterialistisch-idealistisch „innengerichteten“ Milieu. Dabei zeigt sich, dass eher progressiv eingestellte und innengerichtete Bevölkerungsteile die Soziale Arbeit vor allem deshalb wertschätzen, weil sie sie als Beitrag zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme ansehen, während in konservativen und außengerichteten Milieus eher der individuelle Bezug von Hilfeangeboten in prekären Lebenssituationen gewürdigt wird. Hier wird deutlich, wie sich die jeweils eigenen Werthaltungen der Bevölkerung in der Bewertung der Sozialen Arbeit wiederfinden.

Immer noch wird der Hilfeaspekt der Sozialen Arbeit hoch geschätzt, aber noch wichtiger wird offenbar die Ansicht, dass die Soziale Arbeit für die Allgemeinheit nützlich ist, weil sie dabei hilft, soziale Konflikte und deren Folgen wie zum Beispiel Kriminalität zu vermeiden und die Folgen des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes in der Gesellschaft zu mildern. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, „dass Soziale Arbeit ihre Erfolge und ihre gesellschaftliche Funktion über moralische und ethische Ansprüche hinaus gegenüber der Gesellschaft deutlicher machen muss als bisher“ (DBSH 1998, 5). Diese Funktion des Nutzens der sozialen Konfliktentschärfung wird der Sozialen Arbeit, der Umfrage zufolge, im gleichen Maße (nämlich nach der Ansicht von fast zwei Dritteln der Befragten) zugeschrieben wie einer „starken Wirtschaft“.

Der im Prinzip anerkannte moralische Wert der Sozialen Arbeit wird nach Ansicht von etwa einem Drittel bis der Hälfte der Befragten (vor allem aus dem konservativ-konsummaterialistischen Milieu) dadurch gemindert, dass es nach ihrer Ansicht unter den Hilfeempfängern allzu viele „Simulanten und Faulpelze“ gebe (in diesem Sinn unterschied man im 19. Jahrhundert zwischen denjenigen Notleidenden, die der Hilfe für „würdig“, und denen, die ihrer für „unwürdig“ erachtet wurden). „Beachtenswert ist, dass Soziale Arbeit häufig von denen kritischer gesehen wird, die selbst eher in die Lage kommen könnten, entsprechende Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen“ (DBSH 1998, 9). Dahinter stecken offenbar Motive der Wahrung von Selbstwertgefühlen und der Abgrenzung nach „unten“. Zugleich erkennen zwei Drittel der Befragten an, dass Sozialarbeiter wichtige Ansprechpartner für sozial Schwache und Ausgegrenzte seien und dass der Einsatz für deren Sache bewundernswert sei. Prägend für die Wertschätzung der Sozialen Arbeit ist dabei aber weniger die von ihr geleistete individuelle Hilfe als vielmehr ihr präventiver Nutzen für den sozialen Frieden.

Gegenüber den spöttisch abwertenden wie auch den moralisch aufwertenden Ansichten über Soziale Arbeit scheint heute also eher ein nüchterner Blick auf den gesellschaftlichen Nutzen verbreitet zu sein, wie er sich in der entsprechenden dritten Sichtweise ausdrückt. Kann man diesen Nutzen immerhin noch als eine Art sozialethischer Rechtfertigung der Sozialen Arbeit verstehen, so wird demgegenüber in einer vierten Ansicht das Moralische an der Sozialen Arbeit eher in den Hintergrund gedrängt. Es handelt sich dabei um den Blick der professionell Tätigen beziehungsweise derer, die diese Profession ergreifen wollen. In deren Auffassung geht es

d)    vorwiegend um das Interesse am „Sozialen“, dem man sich stärker als etwa zum Technischen oder Ökonomischen hingezogen fühlt.

Mit diesem Bild von Sozialer Arbeit sind keine emanzipatorisch-politischen Ansprüche verbunden. Das unterscheidet sie von den beiden erstgenannten Bildern, in denen immer noch Motive der „68er“-Zeit nachzuleben scheinen. Schon ein flüchtiger Blick auf die angehenden angeblichen Gutmenschen zeigt: Sozialarbeiterinnen (Studierende wie Praktikerinnen) tragen heute längst keine lila Latzhosen oder Strickkleider mehr, und Rauschebärte oder Sandalen sind in dieser Berufsgruppe nicht häufiger anzutreffen als bei Förstern, Fotografen oder Fond-Managern. Auch ist das Ziel, für das „Gute“ in der Welt einzutreten, indem man das „Schlechte“ zu verstehen und zu bessern versucht, bei heutigen Studierenden der Sozialen Arbeit kein maßgeblicher Grund für die Berufswahl. An erster Stelle wird stattdessen der viel schlichtere, aber auch umfassendere Wunsch geäußert, unmittelbar mit Menschen (statt in der Industrie oder im Handel) alltagsnah zu arbeiten, und dafür nimmt man auch eine tatsächlich oft lausige Bezahlung (wie es im „Sandalen“-Artikel heißt) in Kauf.

In ihrem Studium eignen sich Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter unterschiedliches fachliches Wissen an. Dazu gehören pädagogische, psychologische, soziologische, medizinische, ökonomische und andere Kenntnisse, aus denen die Sozialarbeitswissenschaft, die diese unterschiedlichen Ansätze integriert, die Möglichkeit und Wirksamkeit sozialarbeiterischer Interventionen ableitet. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Rechtfertigungen und Zielsetzungen dieses Handelns werden durch weitere Theorien erschlossen, vor allem durch rechtliches Wissen, Politische Theorie und Organisationslehre. Nach dem Ende des Studiums teilen sich dann üblicherweise die Wege. Während die einen ihren methodischen Zugang, angepasst an ihr besonderes Arbeitsfeld, mehr oder weniger auf eine bestimmte Bezugswissenschaft (zum Beispiel Psychologie oder Recht) einengen, verzichten die anderen weitestgehend auf theoretische Orientierungen und verlassen sich vor allem auf ihr berufspraktisches Erfahrungswissen. Gleichermaßen in beiden Fällen scheint das, was Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter tun, auf vielfache Weise festgelegt zu sein. Für jeweils bestimmte Fälle gibt es entsprechende Gesetze und Vorschriften, bewährte Vorgehensweisen und Strategien, eingeübte Verhaltensmuster, Routinen und ein Wissen um typische Verläufe, an denen sie sich orientieren können. Für das berufliche Handeln sind solche verlässlichen Regeln tatsächlich ebenso nützlich wie unerlässlich. Für Ethik und Moral scheint freilich in diesem Bild von Sozialer Arbeit kaum Platz oder Bedarf zu bestehen.

Fassen wir die bisher wiedergegebenen Ansichten zum Verhältnis von Sozialer Arbeit und Ethik noch einmal zusammen. Zu unterscheiden ist eine Außenansicht und eine Innenansicht der Sozialen Arbeit. Nach der Außenansicht ist die Soziale Arbeit eine „moralische Profession“. Je nachdem nun, welche Rolle man der Moral in der Gesellschaft zuerkennt,

a)    grenzt man sich gegen die moralische Naivität der Sozialarbeiterinnen ab oder

b)    man erkennt ihre moralische Motivation an.

c)    In einer dritten, zahlenmäßig inzwischen wohl überwiegenden Ansicht gesteht man der sozialen Arbeit weniger einen moralischen Auftrag als eine soziale Nützlichkeit durch die Entschärfung möglicher Konfliktpotenziale zu.

d)    Auch in der Innenansicht der Studierenden der Sozialen Arbeit scheint die Moral eine eher geringere Rolle zu spielen. Hier gilt die Soziale Arbeit in erster Linie als Aufgabe der Kompensation lebenspraktischer Defizite. Man eignet sich die Verfahrensweisen seines künftigen Jobs an, der durch die verschiedensten Vorschriften und Gesetze vielfach geregelt ist, man orientiert sich in seinen Methoden an praktischen Erfahrungen und (eher weniger) an wissenschaftlichen Erkenntnissen und man grenzt sich als professionelle Kraft von eventuell moralisch motivierten Ehrenamtlichen ab.

Jedoch haben alle diese vier Positionen jeweils spezifische Schwächen, die es notwendig machen, weiter zu fragen.

a)    Ist es in jedem Fall naiv, dass eine nachhaltige Verbesserung individueller oder sozialer Miseren bei einer Veränderung moralischer Einstellungen anzusetzen hat? Kann es nicht ebenso naiv sein, hier vordergründig auf Macht, Gewalt und Zwang zu vertrauen?

b)    Ist es ein besonderes moralisches Verdienst, das als bezahlten Beruf zu leisten, was andere moralisch verdienstvoll in altruistischer Einstellung tun? Auch ist auf moralische Absichten nicht viel zu geben, denn der Wert des konkreten Handelns erweist sich erst in der Verwirklichung der Absichten und in ihren Folgen.

c)    Welche moralischen Wertschätzungen liegen dem Ziel der sozialen Reibungslosigkeit zugrunde? Kann es nicht unter Umständen moralisch gerade erforderlich sein, Konfliktpotenziale zu stärken?

d)    Welchen Wertvorstellungen und moralischen Normen folgt die Soziale Arbeit, wenn sie bestimmte Verhältnisse als defizitär und andere als erstrebenswert anzieht? Ist ein Begriff wie der der Hilfe rein technisch-funktional zu begreifen, wenn man bedenkt, dass Helfen auch dazu benutzt werden kann, über den Hilfeempfänger Macht auszuüben und ihn in Abhängigkeit zu halten?

Diese Art kritischer Nachfragen nach den jeweils vorausgesetzten Vorstellungen von Moral ist nun genau die, die die ethische Reflexion der Profession Sozialer Arbeit ausmachen. Wichtig zu sehen ist hier, dass die Ethik keineswegs von vorn herein vom Wert und von der Richtigkeit einer Moral ausgeht. Während sie in den Fällen (a), (c) und (d) die moralische Dimension gegenüber ihrer Vernachlässigung zu verteidigen sucht, stellt sie sie im Fall (b) eher in Frage. Es gibt viele ‚Moralen‘ und viele ‚Nicht-Moralen‘, die sich alle mit dem Anschein der Selbstverständlichkeit umgeben, während es die Aufgabe der Ethik ist, nach ihrer Berechtigung zu fragen.

1.2       Ethische Reflexion in der Sozialen Arbeit

Für eine Professionsethik der Sozialen Arbeit ist die Tatsache, dass durch Soziale Arbeit Menschen in professionell bestimmten Notlagen geholfen werden soll, noch keineswegs eine ausreichende ethische Grundlage. Vielmehr werden in ethischen Überlegungen zur Sozialen Arbeit Fragen der folgenden Art zu erörtern sein: Wird das Hilfemotiv durch andersartige Motive oder Folgen des Handelns eventuell zunichte gemacht? Wie verhält es sich mit dem „moralischen und ethischen Anspruch“ an die Soziale Arbeit und ihrer tatsächlichen Wirkung? Wie lässt sich dies auf den unterschiedlichen Ebenen des individuellen Handelns, der institutionellen Kooperationen und der gesellschaftlich-strukturellen Ebene konkretisieren? Wieweit haben die Entscheidungen, die in der Sozialen Arbeit täglich zu treffen sind – jenseits aller moralistisch-illusionsbehafteten „Sandalen des Guten“ –, ein ethisches Gewicht? Welche Rolle spielen ethische Werthaltungen in der Sozialen Arbeit angesichts ihrer heute verbindlichen wissenschaftlichen (psychologischen, juristischen, soziologischen, medizinischen, ökonomischen usw.) Fundierung? Gibt es berufsethische Normen, die die Handlungsmöglichkeiten der sozialarbeiterisch Tätigen gleichsam mit Leitplanken und Stoppschildern begrenzen? Wie ist der von der Allgemeinheit finanzierte Aufwand der Sozialen Arbeit zugunsten der Betroffenen sozialethisch zu rechtfertigen?

Dabei ist im Sinne der zitierten Umfrage davon auszugehen, dass die Beziehung von Sozialer Arbeit und Ethik heute keine mehr ist, die sich von selbst versteht.

Soziale Arbeit ist weder moralisch naiv noch gleichsam automatisch moralisch wirksam. Ebenso wenig ist ihr ethischer Wert auf die Entschärfung sozialer Konflikte zu reduzieren, und schließlich ist sie auch keine moralfreie Sozialtechnik. Die Aufgabe der Ethik ist es nicht, das Gute bloß zu verkünden, sondern vielmehr zu prüfen, ob das Gute wirklich gut ist und unter welchen Bedingungen es seine Qualität verlieren kann.

In der Praxis der Sozialen Arbeit wird der Einsatzpunkt ethischer Überlegungen besonders in solchen Situationen deutlich, in denen alternative Entscheidungen gleichermaßen richtig und falsch erscheinen können. Das hat dann vielleicht zur Folge, dass, wie auch immer man sich entscheidet, ein ungutes Gefühl zurückbleibt. Solche Konfliktsituationen machen deutlich, dass in jeder professionellen Handlungssituation auch persönliche Ansichten und Abwägungen ins Spiel kommen. In jeder Entscheidung, in jeder Handlung drückt sich auch eine bestimmte Grundhaltung, eine Einstellung zum Gegenüber, eine Vorstellung vom Sinn des eigenen Tuns aus. Hierbei geht es nicht allein um die Frage, welche fachlichen Regeln zu befolgen sind, sondern um die eigentlich ethische Frage der persönlichen Verantwortlichkeit des Tuns. Verantwortlichkeit ist gefordert, weil die Soziale Arbeit in nahezu allen ihren Anteilen in das Leben der Betroffenen eingreift.

Dabei geht es nicht darum, bestimmte Lösungsmöglichkeiten solcher Konfliktsituationen als die einzig legitimen vorzuführen. Vielmehr kann eine Einführung in die Professionsethik sinnvollerweise nur das Ziel verfolgen, die Leserinnen und Leser zu einer eigenen ethisch begründeten Urteilsbildung anzuregen und damit deren (immer schon vorausgesetzte) ethische Kompetenz zu erweitern und zu stärken.

Wenn man die Grundidee der Sozialen Arbeit nicht allein als professionelle Lebenshilfe, sondern als Hilfe zur Selbsthilfe bezeichnen kann, dann gilt dies nicht weniger für eine Auseinandersetzung mit der Ethik der Sozialen Arbeit. Auch zu ethischem Wissen und Können kann einem nicht eigentlich von außen verholfen werden, denn das würde dem immanenten Sinn der Ethik, der moralischen Selbstbestimmung und Mündigkeit, zuwiderlaufen. Was Ethiktheorien (und dieses Buch über Ethik) stattdessen leisten sollten, ist gleichsam eine Hilfe zur Selbsthilfe, nämlich eine Hilfestellung zur Entwicklung einer ethischen Selbstorientierung. Diese ist eine notwendige Bedingung für ethisches Handeln, wenn auch keine hinreichende. Eine ethische Haltung, in der die zunächst kognitiven Orientierungen dauerhaft verinnerlicht sind, bedarf darüber hinaus der praktischen Einübung, der Bildung von Gewohnheiten.

Die ethische Selbstbesinnung lebt von der persönlichen Motivation und Bereitschaft der Einzelnen, das zunächst Selbstverständliche, Gewohnte und Alltägliche auf seine Geltung hin zu befragen. Aber sie ist auch nicht nur etwas Persönliches, sondern kann als ethische Reflexion aus einem ein über einen langen Zeitraum gewachsenen Arsenal von Prinzipien und Argumenten schöpfen. Auf dieses begriffliche Instrumentarium muss auch eine Ethik der Sozialen Arbeit zurückgreifen, will sie nicht gleichsam das Rad neu erfinden. Diese Rückgriffe müssen jedoch nicht unbedingt in ausdrücklicher Form erfolgen, und so tauchen auch im vorliegenden Buch, das der Einführung in die Thematik dient, Darstellungen von Theorien oder Theoremen aus der Geschichte der philosophischen Ethik nur ausnahmsweise auf. Im Vordergrund stehen vielmehr konkrete ethische Problemstellungen aus der sozialarbeiterischen Praxis. Die jeweils geeigneten Formen ethischer Reflexion sind auf diese Problemstellungen nicht einfach „anzuwenden“, sondern diesen auch immer wieder neu anzupassen.

Images Gut zu wissen – gut zu merken

Die Profession der Sozialen Arbeit ist von vornherein weder gegenüber den gesellschaftlich bestimmenden Kräften naiv noch moralisch gerechtfertigt, noch besteht ihr moralischer Wert in ihrer Funktion der sozialen Beruhigung. Auf der anderen Seite ist sie auch nicht moralisch neutral, sondern sie ist grundlegenden Werten des modernen Verständnisses von Individualität und Sozialität verpflichtet. Die Aufgabe der Ethik besteht in der nachhaltigen Prüfung unserer Gefühle und Meinungen über das Richtige und Gute in der Sozialen Arbeit. Ethische Reflexion wirkt, wie Soziale Arbeit, sinnvoll nur als „Hilfe zur Selbsthilfe“.

Images Literaturempfehlung

 

Kuhrau-Neumärker, Dorothea (2005): „War das o. k.?“ Moralische Konflikte im Alltag Sozialer Arbeit. Einführung in die Berufsethik. Münster u. a.: Waxmann.

 

2          WOZU ETHIK IN DER SOZIALEN ARBEIT?

Was Sie in diesem Kapitel lernen können

An einem ausführlicheren Beispiel lernen Sie die Vielfalt moralischer Bezüge im sozialarbeiterischen Handeln kennen. Es wird untersucht, wie es zu verstehen ist, dass wir Moral einerseits als etwas Individuell-Persönliches, andererseits als etwas Sozial-Verbindliches ansehen. Sodann wird gezeigt, wie die ethische Reflexion der Moral bei der lebensgeschichtlich erworbenen Moral ansetzt, um sie auf ihre guten Gründe hin transparent zu machen. Dies gilt auch für eine Sozialarbeitsethik. Worin aber besteht ihr Nutzen, wenn sie sich nicht den jeweils gegebenen Vorstellungen von Nützlichkeit unterwirft?

2.1       Ein Fall aus der Bewährungshilfe: Moralische Verpflichtungen und Verletzungen

Die 18-jährige Jennifer Mertens hat reichlich das genossen, was man üblicherweise eine „schwere Kindheit“ nennt. Diese war geprägt durch den Alkoholismus des Vaters sowie diverse Krankheiten der Mutter und überschattet von häuslicher Gewalt. Als Jennifer mit ihrem Freund in der S-Bahn unterwegs ist, legen sich beide mit einem zwölfjährigen Schüler an. Sie bedrohen und schlagen ihn, dann rauben sie ihm sein Taschengeld und seine teure Lederjacke.

Die Polizei hat die beiden Täter auf Grund von Zeugenaussagen bald ermittelt. Jennifer wird wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Raub zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wird. An den Geschädigten muss sie ein Schmerzensgeld zahlen. Dazu erhält sie die Auflagen, den Kontakt zu ihrer Bewährungshelferin zu halten und sich um einen Psychotherapieplatz zu bemühen.

Bei der nun anlaufenden Bewährungshilfe zeigt sich Jennifer wenig kooperativ. Sie gibt zu verstehen, dass sie keinerlei Unterstützung nötig habe und wolle. Zwar kommt sie zu den vereinbarten Terminen mit der Bewährungshelferin, aber es entsteht keine vertrauensvolle Beziehung. Dies ändert sich jedoch nach einigen Wochen, als Jennifer, die bislang noch bei den Eltern wohnte, um Unterstützung bei einer Wohnungssuche bittet. Sie war im Streit von zu Hause ausgezogen und ist nun wohnungslos.

Die Bewährungshelferin hilft Jennifer dabei, einen Antrag auf Kostenübernahme der Unterkunft zu stellen. Diese wird ihr in Verbindung mit einer Regelung über ambulant betreutes Wohnen gewährt. Auf Grund der erfolgreichen Bemühungen der Bewährungshelferin bei der Wohnungsbeschaffung verändert sich das Betreuungsverhältnis deutlich zum Besseren. Die Gespräche über die alltäglichen Probleme Jennifers und ihre weitere Lebensplanung werden intensiver, die Atmosphäre ist fast vertrauensvoll.

Dann aber, nach wenigen Wochen, erfolgt ein Rückschlag: Jennifer kommt mehrmals nicht zu vereinbarten Terminen, sie verringert den Kontakt zur Helferin beim ambulant betreuten Wohnen. Hinweise auf die Folgen dieser Nichteinhaltung der gerichtlichen Auflagen gehen ins Leere. Schließlich zerreißt das gesamte Hilfenetz, bestehend aus betreutem Wohnen, Bewährungshilfe und Jugendamt. Der zuständige Richter hat nun zu entscheiden, wie es mit Jennifer weitergeht.

Eine Studierende der Sozialen Arbeit berichtet diese Fallgeschichte in einer Seminarveranstaltung, in der es um die Reflexion der Erfahrungen im Praxissemester geht. Der Bericht bezieht sich, wie ersichtlich, auf ein Praktikum bei der Bewährungshilfe, einem Fachbereich im Ambulanten Sozialen Dienst der Justiz. In der Seminardiskussion über solche Fallgeschichten geht es vor allem darum, die verschiedenen Aspekte der jeweiligen eigenen beruflichen Rolle zu reflektieren.

Im Zusammenhang der vorliegenden Einführung in die Berufsethik der Sozialen Arbeit soll jedoch von vielen der hier möglichen Nachfragen zum Beispiel rechtlicher oder psychologischer Art abgesehen werden. Vielmehr beschränken wir uns auf ethische Aspekte. Wir suchen einen ersten Zugang zu der Frage, wozu Ethik in der Sozialen Arbeit gebraucht wird, wo die Orte ihres Einsatzes sind. Dazu tragen wir zunächst diejenigen ethischen Anteile zusammen, die die Fallgeschichte aufweist. Die Seminardiskussion über den Fall bringt eine Vielzahl von ihnen an den Tag, und mehr als die einzelnen Teilnehmer zunächst vermutet haben: