Eva Demski

Lesbos

Sappho und ihre Insel

Insel Verlag

Inhalt

Das Platanenblatt

Überall Götter

Eichen im Gebirg

Eros mein Bote

Heimatmuseum

Belagerungen

Die Spatzen der Aphrodite

Der erfundene Wald

Meiner wird man gedenken

Das Platanenblatt

Schon beim Anflug sieht man: Da liegt kein Inselchen im blauen Meer, sondern ein kleiner Kontinent, zerklüftet, bergig und unwegsam, auch nicht grün, wie versprochen – das kommt erst später –, sondern braun und graugrün, mit mächtigen Felsbrocken und Tälern, in deren Tiefe kein Weg zu führen scheint. Lesbos ist groß, man hatte das ja nachlesen können, aber Größe ist in Zahlen nicht auszudrücken: Etwa hundertsechzig Kilometer Küstenlänge, das heißt, könnte man am Schreibtisch daheim meinen, in einer Woche wäre man bequem einmal um das Eiland gegangen, auch daß sie die drittgrößte der griechischen Inseln sei, ruft keinen Schrecken hervor. Eigentlich, sagt ein alter Lesbiote später, ist sie nach Kreta die zweitgrößte, Euböa hat eine Landverbindung, gilt also nicht. Ob dritt- oder zweitgrößte: Je näher man ihr kommt, je tiefer man sich auf sie heruntersenkt, auch wenn man in Mytilíni mit dem Schiff ankommt und sich aufmacht ins Inselinnere – sie ist sehr groß und so rauh, daß sie den Besucher spüren läßt, wieviel sie vor ihm verborgen halten kann.

Es muß alles erobert werden auf diesem Erdteilchen, das der Türkei viel näher ist als Athen, da wird nichts ausgebreitet oder freiwillig hergegeben, und man sollte die Füße einer Bergziege und das furchtlose Herz eines Wanderfalken haben, um sich nicht abschrecken zu lassen von den Versuchen, das Inselinnere zu erobern.

An den Gestaden der Ägäis merkt man fürs erste natürlich überhaupt noch nichts, und den arglosen Touristen, die mit Bussen über die Bergrücken und Spitzkehren gehievt werden, fällt zu Anfang auch nichts auf, außer: »Guck mal, der Oleander da. Wenn ich meinen daheim auch mal so hinkriegen würde!«, und dann dreht sich die Vordermännin im Omnibus um und sagt: »Haben Sie es schon einmal mit Eierschalen versucht?«

Gar nichts merken sie. Wie immer. Man muß vorgewarnt sein, von Haus aus mißtrauisch – oder wie mit einem geheimnisvollen Atlas der Poesie ausgerüstet, die dem Besucher eine Insel verspricht, von der er von vornherein annimmt, daß es so was gar nicht geben kann.

Wer sich mit dem Rückzug der Idylle zwischen Buchdeckel längst abgefunden hat, ist demütig dankbar, wenn die Wirklichkeit noch Reste davon bereithält. Und das tut sie auf Sapphos Insel, wenn auch anders als geträumt. Nicht ein einziges strahlendweißes Geviert hat seine Säulen zum Flugzeug hinaufgereckt, keine Wohnung der Götter zu sehen, jene schönen Gerippe, die man als abendländisches Erbe anzubeten gewöhnt war.

Nur weitersuchen, denkt man und wirft aus dem Busfenster einen Blick auf hunde- und tigerförmige Felsen, die in der Landschaft hocken und bis fast zu ihren Hälsen mit Olivenbäumen und Pinien bewachsen sind, während ihre Füße im rosa Oleander versinken.

Die Insel habe die Form eines Platanenblattes, heißt es. Das ist nicht falsch, denn die beiden unterschiedlich großen Einbuchtungen des Golfs von Kallonis und des kleineren Golfs von Geras mit ihren engen Öffnungen gleichen den Einkerbungen der Platanenblätter. Fast wie Binnenmeere liegen die beiden Buchten da, und es gibt viele kleine und größere Strände – allerdings keine Sandstrände. So leicht macht sie es einem nicht.

Wenn rings herum auch noch Sandstrände wären, sagt später eine Hotelmanagerin seufzend, dann wäre hier das wahre Paradies auf Erden! Und wir alle Millionäre.

Zum Anschauen sind Steinstrände und Kiesstrände mindestens ebenso schön, das Meer liegt glatt und blank wie ein Tuch, alles in Ordnung, es wird wunderbar werden. War man doch schon ganz ohne den Dichterinnenwahn, den man sorgfältig für sich behalten hatte, zu Hause darauf aufmerksam gemacht worden, daß der Reisewunsch zu dieser Insel (jetzt muß man sich im Reisebüro ein ganz winziges Sprechpäuschen denken) nun ja, ähem, für einen gewissen Individualismus spreche. Und das ist, ähm, ja eigentlich nichts Schlechtes, nicht wahr? Große Hotelanlagen gebe es nicht, aber sehr ansprechende kleinere Arrangements, wenig Sandstrände, da wolle man ganz offen sein, aber sehr sauberes Wasser.

Komm, steig vom Himmel herunter

Komm in den kretischen Tempel zu Schiff

Da wachsen Apfelbäume im schönen und heiligen

Hain. Die Altäre dampfen von Weihrauch

Das Wasser rinnt kühl

Unter den Apfelzweigen, der Hang

liegt im Schatten der Rosenbüsche

Von den zitternden Blättern herunter

Senkt sich tiefer Schlaf.

Eine Wiese liegt dort, da weiden die Pferde

Frühlingsblumen blühen, es riecht süß

Nach Aniskraut

Komm, Kypris, setze dir Kränze aufs Haupt

Bring in goldenen Schalen den Nektar

Gieße uns Wein ein

Denn wir feiern ein Fest.

Ich bin sechs Wochen zu spät gekommen. Alles hätte ich finden können, das Aniskraut und die Apfelblüten, die Rosen und Krokusse, die Veilchen und alle anderen Blumen, die Sappho in ihren Liedern besingt und die hier von April an blühen, seit Tausenden von Jahren, ein Rest des Goldenen Zeitalters, da alle griechischen Inseln bewaldet waren, mit reichlich rinnendem, kühlem Süßwasser gesegnet und voller Blumen. Ihre trockenen Gerippe sind noch da und rascheln unter den Olivenbäumen, man kann Margeriten erkennen, Malven und wilden Hafer. Der Dill, den sie auch besingt und der sich für uns ein bißchen merkwürdig in der Poesie ausnimmt, erinnert er doch ans Einlegen von Gurken –, dieser wilde Dill ist sogar noch dunkelgrün mit seinen feinen Federblättchen.

Wenn man im April oder in den ersten Maiwochen hierherkommt, wird man mit ein paar wenigen anderen Verrückten allein sein, liebevoll von den vom Winter gelangweilten Inselbewohnern umsorgt, ganz für sich wird man sein, denn das Meer ist noch zu kalt zum Baden und die Schulferien in weiter Ferne. Vielleicht wird man die schönen, flinken Schlangen nicht nur im totgefahrenen Zustand kennenlernen und in den Tälern jene Landschaften finden, die den heiligen Hainen ein wenig gleichen, wenn auch ohne jene Altäre, die wir in Sapphos Gedichten finden. Dafür gibt’s andere, niemand muß gottlos bleiben, aber darauf kommen wir noch.

Das Juwel der Insel zeigt sich wie eine Erscheinung, eineinhalb Stunden von Mytilíni entfernt und hinter mehr als sieben Bergen – Molyvos, in der Antike hieß es Míthymna, im Mittelalter Molyvos, jetzt steht auf den Schildern wieder Míthymna, und die Bewohner nennen es trotzdem Molyvos. So einfach ist das. Von einer mächtigen Burg beherrscht, sind an den Fels, der sich nicht schroff, sondern sachte aus dem Meer erhebt, Hunderte von kleinen Häusern gebaut, haben steile, krumme Gassen gebildet, Treppen sind zwischen ihnen aus dem Stein gehauen, und die Terrassen der Kneipen hängen wie Schwalbennester über dem Abgrund. Das ganze Dorf – eigentlich ist es ein Städtchen – steht unter Denkmalschutz, und die Hotels am Ufer können mit dem wunderschönen Blick vom Strand aus werben. Wer Genaueres wissen will, muß klettern und kraxeln, sich die Knöchel verstauchen und gelegentlich aus Gründen des Atemschöpfens vor einem der kleinen Schaufenster in der Marktgasse stehenbleiben. Das Angebot ist tröstlich: Strohschuhe, Gummischuhe für den Steinstrand und Hüte, denn es ist den Fremden nicht abzugewöhnen, in der Mittagszeit herumzulaufen.

Wenn es denn so ist, sagen sich die Einheimischen, kann man genausogut was davon haben. Die Hüte sind nicht schön, aber teuer. Die hohen, den Steinen trotzenden Schuhsohlen haben sie ja schon im Altertum gehabt, und die fließenden, leichten Gewänder sind sicher angenehmer gewesen als jene Kleidung, die nun schon so oft bejammert, verspottet und mit Abscheu übergossen worden ist. An ihr kann man es auch hier sehen: Was einmal in der Welt ist, bleibt in ihr. Und so wollen wir wegschauen, denn die Verachtung hat nichts geholfen. Und niemand hindert einen daran, in Gedanken allen Mittouristen Peplos, Mantel, Hemd und Umhang umzutun und ihnen archaische Sandalen anstatt der rosa-violetten Sportschuhe an die Füße zu hexen. Ach, aber sie taugen nicht recht als Statisten für eine Szenerie, die ich noch nicht finden kann, und sie mit Gewalt herbeizuzitieren wie bei einer Séance will nicht gelingen. Abends aber, allein auf einer Terrasse

Die Sterne rund um den schönen Mond

verstecken alle ihr leuchtendes Gesicht

Wenn er voll am hellsten erstrahlt

Über die Erde

silbern

Da braucht man keine Phantasie mehr, die Zeit setzt aus. Selanna ist ein viel schöneres Wort als Mond. Noch ist nicht die Stunde der Grillen. Es ist ganz still. Und der Große Wagen versteckt sich nicht – der Mond ist erst halb –, sondern erscheint so klar und hell, daß man das Reitersternchen auf der Deichsel gut erkennen kann.

Sappho hat wahrscheinlich immer am Meer gewohnt. Es ist nicht bekannt, wie viele Menschen im archaischen Zeitalter auf der Insel lebten, aber sie müssen die gleichen Orte gewählt haben wie die heutigen: die Buchten um die beiden Golfe, die wenigen kleinen Ebenen und die Täler, die wie mit einem breiten grün-rosa Pinsel zwischen die kahlen, schroffen Berge gezeichnet sind. Oasen – nie habe ich ein so genaues Bild für das Wort »Wasserader« gesehen. Denen folgen die dichten Bäume und Büsche, schmale fruchtbare Bänder am Grunde der Täler. Denn nach einigen Kilometern in Richtung Osten verabschieden sich die Olivenbäume, werden spärlicher, verschwinden schließlich ganz. Wie ein riesiges, in verschiedenen Formationen angetretenes Heer bedecken sie den Südosten der Insel, elf Millionen Bäume, und keiner gleicht dem anderen. Manchmal kommen sie in Reih und Glied daher, ganz geometrisch angepflanzt, sie steigen die Steinterrassen hoch, Mäuerchen aus Feldsteinen halten das Erdreich fest. Andere stehen in lockeren, anmutigen Gruppen zusammen, krumm, versehrt, verzogen. Jeder kennt das silbergraue Laub der Oliven, aber es gewinnt eine andere Farbe, wenn man so lange Strecken nichts anderes sieht – es wird wie eine Art Nebel, ein Schleier über dem Boden, der sich an den Stämmen festhält und sich andauernd bewegt.

Der Olivenbaum ist unsterblich, sagt der Olivenbaumbesitzer, Fremdenführer, Taxiunternehmer und odysseisch-vielbefahrene Manolis. Er kann scheinbar erfrieren und bei Waldbränden zugrunde gehen – aus der Leiche kommt immer wieder neues Laub, neues Holz. Und man kann alles aus ihm machen: Möbel und Geschirr aus dem Holz, Seife und Kosmetik aus dem Öl, man ißt es, natürlich, der Olivenbaum macht Geschenke an hundert Generationen.

Auf diesem Weg von den fruchtbaren Hügeln zur Mondlandschaft sieht man immer wieder die schwarzen und braunen Wundflächen der sommerlichen Brände. Hierzulande schläft die Feuerwehr, sagt Manolis, und wir bekommen eine kleine Randgeschichte zu sehen, die nachdenklich stimmt: Wenige Meter hinter einer idyllisch gelegenen Tankstelle in den Bergen hat sich etwas entzündet, dicke Rauchwolken steigen auf, es ist still und heiß. Die Feuerwehr ist schon da, und unser Experte staunt, aber dann zuckt er mit den Schultern, da steht ein kleines, rotes Wägelchen ganz allein hinter der Tankstelle, ein Esel weidet davor, nur der Hofhund, der weise, ist nervös. Ein makkaronidünnes Wasserstrählchen senkt sich auf den Brand.

Vielleicht sollten wir besser weiterfahren? Ich hätte gern den Esel mitgenommen. Und den Hund. Von diesem kleinen Brand hört man aber später nichts, so daß die Hoffnung besteht, daß es doch kein großer geworden ist.

Der Brandherd hier ist vom vorigen Jahr, der von vor drei, der von vor vier Jahren. Ja, die Oliven lassen sich nicht umbringen. Es wird dauern, vielleicht sehen sie nie mehr wie richtige Bäume aus, aber das Leben verläßt sie nicht. Manolis erzählt von seinen Oliven, er hat dreihundert Bäume in Eftalou, nahe bei Molyvos am Meer, sie seien noch nicht alt, etwa zweihundert Jahre. Damit die Früchte schön groß werden, wässert er seine Bäume, das kann er tun, weil er eine Quelle auf seinem Land hat.

Während wir uns durch die Berge kämpfen, um Sapphos Geburtsort zu suchen, erzählt er ein griechisches Leben: Seemann, in Australien fünfzehn Jahre hängengeblieben, Schwammtaucher und Truckfahrer und was nicht alles noch. Mit einer Griechin verheiratet, ein Sohn, eine Tochter. Und gespart, weil er als König hat heimkommen wollen nach der Plagerei. Jetzt hat er zwei Häuser und wässert seine Bäume. Und sonst noch dies und das, er nennt es »greek business«.

Zwischen 618 und 612 v. Chr. also soll Sappho in der Stadt Eressós, der wir uns jetzt nähern, geboren worden sein. Der beschwerliche Weg macht das Feierliche deutlich, Beispiele von Pilgerfahrten und mühsamer Annäherung an verehrte Objekte fallen mir ein.

Zwischendurch bin ich froh, daß es für diese Art der sentimental journey in unserer Zeit Jeeps gibt und daß man nicht wie die hutzeligen Bäuerinnen am Weg auf einem Esel sitzen muß, wobei die Assoziationen dann in eine schwindelerregende Kreisbewegung versetzt werden würden. Die kleinen Peinigungen, die auf die Verehrerin der Zehnten Muse warten, lassen eine seltsame Idee entstehen: Stellen wir uns vor, wir stünden an einem heißen Tag mitten auf dem Marktplatz von, sagen wir, Bingen am Rhein. Eine erhitzte, nicht mehr ganz junge Frau kommt aufgeregt auf uns zu und fragt in holprigem Mittelhochdeutsch, warum denn in Bingen nicht überall hildegard hildegard hildegard zu lesen stehe? Ein ganzes Leben lang habe sie, die Frau, sich auf den Moment des Zusammentreffens mit dem Objekt der Liebe gefreut, und nun könne sie es nicht finden.

Abgesehen davon, daß die Bewohner von Eressós mein Griechisch so gut verstehen wie Sie Mittelhochdeutsch, auch Sie werden – in Bingen – der verstörten und verwirrten Dichtkunst-Touristin zu erklären versuchen, daß es schließlich im Lauf der Jahrhunderte noch andere wichtige Dinge nach Bingen gespült habe, und außerdem, wer ist eigentlich diese Hildegard? Und was hat die gemacht?

Sehen Sie – so war es. Und außerdem war es gar nicht in Eressós, sondern in Skala Eréssou, was daneben liegt und seine Erinnerungsstücke nur sehr zögernd freigibt.

Man muß erst einmal Eis essen in Eressós, das in diesem Jahr von der unesco für den saubersten Strand ausgezeichnet worden ist. Das macht viel mehr Eindruck und ist wesentlich bekömmlicher für den Ort als die merkwürdige alte Dichterin, deren Ruf irgendwie zu wünschen übrig läßt – schließlich hat sie der Insel eingebrockt, daß ihr Name als einziger Ortsname auf der Welt ein Synonym für eine Spielart der Liebe ist.

Damit lebt es sich offenbar nicht ganz leicht, aber das merkt man erst spät und an sehr verhohlenen Bemerkungen.

Der Strand also zeigt sich in sauberer Sandpracht – den gibt es nur hier –, und leider sind die Hotels alle so klein, daß die großen Reiseanbieter hochnäsig abwinken. Deswegen ist Eressós ein bezaubernder Ort, gemächlich, mit einer Strandpromenade von vor hundert Jahren, dick bewachsenen schattigen Laubengängen und freundlichen Kneipen, in denen blaugestrichene Strohstühle stehen wie ehedem. Es gibt kleine Häuser zu mieten für wenig Geld, auch Zimmer, ein Strandhotel, schäbig wie aus einer Griechenlandgeschichte von Lawrence Durrell, trägt den magischen Namen: Hotel Sappho. Wahrscheinlich hat schon seit fünfzig Jahren keiner mehr gefragt, nach wem es so heißt.