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Susanne Wantoch

NAN LU

Die Stadt
der verschlungenen
Wege

herausgegeben von

Tomas Sommadossi

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Der Roman NAN LU – Die Stadt der verschlungenen Wege
von Susanne Wantoch
erschien erstmals 1948 im Globus Verlag, Wien.

Alle Rechte vorbehalten:

NAN LU – Die Stadt der verschlungenen Wege
Neuausgabe des Romans im Pirmoni-Verlag, Berlin
Copyright © 2018 Erica Wantoch, Wien

Abgängig seit Juli 1959
Erster Bericht über die Schriftstellerin Susanne Wantoch

aus: Erich Hackl: In fester Umarmung
Copyright © 1996, 2003 Diogenes Verlag AG Zürich

Der Verlag dankt dem Zukunftsfonds der Republik Österreich
für die Förderung dieser Edition.

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Satz und Umschlagsgestaltung: Hedi Rachfahl, Berlin

Fotos: © Erica Wantoch, Wien

Die im Roman abgebildeten Holzschnitte stammen aus:
Chinese Woodcutters' Association (Hg.): Woodcuts of War-Time China.
Shanghai 1946.

Druck: Pro-Business, Berlin

Printed in Germany
eISBN 978-3-9817460-6-8

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Susanne Wantoch (1912 – 1959)

INHALT

Vorwort der Autorin

Die Universität

Das Lazarett

Der Revolutionär

Meine Heimat…

Die Wege der Erkenntnis

Das Neujahrsfest

Wendungen

Die Wacht am Gelben Fluß

Krieg

Fünf Briefe

Das Brennholz und der Funke

Nachspiel

Abgängig seit Juli 1959

Erster Bericht über die Schriftstellerin Susanne Wantoch

von Erich Hackl

Nachwort

von Tomas Sommadossi

Zu den Autoren

Vorwort

der Autorin zur Erstausgabe

Der Plan für diese Erzählung liegt fast fünf Jahre zurück. Zu Beginn des Jahres 1943, im zweiten Jahr meines Aufenthaltes in einer kleinen Universitätsstadt im Innern Chinas, deren einzige weiße Bewohnerin ich war, verfaßte ich eine Erzählung in Skizzenform, die ich »Einzelhaft« nannte und die, in düsteren Farben meine damalige Gemütsverfassung spiegelnd, ein subjektives Bild der Wirklichkeit in mir und um mich entwarf.

Gleichzeitig aber gelobte ich mir, zum Ausgleich ein Werk zu schreiben, das diese selbe Stadt, die ich so gut kannte, in objektiverer Form und liebreicheren Farben schildern sollte.

Eineinhalb Jahre später, in Tschungking, hörte ich, daß meine Universität von den Japanern überfallen und zerstört worden sei. Ich studierte sorgfältig an Hand von Augenzeugenberichten und einer großen Anzahl von Briefen die Einzelheiten und die Hintergründe der Katastrophe und schrieb hierüber im Winter 1944/45 eine Geschichte, die die Grundlage der jetzigen Erzählung bildet und die bereits den Titel »Nan Lu« trug. (Der Name der Stadt – »Nan Lu« heißt auf deutsch »Der schwere Weg« – sowie die Namen der meisten handelnden Personen sind erfunden.)

Unter den Verhältnissen der Emigration blieb dieses Manuskript zwei Jahre liegen, kam schließlich mit mir nach Österreich und wurde hier einem Verlag vorgelegt, der mich dazu veranlaßte, die skizzierte Erzählung auszuarbeiten.

Das Resultat ist das vorliegende kleine Buch. Wenn es mir darin gelungen ist, das China unserer Tage, das so fern scheint und doch durch viele Fäden mit unserer Welt verknüpft ist, dem österreichischen Publikum menschlich nahe zu bringen, so hat es seinen Hauptzweck erfüllt.

Wien, im November 1947

Schön ist die Stadt Loyang;

die großen Straßen sind voll Frühlingslicht.

Die Jünglinge fahren aus mit Harfen in ihren Händen;

die Maultiermädchen gehen mit ihren Körben aufs Feld.

Gold’ne Peitschen glitzern an den Flanken der Pferde,

duftige Ärmel streifen die grünen Zweige.

In der Dämmerung kommen die Wagen nach Hause

und die Mädchen mit den hohen Körben voll Frucht.

(Kaiser Tschien Wen Ti,
6. Jahrhundert n. Chr.)

Die Universität

Kaiser und Glanz sind dahin. Der Staub der alten Paläste ist über die Ebene des Gelben Flusses verweht, kein Denkmal verrät den sagenhaften Treffpunkt Lao-Tses mit Konfuzius. Aber die Stadt Loyang steht noch immer in der Provinz Honan, immer noch blühen die Maulbeerbäume im Frühling und die Felsen von Lungmen wachen südlich der Stadt wie zur Zeit, als Po Tschü-i hier seine Lieder schrieb; unzählige Tempelnischen spiegeln sich in den Wellen des Ih und tausend lächelnde Buddhas blicken auf den Reisenden herab, der flußaufwärts zieht, den Ausläufern des Tsinglin-Gebirges entgegen.

Zu beiden Seiten streckt sich das Land in unübersehbaren Ketten von Hügeln, bestanden mit jungem Weizen, den dunkelgrünen Ranken süßer Erdäpfel und den roten Blumen der Baumwollstaude.

Seit Jahrhunderten hat man in diesen Gegenden die Bäume für Brennholz niedergeschlagen, ohne wieder aufzuforsten. Nun sind die Hügel kahl und staubig geworden, die Erde ist trocken und durstig und die große Dürre sucht das Land in gespenstischem Zyklus heim.

Die Gehöfte sind karg und einfach wie die Menschen. Vier Wände aus Lehm, ein Bett, ein Tisch, ein lackiertes Regal, auf dem Ahnentäfelchen und Papieropfer stehen. Am Türbalken klebt ein glückbringender Spruch auf rotem Papier. Der Spruch ändert sich nicht mit den Generationen, nur das Papier wird jedes Neujahr frisch beschafft.

Hundertsiebzig Li weit folgt die Straße dem Fluß. Dort, wo die Berge höher werden und der Ih wilder, liegt die Kreisstadt Nan Lu. »Nan« bedeutet hart, schwer, »Lu« – der Weg; »Nan Lu« – der schwere Weg, der verschlungene Weg. Die Straße duckt sich unter das Osttor, verliert sich in ungepflasterten Gäßchen, läuft noch eine kleine Weile zum Westtor hinaus, dann hört sie endgültig auf. Weiter führen nur Fußwege und Maultierpfade nach Norden, nach Süden und Westen.

Das Nordtor, das Südtor, das Osttor, das Westtor – dickwandige Tore in baufälliger Mauer aus Lehm. Die Tore sind gut, aber die Mauer ist schlecht. Und auch das Tor wird schon bei einem Kanonenschuß geringen Kalibers einstürzen, es genügt ein Maschinengewehr.

Vorläufig denkt niemand hier an Kanonen. Vorläufig – wir sind im Herbst 1943 und im siebenten Jahr des chinesisch-japanischen Krieges – ist man hier im Hinterland mit friedlicheren Problemen beschäftigt: den Problemen des Weizens, der Hirse, der Baumwolle und des Öls, den Fragen der Preissteigerung und des Wuchers, der großen Dürre vor zwei Jahren, der kleinen Dürre im vorigen Sommer und der Heuschreckenplage im Herbst. Die Heuschrecken hat man mit wehenden Tüchern aus den Feldern zu jagen versucht. Was kann man gegen die Dürre machen, als den Hungerriemen fester schnüren? Gegen die Japaner haben wir unsere Soldaten, die Mauern der Stadt und die Berge, in die man fliehen kann.

Die Berge sind unerschütterlich in ihrer Klarheit und Größe. Ihre dunklen Schluchten und frischen Ströme sind unser, unser Land, und keine Macht des Himmels und der Erde kann sie uns nehmen. Auf die Mauern der Stadt allerdings kann man sich nicht mehr verlassen. Und was die Soldaten betrifft, so wird sich zeigen, was sie wert sind. Die Truppen sind vor der Stadt einquartiert, wir kennen sie gut. Wir sehen sie Maisbrei schlürfen und Läuse suchen, wir hören die Strohsandalen am Exerzierplatz marschieren: i – öl – ssan, eins – zwei – drei – rechtsum. Auch die Offiziere sind uns bekannt, breitgegürtet, lederbeschuht. Ja, die Armee Tschangkaischeks lebt. Und steht nicht das ganze Freie China geeint im Widerstandskrieg gegen den Feind? Liefert nicht jeder Bauernhof Säcke voll Korn für das Heer? Und die Rekruten, die niemals wiederkommen? Ein Sack Mehl weniger im Haus, ein Sohn, der nicht wiederkommt – irgendeinen Zweck muß das doch haben, und deshalb glauben wir, was immer man auch sagt, an unsere Regierung und an unsere Armee und beschäftigen uns mit unseren eigenen, friedlicheren Fragen.

Leicht ist das Leben nicht für die Bewohner der Stadt. Wenn der Weizenpreis fünfmal im Quartal steigt und das Schullehrergehalt einmal – wie soll man da auskommen? Nur die Kaufleute, reich geworden durch Hamstern und Schmuggeln mit dem Feind, gedeihen und werden fett. Freundlich lächelnd, anständig und dick wattiert, zaubern sie eine Atmosphäre des Wohlbehagens in das armselige Straßenbild von Nan Lu.

In dieses Stilleben von Stadt, Land, Berg und Fluß hat sich nach der Besetzung der Provinzialhauptstadt Kaifong durch die Japaner das intellektuelle Zentrum der Provinz, die Universität, mit tausend Studenten und Lehrern geflüchtet. Sie zogen ein, wo Platz war – ein Tempel in der westlichen Vorstadt, Baracken beim Nordtor, ein Lehmhaus neben der Post dienten ihnen als Quartier. Sie kamen an als Leute von Welt, mit Krawatten und Stöckelschuhen. Aber als die Stöckel abgelaufen waren und die Krawatten zerschlissen, lernten die Mädchen Schuhe aus Tuch nähen, wie die einheimischen Frauen sie tragen, und die Burschen legten die fadenscheinige Uniform der Soldaten an. Die Professoren haben über ihre Seidenroben aus besseren Zeiten blauen Drillich gezogen, und nur der feine Kopf und die würdige Haltung zeigen den scholastischen Rang. Sie haben sich’s in diesem vergessenen Winkel wohnlich gemacht, so gut es ging, nicht ohne Grazie und gute Laune. Sie klagen nicht um die großen Sachen, die verloren sind – Elternhaus, Bibliothek, Laboratorium, das gute Leben vor dem Krieg. Sie seufzen unter den Sorgen des Alltags – die Lehrbücher, die man sich selbst auf schlechtem Papier abschreiben muß; die Tinte, die im Hörsaal in den Gläsern einfriert; das schwarze Brot ohne Fleisch.

Aber der Studienbetrieb geht weiter.

Den gelben Staub der Landstraße, die nach Nan Lu führt, durchschritten in kurzem Abstand hintereinander zwei Männer. Sie gingen gleichmäßig schnell in ihren leichten Stoffschuhen, die mit Löß wie überpudert waren. Der Ältere trug eine kräftige Bambusstange auf der Schulter, von deren Enden zwei in Öltuch verschnürte große Ballen herabhingen. Der andere ging unbeschwert in einem langen blauen Baumwollkleid, dem man selbst unter der dicken Staubschicht noch ansah, daß es neu war. Das auffälligste aber an ihm war sein Hut, ein runder, städtischer Filzhut über einem breiten, frischen Bauerngesicht.

Der Ältere wandte sich um und lud den Jüngeren ein, neben ihm zu gehen. »Tschegofan mejo« – »Hast du schon gegessen?«

»Tschegola« – »Gegessen«, gab der andere zurück und setzte seinerseits die Formeln der Höflichkeit fort.

»Gweh schin« – »Ihr werter Name?«

»Mein Name ist Liau. Und deiner?«

»Ich heiße Lu Dsen.« Der Junge plauderte weiter, froh, einen Reisegefährten gefunden zu haben. »Mein Heim ist in Mjautaidse. Unsere Familie wohnt seit mehr als 300 Jahren auf diesen Hügeln. Aber eigentlich stammen wir aus Schantung.«

»Warum habt ihr eure Heimat verlassen?«

»Die Hungersnot, die große Hungersnot vor dreihundert Jahren. Damals sind viele Familien von der Ostküste in diese Gegend gewandert, die noch dünn besiedelt war.« Der Ältere musterte das Schachbrett der Felder, das Netz der Fußpfade und die Gehöfte, die wie Maulwurfshügel durch die Äcker brachen. »Jetzt ist auch bei uns kein Fußbreit Land mehr frei.«

»Aber dort drüben.« Der Junge wies zu den braunen Bergen empor, die den Horizont gegen Süden hin in fernen, weichen Konturen begrenzten. »Dort soll noch viel freies, wildes Land sein. Dort haust noch Lau Hu, der alte Tiger, und dort wohnen unzivilisierte Menschen, Barbaren, die keine Kleider tragen, von Blättern leben und gar bisweilen andere Menschen anfallen und aufessen.«

»Glaubst du an diese Schauergeschichten?«

»Das sind keine Schauergeschichten. Das ist Wahrheit! Sogar die Studentinnen an unserer Hochschule glauben daran, obzwar sie sonst an gar nichts mehr glauben, vor den Ahnenbildern keine Verbeugung machen und behaupten, daß es keine Geister und keine Teufel gibt.«

»Du glaubst aber doch an Geister!«

»Ich weiß nicht«, sagte der Junge diplomatisch. »Mein Vater und die älteren Brüder sagen, daß es Geister gibt. Aber ich habe lesen und schreiben gelernt. Und die Studenten lachen mich aus, wenn ich sage, ich habe einen Teufel gesehen.«

»Du bist Diener an der Schule in Nan Lu?«

»Ja, an der Da schüäh, der großen Schule«, sagte der Junge, nicht ohne Stolz.

»Und jetzt warst du auf Urlaub zu Hause?«

»Auf Urlaub, ja.«

Der Jüngere wurde ein wenig verlegen. Der Ältere musterte das neue Kleid, den runden Filzhut. »Es hat wohl ein Fest in eurer Familie gegeben?«

Der Junge nickte.

»Wie alt bist du?«

»Neunzehn.«

»Und deine Braut?«

»Achtzehn. Ihr Familienname ist Schü«, fügte er stolz hinzu.

»Schü und Lu, die Namen passen gut zusammen. – Und wie ist das Leben an der großen Schule in Nan Lu?«

»Sehr schwer. Aber wir haben in diesen Kriegsjahren gelernt, Bitternis zu essen, sagen die Herren Professoren, die Schiensen.«

»Auch in Lusan, von wo ich komme und wo jetzt alle Ämter und Behörden von Honan sind, ist es nicht gut«, sagte der Ältere. »Der Preis für das Mehl ist wieder in die Höhe gegangen. Und nimm die Rohseide, die ich auf meinen Schultern trage. Bis ich die Ballen in Nan Lu verkauft habe, ist der Einkaufspreis in Lusan auf das Doppelte gestiegen. Und noch eine böse Neuigkeit gibt’s. Um Lusan herum werden Gräben ausgehoben.«

»Steht der Krieg schlecht?«

»Ich bin kein Studierter. Ich kann die Zeitung nicht lesen. Ich höre nur, was die Leute reden. Die Seidenhändler wollen keine Ware mehr ausgeben. Es wird ein Umschwung kommen, sagen sie, und das Geld wird seinen Wert verlieren. Und mein jüngerer Bruder ist von zu Hause geholt worden, die Befestigungen um Lusan zu graben.«

Lu Dsen seufzte. Seine bunte Hochzeit, die Braut, deren Name Schü ihm so gut gefiel, der erste Sohn, der in neun Monaten kommen sollte – es wurde ihm unheimlich zumute und er schritt schneller aus, bis er die Stadtmauer von Nan Lu als beruhigende Wirklichkeit vor sich sah.

Lu Dsen hatte zusammen mit dem Koch Lau Fu, dem »alten« Fu, die Sorge um das leibliche Wohl von vierzig Studentinnen über. Die Mädchen wohnten in einem weißgetünchten Haus an der Straße, eigentlich war es nicht ein Haus, sondern eine Anzahl ebenerdiger Hütten, die aus je einem oder zwei Zimmern bestanden und die um drei Höfe gruppiert waren.

Die Arbeit war nicht allzuschwer, sicher nicht schwerer als die Bauernarbeit zu Hause. In der Früh war Wasser aus dem Brunnen ins Haus zu tragen, dann mußte man den Lehmherd mit Reisig und Holz einheizen und den Außenhof und die zwei Innenhöfe fegen, und während Lau Fu die Mehlsuppe kochte, richtete Lu Dsen die Frühstückstische her. Später ging er mit dem Koch Gemüse und Feuerholz einkaufen, und dann kam die wichtige Arbeit des Mantou-Machens. Mehl wird mit Wasser angerührt und der Teig fest geknetet; wenn er dann aufgegangen ist, werden Laibchen oder Würfel gleichmäßig geformt und im mehrstöckigen Dämpfkorb über dem Wasserkessel gedämpft. Das Mantou-Machen ist eine kunstvolle Arbeit, die nur die Nordchinesen verstehen. Die Südchinesen essen tagaus, tagein dreimal im Tag ihren Reis. Brot kennen sie nicht.

Nachmittags hatte Lu Dsen wieder einige »Tjau« (doppelte Schulterlasten) Wasser zu tragen, es gab Wege zur Post, zur Bank, an Markttagen wurde Getreide eingekauft und dabei stundenlang gehandelt. Trotz seiner neunzehn Jahre genoß der junge Diener eine Art Vertrauensstellung bei den Studentinnen. Er war intelligent und strebsam. In seinen freien Stunden malte er mit Tusche und Pinsel auf feinem weichem Papier sorgfältig nach Vorlagen schön geschwungene Schriftzeichen, um seine Handschrift zu verbessern.

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Daß er von seinem Heim in Mjautaidse weg sein mußte, war gut und war schlecht. Schlecht war es, weil seine junge Frau und die Arbeit des Hofes auf ihn warteten. Aber es war gut (und nur aus diesem Grund hatte er die Schuldienerstelle übernommen), weil durch diesen halboffiziellen Dienst die Gefahr seiner Einziehung zum Militär verringert war. Lu Dsen hatte einen Bruder und einen Cousin im Kriege verloren. Der eine erlag bald nach der Rekrutierung der Ruhr; dem andern war irgendwo an der Front ein Fuß abgefroren. Was weiter mit ihm geschehen war, wußte man nicht, aber man konnte sich’s denken.

Lu Dsen haßte die japanischen Teufel vom ganzen Herzen; aber sich nutzlos zum Opfer zu bringen und denselben Weg wie sein Bruder und sein Cousin zu gehen, dazu hatte er nicht die geringste Lust. Lieber wollte er noch ein halbes Dutzend Jahre, oder solange dieser verfluchte Krieg dauerte, Höfe fegen und Mädchen bedienen und die Wirtschaft zu Hause dem Bruder überlassen.

Der junge Diener brachte Reisschalen und Eßstäbchen aus der Küche; Lau Fu stellte den Teller mit den Mantous, eine kleine Schüssel gebratener, gesalzener Sojabohnen und einen großen Napf mit dampfendem Mehlwasser auf den Eßtisch im zweiten Hof. Aus den Zimmern klangen fröhliche Stimmen. »Essen, Kinder, gleich acht Uhr.« Die blaugekleideten Mädchen, mit kurzem Bubikopf oder langen, schwarzen Zöpfen, griffen herzhaft zu. »Ssu-meh, komm doch!«

Die Chemiestudentin Ma Ssu-meh bewohnte mit ihren Kolleginnen Li und Fong-ming das letzte Zimmer im zweiten Hof – ein schmales Lehmzimmerchen, das mit bunten Bettdecken und gestickten Kissen wohnlich gemacht war. Die drei Mädchen waren große Freundinnen: Fräulein Li, schlank und zierlich, Flüchtling aus der Pekinger Gegend; die dicke, gutmütige Fong-ming, Gutsbesitzerstochter aus Nanyang in Honan; und Ma, die Älteste der drei, ein kräftiges Mädchen mit energischen Zügen und etwas vorspringendem Mund. Ma war seit letztem Sommer mit dem Assistenten Wang verheiratet; aber nach zwei Hochzeitswochen in Loyang war sie in ihr Mädchenzimmer zurückgekehrt. Ein junger Assistent verdient nicht genug, um zwei Menschen zu erhalten. Und wer soll den Haushalt führen, wenn die Frau im Hörsaal studiert?

»Was ist los, Ssu-meh? Bist du krank?« Fong-ming griff ihr besorgt an den Puls. Ma antwortete nicht. Die ganze Nacht hatten ihre Freundinnen sie in ihr Kissen schluchzen hören. Da half kein Trost, und jeder wußte, was los war. Man sah es ihr ja schon fast an. – Die Freundinnen würden leicht und schlank in den Hörsaal laufen und sie würde mit dickem Leib – und dann die Windeln und das Gebrüll. Wie sollte sie ihr Studium beenden?

Die junge Frau brachte es nicht über sich, aufzustehen.

»Fong-ming, willst du mein Brot haben?« Fong-ming teilte es mit Fräulein Li. Keines der Mädchen war ganz satt vom Frühstückstisch aufgestanden. Seit der Dürre im vorigen Jahr und den gewaltigen Mehlpreissteigerungen langte es nur noch für zwei kleine Mantous pro Mahlzeit – nicht genug für einen jugendlichen Appetit!

Die Burschen waren überhaupt immer hungrig. Manche rauchten, um den Hunger zu übertauchen. Andere verdienten sich mit Zeichnen oder Bücherabschreiben nebenbei etwas und kauften sich zusätzlich Brot. Einige, deren Heim im unbesetzten, freien China lag, bekamen Unterstützung von zu Hause. Der Rest hielt irgendwie durch. Viele wurden tuberkulös… Nur in das von den Japanern besetzte Gebiet, zum Feind, zu den Verrätern überzugehen, daran dachte niemand, und es ist kein einziger Fall bekannt geworden, daß ein Student so etwas versucht hätte.

Die Studenten des ersten, zweiten und dritten Jahrgangs wohnten in neuerbauten großen Lehmbaracken vor dem Westtor. Dreißig bis vierzig Holzpritschen waren in Reihen aufgestellt, dazwischen standen die Tische. Je vier Studenten hatten einen Holztisch, an dem sie studieren konnten.

Außerdem stand als Studierraum die ganze freie Natur zur Verfügung. An schönen Tagen konnte man die grünen Uniformen der Studenten zwischen Grabhügeln und Bohnenfeldern in der Nähe des Westtors bedächtig umherwandeln sehen, das Buch in der Hand, leise vor sich hin memorierend.

In der Nähe des Westtors befand sich auch das chemische Laboratorium, ebenfalls in einer Lehmbaracke untergebracht. Und hier erwartete der junge Assistent Wang seine Frau. Es war »bu hau isse«, schlechte gesellschaftliche Form für einen Mann, das Mädchenhaus zu betreten, sonst hätte Wang sie schon vormittags besucht, um zu erfahren, was los war. Fong-ming hatte ihm gemeldet, daß Ssu-meh krank sei, aber daß sie die chemischen Übungen in der vierten Stunde besuchen würde. Wang fühlte sich unbehaglich und etwas schuldbewußt. Ssu-meh war krank. Sollte das bedeuten, daß… ach, mußten denn alle Frauen sofort…, konnte man nicht ein, zwei Jahre warten, bis die Verhältnisse besser wurden? Am besten wäre es gewesen, sie hätten überhaupt nicht geheiratet!

Sie sah ihn von weitem, in dem langen Gown, der seine Gestalt noch schlanker und gerader scheinen ließ. Immer, wenn sie ihn sah, war das so – eine plötzliche Freude, ein stürmisches Verlangen, ihn anzusehen, zu betasten, seine Augen zu spüren. Schwarze, leuchtende Augen, ebenmäßige Züge, weiches Haar, elfenbeinfarbene Haut – genug, einem Mädchen den Kopf zu verdrehen. Aber merken lassen darf man sich’s nicht.

»Was ist los?« fragte er.

»Ja«, sagte sie, »es ist sicher.«

Er wollte seinen Ärger verbergen und etwas Liebes und Ermunterndes sagen, aber es fiel ihm nichts ein und ihr vorwurfsvolles Wesen reizte ihn. »So, dann fang bald an, Sachen zu nähen.« Das war alles, woran er dachte. Nicht an sie, ihre Sorge und Angst! Nun war sie wirklich ärgerlich. Das Verlangen, mit dem sie die ganze Zeit gekämpft hatte, ihre Hand auf seinen Arm zu legen, war geschwunden. Sie drehte sich wortlos um und ging ins Laboratorium.

Es war primitiv genug eingerichtet, aber man konnte drin arbeiten. Bei der Flucht von Kaifong hatte die naturwissenschaftliche Fakultät neben einer Anzahl von Lehrbüchern auch den Großteil der chemischen Materialien retten können. Auf rohen Holzbrettern standen die Reagenzgläser in Reih und Glied, auf Spiritusbrennern und über Holzkohlenbecken wurde destilliert. Amerikanische oder europäische Maßstäbe durfte man wohl nicht anlegen, aber die wichtigsten Versuche und Analysen ließen sich ausführen. Und was an Material fehlte, machte der Eifer und das Interesse der Studenten an improvisierten Geräten wett.

Wang hatte nun frei und ging langsam durch die herbstkahlen Reisfelder zum Ih-Fluß. Es tat ihm leid, daß Ssu-meh gekränkt war.