Maike Stüven

Der
unsichtbare Faden
durch die Zeit

Die Wahrheit

ist immer dort verborgen,

wo wir sie am

allerwenigsten vermuten:

In uns selbst.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Der Traum wird real

Meine Gefühle in der Kapelle

Unheimliche Begegnung

Durch das Tor der Zeit

Wo warst Du so lange?

Mein erster Toter

Wichtige Neuigkeiten

Delirium und Wirklichkeit

Was ist zu tun?

Ungewissheit

Magdalena

Gefangen

Gute Energien

Die Liebe vergisst nicht

Die andere Seite

Eine neue Sicht

Der Lauf der Dinge

Eine klare Entscheidung

Spurlos verschwunden

Der Weg des Mutigen

Lienharts Plan

Allein unterwegs

Unliebsame Überraschungen

Sicheres Asyl

Viel zu früh

Unbewusste Verabredungen

Auf Burg Hohnstein

Vergebens, doch erfolgreich

Glück und Leid

Das wahre Gesicht

Julian oder Johannes?

Ungleicher Kampf

Freudiges Wiedersehen

Nur mit einem Auge

Abschied

Am Pranger

Seelenqualen

Im Burgfried

Die Erinnerung kehrt zurück

Dämonen der Angst

Die Kraft des Verzeihens

Die Gewalt des Bösen

Das eine nicht ohne das andere

Rückblick und Rückkehr

Ende ist Anfang

Nachwort und Dank

Wichtige Personen

Prolog

Wenn die Nacht dem Tag die Hand reicht und sie sich für diesen einen Augenblick innig miteinander verbinden, entsteht im stillen Grau der herannahenden Dämmerung eine Brücke in der Zeit. Hier bekommen Träume eine besondere Kraft, werden zur Wirklichkeit und lassen alte, verschüttete Erinnerungen lebendig werden, als ob sie gerade eben geschehen.

In diesem Moment wird so die Vergangenheit zur Gegenwart und die Zukunft wird - im Wissen um das Geschehene - neu geschrieben.

Die Zeit strich mir zärtlich über die Wange und jagte mir einen Schauder über den Rücken. Sie erinnerte mich, dass ich nicht das erste Mal hier war, sondern ein alter Bekannter, den sie jetzt, in diesem neuen Gewand, freudig begrüßte. Gleichzeitig aber spürte ich auch ihre unnachgiebige Aufforderung, mich den Dingen zu stellen und die Ordnung wiederherzustellen, die ich in der Vergangenheit durch mein Handeln aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.

„Übernimm endlich die Verantwortung und kläre das! Es dient einem weitaus höheren Wohl als Dir überhaupt bewusst ist!“, mahnte sie.

Dieser eine Satz verankerte sich fest in meiner Erinnerung.

Der Traum wird real

Der Schrei weckte mich, wieder einmal. Mitten in der Nacht. Er zerriss mein Herz in zwei Hälften. Laut und qualvoll hallte ihre Stimme durch meinen Kopf und der Schauder, der jedes einzelne Haar auf meiner Haut aufrichtete, kroch schmerzhaft langsam meinen Rücken hoch bis über den Kopf und legte sich wie eine eisige Faust um meine Schläfen.

Verzweifelt wartete ich auf das Klingeln des Weckers, der mich, wie schon so oft, aus diesem Alptraum befreien konnte. Doch heute war es anders, er verweigerte mir die Gefolgschaft und schwieg: Ich war gefangen in diesem lähmenden Gefühl der Ohnmacht. Mein Atem ging flach, quälte sich durch meinen angespannten Brustkorb und gebot mir, an ihm festzuhalten. Der Schrei brach wimmernd ab, ich lauschte in die Stille hinein, die sich wie ein unheimlicher Schatten auf mich legte. Ich spürte die Angst in allen Zellen und die Bedrohung, die von dieser Stille ausging.

Mein Bewusstsein erforschte den dunklen Raum und tastete sich an der Wand entlang, die dies kalt und nackt, fast teilnahmslos mit sich geschehen ließ. Gefesselt von dem Druck im Kopf und dem Schmerz im Herzen lag ich einerseits unter der warmen, schützenden Decke, die durch ihr Alter einen muffigen Geruch angenommen hatte, während ein anderer Teil von mir unterwegs war und die Wand erkundete. Plötzlich spürte ich unter meinen Händen etwas Warmes und griff danach. Das Material war rau und roch, ebenso wie die Bettdecke, alt und verstaubt. Meine Finger fühlten die kleinen Knoten, aus denen der Wandteppich gewebt war. Vorsichtig folgte meine Hand den Knoten, die sich in meinem Innern zu einem klaren Muster zusammenfügten, bis der dick geknüpfte Rand mich wieder die Kühle der Wand spüren ließ. Ich fröstelte und blieb stehen.

Wo war ich? Was ging hier vor? War ich nun endgültig dem Reich der Fantasie verfallen, das mich schon immer zu sich gezogen hatte und so gern auf Reisen schickte?

Meine Sinne waren hellwach, mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren und doch musste ich schlafen, denn ich bewegte mich nach wie vor in meinem Traum, der mich in den letzten Wochen fast jede Nacht verfolgt hatte. Warum konnte ich nichts unternehmen und einfach aussteigen und damit meine Qual beenden?

Endlich, lautes Klopfen holte mich zurück in die Wirklichkeit. Ich setzte mich im Bett kerzengerade auf, die Lehne fest im Rücken. Ein paar Sekunden verstrichen bis mir klar wurde, dass ich in einem fremden Bett lag. Richtig, Antonia wollte an diesem Wochenende mit ihren langjährigen Freunden ihren sechzigsten. Geburtstag an einem denkwürdigen Ort feiern. Und das war eben in dieser Burg, in der ich mich gerade befand. „Bist Du Ordnung?“ rief sie durch die geschlossene Tür. „Ja, danke, alles gut“. Meine Stimme war heiser. Dankbar darüber, überhaupt einen Ton hervorzubringen, brachte ich die wenigen Worte nur mühselig zusammen.

„Prima, dann schlaf weiter, wir haben erst halb fünf. Bis später beim Frühstück“.

Antonias Stimme wurde leiser. Offenbar war sie bereits wieder auf dem Weg zurück in ihr Zimmer.

Ich aber war jetzt endgültig wach. War es wirklich noch so früh? Ich spähte durch den Spalt der massigen Vorhänge, die ich gestern in der Nacht vor die großen Fenster gezogen hatte. Ja, sie hatte recht, in der Ferne begann es eben erst zu dämmern.

Mit wackeligen Beinen stand ich auf, tastete mich zum Fenster vor, zog den Vorhang zurück und starrte hinaus, direkt auf einen alten, vom Wind zerzausten Baum, der im Burghof stand. Ein Rabe saß auf einem kahlen Ast und wetzte seinen Schnabel. Plötzlich hielt er inne, hob ruckartig den kleinen schwarzen Kopf und starrte zurück, mir direkt in die Augen. Gelassen erwiderte ich seinen Blick. Er strahlte Gelassenheit aus und meine Gedanken begannen sich zu sortieren. Immer schon hatte ich Vögel sehr gemocht, besonders die stolzen und klugen, spürte eine besondere Verbindung zu diesen Geschöpfen der Luft. Als Kind glaubte ich, mit ihnen sprechen zu können, verstand ihr Verhalten, meinte, ihre Gedanken zu lesen. Als ich älter wurde, verbannte ich diese Vorstellung in die Ecke kindlicher Fantasien.

Doch jetzt war genau dieses Gefühl wieder da, noch stärker als früher, hielt sich allerdings nur für einen kurzen Moment, da es von der Intensität meines Alptraums sofort überdeckt wurde.

So tapste ich langsam zurück in mein Bett, spürte den Nachhall des Traumes immer noch als Zittern in mir, schien er doch plötzlich ein Teil meiner Wirklichkeit geworden zu sein.

Wessen Stimme war es, die ich Nacht für Nacht in den vergangenen drei Wochen in diesem Alptraum mit immer gleichem Verlauf hörte? Sie war mir unendlich vertraut, weckte in mir jedes Mal aufs Neue eine schmerzhafte Erinnerung, doch konnte ich die Stimme niemanden zuordnen.

Ich träumte nie bis zum Ende, wurde durch den Wecker vorher herausgerissen und somit bislang nicht erfahren, wie die Geschichte ausging. Bisher hatte ich es mir so erklärt, dass mein Gehirn in der Nacht den Alptraum aus sämtlichen Erlebnissen meiner allzu oft stressigen Arbeitstage zusammensetze, um das Geschehen zu verarbeiten und sich hieraus eine Gruselgeschichte bastelte, an der mein Gehirn der Einfachheit halber festhielt.

Doch heute Nacht passte diese Erklärung nicht mehr, hatte ich bereits zwei Tage Urlaub und stand nicht unter Strom und im stressigen Tagesgeschehen.

Gestern, am späten Nachmittag, war ich hier auf Burg Hohnstein angekommen und hatte den Abend mit Antonia und ihrem Lebensgefährten gemütlich am Kamin verbracht. Es gab also nichts Greifbares, warum mir auch in dieser Nacht der Alptraum überhaupt zusetzte. Ich fröstelte und zog die Decke hoch bis unters Kinn. Bevor ich wieder einschlief fiel mein Blick auf die Zimmerwand, an der ich zuvor den Wandteppich so deutlich zwischen meinen Fingern ertastet hatte. Aber er war nicht da, es gab hier im Raum keinen einzigen Wandteppich! Nur ein altes Gemälde zierte die Wand genau dort, wo ich vorhin gestanden hatte. Die Farbe des Rahmens glitzerte im fahlen Licht der Dämmerung merkwürdig bleich, schnell schloss ich die Augen, denn noch mehr Seltsames konnte ich für den Moment nicht verkraften.

Ich musste wirklich fest eingeschlafen sein, diesmal traumlos, und erwachte erst, als im Hof ein Wagen vorfuhr und eine Autotür laut zugeschlagen wurde. Mein Kopf dröhnte und ich lauschte den herzlichen Worten, mit denen Antonia ihre Gäste begrüßte.

Später beim Frühstück blieb ich zunächst für mich, war ich doch mit meinen Gedanken noch immer mit der Lösungsfindung beschäftigt. Obwohl der Kaffee duftete, die Rühreier dampften, Obst, frische Brötchen, Marmeladen, Wurst, Käse und alles andere auf dem Buffet ausgesprochen appetitlich angerichtet war, lockte mich nichts davon. Nur eine Tasse starken Kaffees konnte jetzt meine Lebensgeister stärken, nur ihn brauchte ich, um ganz wach zu werden.

Und noch immer spürte ich den Druck im Herzen, den der Schrei in mir verursacht hatte.

„Was war bei Dir heute früh denn los?“

Antonias Frage klang besorgt. „Du siehst blass aus und nicht wirklich glücklich.“

Sie setzte sich neben mich und sprach leise, während sich die vorhin angereisten Freunde angeregt miteinander unterhielten und somit von uns keinerlei Notiz nahmen.

„Du hast so laut geschrien, dass ich davon zwei Zimmer weiter wach wurde. Ich musste einfach nach Dir schauen, um zu hören, ob alles in Ordnung ist.“

Ich schwieg und sah sie betroffen an. Ich hatte laut geschrien, nicht die weiblich klingende Stimme in meinem Traum?

„Ich hatte einen Alptraum“, erwiderte ich ebenso leise. „Vermutlich durch die ungewohnte Umgebung. Immerhin habe ich bisher noch nicht in so einem alten Gemäuer übernachtet, das so viele Jahrhunderte auf dem Buckel hat. Wer weiß, welche Geister hier überall unterwegs sind und mich heute Nacht gepiesackt haben.“

Ich probierte ein Lächeln, was wohl nicht sehr überzeugend herüberkam, war aber immerhin einen Versuch wert. Antonia ging nicht darauf ein.

„Möchtest Du darüber reden? Es hilft ganz gut, die unguten Gefühle loszuwerden, wenn man über sie spricht.“

Auffordernd sah sie mich an und legte liebevoll ihre angenehm warme Hand auf meine Schulter. Das war jetzt genau das Richtige, doch lehnte ich ihr Angebot höflich ab.

„Das ist wirklich lieb gemeint, vielleicht später, Antonia. Ich glaube, Du sollest Dich jetzt um die anderen kümmern, sie schauen bereits, wo Du wohl bist.“

Antonia lächelte verschmitzt, gab mir einen aufmunternden Klapps auf die Schulter und wandte sich den anderen zu.

Meine Gefühle in der Kapelle

Der zweite Becher Kaffee hatte Erfolg und holte mich ganz in die Normalität des Tages zurück. So ging ich jetzt auch zu den anderen hinüber und gab meinen einsamen Posten auf. Ich freute mich, einige von Antonias alten Weggefährten hier zu treffen, die auch ich von früher kannte. Mit Simon hatte mich vor Jahren eine wunderbare Freundschaft verbunden, die sich leider verflüchtigte, als er die Stadt verließ. Wir waren früher oft zusammen unterwegs, hatten nächtelang über die Welt philosophiert. Nicht immer waren wir gleicher Meinung gewesen, doch im Grundsatz beflügelten und begeisterten uns damals die gleichen Ideen. Meine Bewunderung für seinen Freigeist war groß, sah ich doch, wie sehr er hinter seinen Überzeugungen stand und sie auch genauso umsetzte, nicht von ihnen abrückte und lieber auf vieles verzichtete, um sich treu zu bleiben. Wir umarmten uns und tauschten das Neueste aus. Er war wirklich ein guter Freund und die Chemie zwischen uns stimmte immer noch, wie wir beide zufrieden feststellten.

Antonias jüngere Schwester Marie war auch gekommen, sie ich von jeher sehr gemocht. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, war sie zurückhaltend, eher wie eine zarte Blume, die eine liebevolle Umgebung brauchte, einen besonderen Schutz, um sich gut zu entwickeln. Gleichzeitig sah ich in ihr eine starke Persönlichkeit, die absolut in der Lage war, sich durchzusetzen. Doch ich wusste, dass sich Marie grundsätzlich eher im Schatten der älteren Schwester aufhielt. Selten trat sie daraus hervor und wenn, dann nur für einen kurzen Moment. Offenbar überließ sie ihr immer noch gern die Bühne. Und heute natürlich erst recht, da es ihre Feier war. Vielleicht gerade deshalb hatte ich für Marie so geschwärmt, da sie sich nicht in den Vordergrund drängte, sie aus der Ferne bewundert, ohne es ihr je gesagt zu haben. Meine eigenartig wehmütigen Gefühle, die mich zu ihr hingezogen hatten, waren wie eine stille Sehnsucht, die mich jedes Mal aufs Neue erfüllte, wenn ich ihr begegnete.

Und nun stand sie nach vielen Jahren wiedervor mir und musterte einen Moment lang aufmerksam mit ihren tiefblauen Augen mein Gesicht, bevor sie mich spontan umarmte.

„Ich freue mich unglaublich, Dich wiederzusehen, Julian! Du hast Dich kaum verändert!“

Ich lächelte geschmeichelt und erwiderte ihre herzliche Begrüßung. Etwas in mir war tief berührt über diesen kurzen innigen Moment der Nähe und ein feiner Duft von Lavendel stieg mir in die Nase. Das musste ihr Parfüm sein, das sie umhüllte - fast wie ein feiner Umhang. Warum mir dieser Gedanke kam, vermochte ich nicht zu sagen, es war einfach gut, ihn zu denken - an sie zu denken, abgesehen davon, dass ich den Lavendelduft einfach liebte, aber an ihr gefiel er mir ganz besonders. In dem kurzen Gespräch erfuhr ich, dass sie kinderlos geblieben war, nie geheiratet hatte und zurzeit auch allein.

„Irgendwie hat es nie so richtig gepasst“, meinte sie und zog entschuldigend die Schultern hoch. „Aber was soll´s, so ist das Leben eben! Und bei Dir? Bist Du glücklich?“

Ich schüttelte verlegen den Kopf.

„Im Moment bin ich auch wieder allein. Da geht’s mir so wie Dir.“

„Schade“, bedauernd sah sie mich an und ich spürte, dass sie es wirklich genauso meinte. „Ich habe mir immer gewünscht, dass Du glücklich bist!“

Ihre Worte verfingen sich in meiner Seele, genau wie der feine Duft. Doch bevor ich noch antworten konnte wandte sie sich ab und ging zu den anderen hinüber, die nach ihr gerufen hatten. Der Zauber unserer Begegnung war ebenso schnell verflogen, wie er entstanden war. Ich spürte ein leises Bedauern und sah ihr einen Augenblick nachdenklich nach.

Es gab noch andere, die ich unbedingt begrüßen musste und außerdem lenkte mich das auch von meinen Gefühlen ab. Einige mochte ich sehr, andere von Antonias Gästen waren mir mehr als unsympathisch, die versuchte ich zu meiden. Besonders der eine, dieser Igor, lag mir überhaupt nicht. Immer schon war er mir fremd gewesen, wirkte kalt und berechnend und ich fühlte einen Widerstand in mir, der geradezu an Feindseligkeit grenzte. Das war einfach so.

So bemühte ich mich auch jetzt, ihm aus dem Weg zu gehen, machte einen Bogen um ihn, mied jeglichen Blickkontakt. Das war im Moment die beste Strategie, die mir einfiel. Aus der Ferne beobachtete ich, dass er auch heute noch eine Brille mit starken Gläsern trug. Ich erinnerte mich, dass er auf dem linken Auge schon immer schlecht gesehen hatte und einige Operationen hinter ihm lagen. Doch irgendwie ließ mich das kalt, obwohl mir sonst die Schicksalsschläge anderer sehr zu Herzen gingen.

Ich hatte nie verstanden, was Antonia wirklich mit ihm verband, aber ich musste ja auch nicht alles verstehen. Es war nie etwas zwischen uns vorgefallen, was meine tiefe Abneigung begründete, sie war einfach da und er war mir auch heute noch zutiefst unsympathisch. Ihm mochte es ebenso ergehen, denn auch er kam nicht auf mich zu und mied mich.

Linus rannte mich mit einem gefüllten Teller voller gesunder Leckereien fast um, als er mehr auf seinen Teller konzentriert, bestrebt war, ihn sicher auf den Tisch zu befördern. Mich hatte er dabei offenbar übersehen. „Hoppla“, rief ich und fing geistesgegenwärtig den Teller auf, brachte ihn zurück in die Balance und stelle ihn sicher auf den Tisch.

„Oh, Julian, danke! Komm setz Dich zu mir und erzähle, was Du jetzt alles so treibst!“

Simon ließ sich vor seinen Teller nieder und zog mich an seine Seite. Mir blieb nichts anderes übrig, als seiner Bitte zu folgen.

Doch nicht ich berichtete von mir, sondern er von sich. Zwischen den einzelnen Bissen erzählte er, dass es ihm nach einigen Jahren des Kampfes tatsächlich gelungen war, seinen Traum von einer eigenen Praxis zu verwirklichen und inzwischen Erfolg hatte und von den Einnahmen leben konnte.

„Es ist nicht viel und reich werde ich wohl auch nicht, zumindest wohl nicht mehr in diesem Leben“, meinte er lachend, „aber ich kann meine Schulden abzahlen und für ein bescheidenes Leben reicht es allemal. Ich brauche nicht viel, bin glücklich mit dem, was ich tue und das genügt mir!“ Er schwieg, um sich einen weiteren Bissen in den Mund zu stopfen.

„Und was für eine Praxis hast Du?“, fragte ich, denn mir wollte einfach nicht einfallen, was er damals für Pläne gehabt hatte.

„Na, Du weißt doch, ich bin Heilpraktiker geworden. Habe mich doch immer schon für Pflanzen und alternative Heilmethoden interessiert. Aber Julian, Du wirst Dich doch daran erinnern!“

Sein Tonfall drückte Enttäuschung aus und ich bemühte mich, die Wogen wieder zu glätten.

„Aber klar doch, Linus, jetzt weiß ich es wieder. Was ist Dein Spezialgebiet? So wie ich Dich kenne, hast Du Dich mit Leib und Seele Deinem Traum verschrieben und setzt Dich zu Hundertprozent für Deine Patienten ein.“ Sein Gesicht hellte sich zunächst auf, dann aber schaute er mich zweifelnd an.

„Ja, das mache ich, aber übertreib mal nicht. Vielleicht sollte ich Dich mal auf frühe Demenz testen, guter Freund.“

Jetzt war es an mir, ihn betroffen anzusehen.

„War nur ein Scherz“, grinste er, „jetzt sind wir quitt. Aber im Ernst, ich habe mich all die Jahre gefragt, was aus Dir wohl geworden ist. Hast Du Deinen Traum verwirklicht und bist Schriftsteller geworden? Ich habe unter Deinem Namen kein einziges Buch gefunden als ich Dich gegoogelt habe.“

„Nein“, gab ich zu, „mein Wunsch ist ein Traum geblieben und doch beschäftige ich mich mit Worten, aber anders als gedacht. Ich arbeite in der Werbebranche als Texter, erstelle Seiten für Großkunden.“

„Aha, dann verkaufst Du den Schein, damit der Konsument Dinge kauft, die er nicht braucht, sich dabei aber wohlfühlt, weil er der Werbung glaubt, zumindest solange, bis er das Produkt getestet hat.“

„Nun ja, das ist nicht ganz so, die Produkte sind schon gut. Aber wenn Du es so sehen willst“, räumte ich ein. „Und, macht es Dich glücklich, was Du da täglich machst?“, ließ er nicht locker. Inzwischen war sein Teller vollständig geleert und er konzentrierte sich jetzt ganz auf mich.

„Jeder muss ja seine Brötchen mit irgendetwas verdienen, oder?“ gab ich etwas pampig zurück.

„Aber das, was Du tust sollte doch einen Sinn für Dich ergeben, etwas sein, womit Du Dein Leben bereicherst. Warum schreibst Du nicht nebenbei Dein Buch und tust damit das, was Dir wirklich am Herzen liegt?“

Offenbar hatte er sich mit diesem Thema ganz auf mich eingeschossen.

„Betrachtest Du mich jetzt als Deinen Patienten, den es zu therapieren und zu coachen gilt?“

„Ach, Julian, das ist nicht so gemeint. Aber ich sehe doch, dass Dir etwas fehlt, Du irgendwie unzufrieden bist. Denk doch einfach mal darüber nach, ja?“

Er legte mir die Hand auf den Arm und klopfte ihn leicht.

„Ja, ich werde darüber nachdenken“, antwortete ich versöhnlich, stand auf und versuchte ihm so zu entkommen. Sicher meinte er es gut, aber seine Fragen wurden mir einfach zuviel. Ich war nicht bereit, jetzt über den Sinn meines Lebens nachzudenken. Das hatte ich bereits die letzten Jahre über ausführlich getan. Außerdem musste ich mich auch erstmal um die Lösung meines Alptraumes kümmern.

Mit großem Interesse schloss ich mich nach dem ausgedehnten Brunch dem Rundgang durch die Burg an.

Ein älterer Mann, dessen grauer Haarkranz eine beeindruckende Glatze umrahmte, offenbar der Mann, der hier als Butler agierte, dem Stil der Burg angemessen altmodisch gekleidet, führte die Gruppe von zwanzig Gästen durch die verschiedenen Räumlichkeiten der beeindruckend großen Burganlage.

Da ich allein gekommen war, meine Freundin hatte sich erst vor kurzem von mir getrennt, was ich noch nicht ganz verarbeitet hatte, folgte ich der Gruppe als letzter. Wir waren bereits durch einige Flure gelaufen und ich stellte fest, dass den meisten Räumen eine Auffrischung durchaus gutgetan hätte. Die Seidentapeten lösten sich an den Wänden, der Putz bröckelte hier und da und einige Fenster schlossen nicht mehr richtig. Die Unterhaltung eines solch großen Objektes war sicher enorm hoch und nicht leicht zu finanzieren. Die Vermietung an Menschen wie Antonia, die diesen Ort für besondere Gelegenheiten wählten, mochte ein Grund sein, zu Geld zu kommen, vermutete ich.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als wir einen beeindruckend großen Saal betraten. Erstarrt blieb ich stehen. Links von mir erkannte ich den Wandbehang wieder, den ich in meinem Traum so dicht vor Augen gehabt hatte. Es gab ihn wirklich, er war real!

Mir standen die Haare zu Berge. Wie von einem Magneten gezogen ging ich durch den großen Raum direkt auf die Wand zu, konnte meinen Blick nicht von dem Wandteppich abwenden und wie von selbst fuhren meine Finger immer wieder über die Knoten. Der muffige Geruch war sofort wieder in meiner Nase und der leicht verdickte Saum war genauso, wie ich ihn in der Dunkelheit gefühlt hatte. Es gab keinen Zweifel, ich musste heute Nacht hier gewesen sein!

Plötzlich stand Antonia neben mir und betrachtete mich prüfend von der Seite.

„Nun sag schon, was los ist, ich sehe doch, dass es Dir nicht gut geht. Du bist ganz blass um die Nase.“ Diesmal klang ihre Stimme leicht gereizt. „So kenne ich Dich überhaupt nicht. Gefällt es Dir hier nicht oder hast Du einfach nur schlechte Laune? Brauchst Du vielleicht eine Kopfschmerztablette nach gestern Abend?“

Ihre Fragen prasselten auf mich ein.

„Nein“, presste ich abwehrend hervor. „Ich brauche nichts, habe keine Kopfschmerzen. Ich war schon mal hier, heute Nacht. Doch das kann eigentlich nicht sein.“ „Nein, junger Mann, das kann wahrhaftig nicht sein, das ist unmöglich, dieser Raum ist immer verschlossen. Es gibt nur einen einzigen Schlüssel und den trage ich ständig bei mir.“

Der grauhaarige Butler hielt ein Schlüsselbund hoch und deutete mit der anderen Hand darauf. „Es gibt nur diesen einen. Und die Tür war fest verschlossen, bis ich sie eben gerade aufschloss. Das bilden Sie sich ein! In der Tat, Sie müssen sich irren.“

Mit gerunzelter Stirn betrachtete er mich misstrauisch. Antonia sah zwischen uns hin und her. Bevor ich etwas sagen konnte, zog sie mich von ihm weg, nickte dem Butler freundlich zu und antwortete an meiner Stelle: „Sicher handelt es sich hier nur um eine Verwechslung. In dieser Burg gibt so viele Räume, da kann es bei der Anzahl schon passieren, dass man als Gast schnell durcheinanderkommt. Lassen Sie uns doch die interessante Führung fortsetzen. Wir sind alle sehr gespannt, was uns noch alles in diesen Mauern erwartet.“

Sie lächelte ihn charmant an.

Sie versteht es immer noch, die Männer zu beeindrucken, schoss es mir durch den Kopf. Selbst mit ihren bald 60 Jahren hatte sie nicht verlernt.

„Sie sprachen doch von einer Burgkappelle, die möchte ich unbedingt sehen. Ich habe von der ganz besonderen Atmosphäre gelesen, die sie so einzigartig macht.“

Ihre Worte machten Eindruck auf den Butler, er lächelte geschmeichelt, so dass er mich augenblicklich vergaß und links liegen ließ und die Führung fortsetzte. Antonia folgte ihm, hängte sich bei mir ein und zog mich mit.

Gemeinsam überquerten wir den Hof. In der frischen Luft atmete ich befreit durch und blinzelte in die Sonne. Die Wärme auf den Wangen tat mir gut und erst jetzt bemerkte ich, wie kalt mir während des Rundgangs in der Burg geworden war. Sanft zupfte Antonia an meinem Ärmel. Offenbar hatte sie sich fest vorgenommen, sich meiner in besonderer Weise anzunehmen. Mein Verhalten musste ihr auch seltsam vorkommen, verstand ich mich ja gerade selbst nicht mehr.

„Komm, lass uns auch hineingehen, wir sind die letzten.“

Sie zeigte auf den Eingang der kleinen Kapelle, die sich rechts im Innenhof neben der hohen Verteidigungsmauer der Burg befand. Ruckartig blieb ich stehen, so dass Antonia neben mir stolperte.

„Oh“, rief sie überrascht, darum bemüht, wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

„Nun sag endlich, was mit Dir los ist!“, raunzte sie mich an.

Ich hörte sie nicht, denn plötzlich verschwamm alles vor meinem Blick und Tränen schossen mir in die Augen. Ich schniefte hörbar und fuhr mit der Hand über meine linke Wange, um sie fortzuwischen. Der Schmerz aus meinem Traum holte mich wieder ein und legte sich als dunkle Wolke um mein Herz. Die Tränen rannen mir die Wangen herab, ohne dass ich es verhindern konnte und ich ließ sie einfach laufen.

„Lass uns hineingehen!“ Mehr brachte ich nicht hervor. Antonia nickte, sagte nichts zu meinem Gefühlsausbruch und steuerte mit mir am Arm auf den doppelten Rundbogen der Kapelle zu, dessen rechte Tür geöffnet war.

Eine stille, dämmrige Kühle umfing uns als wir eintraten. Aufmerksam sah ich mich um und drehte mich langsam um die eigene Achse. Antonia hatte mich losgelassen und ging auf den Altar zu, hinter dem eine Mariengestalt den gekreuzigten Christus hielt. Der Kopf war gesenkt, den Blick hatte sie allein auf den Sohn gerichtet. Dem Steinmetz war die Gestaltung beider Figuren in ihrer Klarheit und Stärke meisterlich gelungen. Sie beeindruckten mich sehr.

Die Atmosphäre in der Kapelle war so unglaublich vertraut, ich fühlte mich augenblicklich geborgen und empfand einen gewissen Trost. Der Schmerz in meinem Herzen wurde weniger. Ich seufzte, denn das Wechselbad meiner Gefühle zehrte heftig an mir.

In den Wänden und auf dem Boden waren Grabplatten eingelassen. Die ehemaligen adeligen Burgbesitzer hatten wohl hier ihre letzte Ruhe gefunden. Das gemeine Volk war hier nicht willkommen, die Kapelle war allein der hohen Familie vorbehalten. Dieser Gedanke schoss mir durch den Kopf und ich wusste das mit absoluter Sicherheit!

Möglich war, dass dies Teil meines Allgemeinwissens war und in allen Burganlagen gleich verfahren wurde, ich es früher irgendwo gelesen hatte und mich jetzt nur daran erinnerte. Doch eine Stimme in mir widersprach, ich hatte es selbst miterlebt und wusste irgendwo tief in meinem Bewusstsein, dass der Zugang zu dieser Kapelle für Menschen niederer Herkunft in einer bestimmten Zeit untersagt und mit dem Tode bestraft worden war, sollte jemand das festgeschriebene Gesetz willentlich übertreten haben.

Das liegt lange zurück, beruhigte ich mich und fröstelte unwillkürlich. Doch kam ich nicht von dem Gedanken los, wusste plötzlich, dass viele Unglückliche vor der Schwelle dieser Kapelle eines gewaltsamen Todes gestorben waren!

Ich wandte mich einer in der Wand eingelassenen Grabplatte zu, um mein Unwohlsein abzuschütteln und betrachtete die Inschrift, konnte aber nicht alles entschlüsseln, da einige Buchstaben verwittert oder herausgekratzt waren. Meine Finger fuhren fast zärtlich über die Zahlen: MCCXXXVII. Ich versuchte die römischen Zahlen ins arabische zu übersetzen und kam auf 1237, das Jahr, indem diese Person hier gestorben sein musste. Somit waren es nur dreiundzwanzig Jahre Leben, die diesem Menschen hier vergönnt gewesen waren.

„Magdalena hieß sie“, sagte der Butler mit leiser Stimme plötzlich neben mir. „Sie hieß Magdalena. Es wird erzählt, dass sie sich für ihren Geliebten opferte und während sie von Feindeshand starb, er mit dem Kind, dass sie ihm geboren hatte, entkam. Aber das ist nicht bewiesen, es gibt darüber keine Aufzeichnungen. Ist aber eine schöne Geschichte von Liebe und Treue.“ Kaum hatte er die Worte gesagt, war mein Schmerz augenblicklich wieder da. Ich wusste, dass es der Wahrheit entsprach. Bis auf einen Punkt stimmte alles, Magdalena hatte ihren Geliebten heimlich geheiratet, ansonsten war es genau so gewesen. Sie starb, um ihrem Mann und Kind das Leben zu retten. Doch ich schwieg, biss mir auf die Lippen, um nicht ein weiteres Mal sein Misstrauen auf mich zu ziehen. Den Stempel, ein seltsamer Kauz zu sein, hatte er mir sicher schon im großen Saal verpasst.

Da ich nicht auf seine Ausführungen einging, wandte sich der Butler ab, ließ mich in Ruhe und ging zu einem anderen Besucher hinüber, um mit seinen hilfreichen Erklärungen die Geschichte der Burg erlebbar zu machen.

Liebevoll betrachtete ich die Grabplatte vor mir und mein Herz begann unruhig zu schlagen. Und plötzlich wusste ich, es war Magdalenas Stimme, die ich Nacht für Nacht gehört hatte. Sie hatte qualvoll geschrien!

Ihre Stimme schien mir so vertraut, dass sich mein Herz erneut in ihrer Qual verlor. Selbst jetzt, wo ich sie überhaupt nicht hörte und nur auf ihr Grab starrte, spürte ich ihr Leid, welches sie vor dem Tod erlebt haben musste.

Ich streckte zögernd die Finger aus, berührte mit der Handfläche die kühle Steinplatte und hielt mich an ihr fest. Meine Gefühle überwältigten mich und ich keuchte laut als mich ein Schwindelgefühl befiel. Nach ein paar sehr intensiven Augenblicken gelangt es mir schließlich, mich zu sammeln, ich richtete mich auf und verließ rasch die Kapelle.

Das gleißende Sonnenlicht half mir, wieder einen klaren Kopf zu bekommen und ich setzte mich auf eine niedrige zerfallene Mauer, die eine kleine, verwilderte Fläche umrandete.

Das ist der ehemalige Kräutergarten der Burg, schoss es mir durch den Kopf. Besondere Heilpflanzen wurden hier gezogen. Das Bild, das sich vor meinem inneren Auge ausbreitete, zeigte mir sorgfältig angelegte Reihen kleiner Beete mit verschiedenen, intensiv duftenden Kräutern und Pflanzen: Eine Reihe purpurner Fingerhut wuchs neben gedrungenen Wolldisteln. In der Reihe dahinter hatten orange-gelbe Ringelblumen ihren Platz gefunden und bildeten einen guten Kontrast zum violett blühenden Lavendel. Blauer Rittersporn ragte zwischen Färberwaid und grüner Kresse empor. Rosmarin und Petersilie, Thymian und in weißer Blüte stehender Bärlauch, dessen strenger Geruch mich an Knoblauch erinnerte, nahm ich wahr. Auch die Stockrosen sah ich vor mir, wie sie sich in weißen, rosa und dunkelroten Blüten an die kleine Mauer lehnten und sich leise im aufkommenden Wind wiegten.

Welche Pracht, dachte ich mit geschlossenen Augen, atmete tief ein und verlor mich im Duft dieser Erinnerung. Ich liebte Lavendel, wenn man ihn zwischen den Fingern zerrieb und sein Duft an der Haut haften blieb. Die Sonne, die mein Gesicht berührte, hatte eine beruhigende Wirkung auf meine aufgewühlten Gefühle. Ich hatte den intensiven Blütenduft in der Nase, sah die sorgsam gepflegten Beete der Kräuter- und Heilpflanzen vor mir – es war ein wunderbar friedlicher und tröstlicher Augenblick.

Die anderen kamen aus der Kapelle und holten mich in die Gegenwart zurück. Doch in welche? Ich vermochte nicht zu unterscheiden, welche für mich gerade die realere war, denn die Gefühle, die mich bei dem Duft der Kräuter durchströmten, waren so intensiv und gegenwärtig, dass ich mich dort - wo auch immer es war - lebendiger fühlte als hier, bei den anderen Gästen. Antonia kam auf mich zu.

„Es ist so schön und irgendwie tief berührend“

Ich wusste, dass sie das Innere der Kapelle meinte und nickte zustimmend.

„Ja, eine ganz besondere Stimmung - tröstlich und aufwühlend zugleich.“

Diesmal war sie es, die mir zustimmte.

„Die Burg Hohnstein macht etwas mit Dir“, meinte sie ruhig. Das war keine Frage, sondern eine sachliche Feststellung. „Und diese Kapelle hat eine ganz besondere Wirkung - übrigens auch auf mich. Irgendetwas zieht mich einfach an. Aber ich weiß nicht warum. Ein eigenartiges Gefühl von Frieden und tiefem Leid.

Hier müssen viele ums Leben gekommen sein. Sie wurden erstochen, einfach hingerichtet, weil sie das Gesetz übertraten, dabei wollten sie doch nur in ihrer Not Trost und Frieden in der Kapelle finden, so wie die anderen auch“, brach es plötzlich aus ihr hervor. Überrascht schaute ich auf. Was wusste sie? Spürte sie auch, was ich wahrnahm? Es war keine Kunst zu vermuten, dass Menschen in einer Burg auch zu Tode kamen, doch zeigte ihr Finger direkt auf die Stelle vor der Kapelle! Sie hatte recht. Ich sah sie alle vor mir in ihrem Blut liegen und konnte zusehen, wie sie langsam ihr Leben aushauchten. Acht Männer und Frauen waren es, die versucht hatten, in die Kapelle einzudringen, um dort in ihrer Verzweiflung Gott um Hilfe anzuflehen. Doch gab es kein Pardon, sie durften nicht hinein und bezahlten dafür mit ihrem Leben. Ihre toten Körper hatte man später einfach zur Seite gezogen und dort liegengelassen, damit die Herrschaft nicht über sie hinwegsteigen musste und von den Fliegen belästigt wurden, die sich in der beginnenden Hitze des Tages schon bald über sie hermachen würden.

Woher wusste ich das alles? Spielte mir meine Fantasie aufgrund meiner aufgewühlten Gefühle wieder einen Streich, versuchte sich mein Gehirn Dinge zusammenzureimen, damit ich nicht verrückt wurde? Die eisige Faust der Nacht legte sich erneut um meinen Kopf und der Schmerz bohrte sich mit feinen, langen Nadeln in meine Schläfen.

„Ich lege mich ein wenig hin, ich glaube, es wird mir gerade etwas zuviel. Ich hatte die letzten Wochen einfach jede Menge um die Ohren,“ setze ich erklärend hinzu, damit Antonia sich keine Sorgen um mich machte. Schließlich feierte sie morgen ihren Geburtstag und sollte sich darauf freuen und sich nicht um einen alten, etwas aus der Bahn geworfenen Freund kümmern müssen.

Ohne ihre Antwort abzuwarten, stand ich auf und entfernte mich von der Kapelle, die in mir so viele beunruhigende Bilder hervorgerufen hatte.

Eines wusste ich mit Bestimmtheit, sobald ich wieder fit und stabiler war, musste ich unbedingt noch einmal hierherkommen und in die Kapelle hineingehen. Doch heute sicher nicht mehr. Ich brauchte Ruhe und Abstand von allem.

So bemerkte ich auch nicht, dass Antonia mir noch lange nachdenklich hinterherschaute und etwas vor sich hinmurmelte, was mir vielleicht aus meiner verwirrten Gemütslage herausgeholfen hätte.