Petra Hammesfahr

Erinnerung an einen Mörder

Roman

Prolog

Es gab für mich nie einen Grund, meinen Vater zu fürchten. Das habe ich nach dem Mittwoch im Oktober 1978 allen gesagt, die von mir wissen wollten, wer mich in den Hals gestochen hatte: den Ärzten und Polizisten, Großmutter Meller – seiner Mutter –, die mich weinend an sich drückte und «armes Bübchen» schluchzte, Birgit und Peter, die ich zu der Zeit noch Tante und Onkel nannte. Und dieser Psychologin, die meine Täterbeschreibung so schnell einzuordnen wusste. Egal, was ich gefragt wurde, meine Antworten gipfelten immer in dem Satz: «Ich hatte keine Angst vor meinem Papa, ehrlich nicht, er hat mir nie wehgetan.»

Was hätte ich sonst noch sagen sollen? Dass ich meinen Vater über alles geliebt hatte, interessierte niemanden mehr, höchstens noch Großmutter Meller, die darauf beharrte: «Mein Junge hätte so was nicht getan.»

Eine Frau namens Berta Eberlein hatte mich gegen vier Uhr nachmittags in der Wehrhahnstraße aufgegriffen. Daran erinnere ich mich bis heute nicht. Ich sei gelaufen, hieß es, nur gelaufen, ohne zu schreien, ohne zu weinen. Keine Ahnung, an wie vielen Leuten ich bis dahin vorbeigelaufen war, die geflissentlich weggesehen hatten. Niemand handelt sich gerne Scherereien ein, und ich sah nach einer Menge Scherereien aus. Mein Gesicht war blutig, mein Hals, mein Haar, mein Nacken, meine Hände, Jacke, Hose, Schuhe, alles war blutig. Berta Eberlein schaute nicht weg und fackelte nicht lange. Sie setzte mich auf ihr Fahrrad und brachte mich schnurstracks zum Krankenhaus.

In der Notaufnahme wurde ich ausgezogen und von Kopf bis Fuß untersucht. Bei all dem Blut rechneten sie mit mehreren Wunden, fanden aber nur eine: einen Stich in den Unterkiefer – vereinfacht ausgedrückt. Genauer gesagt waren der zweibäuchige Mundbodenmuskel und meine Zunge durchstochen.

Darüber hinaus entdeckten sie Hämatome in allen Schattierungen und stellten beim Röntgen zwei verheilte Brüche fest, einen im Schädel und einen im linken Unterarm. An den Armbruch kann ich mich auch nicht erinnern. Als das passierte, war ich erst ein halbes Jahr alt und angeblich beim Wickeln vom Tisch gefallen. Den Schädelbruch hatte ich mir offiziell bei einem Treppensturz zugezogen. Da war ich dreieinhalb und weiß noch genau, dass ich zuerst einen Schlag ins Gesicht und danach einen Stoß vor die Brust erhielt, der so heftig war, dass ich mit dem Kopf gegen einen Türpfosten prallte und das Bewusstsein verlor.

Meinen Namen konnte ich dem Krankenhauspersonal nicht nennen, was nicht allein an der verletzten Zunge lag. Danach hatte mich auch die resolute Berta Eberlein vergebens gefragt. Ich stand unter Schock oder war, wie die Psychologin es in ihrem Bericht formulierte, schwer traumatisiert. Aber ich hatte den Ranzen auf dem Rücken, mein Name stand auf Buchumschlägen und Heften. Felix Meller. So hieß ich damals.

Was mit mir geschehen war, was ich gesehen, gehört, erlebt und erlitten hatte, wusste ich nicht. In meinem Hirn war eine Tür zugeschlagen, und ich hatte auf meinem Weg durch die Stadt den Schlüssel verloren. Ich verstand zwar, dass – mit Ausnahme von Großmutter Meller – alle der Meinung waren, mein Vater hätte mich verletzt. Doch das konnte ich mir nicht vorstellen, beim besten Willen nicht.

Ich war acht Jahre und acht Monate alt, und mein Vater war mein Vorbild, mein Held. Ein Feuerwehrmann. Er rettete Leben, aber er verletzte keine Kinder, und ganz gewiss nicht mich, davon war ich felsenfest überzeugt. Er war der Größte für mich, stark, unverwüstlich, unerschütterlich. Dabei war er nicht größer und kaum stärker als der Durchschnitt, nur einen Meter achtundsiebzig bei einem Gewicht von sechsundsiebzig Kilo. Heute bin ich zehn Zentimeter größer und einige Kilo schwerer. Doch damals kam er mir wie ein Riese vor, weil ich als Kind zu klein war, immer etwas schmächtiger als meine Altersgenossen, immer etwas stiller. Und mein Vater war laut. Wenn er lachte, polterte es ihm förmlich aus der Kehle.

Er lachte viel. Und er sang gerne. Ich höre ihn heute noch die Songs von Gunter Gabriel schmettern. «Hey, du, mit dem Hammer in der Hand. Hey, du, die Schuhe voll Sand. Hey, du, jetzt packen wir es an, ich bin ein einfacher Mann, und ich tu, was ich kann.» Oder: «Er fährt ’nen Dreißigtonner-Diesel und ist die meiste Zeit auf Tour. Und er gibt dabei sein Bestes, Tag für Tag, rund um die Uhr. Er raucht nicht, und er trinkt nicht, höchstens ab und zu ein Bier. Denn zu Haus sind Frau und Kinder, und nur dafür schuftet er. Er ist ein Kerl, ein ganzer Mann, und sein Zuhause ist die Autobahn.»

Manchmal sang er auch andere Lieder, deren Bedeutung für ihn ich damals nicht erfasste. Aber wenn er sie sang, war er nicht fröhlich und unbeschwert, das sah ich. I can’t get no satisfaction von den Rolling Stones – oder Otis Redding. If you’re going to San Francisco von Scott MacKenzie. Und Poor Boy von den Lords: Mother and Father and Son, Sister and Uncle have fun. And she learned me to say

«Du bist gegen die Tür gelaufen, weil du nicht aufgepasst hast. Merk dir das. Du bist die Treppe hinuntergefallen, weil du gesprungen bist. Du bist vom Stuhl gerutscht und mit dem Gesicht auf die Tischkante geschlagen, weil du herumgehampelt hast. Wag es nicht, einem Menschen etwas anderes zu erzählen.»

Die mir das vorsprachen, waren meine Mutter und ihre Großmutter Täuber. Im Gegensatz zu Großmutter Meller, die ich als Kind Oma nannte, musste ich die andere mit dem korrekten Verwandtschaftsgrad und dem Nachnamen anreden, als sollte ich mir auf diese Weise selbst suggerieren, dass sie die Macht und das Sagen in der Familie hatte.

Beides hatte die widerliche Alte unbestreitbar. Sie war ein weiblicher Nero, grausam und tückisch. Vater und Birgit nannten sie Täubchen. Für mich klang das, als wollten sie den Drachen bezwingen, indem sie sich glauben machten, es sei ein harmloses und friedfertiges Tierchen, das man nicht fürchten müsse. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, wer bei dieser Methode jedes Mal den Kürzeren zog.

Peter sagte einmal: «Meine Mutter ist ein Giftzahn, den Satan aus seinem Gebiss gezogen und auf die Erde gespuckt hat, damit wir hier einen Vorgeschmack von der Hölle bekommen.»

Ein wahres Wort, dem ich mich voll und ganz anschließe.

Wir lebten lange mit ihr unter einem Dach. Und ich weiß noch, wie ich gerade erst drei Wochen zur Schule ging und als Hausaufgabe zwei Reihen U auf meine Tafel schreiben sollte. Einige gerieten mir oben zu rund und sahen fast aus wie O. Der Giftzahn mäkelte so lange, bis Mutter mich vom Stuhl riss, nachdem sie mir bereits ein paar Ohrfeigen verpasst hatte. Dann drosch Mutter mit den Fäusten auf mich ein, bis ich am Boden lag. Danach trat sie mir gegen die Rippen und in den Bauch, sodass ich keine Luft mehr bekam. Sie hörte erst auf, als die Alte sagte: «Jetzt lass ihn, Charlotte, es reicht. Mach dir an dem dämlichen Hund nicht die Finger dreckig, das ist er nicht wert.»

So etwas setzt sich fest. Irgendwann glaubt man – ach was, man weiß, dass man ein dämlicher Hund ist, eine Zumutung für seine Mitmenschen, ein schlechtes, strohdummes, missratenes Kind, das jeden zur Verzweiflung bringt oder dazu treibt, die Nerven zu verlieren. Man ist immer selber schuld an den Schmerzen, den blauen Flecken, der blutenden Nase, den aufgeplatzten Lippen und gebrochenen Knochen.

Und wenn es dann einen Mann gibt, für den ein paar krumme Buchstaben, falsch addierte Zahlen oder Rechtschreibfehler nicht so tragisch sind, weil er selbst auch noch oft welche macht. Der darüber lachen kann und sagt: «Davon geht die Welt nicht unter.» Wie soll man diesen Mann nicht abgöttisch lieben, ihn anbeten, ihn verehren wie einen Heiligen? Wie soll man nicht stolz sein, wenn man mit ihm verglichen wird?

Als Kind war ich unendlich stolz, wenn jemand sagte, ich sei genauso wie mein Vater, obwohl ich zu Hause nie ein gutes Wort über ihn hörte. Für Großmutter Täuber war er eine faule Sau, ein Aufschneider oder ein Versager und ein geiler Bock, der ihre hochbegabte Charlotte mit einem Loch im Gummi um eine akzeptable Zukunft gebracht hatte. Sie als Einzige sagte übrigens «Charlotte». Für alle anderen, mich später eingeschlossen, war meine Mutter «Lotti». Und Lotti orientierte sich an den Ansichten der Alten.

Ich habe so oft zugehört, wenn die beiden Weiber über meinen Vater herzogen. Und was ich nicht selbst erlebt habe, weil ich nicht überall dabei, noch nicht auf der Welt oder zu klein war, um es im Gedächtnis zu behalten, erfuhr ich später von anderen.

Gerade das macht es aus heutiger Sicht schwierig zu schildern, wie ich meine ersten Lebensjahre mit meinem Vater und mehr noch ihn selbst erlebt habe: den einfachen Mann Thorsten Meller, der tat, was er eben tun konnte, auch wenn man ihm manches niemals zugetraut hätte und deshalb erst einmal für völlig ausgeschlossen hielt, dass er dies oder jenes tatsächlich getan haben könnte – bis man es letztlich akzeptieren musste.

Ich muss das Wissen, die Gefühle, die Wut des Erwachsenen ausblenden und die Berichte mit den Bruchstücken verbinden, die mir geblieben sind. Viele sind das wahrhaftig nicht. So wird es jedem ergehen, der in meinem Alter versucht, seine frühe Kindheit zu rekonstruieren. Bestimmte Ereignisse haben sich eingeprägt, weil sie sich häufig wiederholten, andere setzten sich fest, weil sie mit starken Emotionen verbunden waren. Für den großen Rest ist man darauf angewiesen, dass andere in ihrem Gedächtnis kramen und offenbaren, was sie wissen oder zu wissen glauben.

Das meiste hat Birgit mir erzählt, als ich alt genug war, um zu verstehen, wie sich eine «blutige Familientragödie» – so wurde es in der regionalen Tageszeitung betitelt – entwickelt und dass Mörder nicht geboren, sondern gemacht werden.