Udo Baer

Die Weisheit
der Kinder

Wie sie fühlen, denken
und sich mitteilen

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Klett-Cotta

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-86122-8

E-Book: ISBN 978-3-608-11082-1

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20388-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Einige einleitende Worte

Vom ersten Tag ihres Lebens an versuchen Kinder, uns Erwachsene zu verstehen. Sie müssen sich darum bemühen, um sich ihre Lebenswelt zu erschließen und in ihr zurechtzukommen. Die ganze Welt ist für sie zunächst fremd und befremdlich. Die Menschen um sie herum geben Laute und Zeichen von sich, die unverständlich sind. Die Säuglinge spüren eher, als dass sie »wissen«, was die anderen ihnen signalisieren, sie spüren es an Berührungen, Blicken, Atmosphären.

Je älter Kinder werden, desto mehr Fähigkeiten haben sie erworben, die Welt und insbesondere die Menschen darin zu verstehen. Doch es bleibt mühsam, sich in der Welt zurechtzufinden. Denn große Lücken im Verstehen bleiben, und immer neue, immer weitere und immer wieder zunächst fremde Lebensbereiche öffnen sich und werden erreichbar: der Kindergarten, die Schule, der Sport, die Freunde und Freundinnen, die Musik, die Bücher, das Internet … Als Kind sich die Absicht der Mutter, die Ermahnung des Vaters und die Verhaltensweisen der Erzieherin oder des Lehrers zu erschließen, bleibt eine immerwährende Herausforderung. Das, was wir Erwachsene als kindliches Lernen bezeichnen, ist ein immerwährendes Bemühen um Verstehen und Verständnis.

Kinder sind in diesem Ringen erfolgreich. Nicht immer, aber meistens. Manches bleibt für sie unerklärlich; manche resignieren in ihren Bemühungen, doch viele erhalten sich ihre Neugier und ihren Hunger nach Verstehen. Dieser Weg der Kinder ist eine enorme Leistung, die wir würdigen sollten. Umso wichtiger ist, dass auch wir Erwachsene uns darum bemühen sollten, Kinder zu verstehen. Es ist der Mühe wert. Aus unserem eigenen Interesse und im Interesse der Kinder.

Wie oft haben wir als Eltern und andere Erziehende den Eindruck, dass wir Kinder nicht erreichen! Wie oft kommt es uns vor, als würden wir an ihnen »vorbeireden«! Wie oft kommt uns manches im Verhalten von Kindern unerklärlich und unverständlich vor! Kinder besser zu verstehen, liegt deshalb im Interesse der Erwachsenen, weil jedes Verstehen die Beziehung zu den Kindern leichter macht.

Und auch den Kindern dient jede noch so kleine Verbesserung des Verstehens. Kinder wollen gesehen und gehört werden. Kinder wollen verstanden werden. Kinder brauchen Verständnis. Das fördert ihr Lebensglück und das stärkt ihr Selbstwertgefühl.

Doch das Verstehen ist für Eltern und andere Erwachsene gar nicht so leicht. Wenn wir fragen, erhalten wir oft keine Antworten. Häufig ist unser Blick von unseren Erfahrungen und Interessen als Erwachsene geprägt. Wir haben gelernt und hören immer wieder, wie Kinder sein sollen, was Kinder lernen sollen, wie sie werden sollen. Und wir bekommen Ratschläge, wie wir erziehen sollen, ob als Eltern oder in Kindergarten und Schule. All das bezeichne ich als den Erwachsenenblick auf die Kinder. Dieser Blick trübt oft die Wahrnehmung. Er lässt manche, oft viele und v. a. gewichtige Aspekte des kindlichen Erlebens außen vor, die zum Verstehen der Kinder wesentlich sind. Wenn Achims Leistungen in der Schule absinken und er immer häufiger vor sich hin träumt und das, was andere sagen, nicht mitbekommt, dann macht das der Lehrerin und den Eltern Sorgen. Sie wollen, dass Achims Lernleistungen stimmen, und versuchen, ihn durch Druck und versprochene Belohnungen zu mehr Aufmerksamkeit anzuspornen. Das ist die Perspektive der Erwachsenen.

Achims Verhalten aus der Perspektive seines Erlebens zu betrachten, zeigt anderes: Achim hat Kummer. Sein bester Freund ist in eine andere Stadt gezogen. Er ist traurig und enttäuscht. Er fühlt sich allein. Das zu zeigen, geht für einen 12-jährigen Jungen nicht, das wäre uncool. Er ist nicht »unaufmerksam«, sondern seine Aufmerksamkeit wird von seiner Wehmut und Traurigkeit in Anspruch genommen. Wenn seine Eltern und die Lehrerin dies verstehen würden, könnten sie anders reagieren.

Ich schlage vor, die Erwachsenenperspektive beizubehalten, weil sie nun einmal die von uns Erwachsenen ist, UND uns darum zu bemühen, die Kinderperspektive zu erfassen, sich zumindest ihr anzunähern. Dazu möchte ich mit diesem Buch einen Beitrag leisten. Es versucht, das Erleben der Kinder aus ihrer Perspektive heraus aufzuzeigen und zu verstehen.

Dabei sind mir zwei Aspekte besonders wichtig:

Ich gehe davon aus, dass unbewusst jedes Verhalten eines Kindes einen Sinn enthält. »Sinn« kommt vom mittelhochdeutschen »sin« und bedeutet »Richtung«, wie es im Wort »Uhrzeigersinn« noch gebräuchlich ist. Sinn meint also eine Richtung, in die das Verhalten weist. Wenn ein Kind unruhig ist, kann der »Sinn« darin bestehen, dass es unbewusst zeigen will, dass es durch irgendetwas beunruhigt ist. Wenn ein Kind seine Traurigkeit über den Auszug des Vaters nicht zeigt und verstummt oder einnässt, dann kann der »Sinn« seines Verhaltens darin bestehen, dass es die Mutter schonen will, die über das Scheitern der Ehe verzweifelt. Ich habe mir immer die Frage gestellt, welchen Sinn die Äußerungen und das Handeln eines Kindes haben könnten (auch wenn es von außen gesehen »unsinnig« und »widersinnig« oder »kindisch« schien), ich habe beobachtet, ich habe »mitgefühlt«, und ich habe gefragt. Was ich dabei erfahren habe, hat mich immer wieder zum Staunen gebracht. Dieses Staunen möchte ich hier in Worte fassen und mit Ihnen teilen.

Und zweitens darf es nicht dabei bleiben, dem zuzuhören, was Kinder uns sagen. Es gilt, auch das anzunehmen, was sie uns nicht sagen, aber zeigen, oder was sie uns kundtun, indem sie etwas nicht zeigen. Ich bin der festen Überzeugung, dass dazu auch das gehört, was Kinder in uns hervorrufen. Wenn ich im Umgang mit einem Kind hilflos bin, dann nehme ich dies als Spur, dass das Kind mir dadurch seine Hilflosigkeit zeigt, für die es keine Worte hat. Ich nenne das die Weisheit der Kinder.

Wenn ich hier für das Verstehen der Kinder werbe, dann beinhaltet das nicht, dass ich allem, was Kinder denken und unternehmen, einfach zustimme oder zu dieser Art von falsch verstandener Toleranz und Akzeptanz auffordere. Kinder brauchen auch Grenzen, Kinder brauchen auch Erwachsene mit eigenen Auffassungen und klaren Regeln, die ihnen Halt und Sicherheit geben. Kinder brauchen kritische Auseinandersetzungen. Wenn diese auf einem Boden des Verständnisses erfolgen, was ein Kind gerade bewegt und umtreibt, dann können auch solche Konflikte in einer grundsätzlich friedvollen Atmosphäre und würdigenden Haltung ausgetragen werden, in der Kinder wachsen können und nicht erniedrigt werden.

Dieses Buch soll deshalb ein Kinder-Versteher-Buch sein. Es wendet sich an Eltern, PädagogInnen, SozialpädagogInnen, ErzieherInnen, LehrerInnen und andere Menschen, die mit Kindern arbeiten. Es beruht auf meinen Erfahrungen als Vater und Großvater, als Pädagoge und als Therapeut.

Ich werde in diesem Text verschiedene Aspekte kindlichen Erlebens beschreiben, so wie ein Scheinwerfer sein Licht auf diesen oder jenen Aspekt der Bühne des Lebens wirft. Dabei bin ich mir bewusst, dass ich als Erwachsener den Scheinwerfer bediene. Ich hoffe und bemühe mich, möglichst offen für die vielfältigen Facetten und Zwischentöne kindlichen Erlebens zu sein, die das Licht meines Scheinwerfers zurückstrahlt. Ich werde, so oft es geht, Kinder zitieren und von Kindern erzählen.

Sie werden manchmal das Kind oder die Kinder wiedererkennen, mit denen Sie leben oder arbeiten. Und an anderen Stellen werden Sie denken: »Das ist bei meinem Kind anders.« Ja, jedes Kind ist einzigartig, und das ist wunderbar so. Deswegen wählen Sie beim Lesen aus, nehmen Sie die Geschichten und Darlegungen als Anregung. Auch alle Empfehlungen, die ich im zweiten Teil des Buches ausspreche, sind keine »Du-musst-Keulen«, sondern das, als was ich bezeichne: Empfehlungen.

Ich unterscheide in der Auswahl meiner Beispiele und in den Texten bewusst nicht zwischen eher alltäglichen Erfahrungen der Kinder und schwerwiegenden, z. B. traumatischen, Verletzungen der Kinder. Die Weisheit der Kinder zeigt sich überall. Die Kinder äußern sie auf unterschiedliche Weise und passen dies ihren Lebensbedingungen an. Doch ihre Weisheit zeigen sie immer.

Ich hoffe, mit dem Buch zum tieferen Verstehen der Kinder beizutragen. Im Interesse der Kinder und der Erwachsenen und im Interesse einer gelingenden Beziehung zwischen ihnen.

Teil A

Kinder verstehen

1 »Es brennt!« – Von der Wirksamkeit und Unwirksamkeit

Kinderszenen

Die kleine Ayse sitzt in ihrem Kindersitz. Sie hat gegessen. Sie nimmt den Plastiklöffel in die Hand, mit dem sie gefüttert worden war, und schlägt mit ihm auf die Ablage vor ihrem Kindersitz. Dabei strahlt und lacht sie: Sie ruft ein Geräusch hervor! Doch nicht nur das, ihre Wirkung geht darüber hinaus. Die Eltern und die Geschwister am Esstisch werden aufmerksam und lachen zurück. Sie freuen sich mit.

Dann nimmt Ayse den Löffel, hält ihn neben sich und lässt ihn auf den Boden fallen. Die Mutter springt auf und sagt: »Oh, Ayse, du hast etwas fallen gelassen.« Sie hebt den Löffel auf und gibt ihn Ayse zurück. Ayse strahlt noch mehr. Sie nimmt den Löffel, guckt nun den Vater an und lässt den Löffel fallen. Der Vater schmunzelt, steht auf und gibt Ayse den Löffel. Die Prozedur wiederholt sich mehrere Male. Ayse strahlt und juchzt. Sie ist wirksam. Sie ruft nicht nur Geräusche hervor. Nein. Ihre Wirksamkeit reicht weiter. Sie bewirkt, dass die Mutter und der Vater etwas tun: den Löffel aufheben und ihn ihr wiedergeben. All das ist mehr als ein Haschen um Aufmerksamkeit: Ayse übt Beziehungswirksamkeit.

Verstehen

Das Gefühl, wirksam zu sein, ist den meisten Menschen nicht bewusst. Erst wenn Menschen die Erfahrung machen, unwirksam zu sein, spüren sie dieses Gefühl und seine Bedeutung. Unwirksam zu sein, hat Konsequenzen.

In dem Buch »ABC der Gefühle«1 befragten wir Gefühle, als wären sie Personen. Da sagen die Wirksamkeit und die Unwirksamkeit über sich: »Wir beide, Wirksamkeit und Unwirksamkeit, gehören auf immer zusammen; wir sind eins. Niemand darf uns trennen, das ist unsere größte Angst. Würden wir nur als Wirksamkeit existieren, würden die Menschen das Scheitern nicht kennen, dann könnten sie daraus nicht lernen, sondern würden größenwahnsinnig und eitel werden. Wenn wir nur als Unwirksamkeit in einem Menschen existierten, würden wir von ihm Besitz ergreifen und ihn lahmlegen. Das passiert manchmal bei Kindern und Jugendlichen. Wenn nicht nur das eine oder andere, das sie tun, unwirksam bleibt, sondern alles, dann verliere ich, die Unwirksamkeit, meine Lebenspartnerin und damit jede Hoffnung und Sinnhaftigkeit. Ich werde als Unwirksamkeit zum bestimmenden Grundgefühl und lande bei immer sinnloserer Gewalttätigkeit, entweder gegen andere oder gegen die Person selbst, in der unbewussten verzweifelten Hoffnung, doch noch irgendetwas bewirken zu können.«

Wenn Kinder positive Wirksamkeitserfahrungen machen, dann verstärkt das ihr Interesse und ihre Bemühungen. Wenn ein Kind in der Schule lernt und dadurch bei der nächsten Klassenarbeit Erfolg hat oder zumindest die wohlwollende Aufmerksamkeit eines Lehrers oder einer Lehrerin hervorruft, dann zieht es daraus Befriedigung. Wenn die kleine Ayse bewirkt, dass die Eltern und Geschwister strahlen und mit ihr froh sind und sich bewegen, um den Löffel aufzuheben, dann erfreut sie das.

Doch wenn Ayse mit dem Löffel klopfen und ihn fallenlassen würde, es würde aber niemand reagieren oder es gebe nur genervte Reaktionen: »Lass das!«, dann würde dies Ayse frustrieren. Wenn Bemühungen in der Schule oder Bemühungen um Freundschaft nicht registriert werden, dann fühlen Kinder, dass sie ins Leere gehen, was sie oft verzweifeln lässt. Sie greifen dann manchmal zu destruktiven Wirksamkeitsbemühungen, zerstören etwas, manchmal auch sich selbst. Oder sie resignieren.

Eltern neigen manchmal dazu, die Wirksamkeitsbemühungen der Kinder nicht als solche zu verstehen, sondern nur die Auswirkungen zu betrachten: den Lärm, die Verschmutzung, die Unordnung. Selbstverständlich sollten da Grenzen gesetzt werden. Doch der Anfang und der Kern unserer Reaktionen sollten die Begeisterung und das Staunen sein, dass und wie Kinder sich um Wirksamkeit bemühen.

Leid, Sinn, Weisheit

Tim ist ein freundlicher Junge. Er fällt nicht auf, hat wenig Freunde, kommt aber mit allen zurecht. In der Schule ist er Mittelmaß. Bei den LehrerInnen gilt er als »pflegeleicht«. Er bemüht sich, stört nicht, eckt nicht an. Tim wohnt mit seinem Vater und dessen neuer Freundin auf dem Land. In der alten, leerstehenden Scheune versucht er, in einer Ecke ein Feuer zu machen. Der Vater kommt zufällig hinzu, schimpft und tritt das Feuer aus. Er verbietet ihm den Umgang mit Streichhölzern. Zwei Wochen später zündelt Tim wieder. Ein Junge aus der Nachbarschaft ist in der Nähe, sieht die Flammen und schreit: »Es brennt!« Das Feuer kann gelöscht werden. Der Vater ist entsetzt. Er sagt: »Warum machst du denn so einen Unsinn?! Ich versteh das nicht!«