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Mark Schweda

Joachim Ritter und die Ritter-Schule
zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Ina Kerner, Berlin
Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2015 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: © picture alliance

E-Book-Ausgabe Januar 2019

ISBN 978-3-96060-085-5

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-708-5

1. Auflage 2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.

Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Ina Kerner
Dieter Thomä

Inhalt

1.Einleitung: Zwischen »Neokonservatismus« und »Neuer Bürgerlichkeit«

2.Joachim Ritter

2.1 Theorie der Moderne im Zeichen der Entzweiung

2.2 Bürgerliches Leben und praktische Philosophie

2.3 Hermeneutik der geschichtlichen Wirklichkeit

3.Das »Collegium Philosophicum« und die »Ritter-Schule«

3.1 Die »Ritter’sche Rechte«: Versöhnung durch Religion und Nation

3.2 Die »Ritter’sche Linke«: Versöhnung durch Emanzipation

3.3 Die »Ritter’sche Mitte«: Entzweiung und Kompensation

3.3.1 Hermann Lübbe: Kulturphilosophie der modernen Zivilisationsdynamik

3.3.2 Odo Marquard: Skeptische Apologie moderner Bürgerlichkeit

3.3.3 Robert Spaemann: Rückbindung der Moderne an die metaphysische Tradition

3.3.4 Ernst-Wolfgang Böckenförde und Martin Kriele: Grundlagen des modernen Rechtsstaates

4.Schluss: »Normalphilosophie der Bundesrepublik«?

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Zeittafel

Über den Autor

1. Einleitung: Zwischen »Neokonservatismus« und »Neuer Bügerlichkeit«

Seit einigen Jahren findet die »Ritter-Schule« in Philosophie, Politikwissenschaft und Geschichtsschreibung zunehmend Beachtung. Der Kreis um den Münsteraner Philosophen Joachim Ritter wird als »ein Zentrum der jüngeren Geistesgeschichte« (Wenzel 2013) entdeckt und in seinen weit verzweigten gedanklichen Verbindungs- und Wirkungslinien unter die Lupe genommen. Insbesondere der Beitrag Ritters und seiner Schüler zur »intellektuellen Begründung der Bundesrepublik« (Hacke 2006: 9) erfährt heute weithin Anerkennung. Inzwischen werden ihre theoretischen Ansätze aber auch verstärkt auf ihre Bedeutung für aktuelle Debatten abgeklopft.1

Zweifellos zählt Joachim Ritter (1903–1974) zu den prägenden Gründergestalten und Einflussgrößen im geistigen Leben der Nachkriegszeit. Von ihm gingen wichtige Beiträge zur philosophischen Auseinandersetzung der 1950er und 1960er Jahre aus, etwa zur Deutung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, der Erneuerung der praktischen Philosophie oder der Aufgabe theoretischer Bildung in der modernen Industriegesellschaft. Darüber hinaus hat sein hochschul- und wissenschaftspolitischer Einsatz sowohl den Wiederaufbau universitärer Strukturen nach dem Krieg als auch ihre Reform im Laufe der folgenden Jahrzehnte mit getragen und so auch die institutionelle Verfassung akademischer Forschung und Lehre nachhaltig geprägt. Aus Ritters Münsteraner »Collegium Philosophicum« sind einige der bedeutendsten Wissenschaftler und Intellektuellen des Landes hervorgegangen. Philosophen wie Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann, Juristen wie Ernst-Wolfgang Böckenförde und Martin Kriele, Theologen wie Trutz Rendtorff und Ludger Oeing-Hanhoff, aber etwa auch der Soziologe Wolf Lepenies, der Historiker Rudolf Vierhaus oder der Kunstwissenschaftler Max Imdahl haben die Entwicklung in ihren jeweiligen Fachgebieten maßgeblich mit bestimmt. Mit dem monumentalen Historischen Wörterbuch der Philosophie hat der Kreis eine der ambitioniertesten philosophischen Unternehmungen des 20. Jahrhunderts auf den Weg gebracht und so eine mittlerweile unentbehrliche Grundlage geisteswissenschaftlicher Arbeit geschaffen. Einige von Ritters Schülern wirkten als Publizisten und Sachverständige, in politischen Ämtern und hochschulpolitischen Gremien, im Rechtswesen oder in kirchlichem Auftrag zum Teil weit über den akademischen Wissenschaftsbetrieb hinaus und in die breitere Öffentlichkeit hinein.

Lange wurde das Bild der »Ritter-Schule« überlagert von den heftigen politischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit, dem Aufruhr der Republik um das Jahr 1968 und seinen Nachbeben in den Kontroversen um »Vergangenheitsbewältigung«, »Systemüberwindung« oder »Tendenzwende«. So sprach Jürgen Habermas mit Blick auf Ritter und seine Schüler von einem rechtshegelianisch fundierten Neokonservativismus, der aus fragwürdigen Traditionsbeständen schöpfe und auch bloß eine »halbherzige Aussöhnung mit der Moderne« (1982: 40) zustande bringe: die »Verbindung der affirmativen Einstellung zur gesellschaftlichen Moderne mit einer gleichzeitigen Abwertung der kulturellen Moderne« (1985: 90). Die Konservativen der Bonner Republik hätten im Unterschied zu denen der Weimarer Zeit zwar ihren Frieden mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt, der industriekapitalistischen Wirtschaftsdynamik und dem demokratischen Rechtsstaat gemacht. Allerdings hätten sie entsprechende Modernisierungserscheinungen im Bereich der Kultur weiterhin abgelehnt, insbesondere die Auflösung traditioneller sozialer Bindungs- und Integrationskräfte wie Religion und Sittlichkeit mitsamt der einhergehenden gesellschaftlichen Individualisierung und Diversifikation. Damit erschienen die Positionen der »Ritter-Schule« als spezifisch deutsche Spielart eines weltweit an Auftrieb gewinnenden politischen Denkens, das dem Siegeszug von »Thatcherismus« und »Reaganomics« in den 1980er Jahren die theoretische Blaupause für die liberalistische Deregulierung von Wissenschaft, Technik und Ökonomie bei gleichzeitiger Restauration traditioneller Wertorientierungen auf gesellschafts-, kultur- und erziehungspolitischem Gebiet lieferte.2 Dieses ideologiekritische Schema erwies sich als äußerst einflussreich. Besonders im Umkreis der Kritischen Theorie galt die »Ritter-Schule« als Ansammlung biedermeierlicher Spießbürger und Kalter Krieger, die das öffentliche Bewusstsein auf den Stand von Adenauerära und Wirtschaftswunderzeit zurückzudrehen suchten. In der Folge wurden ihre Positionen als »intellektuell unerhebliches Reaktionsphänomen« (Habermas 1977: 368) abgetan, als Ausdruck eines modernitätsfeindlichen »Neoaristotelismus« (Schnädelbach 1992: 207) beargwöhnt oder als Programm der »ethischen Gegenaufklärung« (Tugendhat 1993: 197) gebrandmarkt.

Unterdessen haben sich die Vorzeichen grundlegend gewandelt. Die erhitzten politischen und intellektuellen Gefechte um 1968 gehören der Vergangenheit an. Im historischen Rückblick machen polemisch überzeichnete Feindbilder und Frontlinien einer sachlichen, differenzierten Auseinandersetzung Platz. Im Zuge der ideengeschichtlichen Bilanzierung der »alten« Bundesrepublik finden auch Joachim Ritter und seine Schüler zunehmend Aufmerksamkeit. Dabei wird vor allem die Bedeutung der »Ritter-Schule« für die »liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik« (Hacke 2006) hervorgehoben. In einer Zeit, da die intellektuelle Verachtung des »Provisoriums BRD« noch an der Tagesordnung war – sei es als Verfallsform einer substanzielleren »Volksgemeinschaft« und Staatsordnung aufseiten der Rechten, sei es als Vorstufe einer künftig zu errichtenden herrschaftsfreien und klassenlosen Gesellschaft auf der Linken –, haben Ritter und seine Schüler einen grundlegenden Beitrag zur Selbstverständigung des jungen Gemeinwesens als moderne Industriegesellschaft und demokratischer Rechtsstaat geleistet. Angesichts landläufiger Abwertungen als »Staat ohne geistigen Schatten« (R. Altmann) oder »spätkapitalistisches System« (J. Habermas) haben sie die geistigen Grundlagen der freiheitlich-demokratischen Ordnung durchbuchstabiert und so geradezu die »›Normalphilosophie‹ der Bundesrepublik« (Ottmann 2015: 44) ausformuliert. Mittlerweile finden die dabei entwickelten Ansätze auch zunehmend systematische Beachtung, etwa im Zeichen aktueller Debatten um Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement3, die Bedeutung der Geschichte4 oder die »Rückkehr der Religion«5.

Vor diesem Hintergrund bietet der vorliegende Band eine Einführung zu Joachim Ritter und seinen Schülern. Sein Augenmerk liegt auf den theoretischen Ansätzen und Standpunkten. Allerdings ist das Denken der »Ritter-Schule« eng mit den gesellschaftlich-politischen Entwicklungen und Auseinandersetzungen ihrer Zeit verflochten. Deshalb sind seine systematischen Gehalte stets auch im zeitgeschichtlichen Horizont zu betrachten. Der erste Abschnitt nimmt Ritter selbst in den Blick und umreißt seine philosophische Theorie der Moderne, in der sich theoretische und praktische Philosophie, »Metaphysik« und »Politik« zu einer »Hermeneutik der geschichtlichen Wirklichkeit« verbinden.6 Die folgenden Kapitel zeichnen an ausgewählten Beispielen einige der Wege nach, auf denen sich die Entwicklung zentraler theoretischer Ansätze und Motive im Kreis seiner Schüler vollzogen hat. Sie zeigen dabei auf, dass deren Bedeutung keineswegs in der staatstragenden Rolle einer liberal-konservativen Verteidigung der Bundesrepublik aufgeht. Zur Affirmation der freiheitlichdemokratischen Grundordnung bei Hermann Lübbe, Odo Marquard, Robert Spaemann, Ernst-Wolfgang Böckenförde und Martin Kriele gehört ihre Kritik unter konservativen bzw. progressiven Vorzeichen bei Günter Rohrmoser oder Bernard Willms auf der einen und Jürgen Seifert oder Hans Jörg Sandkühler auf der anderen Seite. Entsprechend ist der Begriff der »Ritter-Schule« präziser zu fassen und ihre Rolle in der jüngeren Geistesgeschichte differenzierter zu betrachten. Im Zuge dessen ergeben sich auch vielfältige Bezüge zu zeitgenössischen Debatten, etwa um die historische Ortsbestimmung der Gegenwart zwischen Moderne, »Zweiter Moderne« und Postmoderne, die moralischen Grundlagen moderner Gemeinwesen zwischen Liberalismus und Kommunitarismus oder die Zukunft der Philosophie im Zeitalter der modernen Wissenschaften.

2. Joachim Ritter

Joachim Ritter wurde am 3. April 1903 als Sohn eines renommierten Lungenarztes in Geesthacht bei Hamburg geboren. Beide Großväter waren evangelische Theologen, ein Urgroßvater Rechtsprofessor in Halle.7 Man wird sich das nähere Umfeld gehoben bildungsbürgerlich vorzustellen haben, allerdings mit kulturprotestantisch-progressivem Einschlag. Die Bevölkerung am Industriestandort Geesthacht war durch einen hohen Anteil an Arbeitern geprägt, deren Lage sich infolge der Stilllegung der örtlichen Pulverfabriken nach dem Ersten Weltkrieg dramatisch verschlechterte. Soziale Unruhen und gewalttätige Ausschreitungen nahmen im Laufe der 1920er Jahre stark zu, und auch beim jungen Ritter scheinen das proletarische Elend und die politische Polarisierung einen tiefen Eindruck hinterlassen zu haben.

Ab 1921 studierte Ritter Philosophie, Theologie, Deutsch und Geschichte in Heidelberg, Marburg, Freiburg und Hamburg. Gerade auf dem Gebiet der Philosophie war die Szenerie damals durch eine spannungsreiche Konstellation unterschiedlicher Schulen und weltanschaulicher Strömungen bestimmt.8 Zum einen war das Fach nach dem »Zusammenbruch des Deutschen Idealismus« (P. Ernst) und dem Siegeszug der modernen, positiven Wissenschaften in eine Identitätskrise geraten, in der sein traditionelles Selbstverständnis und sein angestammter akademischer Stellenwert brüchig zu werden begannen. Zum anderen warfen die Erschütterungen des Krieges und die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwälzungen der Folgezeit Fragen auf, die den Rahmen der etablierten, historisch bzw. naturwissenschaftlich ausgerichteten Universitätsphilosophie zu sprengen schienen. In Abkehr vom vorherrschenden Neukantianismus suchte man in anthropologischen, lebens- und existenzphilosophischen Neuansätzen allenthalben den Anschluss an das konkrete, geschichtlich verwurzelte Leben und Erleben und die Ausrichtung auf umfassende metaphysische Sinnhorizonte zurückzugewinnen.9

Bereits in seiner Studienzeit bewegte sich Ritter zwischen den Fronten dieser Kontroversen. So kam er in Gestalt von Erich Rothacker, Heinz Heimsoeth und Martin Heidegger früh mit jenen Bestrebungen in Berührung, die im Namen des Seins, des Lebens oder der Geschichte den Aufbruch zu gedanklich neuen Ufern suchten. Zum Abschluss seines Studiums – mit einer Arbeit über Nicolaus Cusanus’ Theorie des Nichtwissens (DoI)10 – ging er dagegen zu Ernst Cassirer nach Hamburg, der damals als einer der avanciertesten Vertreter des Marburger Neukantianismus galt. Die legendäre Davoser Disputation zwischen Cassirer und Heidegger im Jahr 1929, die Ritter als Assistent des Ersteren mit protokollierte,11 markierte so geradezu das Spannungsfeld, in dem sich auch seine eigene philosophische Selbstverständigung vollzog. Wie in einem Brennpunkt schienen sich die antagonistischen Tendenzen der Zeit hier im Aufeinandertreffen zweier in persönlichem Auftreten und theoretischem Standpunkt grundverschiedener Denker zu verdichten: einerseits ein transzendentalphilosophischer Ansatz in der Tradition des Neukantianismus, der stets davon ausgegangen war, dass Wirklichkeit nur durch Vermittlung einer »daseinsunabhängigen logischen Vernunft« (ErG 212) zugänglich wird, und daher die erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretische Analyse dieser Vernunft für philosophisch grundlegend hielt; andererseits die gegenläufigen »metaphysischen Tendenzen«, die die »Frage nach dem Seinsgrund der Erkenntnis« und dem »lebensgebundenen geschichtlichen Ursprung ihrer Prinzipien und Formen« (209) aufwarfen, um die Philosophie in einer anthropologischen, lebens- oder existenzphilosophischen Auffassung menschlichen Daseins neu zu fundieren. Dabei war sich Ritter bewusst, dass beide Positionen im aufgeladenen intellektuellen Klima der späten Weimarer Republik auch zeitdiagnostische und politische Akzente erhielten. So stand die Betonung des Geistigen aus Sicht ihrer Gegner für eine Entfremdung vom Leben, den Zustand einer Kultur, die unter dem »fremden« Einfluss der »westlichen« Aufklärung ihre ursprüngliche Vitalität und Authentizität eingebüßt hatte und in sterilem Rationalismus und Szientismus zu erstarren drohte.12 Dagegen wurde die Beschwörung des Lebens aufseiten der akademisch etablierten Philosophie als Ausdruck eines regressiven Zeitgeists verurteilt, der geneigt zu sein schien, die formale und prozedurale Rationalität wissenschaftlicher Erkenntnis und technischer Verfahren, aber auch liberaler Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Willensbildung, einem Bedürfnis nach weltanschaulich gehaltvoller Sinnstiftung zu opfern.13

Tatsächlich blieb Cassirer vielen Beobachtern in Davos bloß als gediegener Repräsentant einer längst zerfallenden bürgerlichhumanistischen Bildungstradition in Erinnerung, der forsch auftretende Heidegger hingegen als Exponent des Neuen, der jungen Generation und ihrer existenziellen Fragen und Anliegen.14 Ritter selbst stand damals allerdings ganz entschieden auf der Seite seines Lehrers. Er kritisierte Heideggers Ansatz als den einer »anthropologischen Metaphysik« (SiG 45), die die subjektive Perspektive des Einzelnen zum letzten Maßstab erhebt, ohne ihre gesellschaftliche und historische Bedingtheit zu reflektieren. Mit dieser »Absolutsetzung des eigenen Ich« werde wissenschaftliche und philosophische Erkenntnis einer »existentiellen Entscheidung« untergeordnet und so der rationalen Auseinandersetzung entzogen, was »zur Skepsis, zum Subjektivismus und Mystizismus« (58f.) führe. Im Sinne Cassirers hielt Ritter dagegen, »daß nicht der Geist ein Phänomen des menschlichen Lebens ist, sondern umgekehrt das Phänomen des menschlichen Lebens auf der Geistigkeit […] beruht« (ErC 597). Damit wurde der Intellekt auf der Linie der klassischen humanistischen Tradition als der wesentliche Zug des Menschen begriffen und die moderne Wissenschaft zu seiner maßgeblichen zeitgenössischen Ausdrucksform erklärt. Die Philosophie dürfe sich keinesfalls von ihr abwenden, um ihr Heil im Weltanschaulichen zu suchen, forderte Ritter noch im Februar 1933 in seiner Antrittsvorlesung als Privatdozent in Hamburg. Ihre Aufgabe sei es, »gegenüber allem spekulativen, […] mystischen und subjektivistischen Denken den Sinn der objektiven Erkenntnis, der rationalen Klarheit und die Erweiterung unserer wissenschaftlichen Erfahrung zu sichern« (SiG 61).

Etwa zur gleichen Zeit begann Ritter, diesen Begriff von Philosophie als kritischer Wissenschaftstheorie auf den Spuren von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen in historische und sozialwissenschaftliche Überlegungen einzubetten.15 Dabei schien er noch einen Schritt über seinen Lehrer hinauszugehen und so bald auch an gewisse Grenzen der »idealistischen Position« (ErC 596) als solcher zu stoßen. War er anfangs mit Cassirer von der »Unableitbarkeit der symbolischen Ausdrucks-, Darstellungsund Bedeutungsform der geistigen Reflexion aus dem unmittelbaren Wirk- und Lebenszusammenhang« (600) ausgegangen, so räumte er jedenfalls wenig später unter dem Eindruck von Diltheys geistesgeschichtlichen Studien und den sozialwissenschaftlichen Forschungen der Durkheim-Schule ein, dass die »ganze Welt der Bewußtseins- und Wissensformen als konkrete, lebendige, gegenwärtige oder historisch vergangene Zeitlichkeit mit dem gesellschaftlich-geschichtlichen Leben selbst verflochten« (ErG 214) ist. Man müsse »den Bereich des Erkennens selbst überschreiten« und »seine Verwurzelung im Realgeschehen […] verstehen«, um die Verschiedenheit der Formen menschlichen Weltauffassens zu erklären und die »Frage nach dem Ursprung« und »dem Grund ihrer Ausbildung« (215) zu beantworten. Ein Verständnis der geistigen Welt des Menschen in ihrer Vielgestaltigkeit und Veränderlichkeit erfordere mithin die »genaue und gründliche Erforschung der beobachtbaren Verflechtung von Bewußtsein und Gesellschaft« (232). Im Zuge dieser Verortung des Geistes in seinen gesellschaftlich-geschichtlichen Zusammenhängen stellte sich freilich unweigerlich auch das Problem des historischen und kulturellen Relativismus: Gemäß dem traditionellen Selbstverständnis der Philosophie schien die »Gebundenheit aller Weltanschauung an ihre begrenzte Lebenswelt« auf einen »inneren Widerspruch« ihrer »wesentlich totale Gültigkeit beanspruchenden Systeme« (WiD 22) hinauszulaufen.

Während Ritter die Kontextualisierung des Geistigen weiter verfolgte und dabei den transzendentalen Idealismus seines Lehrers hinter sich ließ, ohne dessen humanistische, rationalistische und universalistische Anliegen preiszugeben, kam er auch mit den Schriften von Karl Marx in Berührung.16 In Hamburg nahm er 1931 an einem Gesprächskreis über Marx’ kurz zuvor aufgetauchte ökonomisch-philosophische Frühschriften teil. Dabei unterstrich er die Kontinuität der Marx’schen Theoriebildung zur philosophischen Tradition, fasste sie jedoch dialektisch: Statt »eine ewige Idee des menschlichen Seins der Wirklichkeit deutend unterzulegen«, habe Marx »den Ursprung, die Funktion und die […] Machtlosigkeit solcher metaphysischen Anthropologie« offengelegt und an deren Stelle »die Analyse […] der bürgerlichen Gesellschaft« gesetzt.17 Was der traditionellen Philosophie als das zeitlose Wesen des Menschen gelte, erweise sich so als gesellschaftlich geprägte und damit veränderliche Seinsweise. Für Ritter selbst lag darin auch eine Möglichkeit, die historische Bedingtheit allen menschlichen Denkens anzuerkennen, ohne sich in den Fallstricken des Relativismus zu verfangen. Marx eröffnete eine geschichtsphilosophische Perspektive, in der sich die Antithetik von Geist und Leben, Vernunft und Geschichte überwinden zu lassen schien. Er habe »den ewigen Widerspruch der Philosophie auf einen zeitlich-historischen Widerspruch zurückgeführt«, der »durch die menschliche Praxis aufzuheben« sei.18 Deutlich ging Ritters Interesse dabei über eine rein theoretische Beschäftigung hinaus. Die Marx’schen Thesen werden auch inhaltlich vertreten und auf kulturelle Entwicklungen der eigenen Zeit wie die »›Krise‹ der Bildung« (BiD 661) bezogen. Inwieweit solche Erwägungen mit direktem politischem Engagement einhergingen, ist im Rückblick freilich schwer zu beurteilen. Alfred Sohn-Rethel berichtet jedenfalls von Verbindungen zu illegalen sozialistischen Widerstandsgruppen. Ritter sei damals »ein sehr abenteuerlicher Junge« gewesen, der bis in die 1930er Jahre »auf einem Motorrad herumflitzte« und »engen Kontakt mit den Überresten des Hamburger Aufstands« (1979: 223f.) von 1923 hielt.

Mit der »Machtübernahme« der Nationalsozialisten begann für den aufstrebenden Akademiker, der noch Ende 1932 von Cassirer mit einer Arbeit zur Aufnahme und Umwandlung der neuplatonischen Ontologie bei Augustinus (MuI) habilitiert worden war, ein heikler Balanceakt zwischen innerer Distanz und äußerer Anpassung.19 Wegen der Nähe zu Cassirer, seiner ersten Ehe mit dessen 1928 verstorbener Verwandten Marie Einstein und Gerüchten um marxistische Umtriebe in Parteikreisen unter Verdacht, sah er sich zunehmend politischen Anfeindungen und Bewährungsproben ausgesetzt. Die Gestapo durchsuchte seine Wohnung und beschlagnahmte Teile der Bibliothek. Gegner im NS-Dozentenbund (NSDDB) versuchten, seine finanzielle Förderung zu unterbinden, und hintertrieben später immer wieder seine Berufung. Doch obwohl wiederholt das Fehlen eindeutiger weltanschaulicher Bezüge beanstandet wurde, blieben Reverenzen an nationalsozialistisches Gedankengut aus. Die Vertiefung des Geschichtlichkeitsgedankens führt zwar zur verstärkten Kritik eines unhistorischen Rationalismus und Szientismus sowie zur Akzentuierung kultureller Eigenarten und Unterschiede. Diese werden aber in die Perspektive einer umfassenden Geschichtsphilosophie gerückt, nach der der historische »Wandel der Anliegen und Motive des fragenden und erkennenden Lebens […] neben […] die vorgegebenen Auffassungen und die in ihnen fixierten Seinsordnungen neue Seiten des Seins, neue Phänomene und andere Ordnungen treten« (GeE 189) und so die Welt nach und nach immer vollständiger zur Erscheinung gelangen lässt. In diesem Sinne ist auch schon von einer »Entzweiung des Zeitalters in sich selbst« (188) die Rede, in der »Bereiche, die durch die Verfahren der Wissenschaften nicht erfaßt werden können […], auf andere Wege der Erfahrung verwiesen werden«, etwa den »der Poesie […] oder der Innerlichkeit, des Gefühls und Glaubens«, aber auch »der Geisteswissenschaften«, die als »existentielle Antwort« (187f.) auf den Siegeszug der neuzeitlichen Naturwissenschaften gedeutet werden. Andere Aufsätze aus dieser Zeit verweisen hintergründig auf die Aufgabe der Philosophie, die »Zugehörigkeit des anderen zu der es ausgrenzenden Lebenswirklichkeit sichtbar« (ÜbL 79) zu machen. Daneben ist ein Rückzug auf politisch scheinbar unverfängliches philosophiehistorisches Terrain zu verzeichnen. Im Mai 1937 trat der in prekären Verhältnissen lebende Privatdozent unter dem fortgesetzten Druck des NSDDB in die Partei ein, betätigte sich auch in einigen ihrer Gliederungen, doch der akademische Aufstieg stockte weiterhin. Als man ihn 1941 zum außerordentlichen Professor ernannte und im Mai 1943 ein Ruf nach Kiel erging, befand er sich längst im Kriegseinsatz. Obgleich noch 1944 »uk-gestellt«, konnte er die Professur nicht mehr antreten, da er bald darauf in britische Gefangenschaft geriet.20

Im Jahr 1946 übernahm Ritter den Lehrstuhl für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, an der er bis zu seiner Emeritierung blieb. Hier entfaltete er eine rege Lehrtätigkeit, hielt viel beachtete Vorlesungen zur Gesellschaftstheorie, politischen Philosophie und Ästhetik und begründete sein später berühmtes »Collegium Philosophicum«. Eine Gastprofessur in Istanbul zwischen 1953 und 1955 vermittelte prägende Eindrücke von den kemalistischen Reformen in der Türkei. Wie im Spiegel der »Europäisierung« (EuP 324), also jenes Vorgangs, in dem die gesamte Welt damals in den von Europa ausgehenden Sog der Modernisierung hineingerissen wurde, schien Ritter zu erkennen, »daß die Fortschrittsidee da etwas anderes bedeutet, wo sie nicht das Idol einer leeren Perfektion ist, sondern die Notwendigkeit meint, diejenigen Möglichkeiten menschlichen Seins zu schaffen, die in den europäischen Ländern längst zur selbstverständlichen Voraussetzung eines menschlichen Lebens geworden sind« (330). Er begann, seinen eigenen philosophischen Standpunkt in einer Reihe größerer Abhandlungen auszuformulieren und jenen Kreis von Schülern um sich zu sammeln, der als »Ritter-Schule« später die akademische Landschaft der Republik prägen sollte. Mit Kollegen wie Erich Rothacker, Hans-Georg Gadamer oder Hans Blumenberg verband ihn ein weit gespanntes Netzwerk von Arbeitsbeziehungen, aus dem zahlreiche Projekte und Kooperationen hervorgingen.21 Daneben entwickelte der Münsteraner Ordinarius auch ein lebhaftes wissenschaftsund hochschulpolitisches Engagement. Er saß in den Gründungsausschüssen der Reformuniversitäten Bochum, Dortmund und Konstanz, war Mitglied der wissenschaftlichen Akademien in Düsseldorf und Mainz und wirkte seit 1965 im Wissenschaftsrat unmittelbar an der Konzeption und Umsetzung der Hochschulreform mit.22

Ritters letzte Lebensjahre wurden vor allem von der Arbeit am Historischen Wörterbuch der Philosophie in Anspruch genommen, dessen Leitung er 1961 übernommen hatte.23 Der vom Verlag zunächst ins Auge gefasste Plan einer vierbändigen Neuausgabe von Rudolf Eislers Wörterbuch der philosophischen Begriffe war bald fallengelassen worden, um »in monographischen begriffsgeschichtlichen Untersuchungen die geschichtliche Bewegung des philosophischen Gedankens als für die Philosophie konstitutiv zu begreifen« (NeE 707).24 In dem Maße, in dem die Realisierung des Projektes voranschritt und den ursprünglich gesetzten Zeit- und Umfangsrahmen immer weiter überstieg, trat Ritters eigenes philosophisches Schaffen in den Hintergrund. Er starb während der Vorbereitung des vierten Bandes 1974 in Münster. Nachrufe würdigten ihn als einen der »großen alten Männer der deutschen Gegenwartsphilosophie« (Becker 1974). Er habe im intellektuellen Leben der Nachkriegszeit »Wirksamkeiten entfaltet, die Ihresgleichen suchen« (ebd.). Nichtsdestoweniger sollte man sein Werk in den folgenden Jahren weithin aus den Augen verlieren. Als sich die neuere ideengeschichtliche Forschung im Zuge der Bestandsaufnahme der »alten« Bundesrepublik seinen Schüler zuzuwenden begann und dabei auch ihn selbst wieder in den Blick bekam, konnte sie längst nicht mehr »voraussetzen, dass Kenntnisse über den heute fast vergessenen Philosophen Ritter verbreitet sind« (Hacke 2006: 11).

2.1 Theorie der Moderne im Zeichen der Entzweiung

Nach dem Ende des Krieges und dem Untergang des »Dritten Reichs« bildete der Begriff der Moderne einen zentralen Bezugspunkt historischer Selbstverständigung. Mit ihm ließ sich die Erfahrung der »Stunde Null« in einen umfassenderen geschichtlichen Horizont rücken und im Rahmen der damit eröffneten zeitdiagnostischen Perspektiven deuten.25 Dabei erschien die verheerende Lage im Ausland und der Emigration häufig als Endpunkt eines Sonderweges, auf dem die Deutschen hinter den in Humanismus und Aufklärung erreichten Stand moderner zivilisatorischer Errungenschaften zurückgefallen waren in völkischen Irrationalismus und Partikularismus.26 Dagegen sah die konservative Kulturkritik in der »Deutschen Katastrophe« (F. Meinecke) vielfach nur die äußerste Konsequenz der Moderne selbst und des mit ihr einhergehenden Abfalls des Menschen von Gott und der überlieferten Ordnung der Dinge.27

Joachim Ritters eigene Deutung der Moderne geht aus einer intensiven Auseinandersetzung mit Georg Wilhelm Friedrich Hegels Rechtsphilosophie (1821) hervor. In ihr wird das theoretische Instrumentarium entwickelt, mit dessen Hilfe die unmittelbare Gegenwart auf den Begriff gebracht werden soll. Dieser Ansatz schien nach dem Krieg keineswegs nahezuliegen. Die Rechtsphilosophie galt seinerzeit weithin als philosophisch längst erledigt. Sie war als metaphysisch verbrämter Ausdruck einer politisch rückständigen Gesinnung abgetan und mitunter sogar in die geistige Vorgeschichte des Faschismus eingereiht worden.28 Einem derart diskreditierten Text wichtige Einsichten zur Verfasstheit der modernen Welt abzugewinnen bedeutete zugleich, ihn selbst von Grund auf neu zu erschließen.29

Ritter deutet Hegel im Zeichen der Französischen Revolution. Seine Interpretation ist von der Überzeugung getragen, dass es »keine zweite Philosophie [gibt], die so sehr und bis in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution ist« (HfR 192). Das gesamte Hegel’sche System sei im Grunde dem Austrag des durch die Revolution aufgeworfenen Problems der »politische[n] Verwirklichung der Freiheit« (196) gewidmet. Da Freiheit dabei nämlich als ein Recht begriffen wird, das allen Menschen von Natur zukommt, scheint »ihre Setzung den Gegensatz gegen alle geschichtlich vorgegebenen Ordnungen und die alte geschichtliche Welt« einzuschließen, sodass »ihre politische Verwirklichung« scheinbar zwangsläufig »das Ende der bisherigen Geschichte herbeiführen« (225) muss. Waren Rechte bis dahin an die gesellschaftliche Stellung ihrer Inhaber gebunden und damit als Privilegien nach historisch gewachsenen, religiös oder metaphysisch legitimierten Hierarchien gestaffelt gewesen, so soll fortan jeder die gleichen Rechte genießen, unabhängig von Geburt, Stand, Konfession oder Nationalität. Er soll gelten, wie Ritter mit Hegel formuliert, »weil er Mensch ist, und nicht, weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener ist« (228). Alle besonderen Merkmale, die der Einzelne seiner jeweiligen Herkunft verdankt, verlieren so politisch mit einem Schlag jede Bedeutung. Was ihn in seiner Eigenart ausmacht, von anderen unterscheidet und in der Welt verortet, etwa die familiäre Abstammung, die Verbundenheit mit einem heimatlichen Landstrich oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe, religiösen Gemeinde oder beruflichen Innung, bleibt für den revolutionären Freiheitsbegriff notwendig unerheblich und wird im Zuge seiner politischen Durchsetzung nicht berücksichtigt. Die »geschichtlichen Substanzen des menschlichen Daseins« (210) erscheinen aus der Perspektive der Revolution nur mehr als Hindernisse auf dem Weg zur universellen Verwirklichung der Freiheit und sind als solche restlos zu beseitigen. Die Revolution wird, wie Ritter mit Hegel sagt, in der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit zur »›Furie des Verschwindens‹« (225).

Um dieser zerstörerischen Dynamik auf den Grund zu gehen, wendet sich Ritter zunächst dem revolutionären Freiheitsbegriff selbst zu. Dabei führt er die Idee der Freiheit, die sich die Revolution auf die Fahne schreibt, auf das in der philosophischen Tradition ausgebildete Freiheitsverständnis und seine ursprünglich aristotelische Formulierung zurück. Ihr zufolge ist derjenige Mensch frei, »der um seiner selbst willen, nicht um eines anderen willen ist« (198), etwa der Bürger der antiken Polis im Unterschied zum Sklaven, dessen ganzes Sein nach Aristoteles darauf abzielt, seinem Herrn zu dienen. Freiheit besteht demnach im »Selbstseinkönnen des Menschen« (ebd.), also der Möglichkeit, sein eigener Herr zu sein und den eigenen Vorstellungen und Wünschen gemäß zu leben. Sie bezeichnet den »Stand des Menschen, in dem er sein Menschsein verwirklichen und so er selbst sein und ein menschliches Leben führen kann« (ebd.). Allerdings stellt diese Bestimmung das revolutionäre Freiheitsverständnis und seine Wendung gegen die bisherige Geschichte in gleich zweifacher Hinsicht infrage: Zum einen kann die Befreiung des Menschen nun nicht mehr gegen »die für sein eigenes Dasein entscheidenden Ordnungen seiner geschichtlichen Herkunft« (228) ausgespielt werden. Die »Freiheit des Selbstseins« setzt die »für sie wesentlichen geschichtlichen Substanzen« (230) voraus, die der Persönlichkeit des Einzelnen erst ein unverwechselbares Profil und seinem Leben einen konkreten Bedeutungshorizont verleihen. Und zum anderen geht dieses Freiheitsverständnis selbst aus der europäischen Geschichte hervor. Von der ersten, noch durch die Sklaverei belasteten Realisierung des Freiheitsgedankens in der antiken Polis über das mit dem Christentum aufkommende Bewusstsein der Freiheit und Gleichheit aller Menschen vor Gott bis zur revolutionären Forderung, diese Gleichberechtigung auch zur Grundlage von Recht und Staat zu machen, erstreckt sich ein einziger fortschreitender Entwicklungsprozess, in dem sich die »Einheit von Freiheit und Menschsein« (199) nach und nach verwirklicht.

Bis hierher sind Ritters Ausführungen als eine immanente Kritik der Revolution zu verstehen: Sie setzen keinen vor- oder gegenrevolutionären Standpunkt voraus, sondern messen die revolutionäre Bewegung an ihren eigenen Zielen und stellen dabei fest, dass sie ihnen grundsätzlich nicht gerecht zu werden vermag. Obwohl sie in ihrer universalistischen Ausrichtung einen zentralen Aspekt der Freiheit zur Geltung bringt – »Recht – jetzt prinzipiell Menschenrecht – hat die Allgemeinheit der Gattung erreicht« (202) –, blendet sie in der Beschränkung auf ihn doch alle weiteren inhaltlichen Bestimmungen menschlichen Freiseins aus und verfehlt so mit seiner politischen Verwirklichung ihre ureigensten Absichten. Im Bruch mit der Geschichte wird das einseitige, negativ-emanzipatorische Freiheitsideal der Revolution zum Grund ihres politischen Scheiterns. Es schneidet sie von ihren eigenen geschichtlichen Quellen ab und zerstört den kulturellen Nährboden, auf dem sich menschliches Selbstsein überhaupt zu entfalten vermag. Andererseits jedoch kann die Revolution nun keinesfalls mehr als Ende der gesamten bisherigen Geschichte verstanden werden. Zwar schließt die politische Durchsetzung der Freiheit als Menschenrecht den Fortbestand der überkommenen Verhältnisse aus, sodass diese im revolutionären Umsturz zu Recht zunichtegemacht werden. Zugleich jedoch setzt sich damit im Grunde nur mehr der von der antiken Polis ausgehende Entwicklungsgang der abendländischen Geschichte selbst fort: Die Revolution erhebt das Selbstseinkönnen des Menschen zum Prinzip jeder politischen Ordnung und setzt so noch in ihrem faktischen Scheitern die Maßstäbe, unter denen Freiheit künftig zur universellen Verwirklichung gelangen kann. Sofern sich in diesem Vorgang die Moderne politisch konstituiert, kann und muss sie daher »positiv als Epoche der europäischen Weltgeschichte und ihrer Freiheit des Menschseins gelten« (200).