1

Nichts war grausamer als die Stille davor. Wenn die Welt in einem einzigen stummen Schrei erstarrte und die Angst seine Seele fraß, bis allein das rasende Tier in ihm übrig blieb. In diesem Moment wachte er immer auf. Schweißgebadet. Die Narbe, die er innen an seinem rechten Arm trug und deren Herkunft er nicht kannte, brannte wie tausend Feuer. Doch irgendetwas war diesmal anders. Da war ein fremdes Geräusch gewesen, das nicht in seinen Traum gehörte. Weder das Knistern der Flammen noch die Schreie der Menschen hatten es zu überdecken vermocht. Moses starrte im Halbdunkeln an die Zimmerdecke und versuchte, das Grauen aus seinem Kopf zu vertreiben. Als er vorsichtig seine Hand unter der Decke ausstreckte, fühlte er Julianes nackten, warmen Körper neben sich. Er drehte den Kopf zu ihr und ihr Atem kitzelte sein Gesicht. Im Morgenlicht, das durch die halb geschlossene Jalousie fiel, glich sie einem Engel. Eine dunkelblonde Locke umspielte ihren markanten Wangenknochen, und während sie kaum hörbar atmete, lächelte sie im Schlaf. Urplötzlich verspürte er den unwiderstehlichen Drang, sie zu küssen. Aber er wagte es nicht, zu friedlich war ihr Anblick. Er beneidete sie um ihren gesunden Schlaf. Er selbst hatte die Hoffnung längst aufgegeben, seinen Albträumen eines Tages entfliehen zu können. Seine Vergangenheit würde ihn vermutlich bis ins Grab verfolgen.

Behutsam zog Moses seine Hand wieder zurück. Dann stieg er leise aus dem Bett und griff nach dem Smartphone auf dem Nachttisch, dessen Summen ihn geweckt hatte. Als er die SMS überflog, war er für einen kurzen Moment versucht zurückzurufen. Aber dann legte er das Gerät zur Seite. Leitner hatte dieses Wochenende Bereitschaftsdienst, und auf dessen Testosteron konnte er im Moment gut verzichten. Außerdem brauchte er Zeit, um darüber nachzudenken, was Juliane ihm am Abend zuvor eröffnet hatte. Es hatte ihn tiefer getroffen, als er ihr gegenüber zugeben wollte. Oder konnte. Also sammelte er seine auf dem Boden verstreuten Sachen zusammen und schlich sich mit dem Handy ins Bad, um sich ein Taxi zu rufen. Während er den taubengrauen Anzug anzog, den er am Abend zuvor getragen hatte, ärgerte er sich wieder einmal darüber, dass er in ihrer Wohnung noch immer keine Wechselkleidung deponiert hatte. Wie lange kannten sie sich nun schon? Anderthalb Jahre? Oder waren es zwei? Er konnte es nicht ausstehen, unpassend gekleidet zu sein. Und das würde er in weniger als einer halben Stunde definitiv sein. Nachdem er sich angezogen hatte, musterte er sein Spiegelbild. Trotz seines dunklen Teints fühlte er sich unendlich blass. Sein Kopf pochte, was er zweifellos dem billigen Prosecco am gestrigen Abend zu verdanken hatte. Die Getränke auf diesem unsäglichen »Kunsthappening« hatten das Niveau der dort gefeierten Installationen noch unterschritten. Er massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen, und nachdem der Schmerz ein erträgliches Maß erreicht hatte, schlüpfte er in die unbequemen italienischen Schuhe, die Juliane ihm zu seinem Dreiundvierzigsten geschenkt hatte. Dann nahm er seinen Mantel von der Garderobe und verließ auf Zehenspitzen die Wohnung.

In der Nacht hatte es stark geregnet, und als Moses vor das Haus trat, hielt er inne, um die klare Luft zu genießen. Es war kurz vor Sonnenaufgang, und noch tauchte das diffuse Dämmerlicht die umliegenden Fassaden in ein farbloses Grau. Auf den feuchten Straßen herrschte eine gespannte, geradezu unnatürliche Stille. Als würde die Stadt für einen kurzen Augenblick innehalten, nur um sich danach mit umso größerer Entschlossenheit in den alltäglichen Überlebenskampf zu stürzen. Moses hatte diesen Moment, wenn Nacht und Tag noch miteinander rangen, schon immer gemocht. Er sog die frische Luft und die Stille ein letztes Mal tief in sich ein. Dann schlug er den Kragen seines Burberry-Mantels hoch und ging auf das Taxi zu, das bereits in zweiter Reihe auf ihn wartete. Es hatte einen dieser neuen Werbemonitore auf dem Dach, die Autos in blinkende Litfaßsäulen verwandelten. Heute strahlte ihm ein junges Paar entgegen, das sich an einem fernen Tropenstrand in seinem Liebesglück rekelte. Sonne, Meer und heile Welt. Buchen Sie Ihren Urlaub im Paradies! Moses musste unwillkürlich daran denken, was ihn vermutlich gleich erwartete. Umso mehr empfand er die Versprechen der Werbung als eine kaum zu ertragende Verhöhnung der Wirklichkeit. Die Welt war nicht paradiesisch. Und sie würde es auch niemals sein. Weder hier noch sonst irgendwo.

Moses ließ sich auf den Rücksitz fallen und nannte dem Fahrer die Adresse. Der Mann besaß auffallend große Ohren und stank nach kaltem Rauch. Er musterte seinen frühen Fahrgast neugierig im Rückspiegel, aber da er offenbar eine lange Nacht hinter sich hatte, verstummte er nach dem obligatorischen Small Talk für den Rest der Fahrt. Was Moses nur recht war. So konnte er die kurze Zeit, die ihm noch blieb, dazu nutzen, um sich darüber klar zu werden, wie er mit Julianes Entscheidung umgehen sollte. Während auf der anderen Seite der Autoscheibe die Klinkerfassaden des Michaelis-Quartiers an ihm vorbeizogen, fragte er sich, ob er sich tatsächlich so sehr für sie über diese einmalige »Chance« freute, wie er gestern behauptet hatte. Sechs Monate waren sechs Monate, und Neuguinea lag so ziemlich am anderen Ende der Welt. Würde er sie vermissen? Und sie ihn?

Je länger er darüber nachdachte, desto mehr musste er sich eingestehen, dass er darauf keine Antwort hatte. Alles kam so plötzlich. Er hatte ihre Beziehung bislang in vollen Zügen genossen und nie darüber nachgedacht, dass sie irgendwann einmal enden könnte. Als er erneut aus dem Autofenster blickte, überquerte das Taxi gerade das Nikolaifleet. Da es inzwischen nicht mehr regnete, hatten sich die wenigen Passanten, die zu dieser frühen Stunde unterwegs waren, bereits ihre Regenjacken ausgezogen und unter die Arme geklemmt. Die asiatische Touristengruppe, die in geschlossener Formation in Richtung Speicherstadt trippelte und dabei von der Reiseleiterin mit ungeduldigen Gesten vorwärtsgetrieben wurde, versteckte sich dagegen noch immer unter ihren aufgespannten Schirmen. Moses rieb sich die Augen. Als der Wagen die Bahntrasse zum Hauptbahnhof unterquerte, um kurz darauf in Richtung Berliner Tor abzubiegen, streckte er sich, soweit dies in der Enge des Rücksitzes möglich war. In wenigen Minuten würde er an seinem Ziel ankommen, und er war Profi genug, um zu wissen, dass seine privaten Angelegenheiten vorerst würden warten mussten. Was er jetzt brauchte, war ein klarer Kopf. Der Tod duldete keine Fehler.

2

Der Lohmühlenpark war ein schmaler, von Straßen flankierter Grünstreifen, der sich von der U-Bahn-Station Berliner Tor bis fast an die Alster erstreckte und tagsüber zu den beliebtesten Treffpunkten in St. Georg gehörte. Besonders bei den jungen Familien des Viertels standen der moderne Spielplatz und die Ballsportplätze hoch im Kurs. An diesem frühen Sonntagmorgen befand sich jedoch selbst dieses quirlige Viertel noch im Tiefschlaf. Als er den Taxifahrer bezahlt hatte und ausgestiegen war, erkannte er gleich, was ihn erwartete. Es war die Art, wie sich der junge Streifenbeamte an dem Absperrband versteifte.

»Polizeieinsatz!«, rief ihm der Polizist von der anderen Straßenseite aus zu. »Bitte gehen Sie weiter!«

Moses überquerte unbeirrt die Straße.

»Ich sagte doch, Sie sollen weitergehen!« Der junge Beamte musterte den elegant gekleideten Afrikaner, der sich seelenruhig vor ihm aufbaute, mit einer Mischung aus Anspannung und Argwohn.

»Sie können hier nicht durch!«, sagte er. »Gehen Sie weiter!«

Moses blieb nicht verborgen, dass die Hand des jungen Streifenbeamten nach dem Reizgas an seinem Gürtel tastete. Aber es war schlichtweg zu früh, um sich zu ärgern. Abgesehen davon war er es gewohnt, dass seine Erscheinung für Irritationen sorgte. Daran hatte sich in inzwischen fast fünfzehn Dienstjahren bei der Kripo nichts geändert.

»Immer mit der Ruhe«, sagte er, während er seinen Dienstausweis zückte. »Entspannen Sie sich.«

Der junge Beamte starrte fassungslos auf die Plastikkarte.

Moses steckte sie gelassen wieder zurück in seine Anzugtasche. »Dürfte ich jetzt bitte den Tatort sehen?«

Der Mund des Streifenbeamten klappte wieder zu.

»Äh, ja! Natürlich, Herr Hauptkommissar!«, stammelte er. »Tut mir leid! Ich konnte ja nicht wissen, dass …«

Er verstummte verlegen. Mit einer hastigen Bewegung riss er das rot-weiße Band hoch, das den Eingang in den Park versperrte. Moses bückte sich untendurch, und nach wenigen Schritten bestätigte sich seine Vermutung. Der Taxifahrer hatte ihn auf der falschen Seite des Parks abgesetzt. Erst jetzt sah er die zahlreichen Einsatzfahrzeuge, die sich bereits vor dem gegenüberliegenden Parkeingang versammelt hatten.

Plötzlich ließ ihn eine Stimme herumfahren.

»Moin, Chef! Willkommen zu unserem kleinen Picknick!«

Kriminalkommissar Leitner kam mit einem dampfenden Pappbecher in der Hand auf ihn zugesteuert. Moses fragte sich, wo er so früh am Sonntagmorgen Kaffee aufgetrieben hatte. »Immerhin schauen Sie auf Ihr Handy!« Der vorwurfsvolle Unterton war nicht zu überhören.

Er war gut einen Kopf kleiner als Moses, und trotz der morgendlichen Temperaturen trug er zur Jeans lediglich ein eng anliegendes T-Shirt. Leitner gehörte zu den Menschen, die noch vor Dienstbeginn ins Fitnessstudio rannten und offenbar niemals schliefen. Trotz seines jungen Alters von fünfunddreißig Jahren litt er bereits unter massivem Haarausfall, was ihm reichlich Spott in der Kantine des Präsidiums einbrachte. Seiner Libido schien der Verlust seiner Haarpracht jedoch keinen Abbruch zu tun. Im Gegenteil.

Als Leitner das elegante Outfit seines Vorgesetzten bemerkte, stieß er einen anerkennenden Pfiff aus.

»Ich war auf einer Ausstellung«, erklärte Moses genervt.

»… und danach war leider keine Zeit mehr zum Umziehen?«, ergänzte Leitner augenzwinkernd. Er nippte an seinem Pappbecher. »Das muss ja eine aufregende Ausstellung gewesen sein. Oder lag es vielleicht an der Künstlerin?«

Moses ignorierte das anzügliche Grinsen. Bei seinem jungen Kollegen würde vermutlich nicht einmal eine Kastration helfen.

»Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund, mich zu dieser Unzeit aus dem Bett zu schmeißen!«, brummte er, während er über Leitner hinwegsah. Das Geschehen auf dem Spielplatz hatte seine Aufmerksamkeit erregt.

Auf der Bank neben der turmhohen Tunnelrutsche, auf der tagsüber gestresste Mütter über ihren Nachwuchs wachten, hockte jetzt ein Obdachloser mit einer Rettungsdecke über den Schultern. Er gestikulierte wild herum und ließ sich auch von den beiden Sanitätern, die beruhigend auf ihn einredeten, nicht besänftigen. Auf der anderen Seite des Sandkastens standen zahlreiche Uniformierte in einer dichten Traube zusammen. Was genau es dort zu bestaunen und zu diskutieren gab, konnte Moses nicht erkennen, denn sowohl ihre Rücken als auch das Klettergerüst im Zentrum der Sandlandschaft versperrten ihm die Sicht.

Was zum Teufel sollte dieser Menschenauflauf?

Moses ballte die Fäuste in den Manteltaschen.

»Sorgen Sie für Ordnung, Mann!«, herrschte er Leitner an, der daraufhin erschrocken zusammenzuckte. »Schicken Sie die Leute sofort zurück an ihre Positionen. Und wo ist Feldhusen überhaupt?«

»Hauptkommissar Feldhusen ist krankgeschrieben«, erklärte Leitner kleinlaut. »Sein eigener Köter hat ihn in die Hand gebissen. Deshalb sollte ich Sie ja anrufen.«

Moses verdrehte die Augen. Mit Wehmut dachte er an Hendriks. Der hätte sich nicht so dilettantisch angestellt. Sein junger Kollege hätte zweifellos das nötige Talent gehabt, einmal zu einem fähigen Ermittler heranzuwachsen. Aber dann war alles ganz anders gekommen. Noch immer machte Moses sich Vorwürfe, weil er die Tragödie nicht hatte kommen sehen.

Er ließ Leitner stehen und umrundete den riesigen Sandkasten. Als die Streifenbeamten ihn auf sich zukommen sahen, erstarb ihre Unterhaltung auf der Stelle. Sie verdrückten sich sofort in alle Richtungen, und jetzt konnte Moses endlich den Grund ihrer Neugier erkennen.

Auf der Bank saß ein nackter Mann, der ganz offensichtlich tot war.

Überrascht trat Moses näher. Der Tote saß mit gesenktem Kopf da, so, als würde er ein Nickerchen machen. Er war allem Anschein nach im fortgeschrittenen Alter, stark übergewichtig und splitternackt. Seine Lippen waren bereits blau und seine Haut so weiß, als wäre sie mit einem Bleichmittel sauber geschrubbt worden. Das dünne blonde Haar war tropfnass und klebte in Strähnen auf der Stirn. Offenbar hatte der Mann schon die ganze Nacht über hier im Regen gesessen. Moses umrundete die Leiche. Auf den ersten Blick konnte er keine äußeren Verletzungen feststellen. Nicht einmal Einstiche von Drogenspritzen. Als er sich über den Toten beugte, nahm er einen eigenartigen Geruch wahr. Er erinnerte ihn an den Fischmarkt, aber wirklich einordnen konnte er ihn nicht. Er musterte die Tätowierungen auf dem Oberkörper des Unbekannten. Die meisten waren stark verschwommen und mussten in Jugendjahren gestochen worden sein. Tigerköpfe, Kreuze und Teufelsfratzen. Das Übliche. Eine der Tätowierungen schien jedoch jüngeren Datums zu sein. Ihre Ränder waren gestochen scharf, die Tinte unter der Haut noch nicht verlaufen. Sie befand sich auf der linken Brust, direkt über dem Herzen, und bestand aus arabischen Schriftzeichen, die sich um eine kunstvoll stilisierte Blüte rankten.

»Vielleicht ist der Typ ein Islamist«, mutmaßte Leitner, der hinter ihm stand und ihm über die Schulter sah. »Oder zumindest einer, der irgendwas mit diesen Wahnsinnigen zu tun hat.«

»Interessant«, sagte Moses, ohne aufzusehen. »Und wie kommen Sie zu dieser Schlussfolgerung?«

»Das ist doch eindeutig ein arabischer Schriftzug!« Leitner deutete mit dem Kaffeebecher auf die Tätowierung. »Vielleicht gehört er zu denen, die aus Syrien zurückgekommen sind. Sollen ja alle möglichen Leute zum Köpfeabschneiden da unten gewesen sein.«

Moses überging den Einwand. »Sind der Gerichtsmediziner und die Spurensicherung schon unterwegs?«

»Der Doc hätte eigentlich schon längst hier sein müssen«, stellte Leitner mit einem Blick auf seine Uhr fest. »Und die SpuSi auch. Aber so wie es aussieht, hatten sie gestern Nacht wieder eine Menge Einbrüche. Es ist schließlich Wochenende.«

»Wer hat ihn gefunden?« Moses richtete sich wieder auf.

»Der Alte da drüben.« Leitner nickte in Richtung des Obdachlosen. »Er hat den Notruf gewählt. Man sollte es nicht glauben, aber offenbar hat heutzutage wirklich jeder ein Handy!«

Er schüttelte den Kopf, dann fuhr er fort. »Ich habe schon versucht, irgendetwas aus ihm rauszukriegen. Aber keine Chance, der ist völlig fertig! So, wie es aussieht, ist das hier seine Stammbank.«

»Ich kümmere mich darum«, sagte Moses, während er zu dem Alten hinübersah. Viel Hoffnung auf brauchbare Hinweise machte er sich allerdings nicht. Die Fahne des Mannes stach ihm in die Nase. Dann wandte er sich wieder an Leitner: »Solange die Spurensicherung nicht da ist, sind Sie mir dafür verantwortlich, dass nicht jeder hier herumtrampelt. Und ich will keine Kinder sehen! Heute ist Sonntag. Am besten, Sie lassen den gesamten Park absperren.«

»Schon geschehen …«

»Gut. Dann sorgen Sie dafür, dass es auch so bleibt. Und lassen Sie die Umgebung absuchen! Vielleicht finden wir ja die Kleidung des Mannes. Und noch etwas: Ich bin der Einzige, der mit der Presse redet, sollte hier jemand auftauchen. Verstanden?«

Er sah seinem jungen Kollegen fest in die Augen, um seiner Anweisung Nachdruck zu verleihen. Ein nackter, toter Mann auf einem der beliebtesten Kinderspielplätze der Stadt – für die Geier der Boulevardpresse würde das ein Festessen werden. Er sah die Schlagzeilen bereits vor sich.

»Schon kapiert. Sie sind der Boss!«, erwiderte Leitner und trottete davon.

»Und besorgen Sie mir bitte einen Kaffee«, rief Moses ihm hinterher. »Schwarz, ohne Zucker!«

Mit einem Mal stutzte er. Ihm kam es so vor, als hätte sich gerade das linke Auge des Toten bewegt. Das konnte nicht sein! Moses kniff die Augen zusammen, um genauer hinsehen zu können. Da war es erneut. Das Auge hatte sich eindeutig bewegt. Irritiert beugte er sich noch weiter zu dem Mann herunter. Tatsächlich nahm er eine kleine Bewegung im Auge des Toten wahr. Plötzlich zuckte Moses so heftig zurück, dass er beinahe umgefallen wäre. Im Augenwinkel der Leiche erschien ein winziges Köpfchen, dann drang etwas Lebendiges hinter dem toten Augapfel hervor. Es drängte ins Freie, schlängelte sich über das Gesicht, dann plumpste es auf den nackten Bauch des Mannes und fiel auf die Erde. Moses starrte entgeistert auf die wurmartige Kreatur, die sich im Gras zwischen den Füßen des Toten kringelte. Sie war nur wenige Zentimeter lang, hauchdünn und durchsichtig wie Glas.

»LEITNER!«, brüllte er, nachdem er sich von seinem Schrecken erholt hatte.

Sein Kollege eilte herbei. »Was ist passiert?«

»Ich brauche einen Behälter. Schnell!«

»Einen Behälter?«

»Irgendein Gefäß. Nun machen Sie schon!«

Im offenen Mund des Toten kam nun ebenfalls ein winziger, blasser Wurm zum Vorschein. Und dann noch einer. Diesmal fiel er nicht zu Boden, sondern landete im Schoß des Toten, wo er sich panisch wand. Moses verzog angewidert das Gesicht. Als er hinter die Bank trat, sah er, dass auch aus dem After der Leiche durchsichtige Würmer drangen.

Entsetzt wich Leitner einen Schritt zurück. »Was sind das denn für ekelhafte Viecher?«

Moses nahm ihm ungefragt den Kaffeebecher aus der Hand, entfernte den Deckel und schüttete den restlichen Inhalt aus. Dann ging er in die Hocke, um mit zwei Fingern einen der am Boden herumkriechenden Würmer in den Pappbecher zu bugsieren. Sie fühlten sich glitschig an.

»Was habt ihr denn da Schönes?«, tönte eine ihm bekannte Stimme hinter seinem Rücken.

Moses warf einen Blick über die Schulter und stand auf.

»Sorry, ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte«, entschuldigte sich Dr. Kleinhues, der Gerichtsmediziner. Er hatte wie immer tiefe Ringe unter den Augen. »Ging leider nicht schneller. Also, was habt ihr diesmal?«

»Das würde ich auch gerne wissen!«, erwiderte Moses.

Vorsichtig hob er den Deckel des Pappbechers an. Sein Freund lugte neugierig hinein, wobei ihm sein grauer Pferdeschwanz auf die Schulter fiel. Als sich der durchsichtige Wurm auf dem Grund des Bechers heftig bewegte, riss auch er überrascht die Augen auf.

»Vorsicht!«, schrie Leitner neben ihnen. »Der kommt da raus!«

Hastig drückte Moses den Deckel wieder zu.

»Wo bleibt die Spurensicherung?«, schimpfte er, während er sich umsah.

Kleinhues stellte seinen abgestoßenen, mit Badges beklebten Arztkoffer auf die Erde. Er war von schlaksiger Gestalt, und sah wie immer so aus, als wäre er letzte Nacht zusammen mit seinen Leichen um die Häuser gezogen. Seine Auftritte als Frontmann der polizeieigenen Heavy-Metal-Band waren hingegen legendär. Jetzt kniete er nieder, um die Würmer näher in Augenschein zu nehmen, die sich unter der Bank im Gras schlängelten. Inzwischen waren es gut ein Dutzend.

»Merkwürdig«, sagte er. Er legte sich eine der durchsichtigen Kreaturen auf die Handfläche. Sie wand sich wild hin und her. »Das könnte auch ein Fisch sein. Man sieht nicht nur die inneren Organe, sondern auch Kiemen.«

»Bist du sicher?«, wollte Moses wissen. Er kannte sich nur mit Fischen aus, wenn sie auf seinem Teller lagen.

»Nein, natürlich bin ich das nicht. Ich bin schließlich kein Zoologe.« Kleinhues stemmte sich hoch. »Aber mein Vater war zeit seines Lebens ein fanatischer Angler. Ich habe das Rumsitzen gehasst! Das kann ich dir sagen!«

Er öffnete seinen Koffer und zog sich ein Paar Plastikhandschuhe über.

»Ich würde sagen, unser Freund hier hat vermutlich eine Zeit lang im Wasser gelegen«, mutmaßte er, während er den Toten auf der Bank zu untersuchen begann. Er hob ein Augenlid, danach bewegte er die Finger der leblosen Hand. »Die Leichenstarre hat noch nicht eingesetzt«, stellte er fest. »Wie ich vermutet habe.«

»Vom Park bis zur Außenalster ist es nur ein kurzes Stück«, dachte Moses laut. »Wenn das da wirklich Fische sind, ist er dort vielleicht auch ertrunken.«

»Das könnte sein«, warf Leitner dazwischen. »Die Kollegen von der Wasserschutzpolizei haben erst letzten Monat jemanden aus der Alster gefischt. So ein armes Schwein, das vom Finanzamt in den Ruin getrieben wurde. War groß in der Mopo. Vielleicht hat der da sich ja auch umgebracht!«

Er deutete in Richtung der Leiche, ohne sie anzusehen. Die Würmer machten ihm merklich zu schaffen.

»Dass ich da nicht selbst drauf gekommen bin!«, erwiderte Moses mit gespieltem Erstaunen. Allmählich sehnte er sich nach einem Frühstück. »Bestimmt war es dem Unglücklichen nach seinem Ableben im Wasser zu kalt. Deshalb ist er nackt durch die Stadt marschiert, um sich hier an dieser Stelle ein schöneres Plätzchen zu suchen. Stimmt das mit Ihrer Theorie überein?«

»Nicht direkt …«, gab Leitner missmutig zu.

Moses stieß einen innerlichen Seufzer aus und übergab seinem jungen Kollegen den Becher samt Inhalt. »Solange die Spurensicherung nicht da ist, passen Sie bitte gut darauf auf! Und dann schicken Sie ein paar Leute los, die sich in der Nachbarschaft umhören. Es ist noch früh, aber vielleicht hat ja jemand etwas beobachtet, was uns weiterhilft.«

»Geht klar!« Leitner hielt den Kaffeebecher weit von sich weg und ging davon.

Moses schüttelte den Kopf und wandte sich wieder an seinen Freund Kleinhues. Der hatte inzwischen seine Kamera ausgepackt und damit begonnen, Fotos von dem Toten zu machen.

»Ich weiß, dass es schwierig ist, wenn die Leiche im Wasser gelegen hat«, sagte Moses. »Aber vielleicht kannst du mir trotzdem schon etwas über den Todeszeitpunkt sagen. Was meinst du? Wie lange sitzt er schon hier?«

Kleinhues hielt kurz inne. »Ich wusste, dass das kommt!«, stöhnte er. »Heute ist Sonntag, und man hat mich gerade erst aus dem Bett geholt. Nur mal so nebenbei. Also lässt du mich besser erst mal meine Arbeit machen!«

Moses verkniff sich einen Kommentar und zog den offenen Mantel enger um seinen Körper. Schweigend beobachtete er, wie Kleinhues Fotos von den absonderlichen Würmern machte, die sich noch immer unter der Bank im Gras ringelten. Sonntag hin oder her, dieser Tag dürfte alles andere als geruhsam werden. Schließlich waren nackte, von fischartigen Würmern angefressene Leichen, die auf Kinderspielplätzen herumsaßen, selbst für eine Stadt wie Hamburg nicht gerade alltäglich. Und dies bedeutete wiederum, dass es bei den Ermittlungen zusätzlichen Druck von ganz oben geben würde. All das waren nicht gerade ideale Bedingungen für eine erfolgreiche Arbeit. Also musste er die ihm verbleibende Zeit nutzen. Bevor der Sturm losbrach.

3

Das Polizeipräsidium am Bruno-Georges-Platz fiel aus jedem städtebaulichen Rahmen. Und das in jeder Hinsicht. Der monströse Bürokomplex besaß die Form eines zehnzackigen Sterns, was aufgrund seiner schieren Größe jedoch nur aus der Luft in Gänze zu erkennen war. Seine mehrstöckige Fassade bestand aus jeder Menge Glas, was noch zusätzlich den Eindruck unterstrich, das sternförmige Gebäude wäre vom Himmel gefallen und rein zufällig im gutbürgerlichen Winterhude gelandet. Der Haupteingang am Ende der gewaltigen Treppe wirkte auf jeden Besucher unweigerlich wie das unersättliche Maul eines fremdartigen Kraken. Auch wenn Moses nachvollziehen konnte, dass es für die organisatorischen Abläufe einer Behörde mit beinahe zweitausend Mitarbeitern von Vorteil war, sämtliche Abteilungen unter einem Dach zu vereinen, konnte er diesem monströsen Bauwerk dennoch wenig abgewinnen. Für sein Gefühl hatte eine derart große Behörde etwas Erdrückendes. Und sie erzeugte eine falsche Demut.

Er passierte die Sicherheitsschranke und ging zu den Aufzügen, um hinauf in sein Büro zu gelangen. Während er auf den Aufzug wartete, überlegte er kurz, ob er nicht doch erst noch in die Kantine gehen sollte. Sein Hunger würde vermutlich bald ein ernsthaftes Problem werden. Aber dann blieb er bei seiner Entscheidung. Da er mittlerweile wusste, dass sein Kollege Feldhusen für längere Zeit ausfiel, würde er den Fall wohl oder übel übernehmen müssen. Sein freier Sonntag war somit dahin. Abgesehen davon hatte der ungewöhnliche Fall längst seine Neugier und auch seinen Ehrgeiz geweckt. Wobei er Letzteres nie offen zugeben würde. Aber je schwieriger die Nuss zu knacken war, je raffinierter der Täter zu Werke gegangen war, desto mehr genoss er die Jagd. Auf dem Spielplatz hatte die Spurensicherung ihre Arbeit zwar endlich aufgenommen, aber bis die Kollegen neue Erkenntnisse zutage förderten oder gar auf eine heiße Spur stießen, konnte er nicht warten. Es galt die Zeit zu nutzen, bevor die Presse ihnen auf die Füße trat und Trittbrettfahrer ihnen das Leben schwer machten.

Als die Aufzugtür sich öffnete, trat er ein und wählte die Etage. Kaum hatte sich die Tür wieder zu schließen begonnen, schob sich ein Fuß in den Spalt. Zu Moses’ Überraschung stand eine gepiercte junge Frau in Lederjacke und Jeans vor ihm. Sie würdigte ihn keines Blickes. Stattdessen betrat sie den Fahrstuhl und drückte auf die Sechs, dann drehte sie ihm den Rücken zu. Moses musterte die ungewöhnliche Erscheinung aus den Augenwinkeln. Die Frau war nicht groß, eher zierlich, dennoch machte sie einen durchtrainierten, geradezu martialischen Eindruck. Im Gegensatz dazu war ihr Gesicht im Profil auffällig fein, beinahe hübsch, was in einem seltsamen Kontrast zu der Aggressivität stand, die sie mit jeder Faser ihres Körpers ausstrahlte. Diese kurz geschorenen Haare und der Ring in der linken Augenbraue machten die Sache auch nicht besser, dachte Moses. Aber er musste sich eingestehen, dass er neugierig war. Normalerweise liefen junge Frauen in einer solchen Aufmachung nicht ohne Begleitung und Handschellen im Präsidium herum. Und sie fuhren für gewöhnlich auch nicht in den sechsten Stock, die oberste Etage, wo sich das heilige Büro des Direktors befand. Ganz besonders nicht an einem Sonntagmorgen.

»Was gibt es da zu glotzen?«

Moses zuckte unwillkürlich zusammen. Die spiegelnden Metalltüren hatten seine Neugier offenbar verraten, denn die junge Frau hatte sich abrupt zu ihm umgedreht und sah ihn herausfordernd an. Ihre Augen waren tiefgrün.

»Äh, nichts«, entgegnete Moses. Er war völlig perplex. »Was soll denn sein?«

»Dann sind wir uns ja einig!«, erwiderte die junge Frau kalt und drehte ihm wieder den Rücken zu.

Moses fühlte sich wie ein ertappter Schuljunge. Als der Aufzug endlich auf seiner Etage hielt und er dem peinlichen Schweigen entkommen war, atmete er erleichtert auf. Wenn er nicht bald einen Kaffee bekam, konnte er für nichts mehr garantieren.

Auf den Fluren der Abteilung 41, Tötungsdelikte/-ermittlungen, ging es kaum ruhiger zu als an einem normalen Werktag. An Wochenenden hatten die menschlichen Triebe bekanntlich Hochkonjunktur.

Moses betrat sein Büro am Ende des Ganges und warf dabei einen Blick auf seine Chronoswiss, ein Geschenk seines Adoptivvaters. Er hatte die erste Teambesprechung auf Punkt neun Uhr angesetzt. Bis dahin blieben ihm noch zehn Minuten. Genug Zeit, um seinen Körper mit Koffein zu versorgen. Er hängte seinen Mantel an den Wandhaken, schob den Jadebuddha auf dem Fensterbrett zur Seite und kippte das Fenster. Dann warf er seine Kaffeemaschine an. Sie war neben der antiken Jadefigur die einzige Extravaganz, die er sich am Arbeitsplatz leistete. Ansonsten hatte er das typische Behördenmobiliar behalten. Ein einfacher Schreibtisch samt ausgeleiertem Drehstuhl, ein halbhoher Aktenschrank und zwei Stühle. Auf die obligatorische Grünpflanze hatte er beim Einzug dankend verzichtet.

Als endlich das wohlige Gurgeln der Kaffeemaschine den Raum erfüllte, kam ihm Juliane in den Sinn. Er zog sein Handy hervor, doch dann zögerte er. Vermutlich saß sie gerade alleine am Frühstückstisch und war stinksauer auf ihn. Was er verstehen konnte. Anstatt die guten Neuigkeiten gemeinsam zu feiern, pulte er auf Kinderspielplätzen Fischwürmer aus nackten Leichen. Einen schönen guten Morgen auch!

Er schmiss das Handy auf den Schreibtisch. Endlich signalisierte die Maschine, dass der Kaffee fertig war. Heiß, stark und schwarz, so wie er es mochte, und schon der erste Schluck weckte seine Lebensgeister. Diese Röstung liebte er ganz besonders. Sie stammte aus einer ebenso kleinen wie feinen Privatrösterei, auf die er zufällig gestoßen war. Moses trat mit der dampfenden Tasse ans Fenster und blickte hinaus in den runden Innenhof. Das Einzige, was es dort zu sehen gab, war ein verloren wirkender Baum inmitten der mehrstöckigen runden Fassade aus endlosen, wabenähnlichen Fensterreihen. Bei diesem ernüchternden Anblick fühlte er sich stets wie ein winziges, in seiner Welt gefangenes Insekt. Rastlos und entbehrlich. Aber der Ausblick war nun einmal der Preis, den er für sein eigenes Reich am Ende des Gangs zahlen musste.

Moses nippte an seinem Kaffee und setzte sich hinter den Schreibtisch. Als er erneut nach seinem Handy greifen wollte, klingelte das Diensttelefon auf seinen Tisch. Mit einem Seufzer nahm er ab.

»Ja, bitte?«

»Wir sind schon vollzählig.«

»In Ordnung. Ich komme.«

Moses nahm einen letzten Schluck und verließ das Büro. Als er kurz darauf den Besprechungsraum betrat, verstummten die Gespräche. Kriminaloberkommissarin Elvers saß wie gewohnt in der Nähe der Tür, während Kriminalkommissar Viteri, der Jüngste in dem kurzfristig zusammengestellten Team, und sein Kollege Leitner am Konferenztisch gegenüber Platz genommen hatten. An der Stirnwand des Raumes hingen auf einem übergroßen Whiteboard die ersten Fotos des Toten und des Spielplatzes. Daneben hing der Ausdruck eines Stadtplans, auf dem sowohl der Fundort der Leiche als auch die unmittelbare Umgebung des Parks zu sehen waren. Oberkommissarin Elvers hatte wieder einmal mitgedacht und ihr Organisationstalent bewiesen. Moses nickte ihr dankend zu und nahm Platz.

»Guten Morgen«, grüßte er in die Runde. »Ich hoffe, Sie hatten im Gegensatz zu mir wenigstens ein Frühstück.«

Dann wurde er ernst.

»Wie Sie bereits wissen, wurde heute Morgen gegen fünf Uhr im Lohmühlenpark eine männliche Leiche aufgefunden. Alter circa fünfzig, besondere Merkmale: Übergewicht und zahlreiche Tätowierungen. Bislang sind Todesursache und -zeitpunkt unbekannt, ebenso die Identität des Mannes. Das Einzige, was sich zu diesem Zeitpunkt mit einiger Sicherheit sagen lässt, ist, dass der Tote vermutlich im Wasser gelegen hat. Sie haben bestimmt schon von den fischartigen Tieren in seinem Körper gehört.«

An dem pikierten Kopfnicken von Elvers und Viteri konnte er ablesen, dass der ungewöhnliche Umstand bereits bekannt war.

»Ist er auch im Wasser gestorben?«, fragte Elvers.

»Das wissen wir leider noch nicht«, erwiderte Moses. »Auf den ersten Blick waren keine äußeren Verletzungen zu erkennen. Wir müssen also auf die Gerichtsmedizin warten. In jedem Fall können wir angesichts der Auffindesituation wohl einen klassischen Selbstmord ausschließen.« Er wandte sich an Leitner: »Sie waren noch länger vor Ort. Hat die Spurensicherung in der Zwischenzeit vielleicht etwas zutage gefördert, was uns weiterhelfen könnte?«

Wie erwartet, schüttelte Leitner den Kopf. »Sieht ziemlich schlecht aus«, sagte er. »Die Jungs meinen, dass sie in dem Fall nicht viel machen können. Auf dem Spielplatz tummeln sich jeden Tag Hunderte von Menschen. Außerdem hat es in der Nacht stark geregnet.«

»Und die Befragung in der Nachbarschaft?«

»Hat bislang auch nichts gebracht. Niemand hat was gesehen oder gehört. Das Übliche eben.«

»Was ist mit der Kleidung des Toten?«

»Ebenfalls Fehlanzeige.«

»Vielleicht wurde sie von jemandem gestohlen«, warf Oberkommissarin Elvers ein, während sie sich eine rotblonde Locke hinter das Ohr strich. Sie trug ein schlichtes Kostüm und war wie immer ungeschminkt.

»Was ist mit dem Penner?«, wollte Kriminalkommissar Viteri wissen. Er deutete mit einem Kopfnicken auf seinen Kollegen Leitner. »Leo hat uns erzählt, dass er den Toten gefunden hat.«

»Er ist Alkoholiker«, sagte Moses. »Ich habe selbst mit ihm geredet, aber ich denke nicht, dass er etwas Brauchbares weiß.«

»Und wo ist er jetzt?«

»In der Bahnhofsmission. Dort kümmert man sich um ihn. Ich wollte ihn nicht der Presse überlassen.«

»Die ist übrigens schon am Ball«, berichtete Leitner. »Als Sie weg waren, sind die Ersten aufgetaucht. Das Fernsehen war sogar auch dabei.«

Moses legte die Stirn in Falten. »Ich hoffe, Sie haben niemanden an den Tatort vorgelassen …«

»Keine Sorge«, versicherte Leitner ihm. »Ich habe alle an die Presseabteilung verwiesen.«

Indessen deutete Elvers auf die Großaufnahme der merkwürdigen Würmer. »Und diese ekelhaften Tiere da sind wirklich aus der Leiche gekrochen?«, fragte sie.

Moses nickte, woraufhin Elvers erneut das Gesicht verzog. Bis heute wunderte er sich, warum sie vor zwei Jahren auf eigenen Wunsch von der Abteilung Organisierte Kriminalität zu ihnen in die Mordkommission gewechselt war. So unbestechlich, wie sie war, hätte sie in ihrer alten Abteilung sicher eine glänzende Karriere vor sich gehabt. Aber immer, wenn man sie danach fragte, wich sie aus.

»Diese Tiere erinnern mich an diese Alien-Filme«, meinte Viteri. Er schob die modische Hornbrille auf seiner Nase zurecht, dann stand er auf, um das Foto auf dem Whiteboard genauer zu studieren. »Diese Würmer sehen aus, als wären sie aus Glas. Man kann sogar die Organe sehen«, stellte er verwundert fest. Er kraulte nachdenklich seinen dichten schwarzen Bart. »Seltsam. Solche durchsichtigen Fische gibt es meines Wissens nur im Ozean und dort in großer Tiefe. Wo kommen die her?«

»Genau das werden Sie für uns herausfinden«, sagte Moses.

»Ich?« Viteri machte ein entgeistertes Gesicht. »Ich mag noch nicht mal Katzen oder Hunde. Schleimige Monster sind nicht mein Ding. Echt nicht!«

Er ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. Wenn es darum ging, Daten von zerstörten Festplatten zu fischen oder beschlagnahmte Computer zu knacken, war Viteri nicht zu bremsen. Für die analoge Wirklichkeit galt das eher weniger.

»Sie sollen lediglich jemanden auftreiben, der sich damit auskennt«, beruhigte Moses ihn. »Mehr nicht. Das schaffen Sie schon.«

Viteri wirkte erleichtert. Anders als sein Name vermuten ließ, besaß er keine italienischen, sondern baskische Wurzeln. Seine Großeltern stammten aus dem spanischen Baskenland und gehörten zur ersten Einwandergeneration.

»Und ich habe noch etwas für Sie«, fügte Moses hinzu. Er deutete auf das Bild mit der orientalisch anmutenden Tätowierung. »Ich will wissen, was diese Schriftzeichen bedeuten. Und zwar möglichst schnell.«

»Ich finde, die sehen eindeutig arabisch aus«, wandte Oberkommissarin Elvers ein. »Könnte es nicht sein, dass der Tote mit der Salafisten-Szene zu tun hat?«

»Möglich ist alles«, entgegnete Moses mit einem Achselzucken. Insgeheim hoffte er inständig, dass dies nicht zutraf. Denn sonst kamen noch ganz andere Leute ins Spiel.

»Wo ist die Tätowierung denn?«, fragte Elvers.

»Auf der Brust, links, direkt über dem Herzen.« Moses lehnte sich zurück. »Es dürfte also eine gewisse Bedeutung für ihn gehabt haben.«

»Wenn ihr mich fragt, ist der Typ für einen Terroristen eigentlich zu fett«, warf Leitner ein. »Vielleicht ist es nur ein Liebesschwur an eine schöne Frau …«

Er zwinkerte Elvers zu, die ihn jedoch gekonnt ignorierte.

»Ob Sie mit Ihrer Vermutung recht haben, werden wir hoffentlich bald wissen«, nahm Moses den Faden wieder auf. »Bis dahin möchte ich, dass Sie sich vor Ort noch einmal umsehen. Rund um den Park sind einige Hotels – ich will die Gästelisten. Es könnte ja sein, dass der Tote nicht von hier kommt. Und erkundigen Sie sich, welche Überwachungskameras es in dem Viertel gibt. Vielleicht haben wir ja Glück.«

»Sie meinen, ein toter Mann, der nackt durchs Bild läuft?«, frotzelte Leitner.

»Wenn Sie mir das liefern, bekommen Sie eine Flasche Champagner«, entgegnete Moses sarkastisch. »Also fangen Sie am besten gleich damit an.«

Es war offensichtlich, dass Leitner nicht sonderlich glücklich über seine Aufgabe war. Sie bedeutete jede Menge Lauferei und Klinkenputzen.

»Und was soll ich tun?«, meldete sich Elvers zu Wort.

»Sie besorgen mir die Identität des Mannes«, entschied Moses. »Solange wir nicht wissen, wer er ist, haben wir keinerlei Ansatzpunkte. Also nehmen Sie bitte Kontakt mit der Vermisstenstelle und der Notrufzentrale auf. Und mit den einzelnen Polizeirevieren. Am besten veranlassen Sie auch gleich noch die Taxizentralen dazu, ihre Fahrer zu befragen. Unter Umständen ist ihnen etwas Merkwürdiges aufgefallen.«

»Geht klar!« Elvers klappte das Büchlein zu, in dem sie sich Notizen gemacht hatte.

»Ach, ja«, fügte Moses hinzu. »Und besorgen Sie sich die Fingerabdrücke. Vielleicht haben das BKA oder Interpol ja etwas in den Datenbanken.«

»Und wie können wir Sie erreichen, wenn wir etwas gefunden haben?«, wollte Viteri wissen. Er rückte seine Brille zurecht.

»Ich werde in der Zwischenzeit bei der Gerichtsmedizin vorbeifahren und Druck machen.« Moses sah auf seine Uhr. »Wir treffen uns in zwei Stunden wieder. Bis dahin haben wir mit ein bisschen Glück erste Ergebnisse. Also los, an die Arbeit!«

Moses sah zu, wie seine Mitarbeiter den Besprechungsraum einer nach dem anderen verließen. Dann trat er vor das Whiteboard, um die Fotos der Leiche näher zu betrachten. Dass der Unbekannte auf dem Spielplatz den Tod gefunden hatte, war in seinen Augen ebenso unwahrscheinlich wie ein Suizid. Dort gab es keine fischartigen Würmer, die sich in Leichen fraßen. Folglich waren der oder die Täter ein großes Risiko eingegangen, um den Toten in aller Öffentlichkeit auf der Spielplatzbank zu platzieren. Aber weshalb? Wollten sie damit ein Zeichen setzen? Und wenn ja, aus welchem Grund? Und wie war der Mann gestorben, und vor allem wo? Und dann waren da noch diese seltsamen Fische. Zufall oder Teil eines symbolischen Racheaktes? Moses nahm ein Foto von dem Whiteboard und studierte mit gerunzelter Stirn das aufgedunsene Gesicht des Unbekannten. Wer bist du?, fragte er das Foto. Bislang ergab nichts einen Sinn. Nichts passte irgendwie zusammen. Doch es war etwas anderes, das ihn wirklich beunruhigte: Eine innere Stimme sagte ihm, dass ihn dieser Fall an seine persönlichen Grenzen führen würde.

4

Er hätte in der Gerichtsmedizin anrufen können, aber aus Erfahrung wusste Moses, dass Untersuchungsberichte oftmals länger dauerten, als ihm lieb war. Sein Freund Kleinhues bildete da leider keine Ausnahme. Also ging er zu seinem Büro, um sein Handy und seinen Mantel zu holen. Er hatte beschlossen, selbst nach Eppendorf zu fahren, um die Dinge zu beschleunigen. Vielleicht ließ sich wenigstens die Todesursache des Mannes klären, denn solange sie die Identität des Toten nicht kannten, hingen sie praktisch in der Luft. So wie es aussah, gab es auch keine zufälligen Zeugen, die ihnen einen Ansatz hätten liefern können. Eine derartige Ausgangssituation bedeutete für jeden Ermittler den Worst Case, und Moses war erfahren genug, um zu wissen, dass jetzt nur Routine weiterhelfen würde. Als er die Teeküche und den Kopierraum passiert hatte und gerade sein Büro betreten wollte, hielt er in der Tür inne. Zu seiner Verblüffung hatte er Besuch. Die gepiercte junge Frau aus dem Fahrstuhl stand am Fenster und hantierte an seiner Buddhafigur.

»Stellen Sie das sofort wieder hin!«, entfuhr es Moses, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte. Er bemühte sich ruhig zu bleiben, denn die Jadefigur war nicht nur alt, sondern auch extrem selten und kostbar.

Die Unbekannte warf einen kurzen Blick über die Schulter. Auch sie schien überrascht zu sein, den Mann aus dem Aufzug wiederzusehen.

»Hübsches Teil!« Sie knallte die Figur zurück auf die Fensterbank. Dann drehte sie sich um, wobei ihre Lederjacke knarzende Laute von sich gab.

»Was suchen Sie hier?«, erkundigte sich Moses ungehalten.

»Ich suche nichts. Ich warte.«

»Wenn das so ist, nehme ich an, dass Sie auf mich warten. Also, was wollen Sie von mir?«

»Ich bin die Neue.«

Das verschlug selbst Moses die Sprache.

»Ich soll mich bei Ihnen melden«, ergänzte die junge Frau kaugummikauend.

»Wer sagt das?«, fragte er.

»Der Direktor.«

»Bonnekamp?«

Kriminaldirektor Bonnekamp war der Leiter des LKA. Moses war irritiert.

»Ich soll bei Ihnen meinen Dienst antreten«, fuhr seine Besucherin ungerührt fort. »Übrigens: Sorry wegen vorhin im Fahrstuhl. Niemand hat mir gesagt, dass mein neuer Chef …«, sie stockte, »na ja, dass er so aussieht wie Sie.«

Das klang, als hätte man sie wegen seiner Hautfarbe vorwarnen müssen. Moses atmete tief durch. Diese verklemmte Verlegenheit war mitunter amüsant, aber meistens ging sie ihm gelinde gesagt auf die Nerven. So wie jetzt.

»Also, nachdem das ja jetzt geklärt wäre – was soll ich tun?« Seine Besucherin blickte sich im Büro um.

»Moment, Moment!«, bremste Moses. »Bislang weiß ich von nichts. So schnell geht das nicht!«

Er konnte es nicht ausstehen, überrumpelt zu werden. Weder von dieser forschen jungen Frau noch von seinem Chef. Dass die Stelle von Hendriks nach seinem tragischen Tod neu besetzt werden musste, war ihm durchaus bewusst. Bislang war es jedoch üblich, dass die leitenden Kommissare bei den Personalentscheidungen miteinbezogen wurden. Abgesehen davon widmete sich Bonnekamp normalerweise lieber seinen politischen Ränkespielen als den Personalsorgen seiner Abteilungen.

»Wir werden nichts überstürzen«, sagte Moses deshalb. »Bislang hat mich niemand über Ihr Kommen informiert. Ich kenne ja nicht mal Ihren Namen!«

»Kriminalkommissarin Helwig. Vorname: Katja.«

»Aha.«

Mehr als diese dümmliche Bemerkung brachte er nicht zustande. Er war noch immer wie vor den Kopf gestoßen. Als er ansetzte, um die ungebetene Besucherin endlich loszuwerden, klingelte das Handy auf seinem Schreibtisch. Es war Juliane.

»Einen Augenblick!«, beschied er der neuen Kommissarin genervt, bevor er den Anruf entgegennahm.

»Guten Morgen … Nein, natürlich habe ich das nicht vergessen … Hör mal, ich kann jetzt nicht reden. Ich ruf dich in ein paar Minuten zurück … Nein, versprochen!«

Danach legte er auf. Als er erneut Luft holte, um seine Besucherin abzuwimmeln, klopfte es an der Tür. Jetzt platzte ihm endgültig der Kragen.

»Herrgott noch mal!«, fluchte er. »Kann man nicht mal für fünf Minuten seine Ruhe haben? Ja, bitte?«

Der pickelige Praktikant, der daraufhin sein Büro betrat, streckte ihm sichtlich erschrocken einen Ordner entgegen.

»Das … das hier soll ich Ihnen geben!«, stammelte er.

Moses riss ihm den Ordner aus der Hand. »Ja, danke! Noch etwas?«

»Nein, nein!«, sagte der Praktikant hastig und verschwand.

Moses sah auf das Deckblatt des Ordners.

»Vermutlich meine Personalakte«, kommentierte die junge Frau ungefragt.

Moses überhörte ihre Bemerkung. Stattdessen baute er sich vor ihr auf.

»Am besten, Sie wenden sich an Oberkommissarin Elvers«, sagte er. »Sie wird sich um Sie kümmern.«

»Und wo finde ich die?«

»Den Gang runter, dann links! Suchen Sie einfach jemanden mit roten Locken. Auf Wiedersehen!«

Die junge Frau zögerte. Sie musterte ihn, als witterte sie eine Falle. Dann verließ sie mit düsterer Miene den Raum.

Moses atmete auf. Wenn diese junge Frau Hendriks’ Platz einnehmen sollte – na dann Gute Nacht! Er überflog die Personalakte in seiner Hand. Familienname: Helwig. Vorname: Katja. Geboren am 6.8.1985, Familienstand ledig, keine Kinder, Schulabschluss: Mittlere Reife, nach bestandenem Eignungstest Ausbildung an der Polizeiakademie, danach drei Jahre beim Mobilen Einsatzkommando. Mehrere Auszeichnungen im aktiven Dienst. Trotzdem freiwilliger Abschied beim MEK, danach Rückkehr an die Polizeiakademie und Einstieg in die höhere Polizeilaufbahn. Im Frühjahr diesen Jahres Abschluss als Jahrgangsbeste. Freizeitaktivitäten: Mitglied der Polizei-Sportschützen-Mannschaft, Kickboxerin und Freeclimberin.

Moses klappte die Akte zu. Er hatte genug gelesen. Und er war gehörig angefressen. Auch wenn sie einen guten Abschluss aufzuweisen hatte, war ein Adrenalinjunkie so ziemlich das Letzte, was er in seiner Abteilung gebrauchen konnten. Die junge Frau entsprach nicht im Entferntesten dem Anforderungsprofil. Er war schon jetzt gespannt darauf, wie Bonnekamp ihm das erklären wollte. Abgesehen davon gab es genug erfahrene Kommissare beim LKA, die sich besser um das Grünzeug von der Polizeiakademie kümmern konnten als er. Moses schnappte sich seinen Mantel. Er war entschlossen, auf dem Weg in die Gerichtsmedizin einen Umweg über den sechsten Stock zu machen. Er hatte den Verdacht, dass Bonnekamp auch an diesem Sonntag in seinem Büro saß.

 

Das Vorzimmer des Kriminaldirektors galt gemeinhin als gefährliches Terrain, das man nur mit einem wirklich guten Grund betrat. Denn hier regierte Gertrud. Die zierliche Frau mit dem grauen Haarknoten und dem Gemüt eines Kampfhundes war eine Institution. Niemand wusste zuverlässig, wie alt sie war, ebenso wenig konnte sich beim LKA jemand an die Zeiten vor ihr erinnern. Während ihre Chefs kamen und gingen, klebte sie an ihrem Stuhl wie eine sturmerprobte Muschel auf einem Felsen. Glücklicherweise galt das nicht für die Wochenenden, und somit war die Luft heute rein. Moses betrat das Direktorenzimmer ohne aufgehalten zu werden.

»Da sind Sie ja!«, begrüßte ihn Bonnekamp von seinem überdimensional großen Schreibtisch aus. »Ich hatte Sie früher erwartet! Kommen Sie rein!«

Bei Moses schrillten sofort die Alarmglocken. Bonnekamp war bekanntlich ein unverbesserlicher Karrierist, der sich wenig für die praktische Polizeiarbeit interessierte. Auch wenn es vielleicht derart wendige Charaktere brauchte, um einen Bürokratiedampfer wie das LKA auf Kurs zu halten – Moses selbst war alles Politische grundsätzlich suspekt.

»Setzen Sie sich!«, forderte Bonnekamp ihn auf. Er deutete auf die beiden Ledersessel vor seinem Schreibtisch. »Ich denke, wir sollten uns unterhalten.«

Moses zögerte, und wählte schließlich den linken Sessel. Das Leder fühlte sich kalt an.

Bonnekamp schob einen Teller mit Gebäck über die Tischplatte. »Möchten Sie?«

»Nein, danke! Lassen Sie uns lieber …«

»Das sollten Sie aber!«, unterbrach ihn der Direktor. »Gertruds Backkünste sind weitaus besser, als man vermuten würde. Ihre Kekse sind tatsächlich sensationell. Leider.«

Er tätschelte seinen Bauch und lächelte sein blitzsauberes Lächeln, das durch die schwarz gefärbten Haare noch unechter wirkte. Moses fiel auf, dass er das Jackett über die Stuhllehne gehängt und seine Krawatte abgelegt hatte. Ein Grund mehr, Vorsicht walten zu lassen.

»Ich habe nicht viel Zeit«, versuchte Moses zur Sache zu kommen. »Da Sie mich offensichtlich erwartet haben, wissen Sie ja, warum ich hier bin.«

»Sagen wir, ich habe eine Vermutung«, erwiderte Bonnekamp unbekümmert.

»Gut«, sagte Moses. »Dann machen wir es kurz: Diese junge Frau, die Sie mir da geschickt haben, ist für unsere Abteilung nicht geeignet. Sie ist eine tickende Bombe!«

»Das könnte durchaus sein«, stimmte ihm Bonnekamp lächelnd zu.

Moses glaubte sich verhört zu haben.

»Sie stimmen mir zu?«

Bonnekamp angelte einen weiteren Keks und biss hinein.

»Nun, es könnte sein, dass Sie in Bezug auf die – nennen wir es – Hitzköpfigkeit durchaus recht haben«, sagte er. Er hustete ein paar Kekskrümel auf den Schreibtisch, dann reichte er Moses drei zusammengeheftete Blätter. »Das gehört eigentlich noch in die Personalakte. Ich wollte aber erst mit Ihnen darüber reden.«

Die Blätter entpuppten sich als die Zusammenfassung eines psychologischen Gutachtens.

»Das ist völlig inakzeptabel!«, erregte sich Moses, nachdem er die zusammengefasste Einschätzung des psychologischen Dienstes überflogen hatte. »Diese junge Frau hat nachweislich ein Problem mit Autoritäten und neigt zu Aggressionen. Was sollen wir mit einem Rambo im Morddezernat?«

Er schnaufte und zitierte aus dem Gutachten: »… ›neigt zu unkontrollierten Handlungen‹. Oder hier: ›das subjektive Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, kann aufgrund biografischer und familiärer Erfahrungen zu diffusen Aggressionsschüben führen.‹« Er warf die Blätter auf den Tisch. »Haben Sie das etwa nicht richtig gelesen?«

»Doch, natürlich habe ich das«, erwiderte Bonnekamp gelassen.

»Dann verstehe ich es nicht. Klären Sie mich auf.«

Das Lächeln in Bonnekamps Gesicht erlosch. Stattdessen legte er die Fingerspitzen gegeneinander.

»Nun, Ihnen ist doch sicher klar, dass die Stelle des armen Hendriks möglichst schnell wieder besetzt werden muss«, erklärte er ernst. »Andernfalls kommt ein Rechnungsprüfer im Innenministerium noch auf die Idee, dass es auch ohne geht. Verstehen Sie? Diese Pfennigfuchser warten nur auf eine Gelegenheit, um sich mit Einsparungen im Personalschlüssel beim Minister einzuschmeicheln.«