Alica Ryba, Gerhard Roth (Hrsg.)

Coaching und Beratung in der Praxis

Ein neurowissenschaftlich fundiertes
Integrationsmodell

Klett-Cotta

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Klett-Cotta

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Cover: Rothfos und Gabler, Hamburg

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96215-4

E-Book: ISBN 978-3-608-11095-1

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20396-7

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Einleitung

Coaching erlebt seit Jahren einen weltweiten Aufschwung und ist aus vielen Bereichen unseres beruflichen und privaten Lebens nicht mehr wegzudenken. Seit 2002 hat in Deutschland eine Phase vertiefter Professionalisierung eingesetzt, um dem Container-Begriff des Coaching ein seriöses Fundament zu geben (Böning, 2005). Im Rahmen der diesbezüglich geführten Debatte kommt der Wirksamkeitsforschung eine wichtige Rolle zu. Nach Auswertung von vier Metaanalysen kommen Kotte et al. (2016) zu dem Schluss: »Coaching insgesamt wirkt, aber es wirkt nicht immer.«

Die meisten Coaches gehen eklektisch vor und kombinieren verschiedene Methoden aus unterschiedlichen Psychotherapieschulen. Ziel dabei ist, die Wirksamkeit und Effizienz ihrer Intervention zu erhöhen, indem der Klient ein auf seine Bedürfnisse zugeschnittenes Beratungsangebot erhält. Dies wird von ihnen als ein erfolgsorientiertes und flexibles Vorgehen betrachtet. Der Eklektizismus wird jedoch häufig als ein konzeptloses Herausnehmen und Vermischen unterschiedlicher Techniken kritisiert, dem weder ein theoretischer Hintergrund noch ein Menschenbild zugrunde liegt.

So erscheinen dem nüchternen Betrachter viele Coaching-Angebote weder konzeptbasiert noch empirisch überprüft. Manche Angebote können zwar durchaus Wirksamkeit vorweisen, besitzen aber kein wissenschaftlich fundiertes Konzept einschließlich eines Erklärungsmodells für den Erfolg ihrer Interventionen. Wünschenswert ist beides – eine wissenschaftliche Fundierung und ein Wirkungsnachweis, der internationalen Standards genügt.

Vor diesem Hintergrund haben wir, Alica Ryba und Gerhard Roth, im Jahr 2016 unser Buch »Coaching, Beratung und Gehirn – Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte« vorgelegt, in dem wir nach Analyse gängiger Coaching- und Psychotherapiekonzepte die Grundlagen eines integrativen und wissenschaftlich fundierten Coaching zu umreißen versuchten (vgl. Kapitel 1.1 – Zusammenfassung). Im Zentrum standen dabei unser »Vier-Ebenen-Modell« von Gehirn und Psyche und das Modell der sechs psychoneuralen Grundsysteme, die zusammen von uns inzwischen »Transformationsmodell« genannt werden (siehe Kapitel 3.1), und die entsprechenden Schlussfolgerungen für das Coaching.

Unser Buch hat in den zwei Jahren nach seinem Erscheinen eine sehr günstige Aufnahme erfahren, aber es besteht die Notwendigkeit einer weiteren positiv-kritischen Diskussion. Wir sehen die für wirksames Coaching zentrale Herausforderung darin, eine effektive Integration der verschiedenen Interventionen auf Basis einer kohärenten Theorie zu entwickeln. Hierfür bieten sich neurowissenschaftliche Erkenntnisse hervorragend an.

Ein solcher integrativer Ansatz wird nicht nur im Coaching, sondern auch in der Psychotherapie in Überwindung »schulischen« Denkens seit längerem gefordert, z.B. von Klaus Grawe (2004), ist aber nur mit erheblichem kritischen Aufwand zu erreichen. Eine wissenschaftliche Fundierung besteht in einem konsistenten Erklärungsmodell für die Ursachen und Gründe der Probleme, die durch Coachingmaßnahmen behoben werden sollen, sowie für die genauen Wirkungsweisen der Maßnahmen. Grundaussage unseres Buches war und ist, dass Coaching-Maßnahmen einen hohen Grad an Passung hinsichtlich der Persönlichkeit des Klienten, der Art und Stärke seiner Defizite sowie seiner Ressourcen und deren Vorgeschichte haben müssen. Kurz gesagt: Vieles wirkt, aber nicht bei jeder Person und bei allen Problemen. Coaching muss deshalb in seinen Maßnahmen stets sehr flexibel vorgehen.

Ein wichtiger Diskussionspunkt betrifft die Frage, wie Coaching sich von Psychotherapie unterscheidet. Manche Coaches vertreten die Auffassung, Coaching sei etwas für Gesunde und ziele vornehmlich auf berufliche Probleme und Tätigkeiten ab. Psychotherapie habe hingegen mit Belastungen und Störungen von Persönlichkeit und Psyche zu tun. Eine solche scharfe Abgrenzung nach Gesundheit und Krankheit trifft jedoch auf zahlreiche begriffliche und praktische Schwierigkeiten. De facto zeigt sich, dass es einen großen Überschneidungsbereich der beiden Beratungsverfahren gibt. Thematisch rücken im Coaching die Wechselwirkungen zwischen Personen und ihrer Professions- und Organisationswelt in den Fokus. Genau dies macht den besonderen Mehrwert dieses Beratungsformates aus. Rein geschäftliche Themen werden in diesem Rahmen somit selten bearbeitet, ebenso wenig wie schwere psychische Störungen. Aber das große Kontinuum der arbeitsbezogenen Probleme zwischen diesen beiden Polen ist Thema des Coaching. Die Persönlichkeit des Klienten spielt dabei eine große Rolle, auch wenn andere Faktoren auf individueller, Team- und Organisationsebene relevant sein können.

In Unternehmen und Verwaltungen haben scheinbar rein organisatorische Probleme nahezu immer auch mit Personen und Persönlichkeiten zu tun, mit den Einstellungen, Verhaltensweisen und Motiven der Vorgesetzten sowie Mitarbeitern. Jede soziale Interaktion und Kommunikation wird bestimmt von der Persönlichkeit der Beteiligten. Selbst beim Wunsch einer Leistungssteigerung kommt der Coach nicht umhin, sich mit der Persönlichkeit, der Befindlichkeit und Motivationslage des Klienten hinreichend zu befassen. Natürlich kann die Persönlichkeit im Coaching stärker oder weniger deutlich im Vordergrund stehen, aber ganz ohne ihre Berücksichtigung kommt kein Coaching aus.

Es ist deshalb für ein fundiertes Coaching-Konzept erforderlich, hinreichend Kenntnisse darüber zu haben, wie sich Persönlichkeiten in ihrer Vielfalt entwickeln, von welchen wichtigen Faktoren dies abhängt und wie und in welchem Maße man die Persönlichkeit eines Menschen als Privatperson und als beruflichen Partner ändern kann.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich Neurowissenschaftler bemüht, in enger Zusammenarbeit mit Persönlichkeits-, Entwicklungs- und Sozialpsychologen, Psychiatern und Psychotherapeuten die neurobiologischen Grundlagen der Entwicklung der Persönlichkeit und Psyche und damit auch die Möglichkeiten und Grenzen der Veränderbarkeit des Fühlens, Denkens und Handelns zu erkennen. Dazu liegt inzwischen eine kaum mehr überschaubare und oft schwer verständliche Fachliteratur vor, was erklärt, dass diese Erkenntnisse bisher nur wenig Eingang in das Coaching gefunden haben. Bisherige Versuche eines »Neuro-Coaching« wurden fast ausschließlich von Nicht-Neurobiologen vorgenommen und können deshalb kaum einer wissenschaftlichen Fundierung des Coaching dienen.

Ein damit zusammenhängender Diskussionspunkt ist der Rückgriff auf Erklärungsmodelle und Verfahren der Psychotherapie. Diese wurden hinsichtlich ihrer Wirksamkeit in den vergangenen zwei Jahrzehnten einer rigorosen Überprüfung unterzogen. Die Wirksamkeitsstudien betreffen folgende Punkte:

(1)
Psychotherapie wirkt, allerdings weniger, als jeweils angegeben. Über alles hinweg wirken psychotherapeutische Maßnahmen bei einem Drittel der Patienten gut und langfristig, bei einem weiteren Drittel nur mäßig bzw. nicht langfristig, und beim letzten Drittel überhaupt nicht. Dies ist im Übrigen bei der Pharmakotherapie genauso.
(2)
Zwischen den unterschiedlichen Richtungen gibt es über alles hinweg keinerlei Wirksamkeitsunterschiede, d.h. je nach Patient, Störung und Lebensumständen ist das eine Verfahren im Vergleich zu anderen wirksamer oder weniger wirksam bis unwirksam.
(3)
Psychotherapeutische Verfahren müssen auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen, nämlich auf der Ebene des subjektiven Erlebens, des Verhaltens und der Körperbefindlichkeit.
(4)
Ein wichtiger Wirkungsfaktor – und oft der wichtigste – ist das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Therapeut, »therapeutische Allianz« genannt. In diesem Zusammenhang ist anstelle von rein kognitiven und rein gesprächsorientierten Verfahren die Ausrichtung auf Emotionen, Bindung und Empathie zentral.

Für das Coaching sind diese Erkenntnisse sehr bedeutsam, denn sie stellen ein starkes Plädoyer dar für ein integratives und individualisiertes Vorgehen auf den unterschiedlichen Ebenen, auf denen sich die Defizite und Störungen manifestieren (Erleben, Verhalten, Körper). Wir haben den Eindruck, dass das vorliegende Buch einen wichtigen Schritt in diese Richtung darstellt. Dabei ist uns bewusst, dass unser Fokus auf die Persönlichkeitsentwicklung des Klienten gerichtet ist.

Das Entwickeln einer integrativen Theorie ist ein anspruchsvoller und kontinuierlicher Prozess – wir möchten uns bedanken bei all denjenigen Denkern, auf denen unsere Arbeit aufbaut, und um Nachsicht bitten bei all jenen, deren Theorien wir nicht verarbeitet haben.

Wir haben uns entschlossen, verschiedene CoachingexpertInnen zu Wort kommen zu lassen, um einen integrativen Diskurs mit neurowissenschaftlichem Bezugsmodell anzuregen. Außerdem war es uns ein Anliegen, neben einer theoretischen Weiterentwicklung auch eine erste »Übersetzung« in praktische Interventionen zu liefern. Das Buch gliedert sich somit grob in einen schwerpunktmäßig theoretischen Einführungsteil und einen praxisorientierten Teil, in dessen Zentrum die verschiedenen Coachingansätze stehen, welche aus neurowissenschaftlicher Perspektive kommentiert werden.

Der Einführungsteil startet mit einer kurzen Zusammenfassung der wesentlichen Konzepte aus unserem Buch »Coaching, Beratung und Gehirn«. Das von uns vertretene Grundkonzept eines neurobiologisch fundierten Coaching, das Transformationsmodell, umfasst die psychodynamische Grundüberzeugung, dass dem bewussten Erleben und Tun unbewusste und vorbewusste Geschehnisse zugrunde liegen. Deswegen schließt sich an den Einführungstext ein Beitrag von uns, der den Begriff des Unbewussten beleuchtet und verschiedene Zugänge aufzeigt. Dieser dient darüber hinaus als Orientierung, um den Begriff des Unbewussten in den folgenden Beiträgen der anderen Autoren besser einordnen zu können.

Wir freuen uns, dass Klaus Eidenschink im Anschluss seine integrative Metatheorie der Veränderung darstellt. Diese identifiziert veränderungswirksame Faktoren in den jeweiligen Coaching- und Psychotherapieansätzen vor dem Hintergrund einer psychodynamisch-systemtheoretischen Konzeption der Psyche.

Das Zürcher Ressourcen Modell, welches vor 25 Jahren als Selbstmanagement-Training entwickelt wurde, gilt als wichtige Theorie im Coaching, die nicht nur psychologische, sondern auch neurowissenschaftliche Erkenntnisse einbezieht. Wir schätzen es, dass Maja Storch und Julia Weber das ZRM in unserem Buch vorstellen und uns um eine kritische Stellungnahme gebeten haben.

Der Beitrag von Hansjörg Künzli gibt einen wertvollen Überblick über den Forschungsstand der Wirksamkeit des Coaching und liefert somit wichtige Hinweise für Theoretiker und Praktiker.

Als grundlegend für jede Coaching-Praxis betrachten wir die Diagnostik und das Beziehungsangebot des Coachs. Deswegen startet der praxisorientierte Teil mit einem Beitrag von Cord Benecke und Heidi Möller zum Thema OPD-basierter Diagnostik im Coaching. Die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) ist in unserem Konzept insofern von Bedeutung, als sie eine Anregung für das Vier-Ebenen-Modell der Persönlichkeit gegeben hat (siehe Kapitel 3.1).

Der Beitrag von Alica Ryba beleuchtet den Wirkfaktor Beziehung und versucht Praktikern erste Hinweise zu der Frage zu liefern, wie genau eine gute Beziehung im Coaching gefördert werden kann. Besonderer Dank gilt hier dem Gestalttherapeuten Frank Staemmler, der sich als Interviewpartner zur Verfügung gestellt und Einblick in seine Arbeit gewährt hat.

Kernstück des Buches ist die Darstellung und neurowissenschaftliche Kommentierung von unterschiedlichen Coachingschulen. Dazu haben wir VertreterInnen verschiedener Ansätze gebeten, ihre Vorgehensweise darzustellen und diese einer Stellungnahme durch uns auszusetzen. Dies erfordert Offenheit und Mut, weshalb wir den im vorliegenden Buch vertretenen AutorInnen außerordentlich dankbar für ihr Mitwirken sind! Selbstverständlich hatten sie Gelegenheit, unsere Stellungnahmen ihrerseits kritisch zu überprüfen.

Wir haben uns bemüht, die großen Entwicklungslinien der Psychotherapie- und Coachingansätze vorzustellen. So findet sich vor jedem dargestellten Coachingansatz eine kurze und systematische Einordnung in seine Historie durch Alica Ryba. Erst dann stellt der oder die jeweilige VertreterIn des Ansatzes diesen dar, wobei die praktischen Veränderungsmethoden einen besonderen Stellenwert einnehmen. Die jeweiligen Beiträge werden schließlich aus neurowissenschaftlicher Perspektive durch Gerhard Roth betrachtet. Folgende Coachingansätze werden auf diese Weise behandelt:

Psychodynamisches Coaching: Heidi Möller und Thomas Giernalczyk

Generatives Coaching: Eva Wieprecht interviewt von Alica Ryba

Schemacoaching: Anke Handrock und Maike Baumann

Transaktionsanalyse: Ulrich Dehner

Emotionsfokussiertes Coaching: Claas-Hinrich Lammers

Körperzentriertes Coaching: Alica Ryba und Gerhard Roth

Personzentrierte Systemtheorie: Jürgen Kriz

Lösungsfokussiertes Coaching: Marco Ronzani

Praktisch alle Beiträge zeigen eine deutliche Tendenz zu einem »schulenübergreifenden« Ansatz, was das traditionelle Schubladendenken bereits teilweise überwindet. Die Verbindung der jeweils dargestellten Konzepte mit den Erkenntnissen der Hirnforschung ist dort leichter, wo diese Konzepte, z.B. verhaltenstherapeutischer oder psychodynamischer Art, bereits über Brücken zu den Bio- und Neurowissenschaften verfügen. Schwieriger wird es bei den als wirksam nachgewiesenen Coachingverfahren, die eher geisteswissenschaftlich und/oder rein praxisorientiert sind, wie etwa die humanistischen Theorien (personzentrierte Therapie oder Gestalttherapie), die Hypnotherapie oder die körperzentrierte Therapie. Hier geht es darum, die jeweiligen Wirkungsweisen in möglichst plausibler Weise mit Prozessen im Nervensystem und Körper in Verbindung zu bringen. Insofern betreten wir hiermit Neuland.

Unser Buch schließt mit einer zusammenfassenden Weiterentwicklung unserer theoretischen Überlegungen sowie den Beiträgen der verschiedenen Autoren, welche in die Darstellung unseres Transformationsmodells münden. Mit diesem Modell möchten wir Coaches eine neurowissenschaftlich fundierte Grundlage für integratives, professionelles Handeln bieten. Jeder Coach kann damit seine eigene Praxis reflektieren und überprüfen, inwiefern er die drei Interventionsebenen Erleben, Verhalten und Körper in seine Beratung einbezieht. Die im Buch dargestellten Ansätze und Methoden liefern Anregungen, um den eigenen Methodenkoffer zu erweitern sowie das als wichtiger Wirkfaktor identifizierte Arbeitsbündnis zu fördern. Wir möchten zu einer vertieften Auseinandersetzung mit den einzelnen Ansätzen im Rahmen von Coaching-Weiterbildungen ermuntern, denn auch aus neurowissenschaftlicher Sicht gilt »Übung macht den Meister«. Das integrative Handeln ist anspruchsvoll und bedarf neben dieser mannigfaltigen Methodenkompetenz auch ein kohärentes theoretisches Modell, dessen Grundzüge wir in unseren beiden Büchern dargestellt haben. Wir wünschen unseren Lesern eine inspirierende Lektüre und freuen uns über Lob, Kritik und Anregungen.

Alica Ryba und Gerhard Roth

Literatur

Böning, U. (2005): Coaching: Der Siegeszug eines Personalentwicklungs-Instruments – Eine 15-Jahres-Bilanz. In: C. Rauen (Hrsg.), Handbuch Coaching (S. 21–54), 3., überarb. und erw. Aufl., Göttingen: Hogrefe

Grawe, K. (2004): Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe

Kotte, S., D. Hinn, K. Oellerich und H. Möller (2016): Der Stand der Coachingforschung: Kernergebnisse der vorliegenden Metaanalysen. Organisationsberatung – Supervision – Coaching 1: 5–23

Teil 1 – Theorie

1.1 Coaching, Beratung und Gehirn: Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte

Gerhard Roth und Alica Ryba

In dieser Einführung fassen wir wichtige Erkenntnisse und Konzepte aus unserem Buch »Coaching, Beratung und Gehirn« in komprimierter Form zusammen, um eine Grundlage für die folgenden Ausführungen bereitzustellen.

Welche Interventionen wirken und welche nicht? – Ergebnisse der Psychotherapie-Wirkungsforschung

Im Coaching findet eine Vielzahl von Interventionen Anwendung, die – wie eingangs erwähnt –, von Ausnahmen abgesehen, hinsichtlich ihrer Wirkung bisher nicht hinreichend empirisch überprüft worden sind. In dieser Situation empfehlen viele Coaching-Experten, sich an Interventionsformen anerkannter Psychotherapieverfahren zu orientieren, weil bei ihnen sowohl ein wissenschaftlich fundiertes Konzept als auch der Nachweis der tatsächlichen Wirksamkeit vorzuliegen scheint. Dabei muss allerdings gefragt werden, wie wissenschaftlich fundiert und in ihrer Wirkung belegt die psychotherapeutischen Richtlinienverfahren tatsächlich sind. Dies betrifft die Ergebnisse der Psychotherapie-Wirksamkeitsforschung, die inzwischen international einen hohen Standard erreicht hat. Diese beziehen sich allerdings nur auf Verfahren, die vom »Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie« als »wissenschaftlich nachgewiesene Verfahren« anerkannt wurden, nämlich die Verhaltenstherapie und die psychoanalytisch und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Man nennt sie deshalb auch »Richtlinien-Verfahren«.

Zusammengefasst zeigt sich ein recht differenziertes und ziemlich kritisches Bild (ausführlich in Roth und Strüber, 2018):

Besonders bemerkenswert ist, dass es zwischen den z.T. heftig miteinander konkurrierenden Richtlinien-Verfahren über alle Krankheiten, Patienten und Therapeuten und Behandlungen hinweg keine signifikanten Unterschiede gibt. Dies kann man folgendermaßen erklären:

Zahlreiche Untersuchungen zur Effektivität von Psychotherapien zeigen, dass bei allen Behandlungsweisen 30–70 %, zuweilen 100 % der Wirkung auf einen gemeinsamen und unspezifischen Faktor zurückzugehen. Nach Ansicht des Pioniers auf diesem Gebiet, des amerikanischen Psychiaters J. D. Frank (1961), kann man in diesem Zusammenhang drei Grundelemente einer erfolgreichen Behandlung erkennen:

Metaanalysen zur Wirksamkeit von Coaching zeigen ganz ähnliche Ergebnisse.

Der bekannte, 2005 verstorbene Psychotherapie-Forscher Klaus Grawe hat angesichts dieser kritischen Situation fünf Wirkfaktoren guter Psychotherapie herausgearbeitet, was auch vielen Beratungs- und Coaching-Theoretikern als Vorbild diente, aber leider bisher kaum in die Praxis einging, geschweige denn zu einem schulenübergreifenden Beratungsmodell geführt hat. Die entscheidenden Bestandteile sind folgende:

(1)
Therapeutische Allianz: Die Qualität der Beziehung zwischen Patient und Psychotherapeut trägt wesentlich zum Therapieverlauf und -ergebnis bei.
(2)
Ressourcenaktivierung: »Unter dem Begriff ›Ressourcen‹ werden alle Möglichkeiten subsumiert, die einem Menschen zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse zur Verfügung stehen« (Smith und Grawe, 2003, S. 111). Ressourcen beschreiben also die positiven Persönlichkeitsmerkmale und -erfahrungen eines Klienten, seine Entwicklungsmöglichkeiten, Motivationen und Fähigkeiten. Hierbei geht es etwa um Selbstwertgefühl, Orientierung und Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens, um Problembewältigung, Impulskontrolle, Selbstwirksamkeit, Erkennen der eigenen Motive und Ziele sowie um Bindungserfahrung.
(3)
Problemaktualisierung: Die Probleme, die in der Therapie verändert werden sollen, sollten unmittelbar erfahrbar sein. Therapeut und Patient suchen daher reale Problemsituationen auf oder aktualisieren erlebnismäßig die Probleme durch besondere Techniken wie intensives Erzählen, Imaginationsübungen, Rollenspiele.
(4)
Motivationale Klärung: Die Therapie erreicht mit geeigneten Maßnahmen, dass der Patient ein Bewusstsein der Ursprünge und Hintergründe sowie der aufrechterhaltenden Faktoren seines problematischen Erlebens und Verhaltens gewinnt – allerdings als Ermutigung und nicht als doktrinäre »Aufklärung«.
(5)
Problembewältigung: Die Behandlung unterstützt den Patienten direkt oder indirekt mit problemspezifischen Maßnahmen darin, wiederholt positive Bewältigungserfahrungen im Umgang mit seinen Problemen zu machen. Dabei handelt es sich überwiegend um prozedurales, d.h. auf Einübung beruhendes Lernen. Dadurch werden alte Gewohnheiten zugeschüttet und neue Gewohnheiten entstehen.

Welche Faktoren bestimmen aus neurowissenschaftlicher Sicht unsere Persönlichkeit und Psyche?

Bei jedem Coaching und jeder Psychotherapie muss die Persönlichkeit der Menschen bei der Intervention berücksichtigt werden – gleichgültig, ob es sich um private oder berufliche Dinge handelt. Eine wissenschaftlich fundierte Kenntnis über die bedingenden Faktoren unserer Persönlichkeit und Psyche und ihre Veränderbarkeit ist deshalb dringend erforderlich.

Über lange Zeit war in Philosophie, Psychologie und den Verhaltenswissenschaften die Frage danach heftig umstritten. Es standen sich zwei Lager gegenüber, die entweder die »Anlagen« oder die »Umwelt« als entscheidende Faktoren ansahen. Dieser Streit hat sich zumindest im Prinzip erledigt, denn es hat sich herausgestellt, dass bei unterschiedlichen Bereichen der Persönlichkeit und der Psyche eine unterschiedliche Wechselwirkung von Anlage- und von Umweltfaktoren vorliegt. Es handelt sich dabei um folgende Faktoren:

Genetische und epigenetische, d.h. genregulatorische Mechanismen. Während Erstere sich nur über Tausende von Jahren ändern, können epigenetische Änderungen von einer Generation zur anderen spontan auftreten oder durch bestimmte Umwelteinflusse vorgeburtlich oder nachgeburtlich hervorgerufen sein. Unter bestimmten Bedingungen können sie auch vererbt werden.

Vorgeburtliche physiologisch-hormonale Beeinflussungen des Gehirns und Körpers des Fötus durch Gehirn und Körper der werdenden Mutter. Der Fötus ist über Blutbahn, Plazenta und Nabelschnur mit dem Kreislauf und dem Gehirn der Mutter verbunden. Hierüber gelangen bestimmte hormonale Signale, z.B. Stress- und Sexualhormone, vom mütterlichen Gehirn in das des Fötus und können dessen Entwicklung verändern. Dabei kann es im negativen Fall zu tiefgreifenden Störungen der fötalen Entwicklung kommen, etwa wenn die Mutter während der Schwangerschaft oder vorher schwer traumatisiert wurde. Auch dies kann unter Umständen vererbt werden.

Frühe nachgeburtliche Einwirkungen der Umwelt, insbesondere hinsichtlich der Qualität der frühen Bindungserfahrungen und der frühen Sozialisierung. Diese greifen über das Verhalten der primären Bezugsperson tief in die Hirnentwicklung des Säuglings und Kleinkindes ein und können entscheidende Weichen der Persönlichkeitsentwicklung stellen.

Umwelteinflüsse und Erfahrungen in späterer Kindheit, Jugend und im Erwachsenenalter. Solche Einflüsse kommen aus der Familie, dem Kindergarten und der Schule sowie der sozialen Umgebung im Jugend- und Erwachsenenalter. Diese Einflüsse sind weniger prägend als die vorgeburtlichen und früh nachgeburtlichen Einflüsse.