Über das Buch

Wie lässt sich die Globalisierung erklären? Zum Beispiel anhand einer Fleeceweste. Von den Erdölfeldern am Persischen Golf über die Textilfabriken in Bangladesch und ein Warenhaus in Deutschland bis zu einem Flüchtlingsschiff vor den Kanarischen Inseln — Wolfgang Korn erzählt die spannende Geschichte einer Fleeceweste und macht Hintergründe und Zusammenhänge der Globalisierung anschaulich.

Wolfgang Korn

DIE WELTREISE EINER FLEECEWESTE

Eine kleine Geschichte über die große Globalisierung

Illustriert von Birgit Jansen

Aktualisierte Nachauflage mit einem Nachwort des Autors

Carl Hanser Verlag

Inhalt

KAPITEL 1

Wie die Fleeceweste zum Hauptdarsteller wurde

KAPITEL 2

Ölreichtum in Dubai oder: Kann man mit Geld eigentlich alles kaufen?

KAPITEL 3

Die Prügelknaben der Globalisierung: ein Herz für Öltanker

KAPITEL 4

Generalstreik in Chittagong! Ganz Bangladesch hängt an einem Faden

KAPITEL 5

Tuck-Tuck-Rennen, Sintfluten und die Geburt einer ungeplanten Fleeceweste — Alltag in Bangladeschs Textilindustrie

KAPITEL 6

Im Reich der schwankenden Blechkisten — auf Containerschiffen nach Europa

KAPITEL 7

Vom Ladenhüter zum Talisman — ein Sonderposten wird zum Glücksbringer

KAPITEL 8

Fischraub und Menschenschmuggel — die Weste auf Westafrika-Kurs

KAPITEL 9

Die einen dürsten, die anderen nicht — Showdown vor Teneriffa

KAPITEL 10

Ausblick: Wie wir zusammen das Ende dieser Geschichte ändern können

AKTUALISIERTES NACHWORT

… die Weltreise der Fleeceweste geht weiter!

KAPITEL 1

Wie die Fleeceweste zum Hauptdarsteller wurde

Es war keine Liebe auf den ersten Blick, absolut nicht! Knallrote Fleecewesten sind vielleicht etwas für Mädchen und Bayern-München-Fans, aber nichts für einen knallharten Reporter, der zu Borussia Dortmund hält.

Als ich die Weste das erste Mal im W-Warenhaus sah, habe ich sie sofort weggeschoben. Eine braune Weste hätte ich gern gehabt, eine beigefarbene wäre auch in Ordnung gewesen oder, wenn es nicht anders gegangen wäre, auch eine blaue. Sie hatten jedoch nur noch die rote in meiner Größe.

Es war im Spätherbst 2005: Ich hatte wenig Zeit, mich in anderen Läden umzuschauen, da ich in der Endphase eines Buchprojekts steckte. Und da der Vorschuss vom Verlag zur Neige ging, hatte ich auch kein Geld, um mir eine Markenweste zu kaufen. Der lange Winter stand vor der Tür, in dem ich in meinem kalten Arbeitszimmer jeden Tag acht bis zehn Stunden am Computer das Manuskript beenden musste. Wenn ich nicht irgendwann an meinem Bürostuhl festfrieren wollte, musste etwas passieren. Zwei Warenhaus-Besuche und eine Preissenkung später griff ich also zu.

Tja, wer konnte damals ahnen, dass ich einmal ein ganzes Buch über diese Weste schreiben würde?

*

Die Idee zu diesem Buch kam so: Mein Verlag wollte ein Buch über Globalisierung, ich hatte schon lange eine gute Idee, mir fehlte nur noch der passende Hauptdarsteller. Um alle zu beruhigen, verkündete ich: Bis Weihnachten habe ich die Hauptperson meiner Geschichte! Einen Gegenstand, der uns in rasantem Tempo durch die weite Welt führt: Asien, Europa, Afrika, Schiffsfahrten über Ozeane.

Dann überraschte mich der Kalender damit, dass er plötzlich den 21. Dezember 2007 anzeigte. Um endlich zu einer Entscheidung zu kommen, veranstaltete ich am folgenden Tag ein Casting der besonderen Art. Allerdings waren meine Kandidaten keine Sänger oder Tänzerinnen, sondern die stummen Diener, die das Alltagsleben leichter und unterhaltsamer machen: Toaster, Computer, MP3 -Player, Staubsauger, Brotbackmaschine oder Fernsehapparat.

Woran können wir das Reisetalent dieser Gegenstände erkennen? Erster Anhaltspunkt ist das Land, wo sie hergestellt wurden. Das kann man an den kleinen Schildchen feststellen, die irgendwo aufgeklebt oder aufgedruckt sind. Woher beispielsweise stammt mein Toaster? Aus Hongkong. Woher der Wecker? Aus China. Wo kommt der Computer her? Auf meinem steht »Assembled in Taiwan« (zusammengebaut in Taiwan). Selbst einige Bücher, die auf Deutsch geschrieben sind, wurden im Ausland produziert. Mein Atlas beispielsweise wurde in Slowenien gedruckt. Und der Wasserkocher? Der stammt ausnahmsweise aus Deutschland — »Made in Germany«! Das findet man nur noch selten. Es ist mittlerweile so selten, dass es von den Herstellern hervorgehoben wird.

Das Land, wo die Gegenstände hergestellt werden, ist aber nur eine Station ihrer Lebensgeschichte. Ihre ganze Reise reicht von der Gewinnung der Rohstoffe bis zur endgültigen Verwertung — auf der Müllkippe oder wo auch immer.

Also zurück zum Casting — ich habe einige interessante Kandidaten und einen heimlichen Favoriten: mein Notebook. Es steht ein amerikanischer Markenname drauf, der Prozessor wurde in München gefertigt, zusammengebastelt wurde es in Taiwan. Das hört sich doch alles vielversprechend an.

Aber ich kann mich immer noch nicht entscheiden. Ich will ja die Geschichte dieses Gegenstandes von der Rohstoffgewinnung bis zur Verschrottung oder Wiederverwertung erzählen. Und wenn ich nun einen Gegenstand wähle, der aus sehr vielen Einzelteilen besteht, dann muss ich ja die Suche in viele Richtungen gleichzeitig ausweiten. Das wäre sehr anstrengend und zeitaufwendig für mich — und nachher auch noch langweilig zu lesen. Ich vertage die Sitzung auf den folgenden Tag, den 23. Dezember …

Am nächsten Tag sitze ich im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Wie jedes Jahr vor Weihnachten gibt es auffallend viele Beiträge über hilfsbedürftige Menschen: Obdachlose, Arme, Flüchtlinge.

Ein Beitrag handelt von afrikanischen Flüchtlingen, die auf kleinen Booten über den Atlantik fahren, um die Kanarischen Inseln zu erreichen. Über sechzig Personen waren zehn Tage lang auf einem kleinen Boot zusammengequetscht, bei Wind und Wetter und zum Schluss ohne Trinkwasser. Dramatische Bilder, von einem Touristen mit seiner Videokamera festgehalten: Die Flüchtlinge sacken am Strand zusammen. Eine kurze Nahaufnahme: Ein Junge in einer knallroten Weste.

Eine rote Weste — in meinem Kopf ertönt ein lauter Gong. Moment mal! War das vielleicht meine knallrote Fleeceweste?

Denn genau so eine Weste habe ich vor einigen Monaten in den Altkleidercontainer bei uns in Hannover gesteckt. Und diese Kleidung — das habe ich erst neulich gelesen — wird zum großen Teil nach Westafrika verschickt und dort verkauft.

Ich glaube sogar, ich habe »meinen« Rotweinfleck auf der linken Seite der Weste erkannt. Oder war es die rechte? Oder war es nur die schlechte Aufnahme? Den ganzen Nachmittag lang kann ich mich auf nichts richtig konzentrieren. War das meine Weste? Könnte das meine Weste gewesen sein?

Am Abend erzähle ich meiner Freundin von der roten Weste, die der Flüchtlingsjunge trug.

»Glaubst du ernsthaft, dass das deine Weste ist?«, fragte sie.

»Keine Ahnung«, antwortete ich.

»Solche Westen werden doch heute in Massen produziert.«

»Ja, natürlich. Ich weiß nicht, ob das meine Weste ist. Meine Weste hatte keine besonderen Merkmale außer dem großen Weinfleck. Deshalb wolltest du ja, dass ich sie aussortiere.«

»Du willst doch wohl jetzt nicht nach Teneriffa fliegen und das Flüchtlingslager besuchen, um nachzuschauen, ob der Fleck drauf ist?«

»Quatsch! Dazu fehlt mir sowieso das nötige Kleingeld. Außerdem hätte es eh keinen Zweck. Nach so einer Reise über den Atlantik wird die Weste natürlich so mitgenommen aussehen, dass ›mein‹ Fleck einer von vielen ist.«

»Gott sei Dank. Diese Menschen sind nur knapp dem Tode entronnen und du suchst nach deiner Weste.« Aber darum geht es mir gar nicht. Ich will nicht unbedingt wissen, ob das meine alte Fleeceweste ist oder nicht. Entscheidend ist der Gedanke: Es könnte meine Weste sein.

Nachdem ich die rote Fleeceweste im Fernsehen gesehen hatte, beschäftigte mich eine Frage nicht mehr: Ich brauchte nicht länger zu überlegen, wer die Hauptperson meiner Geschichte werden würde. Besser als es ein Notebook oder ein Wecker könnte, würde die abenteuerliche Geschichte meiner Weste zeigen, wie heute alles mit allem zusammenhängt.

Wie kommt es dazu, dass ein Afrikaner mit einer roten Fleeceweste aus einem deutschen Altkleidercontainer auf dem Atlantik treibt? Wie kam diese Weste überhaupt nach Afrika? Wo wurde sie hergestellt? Woher stammten die Rohstoffe? Warum verlassen Menschen in den armen Ländern zu Hunderten ihre Dörfer und versuchen auf kleinen Booten die reichen Länder zu erreichen? Warum sind ihre Länder überhaupt so arm? Die Antwort heißt: Globalisierung!

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WORAN MAN GLOBALISIERUNG ERKENNEN KANN!

70 Prozent aller Feuerzeuge, die die Menschheit benutzt, kommen aus einer einzigen chinesischen Provinz, aus Wenzhou. Von dort werden sie in die ganze Welt verschickt.

Wenn US-Amerikaner abends Hunger bekommen und sich bei einem bestimmten Pizzadienst eine Thunfisch-Pizza mit viel Käse bestellen, dann nimmt die Bestellung ein Callcenter in Indien auf und schickt sie über das Internet zu der betreffenden Filiale in den USA.

Nordseekrabben werden direkt nach dem Fang eingefroren. Am Hafen übernimmt sie ein Tiefkühllaster, der Europa durch quert und auf einer Mittelmeerfähre Marokko erreicht. Dort werden die Krabben gepult und nach Deutschland zurückgebracht. Unvorstellbar — aber so sparen die Krabbenhändler in Deutschland, der amerikanische Pizzadienst und die Feuerzeughändler dieser Welt viel Geld. Schließlich betragen die Lohnkosten in den weniger entwickelten Ländern in der Regel nicht einmal ein Zehntel von denen der Industrieländer.

* * * * * * * * * *

Der Begriff »Globalisierung« leitet sich vom Wort »Globus« ab — einer Kugel, die unseren Planeten darstellt und auf der alle Länder und Meere aufgemalt sind. Im Jahr 1983 suchte der in Deutschland geborene amerikanische Wirtschaftsprofessor Theodore Levitt nach einem Wort, um zu beschreiben, wie sehr heute alles wirtschaftliche Tun der Menschen auf unserer Erde zusammenhängt. Noch nie haben so viele Menschen so viele Gegenstände kreuz und quer über den Globus miteinander ausgetauscht. Und das betrifft nicht nur Gegenstände, sondern auch Ideen, Mode, Musik — und vor allem: Geld. Niemand werkelt mehr allein vor sich hin, dachte Levitt — nicht einmal ein kleiner Bauer in Afrika. Wie wir uns verhalten, was wir herstellen und kaufen, hat Auswirkungen auf alle anderen Menschen auf dieser Erde. Die Wirtschaft ist nicht mehr auf ein Dorf, eine Stadt, ein Land beschränkt, sondern mit der ganzen Welt vernetzt, also »globalisiert« — die »Globalisierung« hatte ihren Namen bekommen.

Heiligabend 2007. Während überall Bescherung unter dem Weihnachtsbaum gefeiert wird, setze ich mich an meinen PC und öffne eine neue Textdatei.

Ich versuche mich genau an die Weste zu erinnern. Am auffälligsten war natürlich ihre Farbe: Knallrot. Sie war aus Fleecestoff hergestellt. »Fleece« bedeutet auf Englisch »Flausch«. Das kann man wörtlich nehmen, es ist so flauschig wie ein Kaninchenfell. Man mag gar nicht glauben, dass es weder aus pflanzlichen Fasern wie Baumwolle noch aus tierischen Fasern wie Haar oder Fell besteht. Fleece wird aus Kunstfasern gemacht und besteht aus PET — einem Kunststoff. Und der wird aus Teilen von Erdöl gewonnen.

Doch wo genau fängt die Geschichte meiner Fleeceweste an? Dort, wo sie das erste Mal erwähnt wird, also in Auftrag gegeben wird.

*

10. Mai 2005. Die Zentrale der W-Warenhaus-Kette liegt direkt an der Autobahn A2 Oberhausen—Hannover nahe Gütersloh. Während draußen die Frühlingssonne scheint, zieht im Konferenzraum gerade ein Gewitter auf. Die Tage, wenn die Bestellungen für die Frühjahr/Sommer- oder — wie jetzt — für die Herbst/Winter-Kollektion rausgehen, sind für alle Mitarbeiter anstrengend.

Hinzu kommt: Der langjährige Einkaufsleiter Werner Wittkowski und die neue Marketingleiterin Elfriede Unruh können sich nicht so gut leiden. Denn Wittkowski mag keine großen Veränderungen, Unruh dagegen möchte unbedingt mehr Schwung in die Warenhauskette bringen.

Auf dem Tisch vor der Besprechungsrunde liegen: Winterjacken für Damen und Herren aus verschiedenen Materialien, Hosen aus dicken Stoffen, Pullover aus Wolle oder Polyester, Jacken und Westen aus Cord und Fleece. Dazwischen befinden sich jede Menge Prospekte mit weiteren Angeboten. Die Begleittexte sind in schlechtem Englisch verfasst. Denn die meisten kommen aus China.

Seit einiger Zeit überhäufen chinesische Textilproduzenten die europäischen Großhändler und Warenhausketten mit Angeboten. Und fast alle sind deutlich günstiger als die der Konkurrenz aus Bulgarien, Bangladesch oder der Türkei. Einige Bestellungen wie Schuhe, Skihosen und Hemden hat deshalb auch die W-Warenhaus-Kette nach China vergeben.

»Kommen wir nun zu den Fleeceprodukten«, sagt der Firmenchef. Wittkowski muss jetzt die Bremse ziehen. »Da haben wir bisher immer bei BGI (Bangladesh Garn International) in Bangladesch geordert. Die können einen guten Preis für solide Produkte machen.«

»Qualität, Herr Kollege, ist in diesem Bereich nicht so wichtig!«, wirft Elfriede Unruh ein. »Ob die Sachen fünf Jahre halten oder nur einen Winter, ist den Kunden egal. Es muss nur nach etwas aussehen. Sie wissen doch, im Bereich der Textilien gibt es nur einen Trend: Billig, billiger, am billigsten. Die Chinesen machen alles, es sieht aus wie Markenware — und ist spottbillig.« Wittkowski protestiert: »Wir haben bisher doch immer in Bangladesch geordert!«

»Ja und?!«, entgegnet Unruh.

»Haben wir da nicht eine gewisse Verpflichtung?«

»Nein! Jeder kann jederzeit woanders ordern.«

»Wir haben aber eine Verpflichtung gegenüber unseren Eigentümern«, schaltet sich der Chef ein. »Die wollen für ihren Anteil auch noch was abbekommen.«

»Und gegenüber unseren Kunden«, erwidert Wittkowski. »Die wollen einen guten Preis und gute Ware. Denn werden die Chinesen auch tatsächlich das liefern, was sie uns versprechen? Werden sie Lieferzeiten einhalten? Wird die Qualität einen gewissen Mindestanspruch erfüllen? Verwenden sie keine giftigen Farben? BGI liefert uns schon seit 13 Jahren gleichbleibende Qualität zu vernünftigen Preisen.«

»Also gut«, spricht der Chef ein Machtwort. »Dann ordern wir die Fleeceware dieses Jahr noch in Bangladesch.«

Seine Sekretärin setzt sich nach der Mittagspause an ihren Schreibtisch, um die Bestellungen aufzulisten. Die legt sie dem Abteilungsleiter noch einmal zur Unterschrift vor. Dann werden sie direkt nach China und Bangladesch gefaxt.

Dort steht unter anderem: 1000 Fleecewesten mit 100er-Fleece, einfache Nähte, mit mittlerem Reißverschluss, seitlichen Innentaschen, in den Farben: Beige, Blau, Grau und Braun.

Merkwürdig! Von knallroten Fleecewesten steht nichts in der Auftragsliste!

KAPITEL 2

Ölreichtum in Dubai oder:
Kann man mit Geld eigentlich alles kaufen?

In der Nacht vom 10./11. August 2005. Das Erdöl tritt zutage, aus dem einmal meine Fleeceweste wird.

Doch wo befinden wir uns? Auf dem Meer, aber in Sichtweite der Küste. Und obwohl Nacht ist, weht eine warme Brise über dem Wasser. Und um uns herum erheben sich Lichtertürme wie Riesenweihnachtsbäume aus dem Meer. Das sind Förderinseln, auf denen 24 Stunden am Tag Erdöl gefördert wird. Auch die ganze nahe gelegene Küste ist erleuchtet.

Damit scheiden die Erdölfelder an Land (wie in Sibirien) und im Norden (vor Norwegen beispielsweise) aus, ebenso die afrikanischen Ölfelder wie die vor dem Sudan oder südamerikanische wie die vor Venezuela — es bleibt eigentlich nur der Nahe Osten. Denn hier leuchten nicht einzelne Lichter, es strahlt wie auf einem Mega-Jahrmarkt — selbst in 10.000 Metern Höhe verrenken sich die Passagiere nächtlicher Flugzeuge die Hälse, um hinunterschauen zu können. Die meisten von ihnen erkennen in den Lichterketten direkt vor der Küstenlinie eine riesige, von einem Kreis umschlossene Palme.

Diese Palme ist unverwechselbar: Wir befinden uns am Persischen Golf, vor dem Scheichtum Dubai. Es gehört zu den Vereinigten Arabischen Emiraten, die durch ihre riesigen Erdölvorkommen innerhalb der letzten zwanzig bis dreißig Jahre nicht nur reich, sondern superreich geworden sind. Diese Beleuchtung ist keine Festtagsbeleuchtung, sondern Alltag. Wer so gewaltige Erdgas- und Erdölvorkommen hat, kümmert sich nicht um seine Stromrechnung.

20. August 2003, früher Morgen. Ein Bohrer sticht auf einer Ölplattform in Dubai den unterirdischen Erdölvorrat an. Das Erdöl schießt sogleich durch die Bohrleitung in die Höhe. Nach 150 Millionen Jahren in den hermetisch abgeschlossenen Gesteinsschichten ist ein Erdölgemisch entstanden, das vor sich hin gärt, dabei eine Menge Gas freisetzt und deshalb mächtig unter Druck steht. Früher bildeten sich dann große Erdölfontänen, die häufig sogar Feuer fingen. Heute wird das Öl gleich aufgefangen und abgeleitet. Tag für Tag …

Doch wie ist dieses Erdölgemisch eigentlich entstanden? Dazu müssen wir 200 bis 900 Millionen Jahre zurückgehen. Zu dieser Zeit gab es nur ein riesiges Meer, den Urozean, und alle heute existierenden Kontinente bildeten noch eine einzige zusammenhängende Landmasse. Um diese Landmasse herum gab es riesige Gebiete, an denen das Meer ziemlich flach war — wie bei uns heute das Wattenmeer. Und gerade in diesen Gebieten tummelten sich die ersten Lebewesen. Das waren vor allem Rot- und Grünalgen, aber auch schon kleine Tiere: quallenartige Wesen, Ringelwürmer, erste Korallenarten und Stachelhäuter — die Vorläufer von Seeigeln und Seesternen.

Da der Erdmantel noch nicht so fest war wie heute, sondern sich immer noch hin und her und auf und ab bewegte, wurden immer wieder größere Meeresbecken vom offenen Meer abgetrennt. In diesen Becken lebten große Mengen an Lebewesen, und als sie starben, wurden sie nicht ins offene Meer abgetrieben, sondern sanken zu Boden. Es waren so große Mengen, dass sie weder gefressen noch von Bakterien zersetzt wurden.

Ohne Sauerstoff konnten sie allerdings auch nicht verwesen — es entstand eine Art moorige Masse. Im Laufe der Jahrmillionen lagerten sich über dieser moorigen Masse nicht nur Sand und Schlamm ab, auch ganze Erdschollen schoben sich darüber. Dort, wo undurchlässige Schichten diese von allen Seiten einschlossen, bildeten sich unter Hitze und großem Druck Hunderte von Kohlenwasserstoffverbindungen. Druck und Hitze und dazu wahrscheinlich einige Bakterien waren dann auch an der weiteren Zersetzung beteiligt, bis das Erdöl entstanden war.

Letztlich ist die Entstehung des Erdöls immer noch ein Geheimnis. Wie dieser Prozess genau funktioniert, ist bis heute nicht erforscht. Am Ende steht jedenfalls ein kleines Wunder: ein Stoff, der fast nur aus Energie und anderen kostbaren Bestandteilen besteht.

Wenn die Natur nicht vor Millionen Jahren riesige Mengen an Erdöl, Erdgas und Kohle hätte entstehen lassen, würde die Menschheit wahrscheinlich noch immer mit Pferdekutschen übers Land und mit Segelschiffen über die Gewässer reisen — die Globalisierung, wie wir sie heute kennen, hätte es nicht gegeben. Allerdings sind diese Rohstoffe auf der Erde sehr ungleich verteilt. Einige Länder haben gar keine oder nur wenige abbekommen, einige schwimmen regelrecht darin, wie beispielsweise die meisten arabischen Länder mit ihrem riesigen Erdölvorkommen.

*

Zurück in die frühen Morgenstunden des 11. August 2005. Das Erdöl tritt zutage, und in der Nähe der Förderplattform liegen einige Tanker vor Anker, darunter die 187 Meter lange Madras.

Das Erdöl wird nicht gleich in den Tanker gepumpt, sondern wandert über eine Pipeline am Meeresgrund in ein Zwischenlager an Land. Denn was da aus der Tiefe hochkommt, ist zunächst einmal ein Gemisch aus Öl, Gas, Salzwasser und anderen Verunreinigungen. Es ist noch nicht für den Transport geeignet, da es noch zu viel wertlosen Ballast enthält.

Deshalb wird dieses Gemisch zunächst in einen Behälter mit Unterdruck geleitet. Dabei entweicht das Erdgas und wird gleich weitergeleitet. Mit diesem Gas betreiben die Menschen in Dubai unter anderem ihre riesigen Elektrizitätswerke. In einem weiteren Tank sinkt das schwerere Salzwasser nach unten und kann abgepumpt werden. Durch Erhitzen, elektrische Spannung und die Zugabe von Chemikalien versucht man anschließend, das restliche Wasser und andere Beimengungen zu entfernen. Erst dann haben wir das eigentliche »Rohöl«, das sich in Tankschiffen oder per Pipeline problemlos transportieren lässt.

Die meisten Tankschiffe ankern draußen vor der Küste, weil sie auf Aufträge warten — manche schon mehrere Wochen. Die Madras