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Sugar

Dead

KRIMINALROMAN

ALEXANDER KAUTZ

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2018

© 2018 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Lektorat: Liselotte Hammond

Coverfoto: © Shutterstock, Roman Samborskyi; Umschlag innen: links

© Shutterstock, ivosar, rechts © Shutterstock, Jaromir Chalabala

ISBN 978-3-99200-224-5

eISBN 978-3-99200-225-2

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

1

Die hell beleuchteten Schaufenster auf der Mariahilfer Straße waren überladen mit kitschiger Weihnachtsdekoration, allzu bekannte Songs legten sich als Klangwolke über die Fußgängerzone und unterbezahlte Statisten in billigen Santa-Claus-Kostümen nervten die Passanten mit unprofessionell gestalteten Flugblättern. Der graubraune Schneematsch saugte sich erbarmungslos in jedes Schuhwerk. Es war erst der dreiundzwanzigste November, ein Montag.

Edwin Kohut-Bäumler bewegte sich selbstsicher und mit langen, gemäßigten Schritten durch die Menschenmassen. Fast schien es, als ob sein geschäftlicher Erfolg den zweiundsechzigjährigen schlanken und großgewachsenen Mann wie ein Schutzschild umgäbe. Von Rempeleien und Berührungen verschont, schnurstracks wie ein Bahnenschwimmer schritt er voran. Gönnerhaft schenkte er so mancher Frau einen Anflug von einem Lächeln, Männer übersah er mit durchtrainierter Arroganz. Der personifizierte Gewinner.

An seiner linken Hand schlenkerte eine aufwändig gestaltete Tragetasche eines renommierten italienischen Modelabels. Darin befand sich ein flauschiger Pullover, Größe vierunddreißig.

Seine Frau Theresa hatte inzwischen Größe zweiundvierzig, eine logische Konsequenz der regelmäßigen exzessiven Partys, die sie – wie sie zumindest behauptete – für ihre gemeinsamen Geschäftsfreunde schmiss. Sie war es außerdem gewohnt, diese Veranstaltungen mit „Longdrinks“ zu überbrücken, die man eigentlich, aufgrund des Alkoholgehalts, nicht mehr als solche bezeichnen konnte.

Aber der Pullover war ja auch nicht für sie gedacht. Er war ein Präsent für seinen Jungbrunnen, für seine Dorli, wie Edwin Kohut-Bäumler sie liebevoll nannte.

Allein der Gedanke an sie bescherte ihm einen unbeschreiblichen Potenzstatus, den er sich bis vor einigen Jahren nicht mehr erhofft hatte.

In einem kleinen, aber exquisiten Delikatessengeschäft kaufte er einen sogenannten „Picknickkorb für Verliebte“. Pure Dekadenz, kühl verpackt in einem schlichten Karton: Räucherlachsmousse auf Kaviargelee, Taschenkrebssalat, Hummerparfait, getrüffelte Gänseleberpastete, Jacobsmuschelcarpaccio, gepökelte Lammzunge, überbackenes Stubenküken und eine wohltemperierte Flasche Dom Pérignon Vintage 2004. Alles um einen wohlfeilen Fünfhundert-Euro-Schein. Ohne Rückgeld, versteht sich.

Kohut-Bäumler verließ die hektische Mariahilfer Straße und bog in die menschenleere Webgasse ein. Für viele eine unbeachtete Blutbahn abseits der überschätzten Hauptschlagader, dachte er, aber ein lebensnotwendiger Kanal für mich.

Mit einer Magnetkarte öffnete er die massive Haustür und schlenderte mit beschwingten Schritten durch den Innenhof zur Stiege 2. Während er über die neu renovierten Stufen in den ersten Stock stieg, ließ er seine Gedanken um die bevorstehende Begegnung kreisen, ausschweifend und wahrlich nicht jugendfrei.

Auch das Türschloss der mehr als achtzig Quadratmeter großen Wohnung ließ sich mit der Magnetkarte öffnen. Im Vorraum entledigte er sich seiner Jacke, brachte die sündteure Verpflegung in die Küche und genoss die schlichte Eleganz der Räume.

Ein Wohnzimmerverbau wie aus den Prospekten diverser Einrichtungshäuser, eine qualitativ hochwertige Sitzgarnitur aus Rindsleder, einige Eyecatcher – alles pflegeleicht. Eine Wohnung zum Ablichten, aber keinesfalls zum Wohnen. Das war auch nicht die Absicht von Edwin Kohut-Bäumler. Diese Wohnung wurde in seiner Kartei als repräsentatives Mietobjekt für Durchstarter der mittleren Einkommensschicht geführt. Zu teuer für Möchtegerns, genau kalkuliert für Leute, die sich ihren steinigen Weg zum Futtertrog bereits gebahnt hatten oder zumindest im Begriff standen, diesen Weg zu beschreiten.

Kohut-Bäumler war diesen Leuten schon einen Schritt voraus; er bediente sie, er gab ihnen das Rüstzeug, um in der dünnen Luft der Erfolgreichen zu reüssieren. Auf Visitenkarten galten die Adressen seiner Immobilien als Garant für erfolgversprechende Geschäftsanbahnungen.

Er entkleidete sich im Schlafzimmer betont langsam und ärgerte sich über seine Zugehfrau, die wieder einmal die spärlichen Accessoires nach ihrem eigenen Gutdünken angeordnet hatte. Sein Leben hatte keinen Platz für individuelle Eigenmächtigkeiten, er bevorzugte eine strikte Linie, die natürlich er vorgab. Aber jede Regel hat ihre Ausnahme, und seine hieß Dorli. Sie war der Lieblingshund in seinem Rudel. Die Zeitpunkte ihrer geheimen Treffen in dieser Wohnung gab sie vor, ebenso ihre spärlichen gemeinsamen Auftritte in der Öffentlichkeit: Sei es die Vorstellung eines noch unbekannten Kabarettisten in einer Kleinkunstbühne, ein Konzert – unplugged – in einem winzigen Café oder ein Essen in einem Vorstadtbeisl. Sie zeigte ihm die Welt der kleinen Börse, abseits der dröhnenden Veranstaltungen, die nur auf gut Betuchte ausgerichtet waren. Und sie zeigte ihm die Welt der jugendlichen Hingabe, mit Haut und Haaren und allem, was sie sonst noch zu bieten hatte.

Während sich Edwin Kohut-Bäumler unter der Dusche mit einem sündteuren Ylang-Ylang-Duschgel einseifte, registrierte die Wohnungstür eine berechtigte Magnetkarte und öffnete sich lautlos. Der Inhaber der Karte schlüpfte herein, schloss vorsichtig die Tür und huschte in die Küche.

Der lautlose Schatten hörte, wie sich Kohut-Bäumler genussvoll abtrocknete, seinen Körper mit diversen Lotionen einrieb und dabei einen verstaubten Barry-White-Song pfiff. Frohgelaunt kam der smarte Immobilienmakler in einem weißen Frottee-Bademantel aus dem Bad, goss sich aus einer Kristallkaraffe einen überdimensionierten Cognac ein und schaltete die Quadrofonieanlage ein. Phil Phillips gab schmachtend den Song „Sea of Love“ zum Besten, und Kohut-Bäumler erinnerte sich an einen Film, in dem Männer bei dieser Melodie erschossen wurden. Wer war nur der Ermittler? Andy Garcia? Al Pacino? Keine Ahnung …

Er ließ sich mit seinem Schwenker auf der Ledercouch nieder, schloss die Augen und sog den alten Song und den noch älteren Cognac in sich auf.

Der Schatten löste sich mit gestreckten Armen aus der Küchennische, hielt kurz inne und sprang den sinnierenden Geschäftsmann mit einem markerschütternden Schrei an.

„Du kleines Biest!“, brüllte Kohut-Bäumler und wehrte sich spaßeshalber gegen den unerwarteten Angriff. „Ich habe dich gar nicht kommen hören …“

„Ach nein? Du hast mich nicht kommen hören?“, neckte ihn Dorli und fummelte an seinem Bademantelgürtel. „Dann werden wir gleich einmal schauen, was du mir so mitgebracht hast. Und dann werden wir schon sehen, ob du mich kommen hörst!“

Edwin Kohut-Bäumler ließ sich noch tiefer in die Couch sinken und genoss diese Momente, für die er viel Geld investierte. Sehr viel Geld sogar …

2

„Heraus mit dir, du Quälgeist!“, rief Jonathan Jonny Graberth erleichtert und klickte auf den Print-Button. Der riesige Farb-Laserprinter gab ein wohliges Brummen von sich und begann seine Arbeit. Endlich, dachte Jonny, eine überaus schwere Geburt!

Vor ein paar Tagen hatte ihn ein gewisser Slubert angerufen, der – wie er nachdrücklich forderte – in kürzester Zeit ein gezeichnetes Maskottchen für seine patentierte Tennisball-Auffang- und -wurfmaschine brauchte. Noch am selben Abend hatten sie sich in einem Innenstadtlokal getroffen. Slubert schilderte Jonny anhand unüberschaubarer Fotos, Konstruktionsskizzen und Patentschriften seine revolutionäre Idee und gierte nach Komplimenten. „Und wie kann ich Ihnen helfen?“, war Jonnys pragmatische Frage. Slubert holte einen weiteren Stapel Papier aus seiner riesigen Ledertasche und breitete ihn auf dem Tisch aus. Mithilfe dieser ungelenk gekritzelten Zeichnungen versuchte er Jonny seine Vorstellung vom Kangofanten – einem Fabelwesen, teils Elefant, teils Känguru – näherzubringen. Obwohl Jonny gewisse Ressentiments gegen Kunden hegte, die schon vor seinem Eingreifen genau wussten, wie das Endprodukt aussehen müsste, nahm er sich dennoch die Zeit, um Sluberts Ausführungen zu lauschen. Papier hatten sie genug, und so begann Jonny auf den Rückseiten der Zeichnungen seine Ideen zu skizzieren, was übrigens seiner sonstigen Vorgehensweise total widersprach. Nach einigen Drinks waren sie per Du, und nach noch mehr Drinks war auch die Honorarfrage geklärt. Als die Kellner zur vorgerückten Stunde schon etwas auffälliger und lauter als gewöhnlich mit ihren Aufräumarbeiten in die Nähe der beiden kamen, hatten sie sich endlich auf eine Version des Kangofanten geeinigt, den Jonny nur noch druckreif gestalten musste.

Und dieser kam nun aus dem Laserprinter, auf Glanzpapier. Tief zufrieden betrachtete Jonny den Ausdruck. Wie schön war doch die Arbeit eines Grafikers, stellte er zum wiederholten Male fest! Er dehnte seinen sechsunddreißig Jahre alten Körper, der trotz großteils sitzender Arbeit überraschenderweise recht gut in Form war.

„Komm, Burli“, sagte er zu Foster, der im Hundekörbchen vor sich hindöste, „das gehen wir jetzt feiern!“

Der Kopf des vierjährigen schwarzen, Labradormix mit dem weißen Brustfleck schnellte in die Höhe. Verständnislos, aber erwartungsvoll runzelte er die Kopfhaut. Wenn sein Herrchen „Burli“ zu ihm sagte, dann konnte das nur Gutes bedeuten. Mit manischem Wedeln stieg er aus seiner Bettstatt und streckte in anmutigen Posen seinen Muskelapparat.

„Jetzt machen wir erst einmal einen ausgedehnten Spaziergang, und dann schauen wir bei der Maria vorbei …“, flüsterte sein Herrchen und kraulte den faltigen Schädel. Das sind die Momente, auf die man als Hund total abfährt: Null Ahnung, was kommen wird, aber allein die Vorfreude ist unbezahlbar. Wie auch, als mittelloser Hund.

Das Hawara in der Reichsratsstraße präsentierte sich wie ein Anker in dieser schnelllebigen Zeit. Dieselben Gäste, dieselben Gespräche, dieselbe Atmosphäre. Das Pflaster auf all den täglichen Wunden. Maria, der burgenländische Wirbelwind, war die Chefin dieses Lokals. Sie hantierte gerade mit Gläsern, Pfannen und dem Kontaktgriller hinter dem Tresen, als Jonny hereinkam.

„Mein Lieblingsgrafiker!“, rief Maria erfreut aus und wuchtete zwei gegrillte Fleischstücke auf einen Teller.

„Wie viele Grafiker kommen pro Tag zu dir?“, fragte Jonny etwas sarkastisch und setzte sich zu Dr. Vilbrand an die Bar.

„Wurscht!“, wischte Maria diesen Einwand weg. „Foster und du seid meine Lieblingsgäste!“

„Und was ist mit mir?“, monierte Dr. Vilbrand und klopfte empört auf den Tresen.

Seit vielen Jahren war das Hawara in der Reichsratsstraße – ausgestattet mit rustikalen Kiefernbrettern an den Wänden, Ziegelboden und Platz für höchstens fünfundzwanzig Personen – ein Ort, den ein kleiner Stamm von Gästen regelmäßig aufsuchte, um einige Grundbedürfnisse zu stillen: Essen, Trinken, Konversieren. Und seit ebenso vielen Jahren zählte Rechtsanwalt Dr. Vilbrand – den alle nur den Alten nannten – zu diesem erlesenen Kreis. Seit geraumer Zeit emeritiert, fühlte er sich doch immer bemüßigt, teils erbetene, teils unerwünschte Rechtsauskünfte zu erteilen.

„Lass gut sein“, beschwichtigte ihn Jonny. „Das sagt sie zu jedem.“

„Zu mir hat sie das noch nie gesagt …“

„Du hast recht. Das würde mir auch zu denken geben“, grinste Jonny und tätschelte die gebeugten Schultern des Alten.

Oberst Karl Tannhacker betrat das Beisl, begrüßte den aufgeregt tänzelnden Foster und setzte sich neben Jonny an die Bar. „Redet ihr wieder über die guten alten Zeiten?“, brummte er und bestellte sich einen Spritzer.

„I wo! Wir reden nur über die Lieblingsgäste von Maria“, erklärte Jonny. „Dein Name ist in dem Zusammenhang übrigens nicht gefallen.“

Tannhacker brummte: „Ich bin nicht auf der Welt, um zu gefallen. Was nützt mir Liebenswürdigkeit, wenn ich im Gully auf Rattenfang gehe …“

Oberst Tannhacker war Referatsleiter beim Landeskriminalamt, Schwerpunkt Gewaltverbrechen. Ein Koloss von einem Mann mit enormem Fachwissen, einer unbeugsamen Beharrlichkeit und einer harten Schale. Nur wenige Leute kannten seinen weichen, einnehmenden Kern. Jonny war einer von ihnen.

„Wie laufen die Geschäfte?“, fragte Jonny beiläufig.

Für einen kurzen Moment hielt Tannhacker inne, dann leerte er in einem Zug sein Glas und fauchte: „Gut, mein Freund. Sehr gut sogar. Ich kann jetzt nämlich meine Arbeit machen, ohne dass mir ein selbstberufener Schmalspurdetektiv in meine Ermittlungen pfuscht.“

Jonny bestellte bei Maria noch eine Runde, bevor er – seinem Empfinden nach sehr diplomatisch – einwandte: „Falls mir bei einem Auftrag die Ideen ausgehen sollten, würde ich mich sicher auch an dich wenden und dich um deine Meinung bitten …“

„Ich habe dich nie um Hilfe gebeten!“, donnerte der Oberst und hieb auf die Theke. „Du hast dich ungefragt eingemischt, dich und andere Personen leichtsinnig in Gefahr gebracht und durch dein eigenmächtiges Handeln meine kontrollierte Polizeiarbeit behindert!“

„Aber so ist der Fall aufgeklärt worden …“

Tannhacker blies genervt aus. Es war einfach noch nicht lange genug her, seit sein Freund Jonathan Graberth knapp dem Tod entronnen war, weil er wieder auf eigene Faust Nachforschungen betrieben hatte. – Und dadurch einen dreifachen Mörder überführt hatte, das musste er ihm insgeheim lassen. Er trank seinen Spritzer aus und verabschiedete sich mit einem brüsken Handzeichen.

„Ruf mich an!“, rief ihm Jonny nach, „wenn du wieder Hilfe brauchst …!“

Man konnte das „Leck mich!“ auch durch die geschlossene Tür verstehen.

3

„Sie ist wunderschön!“, flüsterte Hermann Scherwath seiner Frau Maria, die noch völlig erschöpft und verschwitzt auf der Entbindungsliege im Kreißsaal lag, ergeben ins Ohr. „Du wirst sehen, in siebzehn, achtzehn Jahren kennt man sie in ganz Österreich …“

Maria Scherwath lächelte vom Schmerz gezeichnet, aber glückselig ihren Mann an, drückte seine Hand und nickte stumm.

Während eine Hebamme die Nachgeburt mit unbarmherzigen Griffen forderte und förderte, flehte Frau Scherwath: „Versprich mir in Gottes Namen, dass es ihr besser gehen wird als uns. Versprich es!“

„Ich verspreche es!“, sagte Hermann Scherwath feierlich zu seiner Frau und drückte ihre Hand. „Und damit du auch siehst, dass es mir ernst ist, möchte ich, dass unsere Tochter einen besonderen Namen erhält: Auxiliadora! Die Helferin der Christen.“

Die zum Vorschein gekommene Nachgeburt wurde gerade von der Hebamme auf ihre Vollständigkeit hin untersucht, als Maria Scherwath zu ihrem Mann wisperte: „Alle werden sie mögen, das spüre ich! Sie wird einzigartig!“

„Sie wird von vielen geliebt werden“, nickte Hermann Scherwath und bekräftigte seine Aussage mit einem beidseitigen Augenzwinkern.

Das war vor neunzehn Jahren.

4

In einer Wohnung in der Webgasse saß Konstantin Weichselberger und durchforstete den täglichen Stapel an Prospekten. „Sonst ist nichts gekommen?“, rief er in die Tiefe der Wohnung, wohl wissend, dass die Antwort negativ ausfallen würde.

„Du musst lauter reden“, rief seine Frau aus der Küche zurück. „Der Dunstabzug läuft …“

„Vergiss es“, brummte er missmutig und widmete sich wieder der Werbeflut.

„Was hast du gesagt? Ich habe dich akustisch nicht verstanden!“, schrillte die ausdauernde Stimme seiner Frau.

„Schon gut!“, brüllte er zurück. Er hasste Gespräche, die über eine größere Distanz verliefen, bei denen man alles mindestens zweimal wiederholen musste und die nur geistlose Inhalte hatten. Genervt schob er das druckfrische Altpapier zur Seite und schaltete den Fernseher ein. Die Kennmelodie der „ZiB 20“ lief gerade an, als er einen Knall hörte. Er sprang aus seinem Sessel auf.

„Hast du das gehört?“ Aufgeregt lief er in die Küche.

„Was?“ Seine Frau fuhr herum. „Der Dunstabzug läuft …“

„Ich weiß!“, schrie er hysterisch und hieb auf die Arbeitsplatte. „Aber das musst du ja gehört haben! Das war wie ein Schuss! Bei uns im Haus! Gleich nebenan, bei dem arroganten Ungustl!“

„In zwei Minuten ist das Essen fertig“, beschwichtigte ihn seine Frau. „Gib schon mal das Besteck auf den Tisch.“

Weichselberger ignorierte die Anweisungen seiner Frau, lief zur Eingangstür und blickte durch den Türspion. Der Gang zeigte sich ihm verzerrt und menschenleer. Behutsam öffnete er das Sicherheitsschloss und schlich in Socken vorsichtig auf den Flur. Dort hielt er kurz inne, lauschte angestrengt, blickte das Stiegenhaus hinauf und hinunter und verharrte wiederum. Kein Laut, bis auf die gedämpften Kochgeräusche, die aus seiner Wohnung drangen. Mit dem angespannten Gefühl eines Zehnjährigen, der im Begriff ist, gegen irgendein Verbot zu verstoßen, schlich er im Zeitlupentempo zur benachbarten Wohnungstür und presste sein Ohr dagegen. Totenstille.

„Du hast noch immer nicht aufgedeckt, Konsti!“, hörte er seine Frau keifen. Wütend marschierte er in seine Wohnung und knallte hinter sich die Tür ins Schloss.

„Hast du den Schuss wirklich nicht gehört?“, bedrängte er seine Frau.

„Ich habe jetzt gehört, wie du die Tür zugedroschen hast. Muss das sein? Es wohnen ja auch noch andere Leute im Haus …“

„Ach wirklich? Und die Leute stört nur eine zufallende Haustür? Gegen Schüsse haben sie nichts, oder was? Also ich werde jetzt die Polizei anrufen …“

„Konstantin!“, fuhr sie ihn an. „Mach dich bitte nicht lächerlich!“

„Aber ich habe einen Schuss gehört!“, beharrte er auf seiner Wahrnehmung, doch er setzte sich und begann, seine Suppe zu löffeln.

Seine Frau wechselte unterdessen das Thema: „Weißt du, ein bisschen könntest du mir schon im Haushalt helfen! Schließlich bin ich ja auch berufstätig.“

Das nennst du berufstätig, dachte er bei sich, wenn du unseren Freunden und Bekannten Plastikschüsseln andrehen willst?

„Was denkst du gerade?“, fragte sie jetzt freundlicher.

„Ich denke, du hast recht.“ Eine abgedroschene Phrase, die aber nach wie vor nichts von ihrer Wirkung eingebüßt hatte.

5

Das trübe Novemberwetter tat Jonnys Hochgefühl keinen Abbruch. Er wuselte mit diversen Putzutensilien durch seine – für einen Junggesellen überraschend saubere – Wohnung, schlichtete sogar auf seinem riesigen Schreibtisch seine Notizen, Skizzen und Zeichnungen und sang dabei eher unbekannte, aber durchwegs geniale Songs von Kris Kristofferson. Foster beobachtete ihn dabei mit einer gewissen Skepsis, spürte aber, dass es seinem Herrchen gut ging. Somit lief dieser Dienstagmorgen auch für ihn gut an. Sie hatten bereits einen ausgedehnten Spaziergang im Wiener Prater hinter sich, bei dem Foster eine Vizsla-Dame kennengelernt und – passend zum Gemütszustand seines Herrchens – fast sichtbare knallrote Herzchen in den Augen bekommen hatte. Nun begann Jonny daheim mit den Kochvorbereitungen, um seine Jessy gebührend zu empfangen. Für eine schmachtende Seele sind zehn Tage eine Ewigkeit.

Jessica Binder war ihm das erste Mal über den Weg gelaufen, als er Foster bei seiner Freundin Susi parken musste, da er einem Triebtäter den Garaus machen wollte. Bei dieser ersten, recht kurzen Begegnung hatten beide schon eine Art Zündfunken gespürt, der ihre Beziehung startete. Doch der Beginn ihrer Zweisamkeit hatte sich eher vorsichtig gestaltet. Durch vorherige Erlebnisse leicht angeschlagen, blieben sie immer dafür gerüstet, den Ausstieg kurz und schmerzlos zu vollziehen. Doch nach und nach gesellte sich zu dieser Vorsicht ein gewisser Übermut, der sich über vermeintliche Grenzen wagte. Der zeitlich begrenzte Funke wurde zu einer wärmenden Glut, bis hin zu einem lodernden Feuer, das jedwede Bedenken mit tosender Hitze verschlang.

„Was soll ich dir kochen?“, hatte er sie gefragt. „Ich schätze einmal“, hatte sie gesagt, „nach zehn Tagen Delhi könnte ich ein schönes Stück Rindfleisch vertragen.“ Und nun köchelte ein geputzter Tafelspitz mit Kalbsknochen und Wurzelwerk in einem riesigen Topf geduldig vor sich hin.

Gesetzt den Fall, überlegte Jonny, wir bleiben längere Zeit zusammen, und gesetzt den Fall, wir ziehen zusammen, dann – ! An diesem Punkt endete seine Zukunftsvision abrupt. Obwohl …

Es fiel ihm überaus schwer, seine Gefühle begrifflich einzuordnen. Irgendwelche Schwellen hinderten ihn daran, an eine gemeinsame Zukunft zu denken. Trotz dieser hyperaktiven Maden im Bauch!

In einer beschichteten Pfanne ließ Jonny in Schweineschmalz fast gar gekochte Erdäpfel bräunen. Mit einer Prise Muskatnuss. Derartiges ging ihm leicht von der Hand – im Gegensatz zu Beziehungstechnischem.

Während er für die Schnittlauchsauce Eier kochte, versuchte er pragmatisch ihren gemeinsamen Status zu orten. Auf der einen Seite Jessica mit ihren fast vierzig Jahren, Chefstewardess bei Austrian Airlines, wortgewandt und diplomatisch; auf der anderen Seite Jonny, selbstständiger Grafiker, kreativ und hedonistisch, auch bald vierzig. Für eine Familiengründung im richtigen Alter, dachte er zynisch, aber was soll’s, manche heiraten mit achtzig. Heiraten? Habe ich gerade an eine Hochzeit gedacht? Aber hallo, lassen wir doch lieber die Kirche im Dorf …

Foster fuhr auf, hob seine Hängeohren, wellte die Stirn und verrenkte den Kopf. Dann sprang er aus dem Körbchen, lief auf und ab und winselte herzzerreißend. Ein paar Sekunden später hörte man das Türschloss und Jessy kam herein.

„Ja hallo, mein Hübscher!“, begrüßte sie den schwarzen Mischling mit freudiger Stimme. Dieser führte einen wahren Veitstanz auf und schrie dabei in seinem Enthusiasmus wie ein Ferkel, das man von der Muttersau getrennt hatte. „Hier riecht es aber fein!“, schwärmte Jessy und nach einer gefühlten Ewigkeit kam sie in die Wohnküche und fiel Jonny um den Hals. Sie drückten und liebkosten sich, Jonny klammerte sich an sie und vergrub seinen Kopf in ihren Haaren. „Ich bin ja wieder da“, flüsterte sie ihm beruhigend ins Ohr und streichelte seinen Rücken.

Diese Berührungen sog Jonny wie ein Durstender auf. Vorsorglich schaltete er alle Herdplatten aus und führte Jessy behutsam ins Schlafzimmer. Als ob aus der Türschwelle triebsteuernde Impulse gesendet würden, begannen sie dort, hemmungslos übereinander herzufallen wie Raubfische bei der Fütterung.

Nach dreißig Minuten intensivstem Austausch lagen sie atemlos und erschöpft auf dem verwüsteten Bett.

„Darf ich jetzt auch deine anderen Vorzüge genießen?“, flüsterte Jessy. „Ich könnte nämlich gerade einen ganzen Ochsen verputzen …“

„Ein Stück davon habe ich vorbereitet“, sagte Jonny und grinste von Ohr zu Ohr.

Mit einer angenehmen Mattigkeit und vollen Bäuchen saßen sie später im Hawara und genossen ihren Kaffee. Die Mittagsgäste waren zum Großteil schon verschwunden, ein paar Hartgesottene nahmen noch ein Bier als Digestif. Oberst Tannhacker kam mit aufgeschlagenem Kragen herein, sondierte nach alter Gewohnheit mit flinken Augen die Lage und setzte sich schließlich zu Jessy und Jonny an den Tisch.

„Na, ihr zwei Spätberufenen? Habt ihr nichts Besseres zu tun, als in einem Innenstadtbeisl herumzuhängen?“

„Wir sind schon bei unserer drittliebsten Beschäftigung“, antwortete Jonny süffisant. Jessy griff sich von beiden Männern je eine Hand, blickte zur nikotingeschwängerten Decke und raunte: „Alles klar! Wir haben hier zwei ausgeprägte Alpha-Männchen, die sich eigentlich recht gut leiden können, aber meistens glauben, dass sie ihren Status vor Dritten behaupten müssen. Bei euch beiden tritt ein unbewusstes Dominanzverhalten zutage, das ihr keineswegs vor mir ausleben müsst. Also, seid friedlich und genießt die Zeit miteinander!“

„Wow!“, sagte der Oberst echt beeindruckt. „Ich sollte mir für meinen Seelenfrieden auch so eine Therapeutin zulegen!“

Bevor Jonny eine spitze Bemerkung anbringen konnte, knatterte Tannhackers Handy wie ein anspringender Traktor. Sein persönlicher Klingelton für dienstliche Anrufe. Nach geraumer Zeit mimiklosen Zuhörens brummte der Kriminalbeamte ins Telefon: „Ich bin in zwanzig Minuten bei euch!“

„Ein neuer Fall?“, gab sich Jonny interessiert.

Mit einem beruhigenden Klopfen auf Jonnys Schulter murrte Tannhacker: „Meine Arbeit, mein Problem. Du, mein lieber Schuster, bleibst bei deinem Leisten. Ich kann es – bei Gott – nicht leiden, wenn du in meinen Teichen wilderst. Auch wenn du in letzter Zeit ein paar Kapitale an Land gezogen hast. Das Fischen ist trotzdem meine Aufgabe …“

Bevor Jonny zu einer Entgegnung ausholen konnte, die sich gewaschen hatte, glättete Jessy die Wogen: „Bitte, mach deine Arbeit, Karl! Jonny hat mir mit seinem Ehrenwort versprochen, dass er sich nie mehr in irgendwelche Ermittlungen einmischen wird!“

„Außer!“, merkte Jonny an und nippte aufreizend langsam an seinem Kaffee, „Außer es ist jemand der Meinung, dass ein gewisser Kriminalbeamter seinen Job nicht zur Zufriedenheit der besorgten Bürger erledigt.“ Doch Tannhacker war schon außer Hörweite.

6

Maria Scherwath schätzte sich glücklich, ein so braves und artiges Kind wie ihre einzigartige Auxiliadora geboren zu haben. Während andere Kinder ihren unfertigen Reifestatus durch nachdrückliche Verhaltensauffälligkeiten demonstrierten, war ihre Auxiliadora wie streichfähige Butter auf dem Brot: harmonisch, ausgeglichen und freundlich zu jedermann. Besonders zu männlichen Erwachsenen. Fast schon ein bisschen zu freundlich, wie sich die Mutter manchmal insgeheim eingestehen musste.

„Sie ist halt ein Papa-Kind“, beruhigte sie ihr Mann Hermann, „sie sieht Männer als ihre Beschützer an, das ist ja nichts Ungewöhnliches.“ Man konnte sogar einen gewissen Stolz aus seiner Stimme hören. „Und du wirst sehen“, hatte er seine Frau beschwichtigt, „wenn sie einmal in die Volksschule geht, dann wird sich dieses Verhalten von selbst bessern.“

Auch der Bruder von Maria Scherwath, Josef Frasta – ein alleinstehender Automechaniker, – liebte seine Nichte innig. Durch seinen aufopfernden und zeitraubenden Einsatz in einer kleinen Werkstatt am Rande von Wien habe er bis dato noch nicht die Zeit und Muße gefunden, sich eine adäquate Partnerin zu suchen, um seine Gene in der nächsten Generation zu verankern, so seine Worte. Stattdessen genoss er das intensive Herumtollen mit Auxiliadora, die ihn des Öfteren als ihren Lieblingsonkel bezeichnete.

Im Großen und Ganzen waren die Scherwaths wohl eine Vorzeigefamilie. Doch hinter den hellsten Lichtern findet man die dunkelsten Schatten, besagt ein anonymes Sprichwort.

Mit einer riesigen Schultüte trat Auxiliadora Scherwath in die erste Klasse Volksschule in der Berzeliusgasse ein. Den dünkelhaften Eltern wurde ein Wust von Merkblättern, Verhaltensregeln und Hintergrundinformationen überreicht. Und irgendwie war ein jeder der Beteiligten stolz, dass ein Freiherr von Berzelius, von dem keiner der Entourage vorher ein Wort gehört hatte, der Namensgeber für die Straße war, in welcher die Schule der Sprösslinge stand. So auch die Familie Scherwath.

Das war vor dreizehn Jahren.

7

Der Eingang des Wohnhauses in der Webgasse wurde von zwei aufmerksamen uniformierten Beamten bewacht. Tannhacker zeigte seine Dienstmarke und begab sich missmutig zum Ort des Geschehens.

Bei der Wohnungstür empfing ihn Revierinspektor Frankie Gareis, sein Adlatus, den er erst vor ein paar Monaten vom normalen Streifendienst abgezogen hatte, um einen Serienkiller zu entlarven.

„Männliche Leiche, den Papieren nach ein gewisser Edwin Kohut-Bäumler, Schuss in den Herzbereich mit einer – höchstwahrscheinlich – nicht so fetten Waffe, sofortiger Tod. Die Kollegen von der Spurensicherung müssten in ein paar Minuten da sein, die Schettenmayer doktert schon seit mindestens einer Viertelstunde an der Leiche herum.“

Tannhacker brummte Unverständliches und betrat die Wohnung. Über den Leichnam, der kaum zwei Meter von der Eingangstür ausgestreckt im Vorraum lag, war Dr. Martina Schettenmayer gebeugt, eine attraktive Vierzigjährige mit einem blonden Rossschwanz. Sie hantierte mit einigen Instrumenten. Tannhacker liebte den Einblick in ihr tiefes, mächtiges Dekolleté; der lebende Y-Schnitt, wie er zu sagen pflegte.

„Na Schetti“, grantelte Tannhacker, wie es seine Art war. „Gibt es irgendwelche außergewöhnlichen Einblicke, an denen du mich teilhaben lassen möchtest?“

Dr. Schettenmayer räumte ostentativ die Gerätschaften in ihre Tasche, nahm mit einer selbstverständlichen Gelassenheit den starren Blick auf ihren Busenansatz zur Kenntnis und klatschte in die Hände. „Hier ist mein Kommunikationszentrum, Oberst!“, zischte sie und deutete mit zwei Fingern auf ihre Augen.

Tannhacker fühlte sich ertappt und hob seinen Blick. Verlegen stotterte er: „Wie gesagt … Was muss ich wissen …?“

„Schade um ihn. Gepflegter Mann, so um die sechzig. Schuss ins Herz. Keine Kampfspuren. Alles Weitere kannst du in meinem Bericht nach der Obduktion lesen. Und jetzt lassen wir drei dich in Ruhe arbeiten.“ Sie zwinkerte ihm neckisch zu und verließ die Wohnung.

Während Tannhacker seine Hände in die engen Gummihandschuhe zwängte, taxierte er den Leichnam von Kohut-Bäumler. Wahrscheinlich war er ein stattlicher Mann gewesen, dachte er. Aber der Tod hatte aus ihm einen kleinen, entspannten Körper gemacht, der auf seine Abholung wartete. Der weiße Frottee-Bademantel war über dem Oberkörper geöffnet, nur ein kleines, blutverkrustetes Loch auf seiner linken Brustseite störte das friedliche Gesamtbild.