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Nachbarrecht Baden-Württemberg

Kommentierung des Nachbarrechtsgesetzes und der relevanten Vorschriften des BGB sowie im Anhang Texte weiterer Vorschriften

bearbeitet von

Dr. Christian Kaiser
Richter am Amtsgericht Nürtingen

Dr. Helmut Kaiser
Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht a. D.
Honorarprofessor an der Universität Dresden

bis zur 18. Auflage bearbeitet von

Rainer Karremann
Ministerialrat im Ministerium für Ernährung
und Ländlichen Raum Baden-Württemberg a. D.

Georg Kahl
Ministerialrat im Umweltministerium
Baden-Württemberg a. D.

19., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

19. Auflage 2019

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-033984-2

 

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-033985-9

epub: ISBN 978-3-17-033986-6

mobi: ISBN 978-3-17-033987-3

 

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Vorwort

Die bewährte Konzeption des Buches, eine Zusammenfassung des Nachbarrechts in Baden-Württemberg, wurde beibehalten. Um mehr Raum für die Kommentierung der einzelnen entscheidenden Vorschriften zu bekommen und um den Umfang des Buches nicht anwachsen zu lassen, wurden Teile der Vorauflage entnommen. Bei den „weiteren nachbarrechtlichen Vorschriften“ wurden nur die wichtigsten Vorschriften, die für den Gebrauch unerlässlich erschienen, belassen, so beispielsweise die wichtigsten Vorschriften der LBO und des WHG. Die übrigen nachbarrechtlichen Vorschriften kann heutzutage jeder Nutzer leicht im Internet abrufen.

Dafür wurde die Kommentierung zu den einzelnen Normen des NRG und des BGB (meist) wesentlich erweitert, aktualisiert und wesentlich übersichtlicher gestaltet. Auf eine systematische und übersichtliche Darstellung wurde großen Wert gelegt, schon um das Nachschlagen und Auffinden einzelner Problemstellungen zu erleichtern. So wurde, soweit es möglich war, die Erläuterung zu jeder Vorschrift gleich aufgebaut. Zum besseren Verständnis des Nachbarrechts, insbes. zur Systematik und dem Zusammenspiel der privaten und der öffentlich-rechtlichen Normen wurde die Einleitung wesentlich erweitert, auf den dogmatischen Zusammenhang wurde besonderer Wert gelegt.

Trotz aller Regelungen möge der Nutzer jedoch vor allem beherzigen, dass ein nachbarliches Zusammenleben oft mehr vom guten Willen der Nachbarn abhängt, als von der Durchsetzung von Rechtsvorschriften.

 

Wendlingen im August 2018
Dr. Christian Kaiser


Dr. Helmut Kaiser

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Abkürzungsverzeichnis

AEinleitung

I.Grundbegriffe

1.Eigentum

2.Das Grundstück

3.Der Nachbar

II.Kurzer geschichtlicher Abriss

1.Regelungen im Privatrecht

2.Regelungen im öffentlichen Recht

III.Systematik des Nachbarrechts

1.Öffentliches und privates Nachbarrecht

2.Rechtsweg

3.Verhältnis öffentliches/privates Nachbarrecht

BGesetz über das Nachbarrecht (Nachbarrechtsgesetz – NRG)

I.Gesetzestext

II.Tabellen

III.Erläuterungen Nachbarrechtsgesetz (NRG)

§ 1Ableitung des Regenwassers und des Abwassers

§ 2Traufberechtigung bei baulichen Änderungen

§ 3Abstand von Lichtöffnungen

§ 4Abstand von ausblickgewährenden Anlagen

§ 5Lichtöffnungen und andere Gebäudeteile, die auf öffentliche Wege oder Plätze Ausblick gewähren

§ 6Abstand schadendrohender und störender Anlagen

§ 7Gebäudeabstände und Einfriedigungen bebauter Grundstücke im Außenbereich

§ 7aGründungstiefe

§ 7bÜberbau

§ 7cÜberbau durch Wärmedämmung

§ 7dHammerschlags- und Leiterrecht

§ 7eBenutzung von Grenzwänden

§ 7fLeitungen

§ 8Aufschichtungen und Gerüste

§ 9Abstände und Vorkehrungen bei Erhöhungen

§ 10Befestigung von Erhöhungen

Vorbemerkung

§ 11Tote Einfriedigungen

§ 12Hecken

§ 13Spaliervorrichtungen

§ 14Rebstöcke in Weinbergen

§ 15Waldungen

§ 16Sonstige Gehölze

§ 17Hopfenpflanzungen

§ 18Begünstigung von Weinbergen und Erwerbsgartenbaugrundstücken

§ 19Verhältnis zu landwirtschaftlich nicht genutzten Grundstücken

§ 20Pflanzungen hinter geschlossenen Einfriedigungen

§ 21Verhältnis zu Wegen, Gewässern und Eisenbahnen; Ufer- und Böschungsschutz

§ 22Feststellung der Abstände

§ 23Überragende Zweige

§ 24Eingedrungene Wurzeln

§ 25Bäume an öffentlichen Wegen

§ 26Verjährung

§ 27Vorrang von Festsetzungen im Bebauungsplan

§ 28Erklärte Waldlage, erklärte Reblage und erklärte Gartenbaulage

§ 29Erlass von Gemeindesatzungen

§ 30Einwirkung von Verkehrsunternehmen

§ 31Durch Zeitablauf entstandene Fensterschutzrechte

§ 32Alte Mauerrechte

§ 33Bestehende Einfriedigungen, Spaliervorrichtungen, Pflanzungen und bauliche Anlagen

§ 34Bäume von Waldgrundstücken

§ 35Überragende Zweige und eingedrungene Wurzeln von bestehenden Obstbäumen

§ 36Verweisung auf aufgehobene Vorschriften

§ 37Inkrafttreten

CNachbarrechtliche Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs

I.Gesetzestext BGB (Auszüge)

II.Erläuterungen nachbarrechtlicher Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches aus dem 3. Abschnitt (Eigentum) des 3. Buches (Sachenrecht)

§ 903Befugnisse des Eigentümers

§ 904Notstand

§ 905Begrenzung des Eigentums

§ 906Zuführung unwägbarer Stoffe

§ 907Gefahr drohende Anlagen

§ 908Drohender Gebäudeeinsturz

§ 909Vertiefung

§ 910Überhang

§ 911Überfall

§ 912Überbau, Duldungspflicht

§ 913Zahlung der Überbaurente

§ 914Rang, Eintragung und Erlöschen der Rente

§ 915Abkauf

§ 916Beeinträchtigung von Erbbaurecht oder Dienstbarkeit

§ 917Notweg

§ 918Ausschluss des Notwegrechts

§ 919Grenzabmarkung

§ 920Grenzverwirrung

§ 921Gemeinschaftliche Benutzung von Grenzanlagen

§ 922Art der Benutzung und Unterhaltung

§ 923Grenzbaum

§ 924Unverjährbarkeit nachbarrechtlicher Ansprüche

§ 1004Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch

DAnhang

1.Ausführungsgesetze zum Bürgerlichen Gesetzbuch in Baden und in Württemberg

a)Badisches Ausführungsgesetz zum ­Bürgerlichen Gesetzbuch

b)Württembergisches Ausführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch und zu den anderen Reichsjustizgesetzen

2.Landesbauordnung für Baden-Württemberg (LBO)

3.Gesetz zur Ordnung des Wasserhaushalts (Wasserhaushaltsgesetz – WHG)

4.Wassergesetz für Baden-Württemberg (WG)

5.Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundes-Immissionsschutzgesetz – BImSchG)

6.Waldgesetz für Baden-Württemberg (Landeswaldgesetz – LWaldG)

7.Gesetz zum Schutz der Natur, zur Pflege der Landschaft und über die Erholungsvorsorge in der freien Landschaft (Naturschutzgesetz – NatSchG)

8.Baugesetzbuch (BauGB)

Stichwortverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

   
a. A. anderer Ansicht
a. E. am Ende
a. F. alte Fassung
AG Amtsgericht
AGBGB Ausführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch
AHB Allgemeine Versicherungsbedingungen für die Haftpflichtversicherung
AgrarR Agrarrecht Zeitschrift für das gesamte Recht der Landwirtschaft, der Agrarmärkte und des ländlichen Raums
AK Anwaltskommentar
Art. Artikel
AUR Agrar- und Umweltrecht
   
Ba. badisch
BAnz. Bundesanzeiger
BauGB Baugesetzbuch
BauNVO Baunutzungsverordnung
BaWü Baden-Württemberg
ba.wü. baden-württembergisch
BB Betriebsberater
BGB Bürgerliches Gesetzbuch
BGBl. I Bundesgesetzblatt Teil I
BGHZ Bundesgerichtshof (Entscheidungen in Zivilsachen)
BImSchG Bundes-Immissionsschutzgesetz
BNatSchG Bundesnaturschutzgesetz
BVerfG Bundesverfassungsgericht
BVerwG Bundesverwaltungsgericht
BWGZ Die Gemeinde (Zeitschrift des Gemeindetags BaWü)
BWNotZ Zeitschrift für das Notariat in BaWü
   
DNotZ Deutsche Notar-Zeitschrift
DÖV Die Öffentliche Verwaltung
DSchG Denkmalschutzgesetz
DVBl Deutsches Verwaltungsblatt
DWW Deutsche Wohnungswirtschaft
   
EGBGB Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch
EGZPO Gesetz, betreffend die Einführung der Zivilprozessordnung
ErbbauVO Verordnung über das Erbbaurecht
Erl. Erläuterung/Erläuterungen
ESVGH Entscheidungssammlung des Hessischen und Baden-Württembergischen Verwaltungsgerichtshofs
   
f., ff. folgender, folgende (Paragrafen)
FischG Fischereigesetz für Baden-Württemberg
FStrG Bundesfernstraßengesetz
   
GABl. Gemeinsames Amtsblatt (Baden-Württemberg)
GastG Gaststättengesetz
GBl. Gesetzblatt für Baden-Württemberg
GemO Gemeindeordnung für Baden-Württemberg
GewA Gewerbearchiv
GewO Gewerbeordnung
GG Grundgesetz
GVBl. Gesetz- und Verordnungsblatt
GVG Gerichtsverfassungsgesetz
   
h. M. herrschende Meinung
   
i. d. F. in der Fassung
i. S. v. im Sinne von
i. V. m. in Verbindung mit
   
JZ Juristenzeitung
   
KrW/AbfG Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz
   
LAbfG Landesabfallgesetz
LBO Landesbauordnung für Baden-Württemberg
LBOAVO Allgemeine Ausführungsverordnung zur LBO
LG Landgericht
LLG Landwirtschafts- und Landeskulturgesetz
LM Lindenmaier-Möhring
LOWiG Landesordnungswidrigkeitengesetz
LRS Landesrechtssatz (Landrecht des Großherzogtums Baden)
LT-DS Landtag von Baden-Württemberg – Drucksache
LuftVG Luftverkehrsgesetz
LVG Landesverwaltungsgesetz
LWaldG Waldgesetz für Baden-Württemberg
   
MDR Monatsschrift für Deutsches Recht
MK Münchener Kommentar (zum BGB)
m. w. N. mit weiteren Nachweisen
   
NatSchG Naturschutzgesetz
NJW Neue Juristische Wochenschrift
NJW-RR NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht
NRG Nachbarrechtsgesetz
NuR Natur und Recht
NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
NVwZ-RR NVwZ-Rechtsprechungs-Report Verwaltungsrecht
NZM Neue Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht
   
OLG Oberlandesgericht
OVG Oberverwaltungsgericht
OWiG Gesetz über Ordnungswidrigkeiten
   
PolG Polizeigesetz
   
RdL Recht der Landwirtschaft
RegBl. Regierungsblatt für Württemberg
RGZ Reichsgericht (Zivilsachen)
RGBl. Reichsgesetzblatt
Rn. Randnummer
   
SchlG Schlichtungsgesetz
StAnz. Staatsanzeiger
StGB Strafgesetzbuch
str. strittig
StrG Straßengesetz für Baden-Württemberg
   
TA Luft Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft
TA Lärm Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm
   
UPR Umwelt- und Planungsrecht
Urt. v. Urteil vom
   
VBlBW Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg
VersR Versicherungsrecht
VGH Verwaltungsgerichtshof
VO (EWG, EG, EU) Verordnung (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Europäische Gemeinschaft, Europäische Union)
VPr. Verwaltungspraxis
VwGO Verwaltungsgerichtsordnung
   
WEG Wohnungseigentumsgesetz
WG Wassergesetz für Baden-Württemberg
WHG Wasserhaushaltsgesetz
WPM Wertpapiermitteilungen
WRP Wettbewerb in Recht und Praxis
württ./wü. württembergisch
   
ZfL Zeitschrift für Lärmbekämpfung
ZfW Zeitschrift für Wasserrecht
ZMR Zeitschrift für Miet- und Raumrecht
ZPO Zivilprozessordnung
ZUR Zeitschrift für Umweltrecht

AEinleitung

I.Grundbegriffe

1.Eigentum

1a) Herrschaftsbefugnisse. Nach § 903 BGB kann der „Eigentümer einer Sache … mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen“. Das bedeutet, dem Eigentümer steht – positiv – die rechtlich und tatsächliche Herrschaft über seine Sache zu, er kann mit ihr tun und machen, was er will. So kann der Grundstückseigentümer sein Grundstück veräußern, belasten oder Tomaten darauf anbauen; er kann Dritten das Betreten seines Grundstücks frei erlauben oder aber dafür Eintritt verlangen.

Der Eigentümer kann aber auch – negativ – andere von jeder Benutzung seines Grundstücks ausschließen, jedem verbieten sein Grundstück zu betreten oder es irgendwie zu nutzen. Er kann sein Eigentum herausverlangen, § 985 BGB, wenn ein anderer ihm das Eigentum und den Besitz entzogen hat. Er kann vom Störer Beseitigung einer Beeinträchtigung und Unterlassung verlangen, § 1004 BGB, wenn sein Eigentum beeinträchtigt wird.

2b) Kollisionsprobleme. Diese weiten Freiheiten führen zwangsläufig zu Kollisionsproblemen mit den anderen Eigentümern oder sonst Berechtigten, da es unterschiedliche Vorstellungen gibt, wie man mit seiner Sache umgeht. Während ein Eigentümer sein Grundstück als Gartenland und Ruhezone nutzen will, will ein anderer darauf einen Schrottplatz errichten, der dritte Gen-Mais anbauen und der vierte eine Diskothek betreiben. Bereits hieran zeigt sich, dass das Eigentum nicht ohne Beschränkungen ausgeübt und verwirklicht werden kann. Ein gedeihliches menschliches Zusammenleben erfordert, dass Regeln bestehen, wie die verschiedenen Herrschaftsbereiche gegeneinander abgegrenzt, die Freiheitsbedürfnisse voneinander getrennt werden. Dies ist der Bereich des Nachbarrechts.

3c) Begrenzungen. Der Herrschaftsbereich des Eigentums ist nicht schrankenlos und unbegrenzt. Die weiten Befugnisse des Eigentümers bestehen nur, wie bereits § 903 Satz 1 BGB zeigt: „… soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen“. Dabei handelt es sich um die verschiedensten Vorschriften, die die unterschiedlichsten Gegenstände betreffen.

4So regeln die §§ 903 ff. BGB vor allem, was der Eigentümer für Einwirkungen hinnehmen muss, was er zu dulden hat, etwa unwesentliche Einwirkungen § 906 Abs. 1 BGB, aber auch was er nicht hinzunehmen hat, etwa wesentliche Beeinträchtigungen, § 906 Abs. 1 BGB oder gefahrdrohende Anlagen, § 907 BGB. Das Gesetz gibt ihm auch Abwehrmaßnahmen an die Hand, mit denen er Einwirkungen, die er nicht zu dulden hat, abwehren kann, etwa § 1004 BGB. Auch Rechte Dritter, wie die Grunddienstbarkeiten, §§ 1018 ff. BGB, beschränken seine Rechte.

5Weiter beschränken öffentlich-rechtliche Regelungen sein Eigentum ganz wesentlich. So kann der Eigentümer nicht wahllos bauen, muss sich im Rahmen des Bauplanungs- und Bauordnungsrechts und des Verfahrens halten, muss Naturschutz und Immissionsschutz beachten, öffentlich-rechtliche Widmungen. Er erhält allerdings auch hier die Möglichkeit, sich mit einer Klage zu wehren, wenn seine Rechte verletzt werden. So kann er gegen eine – unberechtigte – Baugenehmigung oder Betriebserlaubnis für den Nachbarn vorgehen.

6Beschränkungen bieten auch die nachbarrechtlichen Vorschriften des NRG. Diese Regelungen sind landesrechtliche Vorschriften, sie dienen dazu, die regionalen Besonderheiten zu berücksichtigen, etwa §§ 7c und 7d NRG, Duldung von Überbau bei Wärmedämmung und das Hammerschlags- und Leiterrecht.

7Eine weitere Besonderheit stellt das nachbarrechtliche Gemeinschaftsverhältnis dar. Dieses ist nicht spezialgesetzlich geregelt, aber seit RGZ 154, 161 ff. anerkannt, während es noch in RGZ 132, 51, 56 abgelehnt wurde. Dieses Rechtsinstitut soll dazu dienen, den gerechten Ausgleich der widerstreitenden Belange, das für dieses Lebensverhältnis richtige Recht zu finden“. Der Eigentümer hat auf die Belange des Nachbarn Rücksicht zu nehmen. Es handelt sich um eine Ausprägung von Treu und Glauben. Aus der nachbarlichen Nähe ergibt sich die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme. Da die gesetzlichen Regelungen nicht alle Situationen erfassen können, gibt es Ausnahmefälle, die einen über die gesetzlichen Regelungen hinausgehenden billigen Ausgleich geboten erscheinen lassen (BGH NJW 1984, 729, 730).

8Auch vertragliche Beziehungen können zwischen den Nachbarn bestehen und so die allumfassenden Freiheitsbefugnisse einschränken. So können Nachbarn ihre Verhältnisse vertraglich regeln, ein bestimmtes Verhalten als Norm bestimmen: Etwa, dass der Nachbar nur wochentags zwischen 14 und 18 Uhr seinen Rasen mähen darf, dass nur nach 20 Uhr gegrillt wird. Häufig einigen sich die Nachbarn auf solche Regelungen durch Vergleich bei Gericht, um zusammenleben zu können. Daran haben sich die Parteien zu halten, auch wenn das Rasenmähen nach örtlichen Satzungen vormittags erlaubt wäre. Diese Vereinbarungen sind Grundlage der Verhaltensregeln zwischen den Nachbarn. Gewisse Vereinbarungen können auch dinglich gesichert, also ins Grundbuch eingetragen werden, etwa durch eine Grunddienstbarkeit, §§ 1018 ff. BGB. Damit werden auch die Rechtsnachfolger, also die Erben oder Erwerber, an die Regelung gebunden.

2.Das Grundstück

9Bezugsobjekt zum Nachbarn ist stets das Grundstück. Das ist in diesem Sinne ein räumlich genau abgegrenzter Teil der Erdoberfläche, der auf einem bestimmten Grundstücksblatt unter einer bestimmten Grundstücksnummer eingetragen ist (Palandt-Herrler § 873 Rn. 1).

Die Rechte am Grundstück erstrecken sich dabei nach § 905 BGB auch auf den Raum über der Erdoberfläche und den Erdkörper unterhalb der Oberfläche. Zum Grundstück gehört weiter alles, was mit diesem über oder unterhalb der Erdoberfläche verbunden ist. Auch die wesentlichen Bestandteile, §§ 93 ff. BGB.

3.Der Nachbar

10Dass ein Nachbar geschützt werden kann, setzt voraus, dass Nachbarschaft in diesem Sinne überhaupt vorliegt. Nachbarn sind dabei nicht nur die Eigentümer der unmittelbar angrenzenden Grundstücke; Konflikte entstehen auch, wenn Dämpfe, Gase, Lärm von einem Grundstück einwirken, das nicht unmittelbar angrenzt. Ein Schrottplatz stört, wie auch eine Müllverbrennungsanlage, auch wenn diese Objekte nicht unmittelbar an das Grundstück angrenzen, sondern nur in der Nähe liegen; der Lärm einer Diskothek morgens um 4:30 Uhr stört, auch wenn zwischen den Grundstücken ein Weg durchführt.

Streit kann es zwischen den Nachbarn auch geben, wenn die Nutzer nicht selbst Eigentümer sind. So können Eigentümer und Mieter des Nachbargrundstücks, oder zwei Pächter über Dämpfe, Gase oder Lärmbelästigung streiten.

II.Kurzer geschichtlicher Abriss

1.Regelungen im Privatrecht

11a) Bürgerliches Gesetzbuch. Unter dem Einfluss des Naturrechts, der Aufklärung und des wirtschaftlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts hat das BGB das Eigentum am Grundstück im Wesentlichen als unbeschränktes individuelles Herrschaftsrecht ausgestaltet, § 903 BGB. Aber bereits die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 hat dieser individuellen Auffassung vom Eigentum in Art. 153 Abs. 3 die soziale Verpflichtung des Eigentums gegenübergestellt. Und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 hat diese Sozialpflichtigkeit oder Sozialgebundenheit des Eigentums in Art. 14 Abs. 2 – „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ – bestätigt. Auf Grund der Sozialbindung ist der Grundstückseigentümer nicht gegenüber jedermann und zu jeder Zeit verpflichtet, die Mitbenutzung oder gar die Schädigung seines Eigentums hinzunehmen. Vielmehr bedeutet Sozialbindung, dass sich der Eigentümer ohne Entschädigung die Beschränkungen gefallen lassen muss, die in einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat, wie es die Bundesrepublik Deutschland ist, hinsichtlich des Eigentums üblich, adäquat und zumutbar sind. Der Eigentümer darf sich bei der Ausübung seines Eigentumsrechts nicht nur von seinen Interessen leiten lassen, sondern er muss zugleich auch das Wohl der Allgemeinheit berücksichtigen.

Damit enthält das Nachbarrecht eine wesentliche Konkretisierung dieser Sozialgebundenheit: Auch der Nachbar, dessen Rechtssphäre durch die Ausübung (Nutzung) des Grundstückseigentums berührt wird, ist Teil (Repräsentant) dieser Allgemeinheit. Weil das freie Herrschaftsbelieben des einen Grundstückseigentümers angesichts des engen Zusammenlebens in unserem Lande sehr rasch auf das freie Herrschaftsbelieben eines anderen Grundstückseigentümers stößt, müssen die oft zwangsläufig widerstreitenden Interessen der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu einem Ausgleich gebracht werden. Wer in einem Wohngebiet auf der Terrasse seines Einfamilienhauses um Mitternacht sein Waldhorn bläst, erfreut sich zwar der Idylle seines Anwesens, stört aber damit auch seine Nachbarn in ihrer wohlverdienten Nachtruhe. Die notwendige Rücksichtnahme auf den Nachbarn, die Erfordernisse der Wohn- und Baugemeinschaft sowie der Lebensgemeinschaften in Dorf und Stadt zu regeln, ist damit Aufgabe auch des baden-württembergischen Gesetzes über das Nachbarrecht.

12Das private Nachbarrecht strebt schon wegen des nachbarlichen Friedens eine möglichst umfassende Regelung an, ohne allerdings alle Fälle erfassen zu können. Soweit eine spezialgesetzliche Rechtsnorm fehlt oder ein über die gesetzliche Regelung hinausgehender billiger Ausgleich widerstrebender Interessen geboten ist (BGH NJW 2003, 1392), sind nachbarrechtliche Streitigkeiten unter dem Gesichtspunkt des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses im Geiste gegenseitiger Rücksichtnahme nach Treu und Glauben zu regeln, § 242 BGB. Dabei können vom NRG abweichende Regelungen des nachbarlichen Verhältnisses vereinbart werden.

13Abgesehen von den Nachbarrechtsvorschriften des BGB ist das privatrechtliche Nachbarrecht im Wesentlichen Landesrecht und damit von Bundesland zu Bundesland zum Teil unterschiedlich geregelt. Diese Regelungen konnten und sollten nicht einheitlich oder gar schematisch sein, weil die nachbarlichen Verhältnisse, die Übungen und die Rechtsgewohnheiten in den verschiedenen Teilen Deutschlands sehr verschiedenartig waren und noch sind. Eine bundeseinheitliche Regelung war und ist auch in der Zukunft nur auf Teilgebieten vertretbar. Gerade wegen der Vielfalt der vorhandenen Möglichkeiten und der Vielzahl erprobter Einrichtungen überließ das BGB dem Landesrecht wesentliche Rechtssetzungskompetenzen auf dem Gebiet des Nachbarrechts (§§ 905 bis 924 BGB und Art. 111, 113, 122, 124, 183 EGBGB i. V. m. Art. 1 Abs. 2 EGBGB). Art. 124 EGBGB lässt über die in §§ 906 bis 918 geregelten Eigentumsbeschränkungen hinaus ausdrücklich noch andere Eigentumsbeschränkungen durch Landesrecht zu, ohne jedoch die Vorschriften des BGB selbst zu ändern. Lediglich der Kreis der zugunsten des Nachbarn wirkenden Eigentumsbeschränkungen darf erweitert werden. Auf Grund dieser Ermächtigung hatten die früheren Länder Baden und Württemberg einzelne Bereiche des Nachbarrechts geregelt.

14b) Baden. In Baden enthielten die Art. 8 bis 19 des AGBGB in der Fassung vom 13. Oktober 1925 (GVBl. S. 281) die Grundbestimmungen des Badischen Nachbarrechts. Es war nicht umfassend und regelte nur wenige nachbarrechtliche Probleme. Es enthielt in Art. 8 Vorschriften für die sog. Scheidemauer, regelte Fragen, die entstanden, wenn eine Erhöhung dieser Mauer erfolgte, sprach in Art. 10 von den Abständen, die eingehalten werden sollten, wenn Bäume und Sträucher an der Nachbargrenze gepflanzt werden und enthielt eine Regelung über die Neuanlage von Wald. Es beschäftigte sich mit schadendrohenden Anlagen, die auf dem Nachbargrundstück nicht erstellt oder gehalten werden durften. Seine Art. 14, 15 und 16 behandelten das sog. Licht- und Fensterrecht. Diese Vorschriften gingen zurück auf das Badische Landrecht aus dem Jahre 1810, das selbst wiederum Gedanken aus dem Code Civil Napoleons enthielt.

15c) Württemberg. Das Württembergische Ausführungsgesetz zum BGB enthielt eine nicht nur dem Umfang, sondern auch dem Inhalt nach weit umfassendere Regelung des Nachbarrechts. Das Württ. Nachbarrecht war vor dem Inkrafttreten des BGB im 4. Abschnitt der allgemeinen Bauordnung vom 6. Oktober 1872 (RegBl. S. 305) und in dem Gesetz über das landwirtschaftliche Nachbarrecht vom 15. Juni 1893 (RegBl. S. 141), das am 1. Januar 1894 in Kraft trat, enthalten. Diese Vorschriften wurden, soweit sie nicht durch das BGB am 1. Januar 1900 ersetzt worden waren, in das Württ. Ausführungsgesetz zum BGB und zu dessen Nebengesetzen vom 28. Juli 1899 (RegBl. S. 423) als Art. 217 bis 254 übernommen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die seit 1900 geltenden nachbarrechtlichen Bestimmungen als zum Teil überholt und einem zeitgemäßen Betrieb abträglich beanstandet. Eine Neuordnung des Rechtsstoffes erfolgte in dem Württembergischen Ausführungsgesetz zum BGB und zu den anderen Reichsjustizgesetzen vom 29. Dezember 1931 (RegBl. S. 545). Die nachbarrechtlichen Artikel umfassten nun die Art. 191 bis 225.

Die ins Einzelne gehende Regelung des Württembergischen Nachbarrechts entsprach viel eher den Bedürfnissen der Land-, Forst- und Gartenbauwirtschaft als die badische Regelung. Im früheren Land Baden und auch noch im Landesteil Baden des Bundeslandes Baden-Württemberg wurde in vielen Fällen dadurch zu helfen versucht, dass über bezirks- und ortspolizeiliche Vorschriften nachbarrechtliche Regelungen örtlich beschränkt eingeführt wurden. So wurden z. B. bezirks- oder ortspolizeiliche Vorschriften über die notwendigen Abstände beim Pflanzen von Bäumen und Sträuchern erlassen – ein Rechtsgebiet, das besonders nach einer Neuregelung verlangte.

16d) Baden-Württemberg. Nach der Entstehung des Landes Baden-Württemberg wurde allgemein die Ansicht vertreten, dass es erforderlich sei, das Nachbarrecht zu vereinheitlichen bzw. ein neues Nachbarrecht zu schaffen. Die Aufteilung des Grundbesitzes, seine starke Zersplitterung, die auch heute noch in großen Teilen unserer Heimat mit Recht beklagt wird, und der Widerstreit landwirtschaftlicher, städtebaulicher, forstwirtschaftlicher und gewerblicher Interessen ließen es als vordringlich erscheinen, das Rechtsgebiet Nachbarrecht neu zu regeln. Die neuen Ansichten im Obstbau, die neuen forstlichen Bemühungen und nicht zuletzt auch die Tatsache, dass bisher landwirtschaftlich genutztes Land aufgeforstet oder brachgelegt wird, machten es notwendig, den Nachbarschutz auszudehnen und Grenzabstände festzulegen, um einen gerechten Ausgleich der nachbarlichen Interessen herbeizuführen. Es hätte wohl genügt, wenn das Württ. Nachbarrecht für das ganze Land Baden-Württemberg übernommen worden wäre.

Doch ist der Gesetzgeber den wohl richtigen Weg gegangen und hat aus den Vorschriften des alten badischen und württembergischen Rechts die Bestimmungen zusammengefasst, die auch modernen Verhältnissen gerecht werden. Er hat damit eine Rechtseinheit geschaffen, zu der auf dem zwar bescheidenen, aber doch sehr bedeutenden Gebiet des Nachbarrechts jeder Landesteil seinen aus Erfahrung als gut und bewährt erkannten Teil beigetragen hat.

Als Großherzog Karl-Friedrich vor rund 150 Jahren die Übersetzung des Code Civil anordnete, bestimmte er dazu, „dass in Zusätzen dasjenige näher bestimmt werden, was nötig ist, um eine sichere, dem Geiste dieses Gesetzbuches stets gemäße und zugleich der hierländischen Landesart und Sitte nicht nachteilige Anwendung zu begründen“. Aus dieser Einsicht heraus ist auch das neue Gesetz entstanden; es lässt Raum genug, „hierländischer Landesart und Sitte“ in allen Landesteilen zu entsprechen.

Den nachbarrechtlichen Bestimmungen des BGB und des NRG unterliegen alle Grundstücke, gleichgültig, ob sie natürlichen oder juristischen Personen des Privatrechts gehören. Auch auf die Grundstücke der juristischen Personen des öffentlichen Rechts finden diese Bestimmungen Anwendung, soweit nichts anderes gesetzlich geregelt ist oder dies der öffentlich-rechtlichen Zweckbestimmung widersprechen würde. So enthält auch das NRG einige Sonderbestimmungen für diese Grundstücke (§§ 21, 25).

2.Regelungen im öffentlichen Recht

17Die Nutzung eines Grundstücks wird schon seit langem auch durch eine Vielzahl von Ordnungsnormen, die dem öffentlichen Recht zuzuordnen sind, im Interesse des allgemeinen gedeihlichen Zusammenlebens geregelt und dabei in mannigfacher Weise eingeschränkt. Als Beispiele seien nur die Regelungen des Bauplanungs- und Bauordnungsrechts, des Naturschutzrechts sowie des Immissionsschutzrechts erwähnt. Soweit privates und öffentliches Nachbarrecht vergleichbare Sachverhalte regeln, wurden bisher z. B. bei den Grenzabständen für bauliche Anlagen oder Pflanzungen privates und öffentliches Recht grundsätzlich als voneinander unabhängige Rechtsregeln angesehen mit der Folge, dass öffentlich-rechtlich zulässige Nutzungen mit Hilfe der privatrechtlichen Abstandsvorschriften verhindert werden konnten.

III.Systematik des Nachbarrechts

1.Öffentliches und privates Nachbarrecht

18Die Regelungen des Nachbarrechts bestehen aus öffentlich-rechtlichen Vorschriften, etwa Immissionsschutz, Naturschutz, Baurecht und aus privatrechtlichen Vorschriften, insbesondere die Regelungen der §§ 903 ff. BGB und des NRG.

19a) Privates Nachbarrecht. So regeln die Vorschriften des BGB, §§ 903 bis 924 BGB, – für den Besitzer §§ 861 ff. BGB – die nachbarlichen Beziehungen. Kernvorschriften sind hier §§ 906 und 1004 BGB. Diese Normen geben einen Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch gegen den Nachbarn, von dessen Grundstück Einwirkungen auf das Nachbargrundstück ausgehen, die er nicht zu dulden hat. Dieser Abwehranspruch besteht ohne Verschulden.

Demgegenüber regeln die Normen des NRG – zulässig über Art. 124 EGBGB – vor allem das Recht der Anpflanzungen, Abstände, Aufschüttungen, Zäune und besondere Duldungspflichten, die über §§ 903 ff. BGB hinausgehen, etwa den Überbau bei Wärmedämmung und das Hammerschlags- und Leiterrecht, §§ 7c und d NRG.

Kernelement bei einem nachbarrechtlichen Streit im Privatrecht ist, dass an diesem Konflikt nur die beiden betroffenen Nachbarn beteiligt sind. Das private Nachbarrecht schränkt die Befugnisse der Eigentümer aus § 903 ff. BGB ein. So darf der Eigentümer dem Nachbarn das Notwegerecht, § 917 BGB, nicht versperren, der Eigentümer kann keinen Baum direkt an der Grundstücksgrenze pflanzen § 11, 12, 16 NRG.

20b) Öffentliches Nachbarrecht. Beim öffentlichen Recht ist dagegen noch ein Dritter im Konfliktfall beteiligt, die Verwaltungsbehörde. Dabei bestehen die direkten Beziehungen hier nicht zum Nachbarn, sondern nur zur Verwaltungsbehörde. Nur dieser gegenüber können Ansprüche und Rechte geltend gemacht werden.

So kann der Eigentümer nicht vom Nachbarn die Baugenehmigung verlangen, – wenn überhaupt – besteht der Anspruch nur gegenüber der Verwaltungsbehörde, wobei der Nachbar in das verwaltungsrechtliche Verfahren eingebunden ist, angehört wird und ggfs. Anfechtungsklage erheben kann.

Auch die Untersagung eines beeinträchtigenden Betriebs wegen fehlerhafter Genehmigung oder der Widerruf einer erteilten Genehmigung, kann nicht unmittelbar vom Nachbarn im Klageweg verlangt werden. Anspruchsgegner ist nur die Verwaltungsbehörde. Der gestörte Nachbar kann einen Verstoß nur rügen oder belastende Einwirkungen bei der Behörde melden.

2.Rechtsweg

21a) Zivilrechtsweg. Für die Verletzung privater Nachbarrechte, also etwa die Verletzung von § 912 BGB oder die Nichteinhaltung des Grenzabstands einer Pflanzung, §§ 11, 12, 16 NRG, ist der zivilgerichtliche Rechtsweg gegeben. Dabei wird es sich bei Streitigkeiten um Anpflanzungen, Überwuchs oder einfacheren Belästigungen um eine kleinere Streitigkeit handeln, für die das Amtsgericht zuständig ist – bis zu einem Streitwert von 5000 €; dagegen kann es beim Überbau, oder bei belastenden Anlagen einen Streitwert über 5000 € geben und deshalb wird das Landgericht zuständig sein, §§ 23, 71 GVG. In der Mehrzahl der Fälle wird ausschließlich – das heißt kein anderes Gericht kann gewählt werden – das Gericht zuständig sein, wo die Grundstücke belegen sind, § 24 ZPO. Zuständig ist also nur und ausschließlich das Amts- oder Landgericht, in dessen Bezirk das streitige Grundstück liegt.

22b) Verwaltungsrechtsweg. Für die Verletzung subjektiv öffentlicher Rechte muss demgegenüber, nach Durchführung eines Vorverfahrens bei der Verwaltungsbehörde, der Verwaltungsrechtsweg zum Verwaltungsgericht beschritten werden, § 40 VwGO. Klagegegner ist hier nicht der Nachbar, sondern die Verwaltungsbehörde, von der die Genehmigung oder der Widerruf erlangt werden will.

3.Verhältnis öffentliches/privates Nachbarrecht

23a) Grundsatz. Privates und öffentliches Nachbarrecht stehen selbstständig und gleichrangig nebeneinander (BGHZ 177, 165, 175).

24b) Materiell-rechtliche Ansprüche. Das bedeutet zwingend, dass zwischen Nachbarn öffentliche-rechtliche und auch private Normen zu beachten sind. Will der Nachbar bauen, muss er die öffentlich-rechtlichen Vorschriften beachten, sonst erhält er keine Baugenehmigung. Aber auch die privatrechtlichen Normen sind einzuhalten, sonst wird der Eigentümer ihn auf Unterlassung in Anspruch nehmen und das Bauen verhindern. Die Voraussetzungen und die Folgen bei privatrechtlichen Ansprüchen richten sich nach dem Privatrecht, bei öffentlich-rechtlichen Ansprüchen, nach dem öffentlichen Recht (BGHZ 171, 158, 163).

25c) Rechtsweg. Die Zweigleisigkeit bedeutet weiter, dass auch der Rechtsschutz in zwei Richtungen erfolgt: Geht es um Rechte und Ansprüche aus dem Privatrecht, richten sich die Voraussetzungen und die Folgen nach dem Privatrecht, ist auf dem Zivilrechtsweg zu klagen. Werden öffentlich-rechtliche Ansprüche geltend gemacht, richten sich diese und die Folgen nach dem öffentlichen Recht; die Klage erfolgt auf dem Verwaltungsrechtsweg.

26aa) Zivilgericht. Der Eigentümer kann bei Verletzung von privatrechtlichen Normen vor dem Zivilgericht klagen. Er kann gegen den Störer vorgehen und Beseitigung und Unterlassung verlangen, § 1004 BGB.

27bb) Verwaltungsgericht. Bei nachbarschützenden öffentlich-rechtlichen Normen kann der Eigentümer vor dem Verwaltungsgericht klagen. Er kann etwa Anfechtungsklage gegen die erteilte Baugenehmigung erheben.

28cc) Zivilrechtliche Abwehrklage. Diese nachbarschützenden Normen können aber auch Schutzgesetz i. S. v. § 823 Abs. 2 BGB sein, etwa Regelungen des BImSchG, Schallschutz oder Grenzabstände und zu Schadensersatz führen. Es besteht aber auch analog § 1004 BGB ein quasi-negatorischer Abwehranspruch (BGHZ 86, 356, 362; NJW-RR 1997, 16, 17). Für den Nachbarn ermöglichen diese Ansprüche bei Verstößen im öffentlichen Nachbarrecht die Option einer zivilrechtlichen Abwehrklage.

Auch wenn eine Baugenehmigung mit einer nachbarschützenden Auflage erteilt wurde, kann der Eigentümer sie im Zivilrechtsweg durchsetzen; denn die Auflage normiert einen abstrakten Gefährdungstatbestand (BGHZ 122, 1, 6 f.).

29dd) Wahlrecht. Beide Rechtswege stehen gleichberechtigt nebeneinander, sie ergänzen sich und bieten so umfassenden Rechtsschutz, Art. 19 Abs. 4 GG. Der Betroffene kann frei wählen, er kann grundsätzlich auch beide Rechtswege gleichzeitig beschreiten. Mit der einen Klage entfällt nicht das Rechtsschutzbedürfnis für die andere Klage, ebenso wenig liegt doppelte Rechtshängigkeit vor. Die Streitigkeiten haben jeweils einen anderen Streitgegenstand. Während die Anfechtungsklage auf Beseitigung der Baugenehmigung geht, etwa weil sie nicht hätte erteilt werden dürfen, geht der Abwehranspruch aus § 1004 BGB auf Unterlassung oder Beseitigung einer Störung. Zudem sind in den Rechtsstreitigkeiten i. d. R. unterschiedliche Parteien beteiligt. Im Zivilrechtsweg Eigentümer gegen Nachbar; im Verwaltungsrechtsweg Eigentümer gegen Behörde.

30In zwei Fällen gilt eine Ausnahme:

–  Geht die Einwirkung von einem Störer aus, der eine hoheitliche Tätigkeit verrichtet, dann ist ausschließlich der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.

–  Sofern ein Störer einmal als Grundstückseigentümer auf dem Zivilrechtsweg und daneben auch vor dem Verwaltungsgericht als Betreiber einer öffentlichen Einrichtung verklagt und jeweils Beseitigung und Unterlassung verlangt wird (BayVGH NVwZ-RR 2004, 224, 225). Hier liegt wohl ein einheitlicher Streitgegenstand vor, sodass der zweiten Klage die doppelte Rechtshängigkeit entgegenstehen kann.

31ee) Unterschiedliche Ergebnisse?. Das öffentliche Recht und das Privatrecht halten öfters für dieselbe Beeinträchtigung eine eigene Norm bereit. Dies birgt die Gefahr, dass in den unterschiedlichen Rechtsgebieten die Voraussetzungen und die Abwehrrechte anders ausgestaltet sind und die Regelungen anders ausgelegt werden, was zu Wertungswidersprüchen führen würde. Es gibt deshalb schon von jeher Bemühungen, diese unterschiedlichen Rechte zu harmonisieren (BGHZ 111, 63, 68 f. – Volksfestlärm).

So wurde etwa das BGB 1994 geändert und in den § 906 Abs. 1 die Sätze 2 und 3 eingefügt, um einen Gleichklang mit den öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die auf Grund von § 48 BImSchG erlassen werden, zu erreichen.

Das Nachbarrecht wurde 1995 harmonisiert. Den Abstandsvorschriften für bauliche Anlagen auf dem Nachbargrundstück, §§ 5, 6 LBO, und in Bebauungsplänen, § 27 NRG, wurde Vorrang vor den Abstandsvorschriften im NRG eingeräumt.

Um zu vermeiden, dass es zu unterschiedlichen Ergebnissen über die Auslegung kommt, wird die „wesentliche Beeinträchtigung“ in § 906 Abs. 1 Satz 1 BGB identisch ausgelegt wie die „schädlichen Umwelteinwirkungen“ i. S. v. § 14 Satz 1 BImSchG (BGHZ 111, 63, 68 f. – Volksfestlärm).

Die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat die Rechtsfigur des „nachbarrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses“ anerkannt (BVerwGE 1978, 85, 88).

32ff) Wirkungen von behördlichen Genehmigungen oder deren Fehlen. (1) Fehlen einer Genehmigung. Fehlt eine öffentlich-rechtliche Genehmigung, kann dies dazu führen, dass keine ordnungsgemäße Grundstücksnutzung vorliegt. So fehlt für eine private Anlage die Ortsüblichkeit der Beeinträchtigung, § 906 Abs. 2 BGB; ohne Baugenehmigung fehlt für das Notwegerecht, § 917 BGB, die ordnungsgemäße Grundstücksnutzung.

33(2)Vorliegen einer Genehmigung. Wurde dem Nachbarn, von dessen Grundstück die Einwirkungen ausgehen, eine behördliche Genehmigung erteilt, stellt sich die Frage nach der Wirkung für die verschiedenen Verfahren. Die Genehmigung ist öffentlich-rechtlich und damit ein Verwaltungsakt. Dieser ist wirksam, selbst wenn er rechtswidrig ist, solange er nicht aufgehoben wurde. Die Beteiligten sind also daran gebunden.

–  Öffentliches Recht

Das gilt jedenfalls für den Verwaltungsrechtsstreit und den quasi-negatorischen Abwehranspruch. Er entspringt dem öffentlichen Recht und ist auf die nachbarschützenden Vorschriften des öffentlichen Rechts gestützt (BayObLGZ 2001, 41,45 = NJW-RR 2001, 1456).

–  Privatrecht

Demgegenüber werden privatrechtliche Ansprüche durch eine erteilte Genehmigung nicht – unmittelbar – berührt. Bei der Baugenehmigung wird dies deutlich, sie wird nur „unbeschadet der Rechte Dritter“ § 58 Abs. 3 LBO erteilt. Privatrechtliche Abwehransprüche entspringen allein dem privaten Recht, deren Geltendmachung ist daher durch eine Baugenehmigung nicht ausgeschlossen (BGHZ 11, 158, 163; 122, 1, 7 f.).

–  Ausnahmen

In einigen Bereichen kommen allerdings den öffentlich-rechtlichen Genehmigungen auch privatrechtliche Wirkungen zu. Sie schließen dann die privatrechtlichen Ansprüche aus oder verweisen auf Ersatzansprüche. So etwa § 14 BImSchG, § 7 Abs. 4 AtomG, § 16 Abs. 2 Satz 1 WHG, § 30 NRG (für Eisenbahn-, Schifffahrts- und ähnliche Verkehrsunternehmen).