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Charles Dickens

Eine Geschichte von zwei Städten

Buch 1-3

Charles Dickens

Eine Geschichte von zwei Städten

Buch 1-3

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Illustrationen: Hablot Knight Browne
Umschlaggestaltung: William Maw Egley
Übersetzung: Carl Kolb
EV: Gutenberg-Verlag, Hamburg, 1927 (336 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962815-84-4

null-papier.de/645

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ein­lei­tung.

Ers­tes Buch. Ins Le­ben zu­rück­ge­ru­fen.

Ers­tes Ka­pi­tel – Die da­ma­li­ge Zeit.

Zwei­tes Ka­pi­tel – Der Post­wa­gen.

Drit­tes Ka­pi­tel – Nächt­li­che Schat­ten.

Vier­tes Ka­pi­tel – Die Vor­be­rei­tung.

Fünf­tes Ka­pi­tel – Die Wein­schen­ke.

Sechs­tes Ka­pi­tel – Der Schuh­ma­cher.

Zwei­tes Buch. Der gol­de­ne Fa­den.

Ers­tes Ka­pi­tel – Fünf Jah­re spä­ter.

Zwei­tes Ka­pi­tel – Ein Spek­ta­kel.

Drit­tes Ka­pi­tel – Eine ge­täusch­te Er­war­tung.

Vier­tes Ka­pi­tel – Glück­wün­sche.

Fünf­tes Ka­pi­tel – Der Scha­kal.

Sechs­tes Ka­pi­tel – Hun­der­te von Leu­ten.

Sie­ben­tes Ka­pi­tel – Ein vor­neh­mer Herr in der Stadt.

Ach­tes Ka­pi­tel – Ein vor­neh­mer Herr auf dem Lan­de.

Neun­tes Ka­pi­tel – Das Gor­go­nen­haupt.

Zehn­tes Ka­pi­tel – Zwei Zu­sa­gen.

Elf­tes Ka­pi­tel – Ein Ka­me­rad­schafts­bild.

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Der Mann von Zart­ge­fühl.

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – Der Mann ohne Zart­ge­fühl.

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel – Der ehr­li­che Ge­werbs­mann

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel – Strick­zeug.

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel – Noch mehr Strick­zeug.

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel – Ein Abend.

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel – Neun Tage.

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel – Ein ärzt­li­ches Gut­ach­ten.

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Eine Bit­te.

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Wi­der­hal­len­de Fuß­trit­te.

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Im­mer hö­he­re See.

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Feu­er hoch!

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Hin nach dem Ma­gnet­fel­sen.

Drit­tes Buch. Der Lauf ei­nes Ge­wit­ters.

Ers­tes Ka­pi­tel – Ins Ge­heim­nis.

Zwei­tes Ka­pi­tel – Der Schleif­stein.

Drit­tes Ka­pi­tel – Der Schat­ten

Vier­tes Ka­pi­tel – Wind­stil­le im Ge­wit­ter.

Fünf­tes Ka­pi­tel – Der Holz­spal­ter.

Sechs­tes Ka­pi­tel – Tri­umph.

Sie­ben­tes Ka­pi­tel – Ein Klop­fen an die Tür.

Ach­tes Ka­pi­tel – Eine Hand­voll Kar­ten.

Neun­tes Ka­pi­tel – Das Spiel ge­ord­net.

Zehn­tes Ka­pi­tel – Der Kör­per des Schat­tens.

Elf­tes Ka­pi­tel – Däm­me­rung.

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Dun­kel­heit.

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – Zwei­und­fünf­zig.

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel – Aus­ge­strickt.

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel – Die Fuß­trit­te ver­hal­len für im­mer.

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Einleitung.

Nach »Klein Dor­rit«, dem Ro­man, der sich ganz mit dem Pri­vat­le­ben be­fasst, näm­lich mit der See­le ei­nes rei­nen Kin­des und sei­ner ar­men Um­welt, ließ Di­ckens 1859 die Er­zäh­lung »Zwei Städ­te« (Ta­le of two ci­ties) fol­gen, die der Ge­schich­te große Ge­gen­stän­de zum Hin­ter­grund der Hand­lung hat. Die zwei Städ­te sind Lon­don und Pa­ris im Zeit­al­ter der fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on, und wie nun Di­ckens die­se schick­sals­schwe­re Epo­che, er­lebt durch ein­zel­ne Men­schen, dar­stellt, wie er den Wi­der­hall die­ses ele­men­ta­ren Ge­sell­schaft­ser­eig­nis­ses in Lon­don und in sei­ner Um­welt wie­der­gibt, das zeugt von ei­ner schlech­ter­dings kaum zu über­bie­ten­den Meis­ter­schaft. Da­rum gibt es vie­le Li­te­ra­tur­ken­ner, die die­ses Werk Di­ckens’ als sei­ne bes­te Leis­tung über­haupt an­spre­chen.

Das tra­gi­sche »Muss« der Re­vo­lu­ti­on, ihre furcht­ba­re Not­wen­dig­keit wird von Di­ckens mit tie­fem his­to­ri­schen Ver­ständ­nis in sei­ner Dar­stel­lung auf­ge­zeigt. Wenn die ge­dul­di­gen un­ter­drück­ten Volks­mas­sen nir­gends Recht fin­den kön­nen, weil die herr­schen­de Klas­se in bö­ses­tem Ego­is­mus ih­nen kei­nen Raum zum At­men lässt, dann wie­der­holt sich im Wan­del der Jahr­hun­der­te im­mer wie­der das Phä­no­men der ge­walt­sa­men Um­wäl­zung und Be­frei­ung. Dann aber springt mit dem Ge­ni­us der Frei­heit auch der Dä­mon der Gier und die Bes­tie im Men­schen aus der Volks­see­le her­vor, und die Ide­en der Gleich­heit und der Brü­der­lich­keit kön­nen sich nicht sünd­los hal­ten von pö­bel­haf­ter Blut­gier. Die Sün­de der Rei­chen wird heim­ge­sucht an de­ren un­schul­di­gen Kin­dern, und aus eben je­ner Sün­de der Rei­chen er­wächst die Sün­de der Ar­men in For­men furcht­ba­rer Ra­che. Das Ge­schlecht der Evré­mon­des hat in fri­vo­ler Ge­nuss­sucht ent­setz­lich an den Un­ter­ge­be­nen ge­sün­digt, und nun führt Di­ckens aus, wie die Stra­fe oder die Ver­gel­tung de­ren schuld­lo­se Nach­fah­ren trifft. Di­ckens zeigt, wel­che ver­hee­ren­de Wen­dung die Re­vo­lu­ti­on bei den ra­sen­den Volks­mas­sen nimmt. Er malt die furcht­ba­ren Tage, da die Guil­lo­ti­ne ihre Tri­um­phe fei­ert; aber er zeigt auch dem Adel, des­sen Sit­ten­lo­sig­keit und Ty­ran­nei zu al­le­dem führ­te, sei­ne Schuld, sei­ne Rie­sen­schuld. Er schil­dert zu­ständ­lich; er ist mit gan­zem Her­zen da­bei, ohne ein­sei­tig Par­tei zu neh­men. Er ist Dich­ter und »steht auf ei­ner hö­hern War­te, als auf der Zin­ne der Par­tei«. Er ist »dich­te­risch-ob­jek­tiv«, und dar­um er­greift die­ses Werk den Le­ser in so be­son­de­rem Maße, weil die­ser da­durch un­mit­tel­bar in die Tra­gik des Men­schen­le­bens ge­schicht­lich großen Stils ge­führt wird. Der Ro­man bie­tet hier das­sel­be Bes­te, was das Dra­ma her­vor­ra­gen­den For­mats zu bie­ten hat: die Fra­ge an das Wel­ten­schick­sal, das Wa­rum, das uns auf den »Bret­tern, die die Welt be­deu­ten«, er­schüt­tert und er­hebt. – Nur am Ran­de an­ge­merkt sei auch hier wie­der die meis­ter­li­che Zeich­nung der le­bens­ech­ten Fi­gu­ren. – Da­durch, dass das Gan­ze durch die Ban­de der Lie­be nach Eng­land hin­über­spielt, er­hal­ten wir zu­gleich ein ein­drucks­vol­les Spie­gel­bild der fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on im eng­li­schen Geis­tes- und Kul­tur­le­ben.

Bei die­sem vor­letz­ten Band der Di­ckens-Wer­ke aus dem Gu­ten­berg-Ver­lag hat eben­so wie bei dem letz­ten Band, der die Weih­nacht­s­er­zäh­lun­gen bringt, Frau Cla­ra Wein­ber­g dem Her­aus­ge­ber bei der Tex­t­re­vi­si­on freund­lichst mit­ge­hol­fen.

P. Th. H. [Paul Th. Hoff­mann]

Erstes Buch. Ins Leben zurückgerufen.

Erstes Kapitel

Die damalige Zeit.

Es war die bes­te und die schöns­te Zeit, ein Jahr­hun­dert der Weis­heit und des Un­sinns, eine Epo­che des Glau­bens und des Un­glau­bens, eine Pe­ri­ode des Lichts und der Fins­ter­nis. Es war der Früh­ling der Hoff­nung und der Win­ter des Verzwei­felns. Wir hat­ten al­les, wir hat­ten nichts vor uns; wir steu­er­ten alle un­mit­tel­bar dem Him­mel zu und auch alle un­mit­tel­bar in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung – mit ei­nem Wort, die Pe­ri­ode glich der uns­ri­gen so we­nig, dass ihre lär­mends­ten Ton­an­ge­ber im Gu­ten wie im Bö­sen nur den Su­per­la­tiv­grad des Ver­glei­chens auf sie an­ge­wen­det wis­sen woll­ten.

Auf dem Thron von Eng­land saß da­mals ein Kö­nig mit ei­nem mäch­ti­gen Kie­fer­werk und eine Kö­ni­gin mit ei­nem ein­fa­chen Ge­sicht. Den Thron von Frank­reich zier­te ein Herr­scher­paar von ganz den näm­li­chen Ei­gen­schaf­ten. Und in bei­den Län­dern er­schi­en es der kö­nig­li­chen Um­ge­bung, Mund­schenk, Truch­seß und so wei­ter, kla­rer als Kris­tall, dass im All­ge­mei­nen der Stand der Din­ge ge­ord­net sei für alle Zei­ten.

Es war das Jahr un­se­res Herrn Ein­tau­send­sie­ben­hun­dert­und­fünf­und­sie­ben­zig. Eng­land er­freu­te sich da­mals wie noch heu­te der Gna­de geis­ti­ger Of­fen­ba­run­gen. Mrs. South­cott hat­te eben ih­ren ge­be­ne­dei­ten fünf­und­zwan­zigs­ten Ge­burts­tag zu­rück­ge­legt, auf des­sen er­ha­be­nes Her­an­na­hen ein pro­phe­ti­scher Leib­gar­dist die Welt durch die An­kün­di­gung hin­ge­wie­sen hat­te, man möge sich dar­auf ge­fasst hal­ten, dass Lon­don und West­mins­ter von der Erde ver­schlun­gen wer­den wür­den. So­gar der Hah­nen­gas­sen­geist war erst seit ei­nem Dut­zend Jähr­chen zur Ruhe ge­bracht, nach­dem er sei­ne Bot­schaf­ten in der­sel­ben Wei­se, wie sei­ne über­na­tür­lich un­o­ri­gi­nel­len Nach­fol­ger erst im letz­t­ab­ge­lau­fe­nen Jahr noch ge­tan, durch Klop­fen kund­ge­ge­ben hat­te. Bot­schaf­ten im ir­di­schen Sinn des Wor­tes wa­ren jüngst der eng­li­schen Kro­ne und Na­ti­on von ei­nem Kon­gress bri­ti­scher Un­ter­ta­nen in Ame­ri­ka zu­ge­gan­gen und ha­ben selt­sa­mer­wei­se einen weit wich­ti­ge­ren Ein­fluss auf das mensch­li­che Ge­schlecht ge­übt als alle Mit­tei­lun­gen, die seit­dem von der Sip­pe der Hah­nen­gas­sen­geis­ter her­vor­ge­ga­ckert wor­den sind.

Mit Frank­reich, das, was geis­ti­ge Din­ge be­trifft, im gan­zen weit we­ni­ger be­güns­tigt ist als sein Schwes­ter­land mit dem Schild und dem Drei­zack, ging es un­ge­mein glatt und hur­tig bergab, in­dem es Pa­pier­geld mach­te und es ver­ju­bel­te. Un­ter der Füh­rung sei­ner christ­li­chen Hir­ten ver­gnüg­te es sich ne­ben­bei mit al­ler­lei men­schen­freund­li­chen Be­lus­ti­gun­gen, in­dem es zum Bei­spiel über einen jun­gen Men­schen, der un­ter strö­men­dem Re­gen zu Ehren ei­ner fünf­zig oder sech­zig Schritt vor ihm vor­über­ge­hen­den Mönch­spro­zes­si­on nicht in den Staub kni­en woll­te, sein Ur­teil da­hin aus­sprach, dass man ihm die Hän­de ab­hau­en, die Zun­ge her­aus­rei­ßen und sei­nen noch le­ben­den Leib ver­bren­nen sol­le. Wohl mög­lich, dass um die Zeit, in der die­ser arme Un­glück­li­che sei­nen grau­sa­men Tod er­litt, der Holz­hau­er Schick­sal in den Wäl­dern Frank­reichs oder Nor­we­gens be­reits die Bäu­me zum Fäl­len und für die Sä­ge­müh­le be­zeich­net hat­te, de­ren Bret­ter zur Her­stel­lung ei­nes in der Ge­schich­te mit Schre­cken ge­nann­ten be­weg­li­chen Gerüs­tes mit ei­nem Sack und ei­nem Beil die­nen soll­ten. Mög­lich auch, dass in der Um­ge­gend von Pa­ris un­ter den ro­hen Schup­pen der bäu­er­li­chen Ge­höf­te von länd­li­chem Staub be­spritz­te, von Schwei­nen um­schnüf­fel­te und als Hüh­ner­stei­gen die­nen­de Kar­ren stan­den, die der Bau­er Tod sich schon vor­ge­merkt hat­te, um das Fut­ter der Re­vo­lu­ti­on her­bei­zu­füh­ren. Je­ner Holz­hau­er und je­ner Bau­er sind un­abläs­sig in Tä­tig­keit; aber sie ar­bei­ten im stil­len fort, und nie­mand hört ih­ren lei­sen Tritt. Umso bes­ser, denn der Arg­wohn, dass sie wach sei­en, hät­te für atheis­tisch und hoch­ver­rä­te­risch ge­gol­ten.

In Eng­land konn­te man sich auf Ord­nung und öf­fent­li­chen Schutz nicht eben viel zu­gu­te tun. Ver­we­ge­ne Ein­brü­che durch be­waff­ne­te Ker­le und Berau­bun­gen auf of­fe­ner Stra­ße ka­men selbst in der Haupt­stadt fast jede Nacht vor. Man warn­te die Fa­mi­li­en, nicht aufs Land zu zie­hen, ohne dass sie vor­her ihre Ein­rich­tung in ei­nem Spe­di­ti­ons­ge­schäft ge­bor­gen hat­ten. Der nächt­li­che Räu­ber war bei Tag ein Ge­schäfts­mann in der Stadt, und wenn er von ir­gend­ei­nem Ge­werbs­ge­nos­sen, den er in sei­ner Ei­gen­schaft als »Ka­pi­tän« an­hielt, er­kannt und mit miss­lie­bi­gen Vor­stel­lun­gen be­hel­ligt wur­de, so schoss er ihn rit­ter­lich durch den Kopf und sporn­te sein Ross wei­ter. Der Post­wa­gen wur­de von sie­ben Räu­bern an­ge­fal­len; der Füh­rer schoss drei da­von nie­der, er­lag aber selbst den an­de­ren vie­ren, »weil ihm die Mu­ni­ti­on aus­ge­gan­gen war«, und nun erst konn­te der Wa­gen mit Be­hag­lich­keit ge­plün­dert wer­den. Der Lord-Mayor von Lon­don, die­se hoch­mäch­ti­ge Per­son, muss­te auf dem Turn­ha­mer Ra­sen ei­nem ein­zel­nen Stra­ßen­räu­ber stand­hal­ten und an­ge­sichts sei­nes Ge­fol­ges sei­nen wer­ten Leib von dem Gal­gen­strick aus­plün­dern las­sen. Ge­fan­ge­ne in den Lon­do­ner Ge­fäng­nis­sen lie­fer­ten ih­ren Schlie­ßern förm­li­che Schlach­ten, und die Ma­je­stät des Ge­set­zes ließ sie mit Mus­ke­ten­sal­ven zu Paa­ren trei­ben. In den Sa­lons des Ho­fes sti­bitz­ten Die­be den vor­neh­men Her­ren Dia­man­ten­kreu­ze von den Häl­sen weg. Mus­ke­tie­re zo­gen nach St. Gi­les, um nach Schleich­wa­ren zu fahn­den, und wur­den von ei­nem Pö­bel­hau­fen, den sie ih­rer­seits in der glei­chen Wei­se be­ar­bei­te­ten, mit Schüs­sen emp­fan­gen. Das wa­ren lau­ter Din­ge, die man für nichts Au­ßer­or­dent­li­ches an­sah. Da­bei hat­te der Hen­ker alle Hän­de voll zu tun, in­dem er das eine Mal die un­ter­schied­li­chen Ver­bre­cher in lan­gen Rei­hen auf­knüpf­te, ein an­der­mal sein Amt Sams­tags an ei­nem ein­zel­nen Haus­ein­bre­cher übte, der am Diens­tag er­grif­fen wor­den war, heu­te in Ne­w­ga­te dem Dut­zend nach Leu­ten die Hand brand­mark­te, mor­gen vor dem Tor von West­mins­ter­hall Flug­schrif­ten den Flam­men übergab, und dann wie­der einen trot­zi­gen Mör­der und einen ar­men Strauch­dieb, der ei­nem Bau­ern­bu­ben ein Sech­s­pence­stück ab­ge­jagt hat­te, in die Ewig­keit be­för­der­te.

Al­les dies und noch tau­send ähn­li­che Din­ge ge­sch­a­hen, be­gan­nen und en­dig­ten in dem lie­ben al­ten Jahr Ein­tau­send­sie­ben­hun­dert­und­fünf­und­sie­ben­zig. Und auf dem Schau­platz die­ser Er­eig­nis­se tra­ten, wäh­rend der Holz­hau­er und der Bau­er un­be­ach­tet fort­ar­bei­te­ten, jene bei­den mäch­ti­gen Kie­fer­wer­ke und je­nes Paar ein­fa­cher schö­ner Frau­en­ge­sich­ter ge­räusch­voll ge­nug auf und be­haup­te­ten ihre gött­li­chen Rech­te mit ge­wal­ti­ger Hand. So führ­te das Jahr Ein­tau­send­sie­ben­hun­dert­und­fünf­und­sie­ben­zig ihre Ma­je­stä­ten so­wohl wie die My­ria­den klei­ner We­sen­hei­ten, dar­un­ter auch die Per­so­nen un­se­rer Ge­schich­te, da­hin auf den vor ih­nen lie­gen­den Pfa­den.

Zweites Kapitel

Der Postwagen.

Es war die Do­ver­stra­ße, die an ei­nem Frei­tag des No­vem­ber spät abends vor der ers­ten der Per­so­nen lag, mit de­nen un­se­re Er­zäh­lung zu schaf­fen hat, und auf der­sel­ben Stra­ße wa­ckel­te auch die Post­kut­sche von Do­ver Shoo­ter’s Hill hin­an. Die Per­son stampf­te gleich den üb­ri­gen Per­so­nen ne­ben dem Wa­gen im Schlamm bergan – nicht weil den Um­stän­den nach ein Spa­zier­gang be­son­de­res Ver­gnü­gen ge­währ­te, son­dern weil die Stei­gung so jäh, das Pfer­de­ge­schirr so läs­tig, der Schmutz so tief und die Kut­sche so schwer war, dass die Ros­se schon drei­mal hat­ten hal­ten müs­sen und au­ßer­dem ein­mal so­gar die meu­te­ri­sche Ab­sicht ver­ra­ten hat­ten, mit Sack und Pack wie­der nach Black­heath um­zu­keh­ren. Doch kann­ten Zü­gel und Peit­sche, Post­knecht und Schaff­ner ge­mein­sam je­nen Kriegs­ar­ti­kel, der die An­nah­me ver­bot, dass es mit Ver­stand be­gab­te Tie­re gäbe; und ob­gleich die­ser Satz eher eine scho­nen­de Be­hand­lung be­grün­den soll­te, hat­te man doch durch die ge­gen­wär­ti­ge er­zielt, dass das Ge­spann ka­pi­tu­lier­te und zu sei­ner Pf­licht zu­rück­kehr­te.

Mit ge­senk­ten Köp­fen und zit­tern­den Schwei­fen ar­bei­te­ten sich die Pfer­de durch den tie­fen Stra­ßen­schlamm, in­dem sie zwi­schen­hin­ein zap­pel­ten und strau­chel­ten, als wol­le bei ih­nen al­les aus den Ge­len­ken ge­hen. Sooft der Kut­scher sie mit ei­nem be­hut­sa­men »Oha!« halt­ma­chen ließ, schüt­tel­te das nächs­te Hand­pferd un­ge­stüm den Kopf und das da­hin­ter be­find­li­che Ge­schirr, gleich­sam um mit un­ge­wöhn­li­cher Em­pha­se an­zu­deu­ten, dass die Kut­sche da nicht hin­auf­zu­brin­gen sei. Und wenn das Ross in sol­cher Wei­se ras­sel­te, fuhr der Pas­sa­gier, wie ängst­li­che Rei­sen­de zu tun pfle­gen, zu­sam­men und zeig­te eine trau­ri­ge Mie­ne.

Auf al­len Tal­ein­schnit­ten lag ein qual­men­der Ne­bel, der sich in sei­ner Trüb­se­lig­keit bergan wälz­te wie ein bö­ser Geist, der Ruhe sucht, ohne sie fin­den zu kön­nen. Er war feucht und un­ge­mein kalt und be­weg­te sich in lang­sam auf­ein­an­der­fol­gen­den klei­nen Wel­len­zü­gen, de­nen ei­nes fau­len See­stri­ches nicht un­ähn­lich, durch die Luft. Sein Ge­wölk ließ das Licht der Kut­schen­la­ter­nen nur auf ein paar Schrit­te un­ter­schei­den, und der Dampf der sich ab­mü­hen­den Pfer­de ging dar­in auf, so­dass man mei­nen konn­te, die ab­ge­hetz­ten Tie­re sei­en die Quel­le des gan­zen Ne­bel­mee­res.

Au­ßer dem ge­dach­ten Rei­sen­den schrit­ten noch zwei an­de­re ne­ben der Kut­sche her. Alle drei wa­ren bis über die Ohren ver­hüllt und tru­gen Stul­pens­tie­fel. Kei­ner da­von hät­te nach dem Au­gen­schein sich ein Ur­teil über das Aus­se­hen des an­de­ren bil­den kön­nen, und je­der war ge­gen die Geis­te­sau­gen sei­ner bei­den Mit­pas­sa­gie­re eben­so ver­hüllt wie ge­gen ihre leib­li­chen. In je­nen Ta­gen hü­te­te man sich wohl vor all­zu schnel­ler Ver­trau­lich­keit, da je­der, dem man auf der Stra­ße be­geg­ne­te, ein Räu­ber oder der Ver­bün­de­te von Räu­bern sein konn­te. Mit Cha­rak­teren der letz­te­ren Gat­tung traf man be­son­ders leicht zu­sam­men, denn je­des Post­haus, jede Schen­ke konn­te je­man­den auf­wei­sen, der im Sol­de des »Ka­pi­täns« stand, moch­te es nun der Wirt selbst oder ir­gend­ein un­schein­ba­rer Stall­be­diens­te­ter sein. So dach­te auch der Len­ker der Do­ver­post an je­nem Frei­tag­abend des No­vem­bers Sieb­zehn­hun­dert­fünf­und­sieb­zig, wäh­rend er, Shoo­ters Hill hin­an­hol­pernd, in sei­nem Kas­ten hin­ten auf dem Wa­gen stand, sich die Füße klopf­te und we­der Auge noch Hand von der Tru­he vor ihm ver­wand­te, in der auf ei­nem Un­ter­bau von Stutz­sä­beln ein ge­la­de­ner Mus­ke­ton und sechs oder acht ge­la­de­ne Rei­ter­pis­to­len la­gen.

Die Do­ver­post be­fand sich wie ge­wöhn­lich in der an­ge­neh­men Lage, dass der Wa­gen­füh­rer die Rei­sen­den und je­der Rei­sen­de sei­ne Mit­pas­sa­gie­re und den Wa­gen­füh­rer, kurz, ei­ner den an­de­ren be­arg­wöhn­te und der Po­stil­li­on sich auf nie­mand als auf sei­ne Pfer­de ver­las­sen moch­te, ob­schon auch er, so­fern das lie­be Vieh in Fra­ge kam, es mit gu­tem Ge­wis­sen auf bei­de Te­sta­men­te hät­te be­schwö­ren kön­nen, dass es nicht für eine sol­che Rei­se pass­te.

»Oha!« rief der Po­stil­li­on. »So recht. Jetzt nur noch einen Zug, und ihr seid dro­ben. Hol’ euch der Teu­fel da­für, denn ich habe Not ge­nug ge­habt, euch hin­auf­zu­brin­gen. – Joe!«

»Hol­la!« ent­geg­ne­te der Wa­gen­füh­rer.

»Wie viel Uhr schätzt Ihr, Joe?«

»Gut zehn Mi­nu­ten über elf.«

»Oh, Mord und Tod«, rief der Post­knecht är­ger­lich, »und noch nicht ein­mal auf dem Shoo­ter. Zu – hü! Vor­wärts mit euch!«

Das em­pha­ti­sche Pferd, das in ei­nem Akt der ent­schlos­sens­ten Ver­nei­nung von der Peit­sche er­reicht wor­den war, fing wie­der kräf­tig an zu klet­tern, und die drei an­de­ren Ros­se folg­ten sei­nem Bei­spiel. Noch ein­mal ar­bei­te­te sich die Do­ver­post vor­wärts, und die Stulps­tie­fel der Rei­sen­den klatsch­ten ne­ben­her. Sie hat­ten mit dem Wa­gen halt­ge­macht und dem­sel­ben treu­lich Ge­sell­schaft ge­leis­tet. Wäre ei­nem von den drei­en der ver­mes­se­ne Ge­dan­ke ge­kom­men, den an­de­ren den Vor­schlag zu ma­chen, sie woll­ten in Dun­kel und Ne­bel ein we­nig vor­aus­ge­hen, so hät­te er sich da­mit si­cher der Ge­fahr aus­ge­setzt, auf der Stel­le als Stra­ßen­räu­ber nie­der­ge­schos­sen zu wer­den.

Der letz­te An­lauf brach­te den Post­wa­gen auf die Höhe des Ber­ges. Die Pfer­de hiel­ten wie­der an, um sich zu ver­schnau­fen, und der Wa­gen­len­ker stieg ab, um für die kom­men­de Berg­sen­kung den Rad­schuh ein­zu­le­gen und den Pas­sa­gie­ren den Kut­schen­schlag zu öff­nen.

»Pst, Joe!« sag­te der Po­stil­li­on in war­nen­dem Ton, in­dem er von sei­nem Bock nie­der­schau­te.

»Was wisst Ihr, Tom?«

Bei­de lausch­ten.

»Ich höre ein Pferd uns nachtra­ben, Joe.«

»Und ich sag’, es ga­lop­piert, Tom«, ver­setz­te der Wa­gen­len­ker, in­dem er sei­nen Schlag losließ und hur­tig nach sei­nem Platz hin­auf­klet­ter­te. »Mei­ne Her­ren, in des Kö­nigs Na­men, ge­schwind ein­ge­stie­gen!«

Der für un­se­re Ge­schich­te vor­ge­merk­te Pas­sa­gier stand eben auf dem Kut­schentritt und woll­te hin­ein; die bei­den an­de­ren hiel­ten sich dicht hin­ter ihm und wa­ren im Be­griff, ihm zu fol­gen. Der ers­te­re blieb halb in, halb au­ßer der Kut­sche auf sei­nem Tritt, das an­de­re Paar drun­ten auf der Stra­ße. Sie alle blick­ten lau­schen­den Ohrs von dem Po­stil­li­on auf den Wa­gen­füh­rer und von dem Wa­gen­füh­rer auf den Po­stil­li­on. Bei­de ga­ben ih­nen die Bli­cke zu­rück, und selbst das em­pha­ti­sche Pferd spitz­te die Ohren und schau­te rück­wärts, ohne einen Wi­der­spruch zu er­he­ben.

Die Stil­le, die auf das Auf­hö­ren des Rä­der­ge­ras­sels und Ros­se­ge­stampfs folg­te, mach­te das Schwei­gen der Nacht nur umso ein­drucks­vol­ler. Das Schnau­ben der Pfer­de teil­te der Kut­sche eine zit­tern­de Be­we­gung mit, als be­fän­de sie sich in ei­nem Zu­stand von Auf­re­gung. Die Her­zen der Pas­sa­gie­re klopf­ten viel­leicht hör­bar laut. Je­den­falls er­zähl­te die stil­le Pau­se sehr ver­ständ­lich von Leu­ten, die au­ßer Atem wa­ren, aber gleich­wohl kei­ne Luft ein­zu­zie­hen wag­ten und un­ter be­schleu­nig­tem Herz­schla­gen des­sen harr­ten, was da kom­men soll­te.

Man hör­te, dass ein Pferd in wü­ten­dem Ga­lopp den Berg hin­auf­jag­te.

»Oho!« brüll­te der Wa­gen­len­ker, so laut er konn­te, in die Nacht hin­aus. »Ihr dort – halt! – oder ich gebe Feu­er!«

Der Huf­schlag hielt plötz­lich inne, und mit Not kämpf­te sich die Stim­me ei­nes Man­nes durch den Ne­bel:

»Ist das die Do­ver-Post?«

»Was küm­mer­t’s Euch, wer wir sind?« ent­geg­ne­te der Wa­gen­len­ker. »Wer seid Ihr

»Ich fra­ge, ob dies die Do­ver-Post ist.«

»Wozu braucht Ihr dies zu wis­sen?«

»Ich will zu ei­nem ih­rer Pas­sa­gie­re.«

»Wie heißt der Pas­sa­gier?«

»Mr. Jar­vis Lor­ry.«

Der Rei­sen­de auf dem Tritt ließ so­gleich mer­ken, dass dies sein Name sei. Der Wa­gen­len­ker, der Po­stil­li­on und die bei­den an­de­ren Pas­sa­gie­re be­trach­te­ten ihn miss­trau­isch.

»Bleibt, wo Ihr seid«, rief der Wa­gen­len­ker der Stim­me im Ne­bel zu, »denn wenn mir aus Ver­se­hen et­was pas­siert, so könnt’ ich’s Eu­rer Leb­ta­ge nicht wie­der gut­ma­chen. Der Gent­le­man na­mens Lor­ry soll un­um­wun­den ant­wor­ten.«

»Was gib­t’s!« frag­te dar­auf der Pas­sa­gier mit lei­ser, un­si­che­rer Stim­me. »Wer will et­was von mir? Ist es Jer­ry?«

»Die Stim­me die­ses Jer­ry ge­fällt mir gar nicht, wenn er wirk­lich so heißt«, brumm­te der Wa­gen­len­ker vor sich hin. »Der Jer­ry ist hei­se­rer, als mir lieb ist.«

»Ja, Mr. Lor­ry.«

»Was gib­t’s?«

»Man hat mich Euch mit ei­ner De­pe­sche nach­ge­schickt. Von T. und Co.«

»Ich ken­ne die­sen Bo­ten, Schaff­ner«, sag­te Lor­ry, wie­der auf die Stra­ße hin­austre­tend, wo­bei ihm die bei­den an­de­ren Pas­sa­gie­re, die nicht ge­schwind ge­nug in die Kut­sche kom­men, den Schlag schlie­ßen und das Fens­ter auf­zie­hen konn­ten, von hin­ten her hur­ti­ger, als sich eben mit der Höf­lich­keit ver­trug, Bei­hil­fe leis­te­ten. »Lasst ihn her­an­kom­men: es ist nichts Un­rech­tes.«

»Ich will’s hof­fen, bin aber noch nicht so fest über­zeugt da­von«, sprach der Wa­gen­len­ker rau vor sich hin. »He, Ihr!«

»Nun, was soll’s?« ent­geg­ne­te Jer­ry, noch hei­se­rer als zu­vor.

Die Post

»Rei­tet im Schritt her­an – habt Ihr mich ver­stan­den? Und wenn Ihr an Eu­rem Sat­tel Half­ter habt, so kommt mir ih­nen mit der Hand nicht zu nahe; denn ich habe ver­teu­felt hur­tig et­was ver­se­hen, und wenn es ge­schieht, so nimmt es die Form des Bleis an. So, jetzt lasst mich Euch mus­tern.«

Die Ge­stalt des Rei­ters kam lang­sam durch den wir­beln­den Ne­bel ge­gen die Sei­te des Post­wa­gens her, wo der Rei­sen­de stand. Dann mach­te der Frem­de halt, blick­te zu dem Schaff­ner auf und hän­dig­te dem Pas­sa­gier ein Brief­lein ein. Das Ross des Bo­ten schnaub­te mäch­tig, und Mann und Tier wa­ren vom Huf bis zur Hut­spit­ze mit Schmutz be­spritzt.

»Schaff­ner«, sag­te der Pas­sa­gier im Tone ru­hi­ger Ge­schäfts­zu­ver­sicht.

Der wach­sa­me Schaff­ner, der die Rech­te am Schaft, die Lin­ke am Lauf sei­nes Mus­ke­tons hat­te und kein Auge von dem Rei­ter ver­wand­te, ant­wor­te­te kurz:

»Sir!«

»Es ist nichts zu be­fürch­ten. Ich ge­hö­re zu Tell­sons Bank. Ihr müsst Tell­sons Bank in Lon­don ken­nen. Ich rei­se in Ge­schäfts­an­ge­le­gen­hei­ten nach Pa­ris. Hier ein Kro­ne Trink­geld. Darf ich dies le­sen?«

»So macht nur rasch, Sir.«

Er trat an die auf sei­ner Sei­te bren­nen­de Kut­schen­la­ter­ne, öff­ne­te das Schrei­ben und las – zu­erst für sich, dann laut:

»›War­tet in Do­ver auf Mam­sell.‹1 Ihr seht, dies ist nicht lang, Schaff­ner. Jer­ry, sagt, mei­ne Ant­wort dar­auf sei: Ins Le­ben zu­rück­ge­ru­fen.«

Jer­ry rich­te­te sich in sei­nem Sat­tel auf. »Das ist eine ver­wet­tert ku­rio­se Ant­wort«, sag­te er in sei­nem hei­sers­ten Tone.

»Rich­tet das aus, und man wird dar­aus er­se­hen, dass ich den Brief er­hal­ten habe, ohne dass ich Euch eine schrift­li­che Ant­wort mit­ge­be. Jetzt macht, dass Ihr wie­der zu­rück­kommt. Gute Nacht.«

Mit die­sen Wor­ten öff­ne­te der Pas­sa­gier den Wa­gen­schlag und stieg ein. Dies­mal hal­fen ihm sei­ne Rei­se­ge­fähr­ten nicht, son­dern ta­ten, als ob sie schlie­fen, nach­dem sie zu­vor mit al­ler Be­hän­dig­keit Uhren und Bör­sen in ih­ren Stie­feln ver­bor­gen hat­ten. Ihr an­geb­li­cher Schlum­mer soll­te sie wohl nur vor der Ge­fahr be­wah­ren, zu ei­ner an­de­ren Art von Tät­lich­keit An­lass zu ge­ben.

Die Kut­sche hol­per­te wie­der wei­ter, und da es jetzt bergab ging, wur­de der Ne­bel im­mer dich­ter. Der Wa­gen­füh­rer leg­te den Mus­ke­ton wie­der in die Tru­he, mus­ter­te ih­ren üb­ri­gen In­halt, sah nach den Pis­to­len, die er noch als Zu­ga­be in sei­nem Gür­tel ste­cken hat­te, und vi­si­tier­te dann einen klei­ne­ren Be­häl­ter un­ter sei­nem Sitz, in dem sich ei­ni­ge Schmie­de­ge­rä­te, ein paar Fa­ckeln und eine Zun­der­büch­se be­fan­den. Er war näm­lich mit sol­cher Sorg­falt aus­ge­stat­tet wor­den, um für den hin und wie­der vor­kom­men­den Fall, dass die Kut­schen­lich­ter vom Sturm aus­ge­bla­sen wür­den, sich ein­schlie­ßen und un­ter Ver­mitt­lung von Stahl und Stein mit leid­li­cher Si­cher­heit und Ge­mäch­lich­keit, wenn’s gut ging, bin­nen fünf Mi­nu­ten ein Licht zu­stan­de brin­gen zu kön­nen.

»Tom!« flüs­ter­te es über das Kut­schen­dach her­un­ter.

»He, Joe?«

»Habt Ihr ge­hört, was da aus­ge­rich­tet wer­den soll?«

»Ja, Joe.«

»Was denkt Ihr Euch da­bei, Tom?«

»Nichts, Joe.«

»Wie das so selt­sam zu­sam­men­trifft«, sag­te der Schaff­ner vor sich hin. »Mir geht es ge­ra­de eben­so.«

So­bald Jer­ry sich in Nacht und Ne­bel al­lein sah, stieg er ab, nicht nur, um es sei­nem Pferd leich­ter zu ma­chen, son­dern auch um sich den Staub aus dem Ge­sicht zu wi­schen und aus sei­nem Hut­stulp die an­ge­sam­mel­te große Was­ser­men­ge zu schüt­teln. So stand er, die Zü­gel sei­nes Tie­res über den schwer be­su­del­ten Är­mel ge­schlun­gen, da, bis er von dem wei­ter­rol­len­den Post­wa­gen nichts mehr hör­te und die Nacht wie­der mäus­chen­still ge­wor­den war. Dann wand­te er sich, um zu Fuß bergab zu ge­hen.

»Nach dem Ga­lopp von Tem­ple Bar her mag ich mich dei­nen vier Bei­nen nicht mehr an­ver­trau­en, alte Mäh­re, bis ich dich wie­der in der Ebe­ne habe«, sag­te der hei­se­re Bote, sein Tier be­trach­tend. »›Ins Le­ben zu­rück­ge­ru­fen‹. Das ist eine ver­teu­felt ku­rio­se Bot­schaft, und du könn­test dich nicht auf vie­le der­glei­chen ein­las­sen, Jer­ry. Lass dir sa­gen, Jer­ry, du kämest in eine ver­zwei­felt schlech­te Kar­rie­re, wenn das Ins-Le­ben-Zu­rück­ru­fen zur Mode wür­de.«


  1. Be­rufs­be­zeich­nung; meist Haus­ge­hil­fin  <<<

Drittes Kapitel

Nächtliche Schatten.

Es ist eine wun­der­ba­re, des Nach­den­kens wer­te Tat­sa­che, dass je­des mensch­li­che We­sen sei­ner Ei­gen­art nach für an­de­re zu ei­nem tie­fen Ge­heim­nis wird. Wenn ich nachts in ei­ner großen Stadt an­lan­ge, so er­füllt es mich mit heh­ren Ge­dan­ken, dass je­des von je­nen dun­kel auf­ein­an­der ge­häuf­ten Häu­sern sein ei­ge­nes Ge­heim­nis ein­schließt und je­des klop­fen­de Herz in den Hun­dert­tau­sen­den von mensch­li­chen We­sen ir­gend­ei­ne heim­li­che, ihm be­son­ders teu­re Vor­stel­lung birgt. Selbst das Grau­sen, das uns der Tod ein­flö­ßt, hat in die­sem Um­stand sei­nen Grund. Ich kann nicht mehr in dem mir teu­er ge­wor­de­nen Bu­che blät­tern und darf nicht hof­fen, es mit der Zeit zu Ende zu le­sen. Ich soll nicht mehr schau­en in die Tie­fen des un­er­gründ­li­chen Was­sers, in dem ich, je nach­dem es durch au­gen­blick­li­che Lich­ter er­hellt wur­de, man­chen weit un­ter der Ober­flä­che be­find­li­chen Schatz er­schau­te. Das Schick­sal woll­te es, dass das Buch sich schloss und für im­mer mit ei­ner un­lös­li­chen Klam­mer ver­se­hen ward, nach­dem ich kaum eine Sei­te ge­le­sen hat­te. Es war be­stimmt, dass das Was­ser den star­ren Ban­den ewi­gen Ei­ses ver­fiel, als das Licht noch auf sei­ner Ober­flä­che spiel­te und ich in ah­nungs­lo­ser Un­wis­sen­heit am Ufer stand. Mein Freund ist tot, mein Nach­bar ist tot, mei­ne Lie­be, der Schatz mei­ner See­le, ist tot. Wir ha­ben da die un­er­bitt­li­che Fort­dau­er ei­nes Ge­heim­nis­ses, das stets in je­der Per­sön­lich­keit war und das ich bis zum Ende mei­nes Da­seins in die mei­ni­ge über­tra­gen habe. Und gibt es wohl auf ir­gend­ei­nem Fried­hof die­ser Stadt, den ich durch­wand­le, einen Schlä­fer, der un­er­forsch­li­cher wäre, als es mir der in­nern Per­sön­lich­keit nach ihre rüh­ri­gen Be­woh­ner sind oder ich es ih­nen bin?

Was die­ses na­tür­li­che, un­ver­äu­ßer­li­che Erbe be­trifft, so be­saß es der Bote auf sei­nem Ross eben­so gut wie der Kö­nig, der ers­te Staats­mi­nis­ter oder der reichs­te Kauf­mann von Lon­don. Nicht an­ders er­ging es den drei im en­gen Raum ei­ner hol­pe­ri­gen al­ten Post­kut­sche ein­ge­schlos­se­nen Pas­sa­gie­ren, die sich wech­sel­sei­tig so voll­kom­me­ne Ge­heim­nis­se wa­ren, als füh­ren sie stun­den­weit von­ein­an­der je­der in ei­ner ei­ge­nen sechs­s­pän­ni­gen Equi­pa­ge.1

Der Bote ritt in leich­tem Trab wie­der zu­rück und hielt da­bei flei­ßig vor den Wirts­häu­sern, um sich einen Trunk zu ho­len, zeig­te aber da­bei eine ent­schie­de­ne Nei­gung, nicht viel Wor­te zu ver­schwen­den und den Hu­trand über den Au­gen auf­ge­stülpt zu tra­gen. Frei­lich hat­te er Au­gen, de­nen eine sol­che De­ko­ra­ti­on recht gut stand: denn sie wa­ren dun­kel auf der Ober­flä­che, ohne Tie­fe in Form oder Far­be und viel zu nah bei­ein­an­der, als fürch­te je­des, über et­was er­tappt zu wer­den, wenn sie nicht treu zu­sam­men­hiel­ten. Sie hat­ten einen fins­tern Aus­druck, und der alte Hut saß über ih­nen wie ein drei­e­cki­ger Spuck­napf, wäh­rend un­ter ih­nen die Flü­gel der di­cken, Kinn und Hals um­hül­len­den Hals­bin­de fast bis zu den Kni­en nie­der­fie­len. Wenn er zu ei­nem Trunk halt­mach­te, drück­te er, so­lan­ge er mit der Rech­ten sich den Brannt­wein in die Keh­le goss, mit der Lin­ken sei­ne Hül­le nie­der, zog sie aber, so­bald er sich an­ge­feuch­tet hat­te, au­gen­blick­lich wie­der in die Höhe.

»Nein, Jer­ry, nein«, fuhr der Bote auf sei­nem Ritt in dem al­ten The­ma fort, »das wäre nichts für dich, Jer­ry. Du bist ein ehr­li­cher Hand­werks­mann, Jer­ry, und dies passt nicht in dei­nen Kram. Zu­rück­ge­ru­fen –! Ei der Kuckuck, man soll­te mei­nen, er sei ein Trin­ker ge­we­sen.«

Der Auf­trag ver­wirr­te ihm den Sinn der­ma­ßen, dass er mehr­mal den Hut ab­neh­men muss­te, um sich den Kopf zu krat­zen. Sein Schei­tel war elend kahl; sonst aber hat­te er ein stei­fes schwar­zes Haar, das sich über­all bors­tig em­por­sträub­te und fast bis zu sei­ner stump­fen Nase bergab wuchs. Der Kopf schi­en aus ei­ner Schlos­ser­werk­statt zu kom­men; denn er sah weit eher ei­ner oben mit Spit­zei­sen ge­schirm­ten Mau­er als ei­nem na­tür­li­chen Schopf ähn­lich, so­dass der bes­te Laub­frosch­sprin­ger es ab­ge­lehnt ha­ben wür­de, über die­sen all­er­ge­fähr­lichs­ten Men­schen von der Welt einen Satz zu ma­chen.

Wäh­rend er mit dem Auf­trag, den er durch den Wäch­ter im Por­tier­stüb­chen ne­ben der Haus­tür von Tell­sons Bank bei Tem­ple Bar an die vor­neh­me­ren Per­so­nen drin­nen aus­rich­ten zu las­sen hat­te, sei­nes We­ges trab­te, nah­men die Schat­ten der Nacht für ihn lau­ter Ge­stal­ten an, die aus sei­ner Bot­schaft her­vor­zu­quel­len schie­nen, wäh­rend sie für sein Ross Um­ris­se ge­wan­nen, die aus des­sen Pri­vat­be­sorg­nis­sen ent­spran­gen. Letz­te­re muss­ten wohl sehr zahl­reich sein: denn das Tier scheu­te vor je­dem Schat­ten am Wege.

Wie lan­ge hol­ter­te und pol­ter­te, ras­sel­te und schul­ter­te der Post­wa­gen mit sei­nen drei un­er­forsch­li­chen Per­so­nen im In­nern auf dem lang­wei­li­gen Weg da­hin! Und wem ent­hüll­ten sich die Schat­ten der Nacht in den For­men, die die schim­mern­den Au­gen und die un­s­te­ten Ge­dan­ken an die Hand ga­ben?

Tell­sons Bank kam da­bei in dem Post­wa­gen nicht zu kurz. Wäh­rend der Bank­pas­sa­gier, den einen Arm durch die Rie­mensch­lin­ge ge­zo­gen, die das ih­ri­ge tat, um ihn vor ei­nem Zu­sam­men­stoß mit dem Nach­bar oder vor ei­nem Wurf in die Ecke zu be­wah­ren, wenn die Kut­sche einen be­son­ders schwe­ren Stoß er­litt, mit halb­ge­schlos­se­nen Au­gen auf sei­nem Sit­ze nick­te, wur­den für ihn die klei­nen Kut­schen­fens­ter, die durch die­sel­ben trüb her­ein­blin­ken­den Kut­schen­lich­ter und der mäch­ti­ge Rei­se­sack des ge­gen­über­sit­zen­den Pas­sa­giers zu ei­ner Bank mit eif­ri­gem Ge­schäfts­be­trieb. Das Ras­seln des Pfer­de­ge­schirrs war das Ge­klin­gel des Gel­des, und in fünf Mi­nu­ten wur­den mehr Wech­sel be­zahlt, als Tell­son trotz sei­ner aus­ge­dehn­ten in- und aus­län­di­schen Ge­schäfts­ver­bin­dun­gen in drei­mal so­viel Zeit aus­zu­zah­len ge­wöhnt war. Dann ta­ten sich Tell­sons un­ter­ir­di­sche fes­te Räu­me mit ih­ren wert­vol­len Schät­zen und Ge­heim­nis­sen, wie sie dem Pas­sa­gier be­kannt wa­ren – und er wuss­te nicht we­nig da­von – vor ihm auf. Er ging, die großen Schlüs­sel und das matt bren­nen­de Licht in der Hand, dar­un­ter um­her und fand al­les so si­cher und wohl­ver­wahrt, so still und in Ord­nung, wie er es zu­letzt ge­se­hen hat­te.

Aber ob­schon die Bank un­abläs­sig in sei­ner Fan­ta­sie ar­bei­te­te und auch der Post­wa­gen ihn stets in un­kla­rer Wei­se, wie etwa ein Schmerz, wenn man ein Be­täu­bungs­mit­tel ge­nom­men hat, an sei­ne Ge­gen­wart er­in­ner­te, so war doch auch noch ein an­de­rer Ge­dan­ken­strom vor­han­den, der ihm die gan­ze Nacht hin­durch kei­ne Ruhe ließ. Er be­fand sich auf dem Weg, je­man­den aus dem Gra­be her­aus­zu­gra­ben.

Die Schat­ten der Nacht zeig­ten ihm al­ler­dings un­ter der Men­ge der Ge­sich­ter, die sie ihm vor­führ­ten, das wah­re der be­gra­be­nen Per­son nicht. Da­für aber ver­ge­gen­wär­tig­ten ihm alle die Um­ris­se ei­nes Man­nes von fünf­und­vier­zig Jah­ren, die haupt­säch­lich durch den Aus­druck der Lei­den­schaf­ten und ih­res un­heim­li­chen We­sens sich von­ein­an­der un­ter­schie­den. Stolz, Ver­ach­tung, Trotz, Starr­sinn, Un­ter­wür­fig­keit und Jam­mern folg­ten der Rei­he nach. Eben­so der Wech­sel in den ein­ge­sun­ke­nen, lei­chen­fah­len Wan­gen und in den ab­ge­zehr­ten Kör­per­for­men. Das Ge­sicht blieb je­doch in der Haupt­sa­che das­sel­be, und je­der der Köp­fe war vor der Zeit weiß ge­wor­den. Wohl hun­dert­mal frag­te der schlum­mern­de Rei­sen­de die­ses Ge­s­penst:

»Wie lan­ge schon be­gra­ben?«

Und je­des Mal lau­te­te die Ant­wort in der glei­chen Wei­se:

»Fast acht­zehn Jah­re.«

»Habt Ihr alle Hoff­nung auf­ge­ge­ben, aus­ge­gra­ben zu wer­den?«

»Längst.«

»Ihr wisst doch, dass Ihr ins Le­ben zu­rück­ge­ru­fen seid?«

»So höre ich.«

»Ich hof­fe, dies hat noch einen Wert für Euch?«

»Ich weiß dar­auf nichts zu sa­gen.«

»Soll ich sie Euch zei­gen? Wollt Ihr mich zu ihr be­glei­ten?«

Die Ant­wor­ten auf die­se Fra­ge wa­ren ver­schie­den und wi­der­spre­chend. Bis­wei­len lau­te­te die ge­bro­che­ne Er­wi­de­rung: »Halt! Es wür­de mich tö­ten, wenn ich sie zu bald sähe.« Ein an­der­mal wur­de sie durch einen mil­den Trä­nen­re­gen ein­ge­lei­tet und klang: »Nehmt mich zu ihr.« Bis­wei­len folg­te auf die Fra­ge ein wir­res Glot­zen und die Ent­geg­nung: »Ich ken­ne sie nicht – ver­ste­he Euch nicht.«

Un­ter sol­chem ein­ge­bil­de­ten Zwie­ge­spräch konn­te der Pas­sa­gier in sei­ner Fan­ta­sie gra­ben, gra­ben und gra­ben – jetzt mit ei­nem Spa­ten, jetzt mit ei­nem großen Schlüs­sel, oder wohl gar mit den Hän­den – um das un­glück­li­che We­sen her­aus­zu­schaf­fen. Und war es end­lich, Ge­sicht und Haa­re mit Erde be­klebt, ge­ho­ben, so ver­fiel es plötz­lich wie­der zu Staub. Der Pas­sa­gier konn­te dann zu­sam­men­fah­ren und das Fens­ter nie­der­drücken, um sich durch den Re­gen und Ne­bel, die sei­ne Wan­gen feuch­te­ten, an die Wirk­lich­keit er­in­nern zu las­sen.

Doch selbst wenn sei­ne Au­gen sich für den Ne­bel und Re­gen, für den be­weg­li­chen Licht­strei­fen auf der Stra­ße und für die stoß­wei­se wei­ter und wei­ter zu­rück­wei­chen­den He­cken­par­ti­en am Wege auf­ta­ten, pfleg­ten die Nacht­schat­ten au­ßer­halb der Kut­sche mit dem Gang der Nacht­schat­ten im In­nern wie­der zu­sam­men­zu­tref­fen. Da stand viel­leicht das wirk­li­che Bank­haus bei Tem­ple Bar, das wirk­li­che Ge­schäft des ab­ge­lau­fe­nen Ta­ges, der fes­te Kel­ler­raum, der ihm nach­ge­schick­te Eil­bo­te und die Ant­wort, die er durch ihn zu­rück­sa­gen ließ. Und mit­ten aus die­sen Bil­dern trat dann wie­der das ge­spens­ti­ge Ge­sicht her­vor, das er aber­mals an­re­de­te:

»Wie lan­ge schon be­gra­ben?«

»Fast acht­zehn Jahr.«

»Ich hof­fe, das Le­ben hat noch einen Wert für Euch.«

»Weiß nicht.«

Und er grub, grub, grub im­mer­fort, bis ihn ei­ner der Mit­rei­sen­den durch eine un­ge­dul­di­ge Be­we­gung mahn­te, er sol­le das Fens­ter wie­der auf­zie­hen. Dann leg­te er sei­nen Arm aufs neue in die Le­der­schlin­ge und mach­te sich Ge­dan­ken über die bei­den schlum­mern­den Ge­stal­ten, bis zu­letzt sein Geist wie­der von ih­nen ab­kam und aber­mals sich in die Bank und zu dem Gra­be ver­irr­te.

»Wie lan­ge schon be­gra­ben?«

»Fast acht­zehn Jah­re.«

»Hat­tet Ihr alle Hoff­nung auf­ge­ge­ben, aus­ge­gra­ben zu wer­den?«

»Längst.«

Die­se Wor­te klan­gen noch so deut­lich in sei­nen Ohren wie nur ir­gend­ein wirk­lich ge­spro­che­nes Wort, als der müde Rei­sen­de zu dem Be­wusst­sein er­wach­te, dass es Tag und die Schat­ten der Nacht da­hin sei­en.

Er ließ das Fens­ter nie­der und schau­te nach der auf­ge­hen­den Son­ne hin­aus. Da war ein Strich um­ge­pflüg­ten Lan­des und der Pflug noch an der­sel­ben Stel­le, wo man am Abend zu­vor die Pfer­de aus­ge­spannt hat­te, auf dem Acker. Jen­seits des­sel­ben sah man ein Buschwäld­chen, in dem noch vie­le Blät­ter von bren­nen­dem Rot oder gol­di­gem Gelb an den Zwei­gen zit­ter­ten. Die Erde war kalt und feucht, der Him­mel aber klar, und die Son­ne er­hob sich in ru­hi­ger Pracht.

»Acht­zehn Jah­re!« sag­te der Pas­sa­gier, zu der Son­ne auf­bli­ckend. »Barm­her­zi­ger Schöp­fer des Ta­ges! Acht­zehn Jah­re lang le­ben­dig be­gra­ben zu sein!«


  1. Ge­päck  <<<

Viertes Kapitel

Die Vorbereitung.

Als der Post­wa­gen im Lau­fe des Vor­mit­tags glück­lich Do­ver er­reich­te, öff­ne­te wie ge­wöhn­lich der Ober­kell­ner des Roy­al-Ge­or­ge-Ho­tel den Kut­schen­schlag. Er tat dies mit ei­nem ge­wis­sen ze­re­mo­ni­ösen Schnör­kel; denn im Win­ter war eine Post­rei­se von Lon­don her ein Un­ter­neh­men, zu des­sen Voll­brin­gung man einen wa­ge­hal­si­gen Rei­sen­den wohl be­glück­wün­schen konn­te.

Dies­mal galt der Glück­wunsch nur ei­nem ein­zi­gen Pas­sa­gier; denn die zwei an­de­ren hat­ten sich un­ter­wegs an ih­ren Be­stim­mungs­or­ten ab­set­zen las­sen. Das mo­de­ri­ge In­ne­re des Wa­gens mit sei­nem nas­sen, schmut­zi­gen Stroh, dem wi­der­li­chen Ge­ruch und sei­ner Dun­kel­heit nahm sich un­ge­fähr wie ein großer Hun­destall aus, wäh­rend Mr. Lor­ry, der Pas­sa­gier, als er sich aus dem Loch und aus den Stroh­fes­seln her­aus­schüt­tel­te, in den dich­ten, zot­ti­gen Um­hül­lun­gen, den nie­der­hän­gen­den Hut­krem­pen und den schmutz­be­spritz­ten Bei­nen den dazu ge­hö­ri­gen Hund vor­stel­len konn­te.

»Geht mor­gen ein Pa­ket­schiff nach Calais, Kell­ner?«

»Ja, Sir, wenn das Wet­ter hält und der Wind sich or­dent­lich macht. Die Flut wird nach­mit­tags zwei Uhr der Aus­fahrt zu­stat­ten kom­men. Ein Bett, Sir?«

»Das wer­de ich heu­te Nacht nicht brau­chen. Doch wün­sche ich ein Schlaf­zim­mer zu ha­ben. Schickt mir einen Bar­bier.«

»Und ein Früh­stück, Sir? Ja, Sir. Hier hin­auf, Sir, wenn’s be­liebt! Führt den Herrn ins Con­cord! Den Rei­se­sack des Gent­le­man und heiß Was­ser auf Con­cord! Zieht im Con­cord dem Gent­le­man die Stie­fel ab! Ihr wer­det ein schö­nes See­koh­len­feu­er fin­den, Sir! Schickt den Bar­bier auf Con­cord! Hur­tig da, auf Con­cord.«

Das Con­cord­zim­mer wur­de im­mer den Post­rei­sen­den an­ge­wie­sen und ließ in An­be­tracht des Um­stan­des, dass die Post­pas­sa­gie­re vom Kopf bis zu den Fü­ßen ein­ge­mummt an­zu­kom­men pfleg­ten, die in­ter­essan­te Beo­b­ach­tung ma­chen, dass nur eine ein­zi­ge Art von Men­schen hin­ein­zu­ge­hen schi­en, wäh­rend doch die al­ler­ver­schie­dens­ten wie­der her­aus­ka­men. Als da­her zu­fäl­lig ein an­de­rer Kell­ner, zwei Por­tiers, meh­re­re Dienst­mäd­chen und die Wir­tin an un­ter­schied­li­chen Punk­ten des We­ges zwi­schen dem Con­cord- und dem Kaf­fee­zim­mer ein­her­schlen­der­ten, sa­hen sie einen Gent­le­man von etwa sech­zig in ei­nem förm­li­chen, zwar ziem­lich ver­brauch­ten, aber doch gut er­hal­te­nen, brau­nen An­zug mit brei­ten Är­me­lauf­schlä­gen und großen Ta­schen auf­tau­chen, um un­ten sein Früh­stück ein­zu­neh­men.

Sel­bi­gen Vor­mit­tag barg das Kaf­fee­zim­mer kei­nen an­de­ren Gast als den Gent­le­man in Braun. Der Früh­stücks­tisch war vor den Ka­min ge­rückt, und als der Frem­de in der vol­len Be­leuch­tung des Feu­ers da­saß und der Be­die­nung harr­te, ver­hielt er sich so re­gungs­los, als sei er im Be­griff, sich por­trä­tie­ren zu las­sen.

Die Hän­de auf die Knie ge­legt, sah er sehr re­gel­mä­ßig und ex­akt aus, und eine lau­te Uhr tick­te in sei­ner Wes­ten­ta­sche eine hell­tö­nen­de Pre­digt, als wol­le sie ihre Wür­de und ihr ho­hes Al­ter zu dem Leicht­sinn und der ra­schen Ver­gäng­lich­keit der lo­dern­den Flam­me in einen Ge­gen­satz brin­gen. Er hat­te einen hüb­schen Fuß und war ein biss­chen ei­tel dar­auf, denn die brau­nen St­rümp­fe vom feins­ten Ge­we­be la­gen glatt und knapp an, und auch sei­ne Schnal­len­schu­he nah­men sich trotz ih­rer Ein­fach­heit recht sau­ber aus. Eine flachs­far­bi­ge Stutz­pe­rücke mit kur­z­em krau­sem Haar, das je­doch eher aus Sei­den- oder Glas­fäd­chen als aus na­tür­li­chen Haa­ren zu be­ste­hen schi­en, be­deck­te sei­nen Kopf. Die Lein­wand ent­sprach in Fein­heit al­ler­dings nicht den St­rümp­fen, war aber so weiß wie der Schaum der Wel­len, die sich am na­hen Ufer bra­chen, oder wie die von der Son­ne be­leuch­te­ten Reu­sen­punk­te weit drau­ßen in der See. Ein an Ruhe ge­wöhn­tes Ge­sicht wur­de un­ter der wun­der­li­chen Perücke durch ein Paar feuch­te kla­re Au­gen er­hellt, mit de­nen ihr Ei­gen­tü­mer wohl man­che Not ge­habt ha­ben moch­te, bis sie im Lauf der Jah­re an den zu­rück­hal­ten­den und ab­ge­mes­se­nen Aus­druck von Tell­sons Bank ge­wöhnt wa­ren. Auf sei­nen Wan­gen lag ein fri­sches Rot, und sein furchi­ges Ant­litz trug nur we­ni­ge Spu­ren der Sor­ge. Nun, viel­leicht hat­ten die un­ver­hei­ra­te­ten Kon­to­ris­ten in Tell­sons Bank haupt­säch­lich mit den Sor­gen an­de­rer Leu­te, mit Sor­gen zwei­ter Hand zu tun, die wahr­schein­lich wie die Klei­der aus zwei­ter Hand schnel­ler ein Ende neh­men.

Um das Bild des Man­nes, der ei­nem Por­trät­ma­ler sitzt, voll­stän­dig zu ma­chen, schlum­mer­te Mr. Lor­ry end­lich ein. Die An­kunft des Früh­stücks weck­te ihn wie­der. Als er sei­nen Stuhl an den Tisch rück­te, sag­te er zu dem Kell­ner:

»Ich wün­sche, dass Ihr Vor­be­rei­tun­gen trefft für die Auf­nah­me ei­nes jun­gen Frau­en­zim­mers, das heu­te noch hier an­lan­gen wird. Sie fragt viel­leicht nach Mr. Jar­vis Lor­ry, viel­leicht auch ein­fach nach ei­nem Herrn von Tell­sons Bank. Habt die Güte, mich von ih­rer An­kunft in Kennt­nis zu set­zen.«

»Ja, Sir. Tell­sons Bank in Lon­don, Sir?«

»Ja.«

»Ja, Sir. Die Her­ren Rei­sen­den die­ses Hau­ses beeh­ren uns auf dem Hin- und Her­weg von Lon­don nach Pa­ris oft mit ih­rem Be­such, Sir. Tell­son und Kom­pa­nie las­sen au­ßer­or­dent­lich viel rei­sen, Sir.«

»Ja. Wir sind eben­so gut ein fran­zö­si­sches wie ein eng­li­sches Ge­schäfts­haus.«

»Ja, Sir. Ihr selbst aber seid wohl an das Rei­sen nicht sehr ge­wöhnt, Sir?«

»In letz­ter Zeit nicht mehr. Es ist schon fünf­zehn Jah­re her, seit wir – seit ich – mei­ne letz­te Rei­se nach Frank­reich mach­te.«

»Wirk­lich, Sir? Nun, da­mals war ich noch nicht im Hau­se; auch mein Chef noch nicht, Sir. Der Ge­or­ge be­fand sich zu je­ner Zeit in an­de­ren Hän­den, Sir.«

»Ich glau­be das gern.«

»Aber ich woll­te eine schö­ne Wet­te dar­auf ein­ge­hen, Sir, dass ein Haus wie das von Tell­son und Kom­pa­nie, ich will nicht sa­gen vor fünf­zehn, son­dern schon vor fünf­zig Jah­ren flo­rier­te.«

»Ihr könnt die Zahl drei­fach neh­men und hun­dert­fünf­zig sa­gen, ohne weit ge­gen die Wahr­heit zu ver­sto­ßen.«

»Wirk­lich, Sir?«

Und Au­gen und Mund weit auf­sper­rend, trat der Kell­ner von dem Tisch zu­rück, warf sei­ne Ser­vi­et­te vom rech­ten un­ter den lin­ken Arm, nahm eine im­po­san­te Hal­tung an und be­trach­te­te den Gast, wäh­rend die­ser aß und trank, wie von ei­nem Wach­turm oder ei­ner Stern­war­te aus, nach dem ste­reo­ty­pen Brauch der Kell­ner in al­len Jahr­hun­der­ten.

Nach Been­di­gung des Früh­stücks er­hob sich Mr. Lor­ry, um einen Spa­zier­gang am Ufer zu ma­chen. Die klei­ne, schma­le, win­ke­li­ge Stadt Do­ver lag kaum be­ach­tens­wert an der Küs­te hin und ver­barg wie eine Art Mee­res­a­ne­mo­ne ih­ren Kopf in den Kalk­stein­klip­pen. Das Ge­sta­de war eine Wüs­te, in der Was­ser und Stei­ne sich un­ter­ein­an­der tum­mel­ten; die See tat, was sie ver­moch­te; und ihr Lieb­lings­ge­schäft war Zer­stö­ren. Sie don­ner­te ge­gen die Stadt, don­ner­te ge­gen die Klip­pen und haus­te wie toll an der Küs­te. Die Luft um die Häu­ser her hat­te einen so star­ken Fisch­ge­ruch, dass man hät­te mei­nen sol­len, kran­ke Fi­sche brauch­ten dar­in eine Luft­kur, wie die kran­ken Men­schen im Was­ser drun­ten ei­ner See­kur ob­zu­lie­gen pfleg­ten. In dem Ha­fen wur­de et­was Fi­sche­rei be­trie­ben; doch diente er noch weit mehr mü­ßi­gen Spa­zier­gän­gern zum Tum­mel­platz, die abends, na­ment­lich um die Zeit der Flut­hö­he, sich am An­blick des Mee­res ver­gnü­gen woll­ten. Klei­ne Ge­werbs­leu­te ohne Ge­schäft ka­men oft auf eine un­er­klär­li­che Wei­se zu großem Ver­mö­gen, und es war merk­wür­dig, dass in der gan­zen Nach­bar­schaft nie­mand den Lam­pen­an­zün­der aus­ste­hen konn­te.

Es wur­de Nach­mit­tag, und die Luft, die mit­un­ter so klar ge­we­sen, dass man die fran­zö­si­sche Küs­te se­hen konn­te, füll­te sich aufs neue mit Dunst und Ne­bel. Auch Mr. Lor­rys Ge­dan­ken schie­nen sich zu um­wöl­ken. Als er nach Ein­bruch der Dun­kel­heit ne­ben dem Feu­er des Kaf­fee­zim­mers saß, und wie am Mor­gen auf das Früh­stück, so jetzt auf das Di­ner war­te­te, be­schäf­tig­te sich sein Geist em­sig mit Gra­ben, Gra­ben und Gra­ben in den glühro­ten Koh­len.

Eine Fla­sche gu­ten Bor­deaux’ nach dem Es­sen konn­te ei­nem Koh­len­grä­ber bei so hei­ßer Ar­beit nicht scha­den, in­dem sie höchs­tens dazu diente, ihm das Ge­schäft ein we­nig zu ver­lei­den. Mr. Lor­ry war schon ge­rau­me Zeit mü­ßig ge­we­sen und hat­te eben mit ei­ner so voll­kom­men be­frie­dig­ten Mie­ne, wie man sie nur bei ei­nem ält­li­chen Gent­le­man mit fri­scher Ge­sichts­far­be am Schluss ei­ner Fla­sche fin­den kann, das letz­te Glas voll ein­ge­schenkt, als sich von der en­gen Stra­ße her das Geras­sel ei­nes Wa­gens ver­neh­men ließ, der bald dar­auf in dem Wirts­haus­hof halt­mach­te.

Er stell­te das Glas un­ge­kos­tet wie­der auf den Tisch und sag­te zu sich sel­ber:

»Dies ist die Mam­sell.«

Ei­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter trat der Kell­ner ein, um zu mel­den, dass Miss Ma­net­te von Lon­don an­ge­langt sei und sich dar­auf freue, den Gent­le­man von Tell­son zu emp­fan­gen.

»So bald?«

Miss Ma­net­te hat­te un­ter­wegs ei­ni­ge Er­fri­schun­gen zu sich ge­nom­men und brauch­te für den Au­gen­blick nichts, brann­te aber vor Be­gier, den Gent­le­man von Tell­son so­gleich bei sich zu se­hen, wo­fern es ihm ge­le­gen und nicht un­an­ge­nehm sei.

So blieb dem Gent­le­man von Tell­son kei­ne an­de­re Wahl, als mit ei­ner Mie­ne stum­mer Verzweif­lung sein Glas zu lee­ren, sein wun­der­li­ches Flach­s­pe­rück­lein zu­recht­zu­rück­en und dem Kell­ner in Miss Ma­net­tes Zim­mer zu fol­gen. Es war ein großes dunkles Ge­mach mit schwar­zen Ross­haar­mö­beln und schwe­ren dun­kel­far­bi­gen Ti­schen, so, dass man an eine Trau­er­pa­ra­de ge­mahnt wur­de. Man hat­te die­sen Haus­rat so lan­ge ge­ölt und ge­ölt, bis die zwei ho­hen Lich­ter der mitt­le­ren Ta­fel auf je­dem Tisch­blatt düs­ter wi­der­strahl­ten, als sei­en sie tief in das schwar­ze Ma­ha­go­ni­holz ein­ge­senkt und kön­ne kein der Rede wer­tes Licht von ih­nen er­langt wer­den, be­vor sie aus­ge­gra­ben wä­ren.

Es war so dun­kel, dass Mr. Lor­ry, der sich durch den ab­ge­nutz­ten tür­ki­schen Bo­den­tep­pich lei­ten ließ, schon glaub­te, Miss Jea­net­te sei für einen Au­gen­blick in das an­sto­ßen­de Zim­mer ge­tre­ten. Als er aber die zwei ho­hen Ker­zen hin­ter sich hat­te, be­merk­te er ne­ben dem Ti­sche zwi­schen die­sem und dem Ka­min, zu sei­nem Empfang be­reit, eine jun­ge Dame von nicht mehr als sieb­zehn in ei­nem Reit­kleid, die den St­roh­rei­se­hut am Ban­de in der Hand hielt. Sei­ne Au­gen ruh­ten auf ei­ner klei­nen, schmäch­ti­gen, hüb­schen Fi­gur, ei­ner Fül­le gol­de­nen Haars, ei­nem Au­gen­paar, das dem sei­ni­gen mit fra­gen­den Bli­cken be­geg­ne­te, und ei­ner Stirn, die die bei sol­cher Ju­gend und Glät­te be­fremd­li­che Ei­gen­schaft be­saß, durch He­ben und Zu­sam­men­zie­hen der Brau­en eine Mie­ne an­zu­neh­men, die nicht ge­ra­de ein Aus­druck von Ver­wir­rung, von Stau­nen, von Un­ru­he oder auch nur von ge­spann­ter Auf­merk­sam­keit ge­nannt wer­den konn­te, wohl aber et­was von al­len die­sen vier Ei­gen­ar­ten in sich fass­te. Wäh­rend nun sei­ne Bli­cke auf die­sem Bil­de haf­te­ten, fiel ihm plötz­lich die leb­haf­te Ähn­lich­keit mit ei­nem Kin­de auf, das er bei sei­ner Fahrt über eben die­sen Do­ver-Kanal bei kal­tem Ha­gel­wet­ter und hoch­ge­hen­der See in den Ar­men ge­habt hat­te. Die Erin­ne­rung war je­doch nur flüch­tig und ei­nem Hauch auf der Ober­flä­che des ein­zi­gen Pfei­ler­spie­gels ähn­lich, auf des­sen Rah­men eine Spi­tal­pro­zes­si­on von ver­krüp­pel­ten und kopf­lo­sen schwar­zen Ge­ni­en ei­ner Ver­samm­lung von schwar­zen weib­li­chen Gott­hei­ten in schwar­zen Kör­ben Früch­te vom to­ten Meer dar­brach­ten. Er mach­te Miss Ma­net­te eine förm­li­che Ver­beu­gung.

»Ich bit­te, nehmt Platz, Sir«, be­gann eine sehr hel­le und an­ge­neh­me jun­ge Stim­me mit ei­nem ganz leich­ten An­flug von aus­län­di­schem Ak­zent.

»Ich küss’ Euch die Hand, Miss«, sag­te Mr. Lor­ry mit den Ma­nie­ren ei­nes frü­he­ren Da­tums, wäh­rend er nach ei­ner aber­ma­li­gen förm­li­chen Ver­beu­gung sei­nen Sitz ein­nahm.

»Ich habe ges­tern von der Bank einen Brief er­hal­ten, der von ei­ner Neu­ig­keit oder ei­ner Ent­de­ckung spricht –«

»Das Wort ist nicht we­sent­lich. Miss; Ihr könnt es so oder so nen­nen.«

»Das klei­ne Ei­gen­tum mei­nes Va­ters be­tref­fend, den ich nie sah und der schon lan­ge tot ist.«

Mr. Lor­ry rück­te auf sei­nem Stuhl und warf einen ängst­li­chen Blick auf die Spi­tal­pro­zes­si­on der schwar­zen Ge­ni­en. Als ob sie für ir­gend­je­mand Hil­fe brin­gen konn­ten in ih­ren ab­ge­schmack­ten Kör­ben!

»Es soll da­durch not­wen­dig wer­den, dass ich nach Pa­ris rei­se und da­selbst ge­mein­schaft­lich hand­le mit ei­nem Herrn, der aus­drück­lich we­gen die­ser An­ge­le­gen­heit auch nach Pa­ris ge­schickt wor­den sei.«

»Der bin ich.«

»Das habe ich er­war­tet, Sir.«

Sie mach­te einen Knix ge­gen ihn (da­mals knix­ten die jun­gen Frau­en­zim­mer noch), um ihm da­mit zu ver­ste­hen zu ge­ben, dass sie füh­le, um wie viel äl­ter und wei­ser er sei. Und er ver­beug­te sich aber­mals.

»Ich habe dar­auf der Bank geant­wor­tet, Sir, wenn mei­nen sach­ver­stän­di­gen freund­li­chen Be­ra­tern mei­ne Rei­se nach Pa­ris nö­tig er­schei­ne, so wer­de ich als eine Wai­se, die kei­nen Ver­wand­ten hat, der sie be­glei­ten kann, mich glück­lich schät­zen, die­sem Auf­trag un­ter dem Schutz des wür­di­gen Herrn nach­zu­kom­men. Der Gent­le­man hat­te zwar Lon­don schon ver­las­sen; aber ich glau­be, es ist ihm ein Bote nach­ge­schickt wor­den mit der Bit­te, er möch­te die Güte ha­ben, mich hier zu er­war­ten.«

»Ich bin so glück­lich ge­we­sen, mit die­sem Dienst be­traut zu wer­den«, er­wi­der­te Mr. Lor­ry. »Und noch glück­li­cher wird mich sei­ne Aus­füh­rung ma­chen.«

»Ich dan­ke Euch, dan­ke Euch von gan­zem Her­zen, Sir. Man hat mir in der Bank ge­sagt, der Herr wer­de mir die gan­ze An­ge­le­gen­heit aus­ein­an­der­set­zen, und ich müs­se mich dar­auf ge­fasst ma­chen, über­ra­schen­de Din­ge zu hö­ren. Ich habe mein Bes­tes ge­tan, um mich dar­auf vor­zu­be­rei­ten, und bin na­tür­lich in ho­hem Gra­de auf Eure Mit­tei­lun­gen ge­spannt.«

»Na­tür­lich«, ver­setz­te Mr. Lor­ry. »Ja – ich –«

Nach ei­ner Pau­se füg­te er, die Perücke ge­gen das Ohr rückend, bei:

»Es ist sehr schwer, den An­fang zu fin­den.«

Und so fing er lie­ber nicht an, be­geg­ne­te aber in sei­ner Un­schlüs­sig­keit ih­rem Bli­cke. Die jun­ge Stirn furchte sich zu je­nem ei­gen­tüm­li­chen Aus­druck, der zwar auf­fal­lend, aber doch hübsch und cha­rak­te­ris­tisch war; da­bei er­hob sie ihre Hand, als grei­­­­­­­­­­­­­­­