Peter Sloterdijk

Neue Zeilen und Tage

Notizen 2011-2013

Suhrkamp Verlag

In Erinnerung an René Gude

Surabaya, 2. März 1957 – Amsterdam, 13. März 2015

Weggefährte Freund Lehrer Philosoph

Inhalt

Vorbemerkung

Erstes Buch. Augenblicksgötter

Heft 111

9. Mai 2011 – 10. Juni 2011

Heft 112

10. Juni 2011 – 9. August 2011

Heft 113

9. August 2011 – 30. Oktober 2011

Heft 114

30. Oktober 2011 – 10. Mai 2012

Heft 115

10. Mai 2012 – 26. August 2012

Zweites Buch. Momente der Entewigung

Heft 116

27. August 2012 – 12. November 2012

Heft 117

13. November 2012 – 13. Januar 2013

Heft 118

13. Januar 2013 – 15. März 2013

Heft 119

16. März 2013 – 20. Juni 2013

Heft 120

20. Juni 2013 – 23. September 2013

Vorbemerkung

Befragte man die Verfasser von Notizheften oder Journals, warum sie sich regelmäßig, oft sogar täglich der Mühe unterziehen, Spuren ihres erlebten, geträumten oder versäumten Lebens aufzuzeichnen, so müßten die meisten, falls sie sich für die Strategie der aufrichtigen Antwort entschieden, zugeben: aus Gewohnheit.

Eine solche Replik für Koketterie zu halten wäre nicht klug. Motivation ist eine knappe Ressource, daher bringt es Gewinn, wenn man, wo Motive fehlen, auf Gewohnheiten zurückgreifen kann. Das Schreiben von Notizen, hat man es jahrelang praktiziert, wird zu einem Habitus, der sein Warum absorbiert. Man tut es, weil man es getan hat. Es ist eines von den tausend Gesichtern des übenden Lebens.

Fragt man, aus welchem Grund ein Verfasser seine Aufzeichnungen später wieder zur Hand nimmt, meldet sich das Motiv-Problem in akuter Form zurück. Mit dem Hinweis auf eine Gewohnheit ist die Neubefassung nicht zu erledigen. Das Schreiben mag zur Gewohnheitssache werden, das Verhältnis zum Geschrieben-Haben bleibt problematisch. Wer Notizen macht, wird irgendwann entdecken, daß alles, was er vorbringt, vom Moment der Niederschrift an gegen ihn verwendet werden kann. Darum wagt man sich auch nach mehreren Jahren an die Wiederbegegnung mit den blau-schwarzen Spuren auf liniertem Papier nie ohne Verlegenheit heran. Alles vermag Teil einer Anklage zu werden oder Schriftsatz der Verteidigung. Warum den Blick zurück riskieren?

Um Spekulationen abzukürzen, stellt der Verfasser und Redakteur der nachfolgenden Notizen fest, daß ihm seit einer Weile eine veränderte Empfindung vom Ablauf der Zeit zu schaffen macht. Es kommt ihm immer öfter so vor, als habe sich am Monatsende der Monat ins Unwirkliche verflüchtigt. Nicht viel besser ergeht es an Silvester dem abgelaufenen Jahr. Um nicht zu reden vom einzelnen Tag, der nur selten noch eine erinnerungstaugliche Kontur hinterläßt.

Auch wenn man dem Befund zustimmt, das alles entspreche der geriatrischen Normalität und gehöre zu den Mitgiften der conditio humana, wird man vielleicht Verständnis für die Reaktion des Opfers solcher Empfindungen aufbringen. Ist es unnormal, wenn aus ihnen der Wunsch entsteht, dem Zug der Zeit zum Verfließen in der Leere einen Widerstand entgegenzusetzen? Das Festhalten hat bei Buddhisten und Psychotherapeuten keinen guten Ruf, es wäre aber sinnlos, abzustreiten, daß das Folgende auf dieser Geste beruht. Es ist nicht zu verkennen, der Autor ergreift im Streit zwischen Bewahrung und Verflüchtigung für die Bewahrung Partei.

Damit das kein inhaltsloser Anspruch bleibt, sind frühere Notizen von Nutzen, auch wenn sie das Risiko mit sich bringen, im Rückblick anmaßend oder belanglos zu erscheinen. Sie liefern immerhin Indizien des Dagewesenseins in der verlorenen Zeit. Wer spricht vom Wiederfinden? Es genügt, von der Zeile auf den Tag zu schließen. Zur Ironie des Älterwerdens gehört, daß man sich fragt, wieviel Vergangenheit einem noch bleibt.

Im übrigen trifft auch auf die Neuen Zeilen und Tage zu, was der Verfasser im Vorwort zu Zeilen und Tage, Notizen 2008-2011 (vor sechs Jahren erschienen), bemerkt hatte: daß es sich nicht um ein Tagebuch im eigentlichen Sinn des Worts handelt (es wäre sonst erzählerischer und indiskreter), geschweige denn um ein journal intime (es wäre sonst melancholischer und bösartiger). Es ist aber auch kein »Denk-Tagebuch« und kein »Arbeitsjournal« (es wäre sonst mehr von literarischen Plänen die Rede, von der Entropie der zeitgenössischen Philosophie, von der Korruption der humanities). Auf dem richtigen Weg dürfte sein, wer eine Affinität zu Paul Valérys Cahiers vermutet – nur daß hier die Notizen in natürlicher Unordnung chronologisch aufeinanderfolgen, ohne thematische Gruppierung. Der Sache am nächsten käme, wer sich bei der Lektüre der vorliegenden Seiten an den Begriff der »intellektuellen Komödie« erinnert, mit dem der französische Dichter seine Erwartungen an eine künftige Literatur umschrieb.

Es wäre unnötig schwerfällig, hier zu erläutern, warum das erste Buch der neuen Notizen mit dem Titel »Augenblicksgötter« überschrieben ist, während das zweite die etwas dunkle Überschrift »Momente der Entewigung« trägt. Da das Buch klugen Lesern in die Hände fällt, werden sie nicht lange brauchen, des Rätsels Lösung zu finden.

Wenn wir gehen, werden wir das Gefühl haben, wir hätten unsere Kindheit in der Antike verbracht, unsere mittleren Jahre in einem Mittelalter, das man die Moderne nannte, und unsere älteren Tage in einer monströsen Zeit, für die wir noch keinen Namen haben.

Zeilen und Tage, Notizen 2008-2011, S. 639

Erstes Buch

Augenblicksgötter