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HANSJÖRG SCHERTENLEIBgeboren 1957 in Zürich, ist gelernter Schriftsetzer und Typograph. Seit 1981 veröffentlicht er Prosa, Lyrik und dramatische Texte. Seine Romane wie der Bestseller Das Regenorchester wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Zwanzig Jahre lang lebte Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, in Irland. Heute pendelt er zwischen der Schweiz und Spruce Head Island in Maine, USA. Zuletzt erschien im Kampa Verlag in der Reihe Der kleine Gatsby seine Novelle Die Fliegengöttin.
»Ich verbringe die Hälfte des Jahres an der wilden Küste Maines auf einer kleinen Insel im Atlantik. Es wäre dumm, die großartige, dramatische Landschaftsbühne unter diesen weiten Himmeln nicht literarisch zu bespielen.«
Hansjörg Schertenleib
Für Brigitte.
Love, life, wife.
Well I’m older now
And still runnin’ against the wind
Against the wind.
Bob Seger
Corinna Holder fuhr aus dem Schlaf, weil ihr im Traum ihr toter Mann Michael erschienen war und sie sich vor Schreck verschluckte. Sie blieb mit offenen Augen liegen, sah Michael aber trotzdem weiterhin vor sich: Er trieb in einem See dicht am Ufer auf dem Rücken und starrte sie an. Sie stand auf, schlüpfte in das bestickte Jeansgilet, das er ihr letzten Sommer auf dem Bluesfestival in Rockland gekauft hatte, und trat auf das Deck ihres Schlafzimmers im oberen Stock. Das Meer im Hafen von Seal Harbor war spiegelglatt, der Himmel ohne Wolke. Die Sonne hatte den Morgennebel verbrannt, der in letzter Zeit manchmal bis mittags über dem Wasser stand und in die Buchten und Nadelwälder von Spruce Head Island kroch. Die Hummerboote waren längst ausgelaufen, für die Kanus und Kajaks der Sommergäste und Touristen war es noch zu früh. Nur der Lärm der Kühlaggregate der Lastwagen und Lagerhallen von Norwood Lobster und der Gestank des Köders für die Hummerkörbe störte die morgendliche Idylle. Seit sich der Bestand erholt hatte und die Fischer mehr Hummer denn je aus der Penobscot Bay holten, wurden die Lastwagen rund um die Uhr beladen. Im letzten Jahr hatten die Arbeiter die Köder nur donnerstags aufgetaut, aber diesen Sommer stand der Gestank Tag und Nacht über der Insel.
Auf dem Deck des Nachbarcottage auf der anderen Straßenseite, das in den letzten vier Jahren drei Mal den Besitzer gewechselt hatte, saß David Byrd, ein Anwalt aus Louisiana, und sah mit dem Fernglas aufs Meer hinaus. Vielleicht hielt er nach Robben Ausschau, vielleicht nach Seevögeln, vielleicht betrachtete er die Kammlinien der Inseln Norton und Whitehead, die sich eine Seemeile entfernt aus dem Wasser erhoben und Seal Harbor vor dem offenen Atlantik schützten. Es dauerte verblüffend lange, bis David Corinna entdeckte. Er setzte das Fernglas ab, stand auf und winkte ihr zu. Als sie zurückwinkte, wandte er sich erneut dem Meer zu. David und sein Partner Jeff hatten sich bei Norwood Lobster und bei Mitgliedern des Selectboard von Spruce Head Island über den Lärm und den Gestank beschwert, waren aber mit der Erklärung abgewimmelt worden, es gebe keine Lärmschutzbestimmungen für die Insel, man könne nichts für sie tun. Also waren David und Jeff von Tür zu Tür gezogen und hatten Unterschriften gesammelt. Bis auf die Angestellten von Norwood Lobster hatten alle Bewohner von Spruce Head Island unterschrieben, geändert hatte sich bislang trotzdem nichts.
Corinna trat ins Schlafzimmer, zog das Gilet aus und legte es sorgfältig auf den Quilt, den sie im vorletzten Herbst in einem Kurs im Hotel Pemaquid genäht und im Schlaf ans Fußende des Bettes gestrampelt hatte. Michaels T-Shirt, das sie am Tag seiner Beerdigung vor neun Monaten aus dem Wäschekorb geangelt, seither als Pyjama getragen und nie gewaschen hatte, faltete sie zusammen und schob es unter ihr Kissen. Er hatte das blaue Shirt, auf das eine Palme und die Zeile »The Mountain and the Wave« gedruckt waren, vor Jahren auf einer Irlandreise gekauft.
Das Fenster des Badezimmers ging Richtung Fichtenwald hinaus, darum hatte das Licht in dem Raum einen grünen Ton, was ihr das beruhigende Gefühl gab, sich im Wald zu befinden. Sie duckte sich unter dem Spiegel weg und schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Seit Michaels Tod ertrug sie ihr Spiegelbild nur selten. Was konnte sie nicht sehen, wovor hatte sie Angst? Der Gedanke, sie könnte den Spiegel zerschlagen, schoss ihr durch den Kopf, gleichzeitig wusste sie, dass das zu dramatisch war und nicht ausdrückte, was sie empfand. Sie schlüpfte aus ihrem Höschen, warf es in den vollen Wäschekorb und betrat die Duschkabine. In ihren Ohren summte es, und ihr war leicht schwindlig, aber bis jetzt hielten sich die Symptome ihres langsamen Xanax-Entzuges in Grenzen: Sie hatte ab und zu Kopfschmerzen und Schweißausbrüche, war unsicher und schreckhaft und bewegte sich gelegentlich am Rand einer Panikattacke, aber sie hatte bisher weder Krämpfe noch Herzrasen oder Sehstörungen gehabt. Es war ihr gelungen, ihren täglichen Konsum von fünf, sechs Xanax auf eine, höchstens zwei zu reduzieren. Wer brachte einem bei, wie man trauerte, wie man alleine mit sich war und sich selbst aushielt? Sie drehte das Wasser auf und ließ es, die Stirn gegen die kühlen Fliesen gelehnt, über sich prasseln und stellte sich dabei vor, nackt im Wald zu stehen und einen Platzregen zu genießen.
Auf der Treppe hatte Corinna plötzlich den Geruch von verbranntem Menschenfleisch in der Nase. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie musste sich hinsetzen. Der Polizeipsychiater hatte ihr beigebracht, dass sie den Geruch und die Bilder verdrängen konnte, indem sie sich auf ihren Atem konzentrierte, sich leer machte und zu einer Hülle wurde, in der es keine Erinnerung gab, keine Bilder aus der Vergangenheit und keinen Blick in die Zukunft, einzig und allein die Gegenwart: Corinna stand nicht als Kriminalpolizistin in einem ausgebrannten Einfamilienhaus im Kanton Aargau in der Schweiz und beugte sich über vier Leichen, sie saß auf der untersten Stufe ihres Cottage in den Vereinigten Staaten von Amerika auf Spruce Head Island in Maine und sah durch die verglaste Tür am anderen Ende des Wohnzimmers aufs Meer hinaus. Corinna Holder, 57 Jahre alt, 175 Zentimeter groß, 62 Kilo schwer, kastanienbraun gefärbte schulterlange Haare, ein grünes und ein braunes Auge, Sternzeichen Skorpion, athletisch, obwohl sie nie Sport trieb, verwitwet, vorzeitig im Ruhestand, trockene Alkoholikerin, nun abhängig von Benzodiazepin.
Sie blieb sitzen, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte. Dann ging sie in die Küche, füllte das Spülbecken randvoll mit eiskaltem Wasser und tauchte ihr Gesicht bis zum Haaransatz hinein, ohne die Augen zu schließen. Auch dazu hatte ihr der Polizeipsychiater geraten. »Das kalte Wasser bringt Sie auf einen Schlag in die Gegenwart zurück!« Jetzt klang das Summen in ihren Ohren wie das Rauschen eines Flusses. Sie blieb so lange sie konnte unter Wasser, richtete sich auf und trat auf das untere Deck hinaus. Die Luft war frisch, der Wind kam vom Meer. Um den Lärm von Norwood Lobster auszublenden, machte sie die Augen zu und lauschte dem streitsüchtigen Kreischen der Möwen, die um die Fischabfälle auf dem betonierten Pier kämpften, hörte aber trotzdem das Warntuten der Gabelstapler, mit denen die Arbeiter die Plastikboxen mit dem fangfrischen Hummer in die Kühllastwagen luden, die mit laufenden Dieselmotoren warteten. Als sie die Augen öffnete, war der Atlantik eine grellblitzende, in tausend Stücke zerborstene Fläche, die im Takt ihres Pulses schaukelte.
Sie wusste, dass sie etwas frühstücken sollte, hatte aber keinen Appetit, nicht einmal auf einen Kaffee. Vielleicht aß sie später eine der sündhaft teuren Biobirnen, die sie im The Market in Rockland gekauft hatte, und trank ein Glas Leitungswasser aus eigener Quelle, dessen Geschmack sie auf vage, aber angenehme Weise an ihre Kindheit erinnerte.
Sie war vor sechs Wochen, am 12. Juni, auf Spruce Head angekommen. Da der Swiss-Flug LX 52 aus Zürich erst nach 20 Uhr in Logan landete und die Fahrt nach Spruce Head Island vier Stunden dauerte, hatten Michael und sie immer in Boston übernachtet, bevor sie anderntags mit einem Mietwagen weitergereist waren. Letzten Sommer hatten sie bei Shepards Car in Rockland einen gebrauchten Dodge Caliber gekauft, der in der Garage ihres Cottage stand, und Corinna hatte sich entschieden, kein Mietauto zu nehmen, sondern das erste Mal mit dem Bus nach Maine zu reisen.
Sie hatte in Boston in einem schicken Hotel im Financial District übernachtet, fünf Gehminuten von der South Station entfernt, wo sie am nächsten Mittag in einen Bus der Concord Lines gestiegen war. »Wollen Sie wissen, was das Beste an New Hampshire ist?« Der Mann, der sie das gefragt hatte, hatte zwei Reihen schräg hinter ihr gesessen. »Dass es hier an der Küste nur zehn Meilen breit ist!«
Kurz hinter Portsmouth waren sie über die gewaltige Piscataqua Bridge gefahren, Michaels Lieblingsbrücke. Die ersten zwei Stunden bis Portland waren wie im Flug vergangen, dafür hatte der Rest der Reise kein Ende nehmen wollen. Als Corinna nach beinahe fünf Stunden endlich am Fähr- und Busterminal in Rockland aus dem Bus gestiegen war, war sie erschöpfter als nach dem Transatlantikflug. Der Taxifahrer, der sie nach Spruce Head Island gebracht hatte, hatte Michael und sie schon einmal gefahren, als sie im Primo schlecht und teuer Italienisch gegessen und zu viel getrunken hatten.
Dass Corinna es nicht schaffte, allein im Cottage zu bleiben, noch nicht, hatte sie gewusst, sobald sie die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte. Sie hatte den Schlüssel für den Dodge aus der obersten Schublade der Kommode im Flur genommen und war auf der Stelle nach Rockland zurückgefahren. Sie war drei Nächte im Rockland Harbor Hotel geblieben, in einem Zimmer in der dritten Etage, von dessen Balkon sie über den Fährterminal mit dem Glockentürmchen und die tanzenden Masten der Segelschiffe hinweg auf den fast eine Meile langen breakwater sah. Die Befestigungsmauer aus Steinquadern schützte Rocklands Hafen. Sie hatte viele Stunden auf diesem Balkon verbracht, den Fähren nach North Haven und Vinalhaven nachgeschaut und versucht, damit klarzukommen, dass sie nie wieder mit ihrem Mann hier in Maine sein würde. Michael war tot.
Sie hatten das Cottage vor vier Jahren als Ferienhaus gekauft, es aber bereits im zweiten Jahr um einen kleinen Anbau mit Gästezimmer samt Bad erweitern lassen und sich versprochen, sich früher pensionieren zu lassen, um das ganze Jahr auf Spruce Head Island leben zu können. Und dann war Michael ums Leben gekommen.
Die ersten Nächte nach der Rückkehr aus dem Hotel hatte Corinna auf dem Sofa im Wohnzimmer und im Gästezimmer geschlafen, dann hatte sie es endlich geschafft, in ihr gemeinsames Schlafzimmer im oberen Stock zu ziehen. In den ersten Tagen war sie wie ein Geist von Zimmer zu Zimmer gewandelt, hatte sich immer wieder um die eigene Achse gedreht und tief eingeatmet, als sei sie einem Duft auf der Spur, für den sie bislang nicht die Nase gehabt hatte. Michaels Zimmer hatte sie nur ein einziges Mal betreten: Die Vorhänge waren geschlossen, und sie zog die Tür hinter sich zu. Weshalb hatte ich nicht geweint, fragte sie sich, habe ich nicht begriffen, was geschehen ist? Das hier war das Zimmer ihres toten Mannes, sein Stuhl, sein Tisch, sein Bett, auf dem er sich mittags manchmal ausgeruht hatte. Auf dem Fenstersims lagen mehrere Vogelfedern und eine Muschel. Das Badetuch, das über der Stuhllehne hing, war steif vom Salz des Meeres; sie legte es sich um die Schultern und bemerkte das Gehäuse eines Apfels, das neben dem Laptop auf dem Tisch lag. Sie nahm es in die Hand und schnupperte daran. Als sie begriff, dass das braun verfärbte und vertrocknete Fruchtfleisch den Abdruck von Michaels Zähnen zeigte, ließ sie es zu Boden fallen, warf das Badetuch ab, zog sich aus, stieg nackt in Michaels Bett und verkroch sich unter seiner Decke. Der Schmerz in ihr platzte wie eine überreife Frucht. Das Gewicht, das aus ihrer Brust nach unten rutschte, zwang sie, die Knie anzuziehen.
Würde es ihr helfen, wenn sie an Gott glauben und mit gutem Gewissen beten könnte? Ein Mensch, der trauerte, machte anderen Menschen Angst, das wusste sie. Trauer löste oft kein Mitgefühl aus, sondern Furcht oder gar Abscheu. Sie hatte sich vor der Trauer ihrer Mutter, die die lebenslustige, offene Frau nach dem Krebstod ihres Mannes in eine deprimierte, in sich gekehrte Greisin verwandelt hatte, ebenfalls gefürchtet wie vor einer ansteckenden Krankheit. Sie hatte jeden in den Abgrund gerissen, der den Fehler beging, sich in die Nähe ihrer Mutter zu wagen.
Corinna war immer noch leicht schwindlig, das Summen in ihrem Kopf dagegen war verstummt. Auf einmal hatte sie das unangenehme Gefühl, sie würde beobachtet, und schaute sich vorsichtig um: David Byrd stand im Schatten, den das Dach seines Hauses auf sein Deck warf, und hatte den Feldstecher auf sie gerichtet. Als er begriff, dass sie ihn entdeckt hatte, ließ er das Glas sofort sinken und verschwand im Haus.
Corinna war längst am Teich vor David Byrds Haus vorbeigegangen, als sich die Frösche doch noch meldeten: Ihr kehliges, metallenes Quaken riss sie manchmal mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Wie nur konnten derart kleine Tiere einen solchen Lärm veranstalten? Die Luft über dem Asphalt flirrte, als wäre Benzin verschüttet worden, Wölkchen trieben Richtung Festland. Die Rockledge Road führte in eine Senke, aus der man nicht aufs Meer sehen konnte, in der die Luft jedoch deutlich wärmer war. Seit Corinna allein war, ging sie schneller; Michael hatte ihr immer vorgeworfen, sie gehe provozierend langsam und zwinge ihm ihr Flaniertempo auf. Seit er tot war, ging sie so schnell wie möglich, als wäre es lebenswichtig, keine Sekunde zu vertrödeln. Dabei hatte sie keine Ahnung, was sie mit der gewonnenen Zeit anfangen sollte.
Der Hund, der ihr auf der Straße entgegentrottete, gehörte der älteren Frau, die jedes Mal verschämt grüßte, wenn sie sich begegneten, aber nie stehen blieb, um sich mit ihr zu unterhalten. Sie zog das rechte Bein nach, ihr rechter Arm wirkte leblos; offenbar hatte sie einen Schlaganfall erlitten. Corinna strich dem braunen Labrador über den Kopf, als sie an ihm vorbeiging; die Frau, die einen Sonnenhut trug, nickte und senkte den Blick.
Corinna blieb auf der Rockledge Road, die in den Fichtenwald führte. Die Sonne, die durch die Baumkronen fiel, stellte Lichtsäulen zwischen die Stämme, die dem Wald eine geheimnisvolle Tiefe gaben. Vor ein paar Tagen war sie fast auf eine grüne garden snake getreten, die sich aus dem Unterholz geschlängelt hatte, darum ging sie in der Mitte der Kiesstraße, die mit Schlaglöchern durchsetzt war. Sie roch das Meer, der Himmel hatte die Farbe von nassem Zement angenommen. Sie ging manchmal in der Privatbucht der Familie Shofestall schwimmen; das kühle Wasser des Atlantiks vertrieb den Xanax-Schwindel und gab ihr die Gewissheit, am Leben zu sein. Dank Michaels Offenheit und Charme hatte Judy Shofestall ihnen bereits in ihrem ersten Sommer auf der Insel erlaubt, was eigentlich den Einheimischen vorbehalten war: Sie durften in der Bucht mit dem geschützten Sandstrand sein, wann immer sie wollten, es sei denn, die Shofestalls badeten selbst.
Nach etwa dreihundert Metern kam Corinna an dem Autowrack vorbei, das die Zufahrt zu einem Haus markierte, das auf einer Lichtung stand und offensichtlich niemals fertig wurde. Dieses Jahr war ein Teil des Daches abgedeckt und mit Plastikbahnen geschützt, der neue Anbau war nicht verschalt, und die Isolationsmatten lagen frei. Das Chaos auf dem Grundstück schien beständig größer zu werden. Abfall türmte sich an immer neuen Stellen auf, ausrangierte Maschinen- oder Motorenteile wuchsen wie Geschwüre zwischen den Bäumen. Corinna wusste nicht, wer in dem abgelegenen Haus lebte, sah in ihrer Vorstellung aber einen mageren Mann vor sich, der mit seinen Hunden redete und eine Brille mit verschmierten Gläsern trug. Im Erdgeschoss des Hauses stand ein Fenster offen, jemand übte auf einer Gitarre wieder und wieder den gleichen Griff.
Das Tor zum Grundstück der Shofestallers stand offen, was jedoch nicht bedeuten musste, dass sie tatsächlich am Strand waren. Corinna würde bis zur Stelle weitergehen, an der eine Zufahrt von der Rockledge Road zur Bucht hinunterführte. Von dort konnte sie sehen, ob der Pick-up der Shofestalls am Strand parkte: Sie fuhren immer mit dem Auto an den Strand, dabei stand ihr Haus keine halbe Meile entfernt. Plötzlich hatte Corinna die übermächtige Ahnung, etwas stimmte nicht. Sie begriff nicht sofort, was sie stutzig machte: Sie war nicht allein. Sie schaute sich um, konnte aber niemanden entdecken und ging nach kurzem Zögern ein Stück in den Wald hinein. Der Erdboden war trocken, federte aber dennoch nach. Zwischen Bäumen aufgespannte Spinnennetze glitzerten, die Kronen der Fichten wogten hin und her, obwohl Corinna nicht den Hauch eines Windes spürte. Der Wald war dicht und finster und erinnerte sie in nichts an die hellen und lichten Mischwälder ihrer Kindheit in der Schweiz. Sie blieb stehen und hielt den Atem an. Jetzt hörte sie deutlich, dass sich in ihrer Nähe ein Mensch oder ein Tier durch den Wald bewegte. Zweige knackten, Äste brachen. Sie kniff die Augen zusammen und schaute sich angestrengt um, sah aber niemanden, nicht einmal einen Schatten. Die Geräusche wurden leiser und entfernten sich in westlicher Richtung.
»Bereue nicht, was du getan hast, bereue, was du nicht getan hast.« Wie oft hatte sie seit Michaels Tod an seinen letzten Satz gedacht, mit dem er aus ihrer Eigentumswohnung in Aarau gestürmt war. Bereute er, etwas nicht getan zu haben? Oder galt sein letzter Satz etwa ihr? Bereute sie, was sie getan hatte? Hatte sie etwas verpasst, was sie hätte tun sollen?
Sie ging parallel zur Straße durch den Wald. Als ihr bewusst wurde, wie vorsichtig sie auftrat, als dürfte sie keine Geräusche machen, fing sie an, ungestüm auf den Boden zu stampfen und in die Hände zu klatschen. Sie nahm einen Ast in die Hand und zerbrach ihn. Das trockene Knallen klang wie der Schuss einer Spielzeugpistole. Bald standen die Bäume so dicht, dass kein Durchkommen mehr war, und sie musste auf die Straße zurückgehen. Als sie die Zufahrt zum Strand erreichte, blieb sie stehen und spähte durch die Bäume auf die Wiese, die in den Strand überging: kein Pick-up. Die Tür des Schuppens, in dem die Shofestalls letzten Sommer ein Hochzeitsfest gefeiert hatten, war geschlossen. Sie ging die Zufahrt hinunter; bevor sie auf den Sand trat, schlüpfte sie aus den Turnschuhen. Der Strand war leer, sie war allein.
Die Schönheit der Bucht verschlug ihr jedes Mal den Atem: Eingefasst von Felsen wie von schützenden Armen, beschrieb der Strand eine perfekte Sichel aus ockerfarbenem Sand. Corinna legte sich lieber auf die rechte Felsschulter als an den Strand, weil sie von dort weit übers Meer sehen konnte. Links lag die Brücke, die Spruce Head Island mit dem Festland verband, geradeaus sah man über die gegenüberliegende Waterman Beach Road Richtung Norden, rechts auf den offenen Atlantik mit den Inseln Vinalhaven und North Haven. Corinna sprang barfuß auf die Felsen, nahm ihr Badetuch aus der Tasche, die sie in Round Pond bei einer Frau aus Durban gekauft hatte, die achtzig Jahre alt und wie ein Hippiemädchen gekleidet war, und breitete es auf dem Stein aus. Auf der Sandbank, die zwanzig Meter vor der Küste aus dem Wasser ragte, hockten Dutzende von Möwen, die sie misstrauisch beobachteten, jedoch sitzen blieben. Der Himmel war beinahe wolkenlos, bereit für den ersten Kreidestrich, ein erstes Wort auf einer geputzten Wandtafel.
Die Sonne brannte heiß auf den Felsen, weit draußen war ein Fischer, der allein auf seinem Boot arbeitete, damit beschäftigt, von Boje zu Boje zu fahren, die die Position seiner Hummerkörbe markierten. Der Wind trug die Musik, die er hörte, in Wellen ans Festland. Corinna ließ sich auf den Rücken sinken, schloss die Augen und hörte Fetzen des Bob-Seger-Songs »Turn The Page«. Schon als Teenager hatte Michael Seger geliebt und viele seiner Songtexte auswendig gekannt. So war er mit siebzehn zu seinem Spitznamen Bob gekommen. Manchmal hatte er mit der schwarzen Gibson Les Paul, die sie ihm zum 50. Geburtstag geschenkt hatte, zu den Songs gespielt und dabei das schüchterne und gleichzeitig selbstsichere Gesicht gemacht, in das sie sich viele Jahre zuvor verliebt hatte. Ihr gefiel Segers Musik erst, seit sie auf einem Konzert seiner Silver Bullet Band in Dortmund gewesen waren. Als sie nach den drei Nächten im Rockland Harbor Hotel in ihr Cottage zurückgekehrt war, hatte sie seine LPs Beautiful Loser, Against The Wind, The Distance und Live Bullet Tag und Nacht gehört und vor Einsamkeit und Verzweiflung geheult. Dann hatte sie die Langspielplatten auf den Dachstock über der Garage getragen und sich geschworen, sie nie mehr anzurühren.
Der Motor des Hummerbootes wurde lauter, die Rockmusik ebenso, aber Corinna blieb liegen und lauschte dem Flügelklatschen der Möwen, die sich in die Luft erhoben und flüchteten. Als das Motorengeräusch verklungen war und die Wellen, die das Boot verursachte, nicht länger gegen die Küste schlugen, stand sie auf. Sie würde von der Steinschulter auf die angrenzenden Felsen klettern und um die Landzunge herum bis zu der Stelle gehen, von der man direkt ins tiefe Wasser steigen konnte. Sie zog ihr Sommerkleid aus und schlüpfte in die Badeschuhe. Michael hatte sich geweigert, das Paar anzuziehen, das sie für ihn bei Walmart gekauft hatte. Lieber hatte er sich die Fußsohlen an den Steinen zerschnitten und war ihr mit rudernden Armen staksend wie ein Storch ins Wasser gefolgt. Ihr Bikini war ein Geschenk von ihm, sie hatten im Waterfront in Camden nachmittags eine Flasche Weißwein und frische Muscheln genossen; auf dem Rückweg zum Auto war ihm der Bikini in einem Schaufenster aufgefallen.
Die Sonne blendete Corinna, und sie ging vorsichtig um die Landzunge herum auf die Südseite der Insel. Nun spürte sie den Wind. Ein dicker Ast, bestimmt bei einem der Frühlingsstürme vom Stamm einer Föhre abgebrochen, knarzte, ein abgestorbener Zweig schien ihr zuzuwinken. Das Meerwasser, das sich in einer wannenförmigen Mulde angestaut hatte, war so warm, dass sie sich hineinstellte und, geblendet vom Licht, auf die weiße Fläche des Meeres hinausschaute. Das Wasser reichte ihr bis über die Knöchel; sie strich mit den Zehen über den fein geschmirgelten Stein, kratzte an den winzigen schwarzen Muscheln, die sich daran festgesaugt hatten. Schließlich hatten sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt. Der Kondensstreifen eines Flugzeugs zerschnitt den Himmel, bestimmt unterwegs nach Europa.
Da sah sie den Mann.
Er trieb rücklings dicht am Ufer im Meer.
Corinna stieg aus der Mulde und trat so nahe wie möglich an den Mann heran. Er war tot. War es wichtig, eigene Grenzen zu überschreiten oder reichte es, sie zu erkennen und zu akzeptieren? Sie versuchte verzweifelt, so ruhig wie möglich zu atmen und sich darauf zu konzentrieren, was sie wahrnahm, und sich wichtige Details einzuprägen, statt zuzulassen, dass sich die Bilder des Vierfachmordes davorschoben, die von der Hitze des Feuers ausgelöschten Gesichtszüge, die verkohlten, in menschenunmögliche Verrenkungen gezwungenen Körper. Der schwere Körper des Mannes, nackt bis auf weiße Socken und hellbraune Shorts, war nicht aufgedunsen, er lag demnach noch nicht lange im Wasser. Natürlich fiel Corinna ihr Traum ein, der sie aus dem Schlaf geschreckt hatte: Michael, der tot im Wasser lag und sie anstarrte. War die Angst vor dem Tod ein Motor, der einen antrieb? Wie würde man leben, wenn das Leben kein Ende kennen würde? Sorgloser? Freier?
Jemand hatte dem Mann die Greifbacken einer Hummerzange durch die Augenhöhlen in den Kopf und damit ins Hirn getrieben. War er daran gestorben? Eine Blutfahne trieb um seinen Hinterkopf, ein hauchzarter verwehter roter Seidenschal. Die Zange saß ihm wie ein Insekt mitten im Gesicht, eine silberne Spinne.
Der Tote war groß und kräftig.
Der Tote war braun gebrannt.
Auf seinen rechten Oberarm war eine stilisierte Sonne mit gewundenen Strahlen tätowiert, darunter ein Wort, das sie nicht lesen konnte.
Corinna kannte den Toten.
Norman Dunbar.
Mit seiner Frau Tracy war sie befreundet.
Norman Dunbar gehörte das größte Anwesen auf Spruce Head Island.
Im Keag war die Zeit stehen geblieben; der Grocery Store sah aus wie der Laden im Dorf von Corinnas Großeltern im Appenzell Anfang der siebziger Jahre. Im hinteren Teil des Raumes standen eine Handvoll Tische, im vorderen Bereich befanden sich die Theke mit Kasse, die offene Küche, Kühlregale sowie Gestelle mit Lebensmitteln, Haushaltsartikeln und einem verblüffend guten Weinsortiment. Touristen verirrten sich nur im Sommer ins Keag; Corinna war von den Einheimischen lange behandelt worden, als wäre sie unsichtbar. Aber mittlerweile wurde sie selbst von den Lobsterfischern begrüßt, und Linda öffnete die Vitrine mit den Donuts, sobald sie zur Tür hereinkam.
Corinna setzte sich mit einer Tasse Kaffee und einem Zimtdonut an einen der Fenstertische und stellte erstaunt fest, dass ihre Hände zitterten. Die Angler standen wie üblich an der Stelle, an der der Weskeag River in die Bucht floss, über sich Möwen, die geduldig im Wind segelten und versuchten, den Männern die Fische von den Haken zu schnappen.
Nachdem sie den toten Norman Dunbar gefunden hatte, war sie nicht sofort zu ihrer Tasche gelaufen, um auf dem Handy die 911 anzurufen. Erst war sie ins Meer gestiegen und hatte sich seine Leiche aus der Nähe angesehen. Die Greifbacken der Hummerzange waren mit enorm viel Kraft und demnach Wut oder gar Hass durch die Augenhöhlen getrieben worden. Natürlich hatte Corinna den Toten nicht angefasst. Sie war vorsichtig unter ihm hindurchgetaucht und hatte sichergestellt, dass er auch auf dem Rücken keine Stich- oder Schusswunden aufwies. Was, wenn die Leiche von der Strömung erfasst und in den offenen Atlantik hinausgetrieben wurde, während sie zu ihrem Handy lief? Schließlich war sie trotz dieser Sorge aus dem Wasser geklettert und hatte den Notruf gewählt. Zwölf Minuten später tauchte ein Streifenwagen der Rockland Police auf der Zufahrt auf, nur drei Minuten später fuhr der Streifenwagen des Sheriffs von Knox County vor. Sie hatte Officer Coor und Deputy Walsh zum Toten Norman Dunbar geführt, doch wie der ganze Zirkus anrückte, bekam sie nicht mehr mit, weil sie zu dem Zeitpunkt bereits auf dem Polizeirevier in Rockland saß. Man nahm ihre Fingerabdrücke, fotografierte sie und klärte sie darüber auf, dass das Vernehmungszimmer nicht verschlossen und sie nicht verhaftet sei, man sie also nicht daran hindere, wenn sie gehen wolle. Ihre freiwillige Zeugenaussage helfe aber, den Fall aufzuklären. Befragt wurde sie von einem Detective namens Robinson, der wohl wusste, dass sie bei der Kriminalpolizei gearbeitet hatte, eine Kollegin also, sich jedoch nichts anmerken ließ. Um ihre nassen Haare und ihren nassen Bikini zu erklären, hatte sie gelogen und behauptet, sie habe den Toten beim Schwimmen entdeckt. Weder Officer Coor noch Deputy Walsh hatten sie darauf angesprochen. Wären ihr, wäre sie an den Fundort der Leiche gerufen worden, die nassen Haare und der nasse Bikini der Zeugin aufgefallen? Sie hatte eingewilligt, sich an die Auflage zu halten, Maine in nächster Zeit nicht zu verlassen und für allfällige weitere Fragen zur Verfügung zu stehen. Nach der Befragung durch den freundlichen, aber misstrauischen Detective war der Wunsch nach einem Donut so stark gewesen, dass sie nach South Thomaston ins Keag fahren musste.
Das Wasser vor den Fenstern hatte jenen stahlblauen, für den Sommer viel zu kalten Farbton angenommen, den es bekam, bevor das Wetter umschlug. Ihre rechte Hand zitterte immer noch. Sie stand auf, schob sich den Rest des Donuts in den Mund und stellte sich ans Fenster. Drei Vögel jagten hintereinander über den Wasserspiegel, drehten vor der Brücke ab und stiegen steil in den Himmel. Die Sonne traf den Glockenturm der weiß gestrichenen Kirche am anderen Ufer und verwandelte ihn in eine blitzende Klinge. Ein Mann ging über die Brücke, die lange Angel geschultert. Das Budweiser-Neonschild, das über ihr im Fenster hing, knisterte. Corinna schluckte; es war nicht einfach, die Spirituosen im Regal beim Eingang zu ignorieren. »Ich will nicht trinken, ich muss!«, hatte sie Michael ins Gesicht geschrien. Er war aus ihrer Wohnung gestürmt, mit dem Auto weggefahren und nie mehr zurückgekehrt. Als sie das erste Mal bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker aufstand und redete, erfand sie eine nicht angebrochene Flasche Johnny Walker, die sie unter der Spüle verstecke, weil sie die bewundernden Blicke der anderen ehemaligen Trinker genoss. Sie beschrieb die stete Versuchung, die die Whiskyflasche bedeutete, wobei sie das Knacken im Ohr habe, das es gab, wenn man einen Verschluss das erste Mal aufdrehte und das Siegel brach.
Corinna trat an die Theke und schaute zu, wie Linda für eine ältere Frau einen Hummer aus dem Wassertank nahm und in eine Plastiktüte stopfte. Da die Frau den Zahlencode ihrer Kreditkarte vergessen und kein Geld bei sich hatte, musste sie anschreiben lassen. Die Frau ging langsam zu einem Truck vor dem Postamt, reichte die Tüte mit dem Lobster durch das offene Fahrerfenster und zündete sich eine Zigarette an.
»Eine Schachtel Marlboro, Linda.«
»Du rauchst?«
Corinna schüttelte den Kopf und vermied es, Linda anzusehen. Sie kam sich vor wie ein Schulmädchen, das von seiner Mutter beim Lügen erwischt worden war.
»Willst du sie etwa essen?«
»Ich fang wieder an.«
»Wann hast du aufgehört?«
»Vor vier Jahren, zehn Monaten und sechs Tagen.«
»Da zählt eine die Stunden«, sagte die Köchin und lächelte Corinna verschwörerisch zu, während sie Hamburger auf der Grillfläche wendete.
»Ich halte dich ganz bestimmt nicht auf«, sagte Linda und reichte ihr die Schachtel. »Du siehst aus, als könntest du etwas Nikotin brauchen.«
Das Funkeln der bernsteinfarbenen und glasklaren Spirituosen in ihrem Rücken war so verführerisch, dass Corinna verkrampft geradeaus starrte, während sie zahlte.
Als sie am Steuer saß und die Zigarette anstecken wollte, fiel ihr ein, sie hatte weder Streichhölzer noch Feuerzeug. Sie musste ins Keag zurück und unter Lindas Spott – »Du brauchst kein Feuer, du willst sie doch essen!« – ein Plastikfeuerzeug kaufen. Sie zündete die Zigarette an und fuhr los; sie schmeckte furchtbar. Corinna ließ das Fenster nach unten gleiten und warf die Zigarette nach einem weiteren Zug erleichtert auf die Straße. Zumindest mit dem Rauchen war sie durch. Die Schachtel zerknüllte sie und schmiss sie in den Fußraum vor dem Beifahrersitz.
Sie beschloss den Umweg über die Waterman Beach Road zu nehmen, weil sie von dort zum Fundort der Leiche hinübersehen konnte. Nach dem Lobster Buoy-Campingplatz führte die Straße über eine Kuppe, von der der Muscle Ridge Channel, Spruce Head und die zahlreichen anderen Inseln wie in einem Ferienprospekt ausgebreitet vor ihr lagen. Sie ging vom Gas und ließ den Wagen ausrollen: Lobsterfischer holten Körbe ein, brachten Körbe aus. Der Atlantik war unruhiger als am Morgen. Corinna hielt am Straßenrand, schaltete den Motor aus und nahm ihr Fernglas aus dem Handschuhfach. Sie stand perfekt: Ihr Blick ging über die Bucht hinweg zu der Stelle, an der sie Dunbar gefunden hatte. Sie zählte neun Polizisten in Uniform, die die Landzunge absuchten, sah das Blitzen der Fotoapparate und das Pulsieren der Warnlichter der drei Streifenwagen, die zwischen den Bäumen parkten. Waren die Forensiker und der Rechtsmediziner schon da? Woher waren sie angereist? Bangor oder Portland? Corinna kannte das Prozedere, die nervöse und angespannte, zugleich aber aufgedrehte, fast euphorische Stimmung, die am Fundort einer Leiche herrschte, wenn das große Besteck ausgepackt wurde. Sie spürte einen Stich im Magen, und ihr wurde bewusst, wie sehr sie ihren Beruf vermisste. Im nächsten Augenblick hatte sie den Geruch in der Nase, der die Bilder zurückbrachte, die ihr den Boden unter den Füßen wegzogen, und musste gegen den Brechreiz ankämpfen und die Augen schließen. Die schlimmste Aufgabe war gewesen, Angehörigen schlechte Nachrichten zu überbringen. An Wohnungstüren zu klingeln und in erwartungsvolle und ängstliche Gesichter zu blicken, ohne zu viel Mitgefühl oder Trauer zeigen zu dürfen, sondern gefasste Kompetenz und Ruhe auszustrahlen. Wusste Tracy schon, dass ihr Mann tot war? Wer hatte sie informiert? Corinna hatte Tracy vor sechs Tagen zum Flughafen Rockland gebracht, weil sie die Renovierung ihrer Maisonette in Boston beaufsichtigen wollte. War Tracy noch dort oder war sie nach South Carolina weitergereist, wo die Dunbars die meiste Zeit des Jahres in Myrtle Beach lebten? Hatte man ihr erzählt, wer die Leiche ihres Mannes gefunden hatte? Sie musste sich so rasch wie möglich bei Tracy melden.
Corinna ließ das Fernglas sinken. Tracy hatte letzten Sommer auf der Route 131 zwischen Saint George und Tenants Harbor eine Reifenpanne gehabt. Corinna hatte angehalten und sie bis Port Clyde mitgenommen, wo sie im Dip Net an einem Tisch direkt am Wasser eine Flasche Chablis getrunken, Austern geschlürft und den Sonnenuntergang genossen hatten und sich nach der zweiten Flasche von einem Taxi abholen lassen mussten. So hatten sie sich kennengelernt. Tracy war Michael unsympathisch gewesen: »Sie ist operiert, und ihr Lachen ist nicht echt.« Zu viert getroffen hatten sie sich nie. Corinna war Norman nur ein Mal begegnet, als sie Tracy in ihrem Haus an der Headland Road besuchte. Während Norman ihr die Hand schüttelte, war Corinna sein Credo eingefallen, das Tracy ihr verraten hatte: »Money talks, it says goodbye!« Er war auf dem Weg zum Flughafen gewesen, um den Flug nach Boston zu erwischen und danach nach New York weiterzureisen, »um aufzupassen, dass mein Geld auf keinen Fall auf Wiedersehen sagt«.
Und nun war Norman Dunbar tot. Ziemlich sicher umgebracht mit einer Hummerzange. Corinna startete den Motor und fuhr weiter, ohne noch einmal über die Bucht zu schauen.
Nach Einbruch der Dunkelheit setzte Corinna sich am liebsten auf das obere Deck, um zu telefonieren, unter sich das dunkle Meer und die Positionslichter der Hummerboote, die im Seal Harbor vor Anker lagen, hinter sich das Licht ihrer Nachttischlampe, das einen buttergelben Kreis auf ihr Bett warf. In Maine wurde es im Sommer viel früher dunkel, als sie erwartet hatten. Es war kühl geworden, hatte aber nicht wie vorhergesagt geregnet. Sie holte eine Wolljacke aus dem Schrank und warf einen Blick auf den Radiowecker: 19:20 Uhr.
Sie besaß weder Tracys Festnetznummer in Boston noch die ihres Anwesens in South Carolina und hatte den ganzen Abend ohne Erfolg versucht, sie auf dem Handy zu erreichen. Woher kam das Licht, das die Kabinenscheiben der Boote aufblitzen ließ? Hantierte jemand mit einer Stablampe herum? Noch einmal wählte sie Tracys Handynummer, wieder klingelte es endlos, ohne dass ihr Anruf auf die Mailbox weitergeleitet wurde. Kaum hatte sie auf- und das Telefon neben sich auf den Tisch gelegt, klingelte es.
»Tracy! Es tut mir leid, was …«
»Ma? Hallo? Bist du das?«
»Tom?«
Ihr Sohn Thomas lachte unbekümmert. Seine Stimme hatte zwar nichts mehr mit seiner Kinderstimme zu tun, aber er klang trotzdem eher wie ein Junge als wie ein Erwachsener.
»Tracy? Wer ist Tracy, Ma?«
»Eine Bekannte. Wie geht es dir?«
In der ersten Klasse hatte Thomas sie allen Ernstes gefragt, ob Dinge genau wie Menschen Wünsche hätten. »Wäre Wasser lieber trocken?« »Möchte eine Lampe leuchten?« »Stinkt ein Käse gerne?«
»Gut, Ma.«
»Kannst du nicht schlafen? Bei euch ist es halb zwei!«
»Ich habe lange gearbeitet. Charlotte ist nervös.«
»Nervös? Wieso?«
»Sie fliegt nicht gern. Wieso habt ihr kein Haus in Italien gekauft, Ma? Oder in Spanien?«
»Weil es uns in Maine besser gefällt, Tom! Die Küste ist traumhaft, das Meer sauber, die Wälder riesig, die Natur unverbaut, die Menschen in sich gekehrt, aber freundlich. Sie lassen dich in Ruhe.«
»Ist es nicht saukalt? So hoch im Norden?«
»Heute waren es 26 Grad, gestern 29. Und vorgestern 34. Zufrieden?«
»Gibt es überhaupt Wein bei euch? Oder muss Charlotte Bier trinken?«
»Witzig, witzig!«
»Und wie ist das Essen?«, fragte er ironisch.
»Besser als du denkst, viel besser. Ihr werdet staunen! Wann kommt ihr genau?«
»Du weißt nicht, wann wir ankommen? Freust du dich überhaupt?«