Die Frau des Zöllners

»Sechsundfünfzig, siebenundfünfzig, achtundfünfzig«, zählte Maigret.

Dabei wollte er nicht zählen. Es geschah mechanisch. Sein Kopf war leer, seine Lider waren schwer.

»Einundsechzig, zweiundsechzig.«

Er warf einen Blick hinaus. Die Fensterscheiben des Café Français waren in der unteren Hälfte mattiert. Darüber sah man nichts als die kahlen Bäume auf dem Platz und Regen, immerzu Regen.

»Dreiundachtzig, vierundachtzig.«

Er stand da, das Queue in der Hand, und sah sich in den Spiegeln ringsum.

Monsieur Le Flem, der Wirt, setzte seine Serie fort, ohne den Mund aufzutun, lässig, als wäre nichts dabei. Er ging von einer Seite des grünen Filzes auf die andere, beugte sich vor, richtete sich auf und folgte mit abwesendem Blick der Bahn der Kugeln.

»Hundertzweiundzwanzig, hundertdreiundzwanzig.«

Erst drei Uhr. Und erst der dreizehnte Januar. Maigret sah das Datum auf einem großen Kalender, der hinter der Kasse hing. So ging das schon drei Monate lang. Und …

Er hatte sich bei niemandem beschwert. Nicht einmal Madame Maigret wusste, warum er in Ungnade gefallen und als Hauptkommissar nach Luçon versetzt worden war. Da gab es Hintergründe, die niemanden etwas angingen.

Auch Madame Maigret war da, in der Mietwohnung über einem Klaviergeschäft. Es hatte bereits Reibereien gegeben mit der Hausbesitzerin, weil … Egal.

»Bis wohin spielen wir?«, fragte Le Flem, um zu wissen, wann er aufhören sollte.

»Hundertfünfzig.«

Maigret zog vorsichtig an seiner Pfeife. Mach schon! Hundertsiebenundvierzig, hundertachtundvierzig, hundertneunundvierzig, hundertfünfzig. Die Kugeln auf dem Tisch kamen zur Ruhe, die weißen hatten einen hässlichen Stich ins Gelbe, die rote war von einem ungesunden Rosa. Die Queues wurden in den Ständer zurückgestellt. Le Flem ging zum Zapfhahn, füllte zwei kleine Gläser und köpfte den Schaum mit einem Holzmesser.

Was gab es sonst zu sagen?

»Es regnet immer noch.«

Maigret schlüpfte in seinen Mantel, zog die Melone in die Stirn und ging kurz danach, vom Regen schraffiert, die Hände in den Taschen vergraben, durch die Straßen der kleinen Stadt.

Dann stieß er die Tür zu seinem Büro auf, dessen Wände voller amtlicher Bekanntmachungen waren. Er rümpfte die Nase wegen der Brillantine von Inspektor Méjat, ein fader Geruch, den keine zehn Pfeifen überdecken konnten.

Eine kleine alte Frau mit einer Haube über dem runzligen Gesicht saß auf einem Stuhl und hielt einen dieser riesigen Regenschirme vor sich, die für die Vendée typisch sind. Der Schirm tropfte, und auf dem Boden war bereits ein langes Rinnsal zu sehen, als hätte sich dort ein Hund verewigt.

»Was ist los?«, brummte Maigret, schloss die Schranke hinter sich und beugte sich über seinen einzigen Inspektor.

»Für Sie. Sie will nur mit Ihnen reden.«

»Wie? Hat sie meinen Namen erwähnt?«

»Sie hat den Kommissar Maigret verlangt.«

Die Alte merkte, dass von ihr die Rede war, und kniff würdevoll die Lippen zusammen. Aus alter Gewohnheit wühlte Maigret, noch bevor er den Mantel ausgezogen hatte, in den Papieren auf sei

»Also, Madame … Bleiben Sie bitte sitzen. Zunächst eine Frage: Von wem haben Sie meinen Namen?«

»Von meinem Mann, Herr Kommissar, von Justin Hulot. Wenn Sie ihn sehen, erinnern Sie sich bestimmt. So ein Gesicht vergisst man nicht so leicht. Er war beim Zoll in Concarneau, als Sie damals wegen dieser Sache kamen. Er hat in der Zeitung gelesen, dass man Sie nach Luçon versetzt hat. Das hat er mir gestern erzählt, als er sah, dass die Leiche immer noch im Zimmer lag.«

»Verzeihung. Was für eine Leiche?«

»Die beim Richter.«

Keine Frau, die sich leicht beeindrucken lassen würde. Maigret betrachtete sie mit mäßigem Interesse. Noch ahnte er nicht, wie vertraut ihm diese Adine Hulot, 64 Jahre alt, bald sein würde und dass er sie, wie alle anderen, dann Didine nennen würde.

»Zuerst müssen Sie wissen, dass mein Mann in Rente ist und wir in mein Heimatdorf gezogen sind, nach L’Aiguillon. Ich habe da ein Häuschen beim Hafen, von meinem verstorbenen Onkel geerbt. Aber L’Aiguillon kennen Sie sicher nicht …

Das hab ich mir gedacht. Dann werden Sie auch kaum verstehen, was … Aber an wen hätte ich

»Miesmuscheln?«, wiederholte Maigret.

»Der hat Muschelzäune wie mein verstorbener Onkel und überhaupt die meisten in L’Aiguillon. Er züchtet Miesmuscheln.«

Inspektor Méjat, dieser Idiot, hielt überlegenes Lachen für angebracht. Maigret bedachte ihn mit einem eisigen Blick.

»Entschuldigen Sie, Madame. Wie war das noch?«

Nein, sie ließ sich nicht entmutigen. Sie nahm sich Zeit. Und auch sie gab Méjat mit einem Blick zu verstehen, wie ungebührlich sein Lachen gewesen war.

»Es gibt keine dummen Berufe.«

»Natürlich nicht. Fahren Sie fort.«

»L’Aiguillon liegt etwas abseits vom Hafen. Es gibt dort nur ein paar Häuser, zwanzig etwa. Das größte gehört dem Richter.«

»Moment. Welchem Richter?«

»Forlacroix heißt er. War mal Friedensrichter in Versailles. Wenn Sie mich fragen, hat der Scherereien gehabt, und ich kann mir gut vorstellen, dass die Regierung ihn gezwungen hat, sein Amt aufzugeben.«

Sie mochte diesen Richter nicht. Und so klein

»Erzählen Sie mir von dieser Leiche. Ist es die Leiche des Richters?«

»Leider nicht! Solche wie der werden nie umgebracht!«

Alle Achtung! Maigret wusste nun, woran er war, und Méjat prustete in sein Taschentuch.

»Wenn Sie mich nicht ausreden lassen, werd ich ganz wirr im Kopf. Den wievielten haben wir? Den dreizehnten? Du lieber Gott, daran hab ich gar nicht gedacht.«

Rasch klopfte sie auf Holz und schlug das Kreuz.

»Vorgestern war’s, also am elften. Am Abend davor hatten sie Gäste …«

»Wer, ›sie‹?«

»Die Forlacroix. Doktor Brénéol war da mit seiner Frau und der Tochter, also der Tochter seiner Frau. Es ist nämlich so … aber das würde jetzt zu lang dauern. Also, die hatten wieder ihre kleine Soiree, wie alle zwei Wochen, da spielen sie Karten bis Mitternacht, und dann machen sie einen Höllenlärm, wenn sie mit den Autos wegfahren …«

»Sie wissen sehr genau, was bei Ihren Nachbarn vor sich geht …«

»Ich hab Ihnen ja gesagt, dass unser Haus, also das Haus von meinem verstorbenen Onkel … na

Ein Flämmchen, das Madame Maigret gefallen hätte, leuchtete in den Augen des Kommissars auf. Er rauchte jetzt in sehr kurzen Zügen, ging zum Ofen, stocherte darin herum und blieb dann mit dem Rücken zum Feuer stehen.

»Und diese Leiche …«

»Am nächsten Morgen, am elften, hab ich gesagt, nicht wahr? Am nächsten Morgen also wollte mein Mann das gute Wetter ausnutzen und die Apfelbäume zurückschneiden. Ich habe ihm die Leiter gehalten. Von da oben konnte er über die Mauer schauen. Er war auf einer Höhe mit dem ersten Stock vom Haus des Richters. Ein Fenster stand offen. Und plötzlich kommt er runter und sagt zu mir: ›Didine.‹ Ich heiße Adine, aber alle nennen mich Didine. ›Didine‹, hat er also gesagt, ›in dem Zimmer, da liegt einer am Boden.‹

›Am Boden?‹, sage ich und kann es kaum glauben. ›Warum soll da einer am Boden liegen, wo’s doch massenhaft Betten in dem Haus gibt.‹

›Ist eben so. Ich steig noch mal hoch und seh nach.‹

Er klettert wieder hoch und kommt wieder runter. Also, der Mann trinkt niemals einen Tropfen, und wenn der was sagt … Außerdem hat er Grips. Sonst wäre er ja nicht 35 Jahre lang Beamter gewesen.

›Komisch‹, sagt er, als er zurück ist. ›Mit dem Bus ist gestern niemand gekommen, und ein fremdes Auto hat auch keiner gesehen.‹

Das hat ihm keine Ruhe gelassen, verstehen Sie? Er sagt, ich soll ihm noch mal die Leiter halten. Und dann sagt er, dass der Mann immer noch am Boden liegt.

Am Abend hat er gewartet, bis alle Lichter aus waren.«

»Was für Lichter?«

»Die beim Richter. Die Fensterläden hinten machen die nämlich nie zu. Denken wohl, dass man da nicht reingucken kann. Und dann ist der Richter in das Zimmer gegangen und lange dringeblieben.

Mein Mann hat sich angezogen und ist rausgerannt.«

»Warum?«

»Falls der Richter auf die Idee kommt, die Leiche ins Wasser zu schmeißen. Er war aber gleich wieder zurück.

›Es ist Niedrigwasser‹, hat er gesagt. ›Da würde man bis zum Hals im Schlick versinken.‹

Am nächsten Morgen …«

Maigret war sprachlos. Er hatte im Lauf seiner Karriere schon einiges erlebt, aber diese beiden

»Am nächsten Morgen war die Leiche immer noch da, lag genau gleich da.«

Sie sah Maigret an, als wollte sie rufen:

Sehen Sie, wir hatten recht!

»Den ganzen Tag hat mein Mann das Haus überwacht. Um zwei hat der Richter seinen üblichen Spaziergang gemacht, zusammen mit seiner Tochter.«

»Aha, der Richter hat eine Tochter.«

»Von der erzähl ich Ihnen ein andermal. Das ist vielleicht eine! Einen Sohn hat er auch. Aber das würde jetzt zu kompliziert werden. Wenn der Beamte hinter uns mal aufhören würde, vor sich hin zu prusten, erzähl ich weiter.«

Das saß.

»Gestern Abend war um 21.16 Uhr Hochwasser. Da hätte er es nicht tun können, verstehen Sie? Bis Mitternacht sind immer Leute unterwegs. Und nach Mitternacht wär nicht mehr genug Wasser da gewesen. Und drum haben mein Mann und ich entschieden, dass er das Haus im Auge behält und ich zu Ihnen gehe. Ich habe den 9-Uhr-Bus genommen. Der Herr da hat gesagt, Sie kommen heute vielleicht nicht, aber ich hab gewusst, der will mich bloß loswerden. Mein Mann hat gesagt: ›Sag dem

»Verzeihung«, unterbrach Maigret. »Wann fährt der nächste Bus nach L’Aiguillon?«

»Der ist schon weg.«

»Wie viele Kilometer sind das, Méjat?«

Méjat studierte die Wandkarte des Département.

»Rund dreißig.«

»Ruf ein Taxi!«

Selbst wenn Didine und ihr Zöllner eine Meise hatten – dann würde er die Fahrt eben selbst bezahlen!

»Seien Sie so nett, und lassen Sie den Wagen bitte kurz vor dem Hafen halten. Dann kann ich aussteigen und werde nicht mit Ihnen gesehen. Besser, wir tun so, als würden wir uns nicht kennen. Die Leute in L’Aiguillon sind so misstrauisch! Nehmen Sie sich ein Zimmer im Hôtel du Port. Das ist das bessere von den beiden. Und nach dem Abendessen kommen fast alle da vorbei. Und falls Sie das Zimmer kriegen, das auf das Dach des Tanzsaals hinausgeht, dann sehen Sie das Haus des Richters.«

»Geben Sie meiner Frau Bescheid, Méjat.«

»Was es alles gibt! Die Reichen haben es wirklich gut!«

Moore. Endlose Flächen, von Kanälen durchschnitten, ab und zu ein niedriges Bauernhaus, eine cabane, wie man in der Vendée sagt, und Haufen getrockneter Kuhfladen, die man als Brennstoff verwendete.

Maigret spürte, dass sich etwas in ihm regte, etwas wie Hoffnung. Noch mochte er sich ihr nicht hingeben. Konnte es sein, dass der Zufall ihm hier, in der hintersten Vendée, wohin man ihn verbannt hatte, in die Hände spielen würde?

»Fast hätte ich es vergessen: Hochwasser ist heute um 22.51 Uhr.«

Erstaunlich, mit welcher Präzision diese kleine Alte sprach.

»Wenn er die Leiche loswerden will, wird er das ausnutzen. Es gibt eine Brücke über den Lay, kurz bevor er in den Hafen mündet. Ab elf wird mein Mann auf der Brücke sein. Wenn Sie also mit ihm reden wollen …«

Sie klopfte gegen die Trennscheibe.

Sie ging hinaus in die flüssige Nacht, wo ihr Regenschirm sich einem Ballon gleich blähte. Wenig später stieg Maigret vor dem Hôtel du Port aus dem Taxi.

»Soll ich auf Sie warten?«

»Nein, fahren Sie zurück nach Luçon.«

Blau gekleidete Männer, Fischer oder Muschelzüchter, Karaffen mit Weißwein oder Rosé auf langen Tischen aus lackiertem Pitchpine. Eine Küche. Und ein Tanzsaal, der nur sonntags genutzt wurde. Es roch neu. Weiße Wände. Die Decke aus hellem Tannenholz. Eine Treppe, zierlich wie ein Spielzeug, das Zimmer ebenfalls weiß, ein Bett aus emailliertem Eisen, Vorhänge aus Cretonne.

»Ist das dort drüben das Haus des Richters?«, fragte er das Mädchen vom Hotel.

Hinter einem Dachfenster, das wohl über dem Treppenhaus lag, brannte Licht. Man wollte ihn in das Restaurant geleiten, das eigentlich den Sommergästen vorbehalten war, aber Maigret ging lieber in den großen Gemeinschaftsraum. Man servierte ihm Austern, Miesmuscheln, Garnelen, Fisch und Lammkeule, während die Männer mit starkem Akzent über das Meer fachsimpelten, insbesondere über Miesmuscheln, wovon Maigret kein Wort verstand.

»Die ganze Woche nicht. Das heißt, doch, vorgestern … Nein, einen Tag davor. Da ist einer mit dem Bus gekommen. Er hat reingeschaut und gesagt, er kommt zum Abendessen. Aber dann hat man nichts mehr von ihm gesehen.«

 

Maigret stieß ständig gegen irgendwelche Dinge: Schienen, Körbe, Stahltrossen, Kisten und Austernschalen. Das Ufer war verstellt mit Hütten, in denen die Muschelzüchter ihr Material verstauten. Ein Dorf aus Holz, nur ohne Bewohner. Ein Heulen, alle zwei Minuten. Das Nebelhorn von der Pointe des Baleines auf der Île de Ré jenseits der Meerenge, hatte man ihm erklärt.

Am Himmel leuchtete es immer wieder undeutlich auf: die Lichter zweier oder dreier Leuchttürme verloren sich im Nassen.

Das Murmeln bewegten Wassers. Die Flut drängte den kleinen Fluss zurück, dessen Wasser immer weiter stieg, und bald – um 22.51 Uhr, hatte die Alte gesagt – würde Hochwasser sein.

Ein Liebespaar lehnte dem Regen zum Trotz an einer Hütte, Mund an Mund, wortlos, reglos.

Er suchte die Brücke ab, eine endlos lange Holzbrücke, kaum breit genug für ein Auto. Masten ließen sich erahnen, Boote, die auf den Wellen schau

»Sind Sie’s, Herr Kommissar?«

Er zuckte zusammen. Fast wäre er gegen einen Mann geprallt, der ihn jetzt mit schielenden Augen ansah.

»Justin Hulot. Meine Frau hat mir gesagt … Ich bin schon seit einer Stunde hier, für den Fall, dass dem plötzlich einfällt …«

Der Regen war kalt. Eisige Luft stieg aus dem Hafenbecken auf. Taukloben knirschten, unsichtbare Dinge führten ihr nächtliches Leben.

»Damit Sie auf dem neusten Stand sind: Als ich um drei die Leiter hoch bin, war die Leiche noch da. Um vier wollte ich sie noch einmal sehen. Bevor es dunkel wurde. Tja, und da war sie nicht mehr da. Er muss sie runtergeschafft haben. Die liegt bestimmt gleich hinter der Tür, damit es schnell geht, wenn es so weit ist. Ich frag mich bloß, wie der die tragen will. Der Richter ist nämlich kleiner als ich und schmächtiger. Also, von der Größe und vom Gewicht her ungefähr so wie meine Frau. Der andere hingegen … Pst!«

Jemand ging im Dunkeln vorbei. Die Planken der Brücke erbebten eine nach der anderen. Als die Gefahr vorbei war, fuhr der Zöllner fort:

Diesmal war es das Liebespaar, das sich aufs Brückengeländer stützte und auf den Fluss im Dunkeln hinunterblickte. Maigret hatte kalte Füße. Wasser war in seine Schuhe gesickert. Er stellte fest, dass der Zöllner Gummistiefel trug.

»Der Gezeitenkoeffizient beträgt 108. Um sechs Uhr früh fahren alle zu den Muschelbänken raus.«

Er sprach gedämpft, wie in der Kirche. Das war beeindruckend und zugleich ein bisschen grotesk. Maigret fragte sich, ob er nicht doch besser in Luçon geblieben wäre, im Café Français, um mit dem Wirt, Doktor Jamet und dem Eisenwarenhändler Bourdeuille Karten zu spielen, während der vertrottelte alte Memimot hinter ihnen saß und dauernd den Kopf schüttelte.

»Meine Frau beobachtet die Rückseite des Hauses.«

Dann war die kleine Alte also noch mit von der Partie?

»Man weiß nie. Vielleicht holt er ja sein Auto raus und bringt die Leiche weiter weg.«

Drei Pfeifen … Vier Pfeifen … Manchmal öffnete und schloss sich die Tür des Hotels, Schritte, die sich entfernten, Stimmen. Dann gingen die Lichter aus. Ein Ruderboot glitt unter der Brücke hindurch.

»Das ist der alte Bariteau, der seine Aalreusen auslegt. Der kommt erst in zwei Stunden wieder zurück.«

Wie fand sich der alte Bariteau in dieser Dunkelheit zurecht? Rätselhaft. Man spürte, dass das Meer ganz in der Nähe war, gleich hinter der Mündung, schmeckte es bei jedem Atemzug. Es schwoll an, drängte unaufhaltsam die Flussmündung hoch.

Maigrets Gedanken drifteten weg. Warum, hätte er nicht sagen können. Er dachte an die vor Kurzem erfolgte Zusammenlegung von Kriminalpolizei und Sûreté Générale und an gewisse Reibereien, die … Luçon! Man hatte ihn nach Luçon versetzt, wo …

»Schauen Sie!«

Die Hand des Ex-Zöllners krampfte sich um seinen Arm.

Das alles spottete doch jeder Wahrscheinlichkeit. Die Vorstellung, dass diese beiden Alten … Die Leiter, die Didine festhielt. Das Fernglas. Die exakte Berechnung der Gezeiten …

»Sie haben die Lichter gelöscht.«

Was sollte daran besonders sein, dass um diese Zeit beim Richter die Lichter gelöscht wurden?

Maigret ging auf Zehenspitzen, damit die Brückenplanken nicht ins Schwingen gerieten. Das Nebelhorn klang beinahe wie eine brüllende Kuh. Das Wasser hatte unterdessen fast schon die Hütten am Ufer erreicht. Er stieß gegen einen kaputten Korb.

»Pst!«

Da sahen sie, wie beim Haus des Richters die Tür aufging.

Ein kleiner Mann trippelte zur Schwelle, blickte nach links und nach rechts und ging zurück in den Flur.

Im nächsten Augenblick geschah das Unwahrscheinliche: Der kleine Mann tauchte wieder auf. In gebückter Haltung zog er etwas Langes durch den Matsch.

Etwas Schweres, wie es schien. Nach vier Metern hielt er inne, um Atem zu schöpfen. Die Haustür war offen geblieben. Bis zum Meer waren es noch zwanzig, dreißig Meter.

»Uff!«

Der Laut war zu erahnen ebenso wie die Anspannung sämtlicher Muskeln. Es regnete noch immer. Auf Maigrets dickem Ärmel zitterte und zuckte die Hand des Zöllners.

»Sehen Sie!«

»Sagen Sie, mein Lieber …«

Die Szene hatte etwas Gespenstisches, denn der Richter ahnte nichts. Er glaubte, in der Tiefe der Nacht allein zu sein. Ab und zu streifte ihn der Schein des Leuchtturms, und ein alter Gabardinemantel und ein Filzhut wurden sichtbar. Maigret bemerkte sogar, dass eine Zigarette zwischen seinen Lippen steckte, die aber wohl im Regen ausgegangen war.

Zwischen ihnen lagen nur noch vier Meter. Der Kommissar und Didines Mann standen neben einer Baracke. Sie machten keine Anstalten, sich zu verstecken. Wenn der Richter sie nicht sah, dann einzig darum, weil er den Kopf nicht in ihre Richtung drehte. Er kam nicht vom Fleck. Die Last, die er hinter sich herzog, war an einem Tau hängen geblieben, das in zwanzig Zentimetern Höhe über den Quai gespannt war. Das musste er überwinden. Es fiel ihm schwer. Er war sichtlich keine schweren Arbeiten gewohnt und wischte sich mit der Hand über die Stirn.

»Sagen Sie, mein Lieber …«

Der Richter wandte den Kopf, sah die beiden Männer. Riesenhaft Maigret, winzig der Zöllner. Es war zu dunkel. Vom Gesicht des Richters ließ sich nichts ablesen. Ein paar endlos lange Sekunden vergingen. Dann hörte man eine Stimme. War sie unsicher?

»Verzeihung! Wer sind Sie?«

»Kommissar Maigret.«

Er war näher gekommen, konnte aber vom Gesicht des Richters immer noch nicht viel erkennen. Seine Füße berührten fast die Leiche, die in Säcke gewickelt schien. Wie konnte der Richter in einer solchen Situation, staunend und voller Hochachtung sagen:

»Der Maigret von der Kriminalpolizei?«

In den Häusern ringsum schliefen die Leute. Draußen im nächtlichen Rauschen suchte der alte Bariteau im Meeresgrund nach Löchern für seine Aalreusen.

»Vielleicht ist es besser so.«

Das war immer noch der Richter.

»Möchten Sie hereinkommen?«

Er machte ein paar Schritte, als hätte er das Bündel vergessen. Um sie herum lastete eine solche Stille, dass sie in Zeitlupe zu leben schienen.

Er bückte sich. Maigret half ihm. Die Haustür stand noch offen. Der Zöllner blieb auf der Schwelle stehen, und Forlacroix, der ihn nicht erkannt hatte, fragte sich, ob der Mann wohl auch hereinkommen wolle.