Über das Buch

SEINE MACHT IST UNGLAUBLICH, DOCH SIE HAT IHREN PREIS …

Clark Kent war schon immer schneller und stärker als seine Mitschüler. Aber er meidet das Rampenlicht um jeden Preis, denn auf sich aufmerksam zu machen bedeutet, sich in Gefahr zu bringen.
Doch für Clark wird es zunehmend schwerer, seine Kräfte zu kontrollieren und seine Heldentaten geheim zu halten. Als er den Hilferufen eines Mädchens folgt, trifft er auf Gloria Alvarez und deckt ein dunkles Geheimnis auf: Eine feindliche Macht bedroht seine Heimatstadt Smallville. Zusammen mit seiner besten Freundin Lana Lang macht er sich auf die Suche nach der Wahrheit. Denn bevor Clark als Superman die Welt retten kann, muss er zunächst Smallville beschützen.

»Wir alle sollten uns wie Clark Kent für Gerechtigkeit einsetzen – ob mit oder ohne Umhang.«

Jason Reynolds, Autor von »Ghost«

 

 

 

 

Für die Außenseiter überall auf der Welt
und für diejenigen Lehrer,
die uns wahrnehmen

Über Matt de la Peña / Michaela Link

Matt de la Peña ist Träger der Newbery-Medal und New York Times-Bestellerautor von bisher sechs Jugendbüchern. Er erhielt seinen MFA in Creative Writing von der San Diego State University. Matt de la Peña lebt in Brooklyn und unterrichtet neben seiner Tätigkeit als Autor kreatives Schreiben.

Michaela Link studierte Chinesisch und lebt seit 1994 als freie Autorin und Übersetzerin in Norddeutschland.

DANKSAGUNG

Ich möchte den folgenden Menschen danken, die geholfen haben, dieses Buch möglich zu machen: Als Erstes dem gesamten Team von DC/Warner Bros., das mich sozusagen einen Zeh in das unglaubliche Superman-Erbe hat tauchen lassen. Das ist wirklich eine große Ehre gewesen! Außerdem danke ich dem talentierten und unermüdlichen Lektoratsteam bei Random House, besonders Chelsea Eberly (Sie waren unglaublich!), Michelle Nagler und Jenna Lettice. Meinen Dank an Chris Rylander, der am frühen Entstehungsprozess maßgeblich beteiligt war. Ich möchte auch noch vielen anderen Leuten bei Random House danken, die eine wichtige Rolle bei der Entstehung dieses Buches gespielt haben: den grafischen Gestaltern Regina Flath und Stephanie Moss, der Lektorin Barbara Bakowski; dem Marketingteam, darunter Lauren Adams, Tara Grieco, Kerri Benvenuto, Elizabeth Ward, Hanna Lee, Kate Keating, Kristin Schulz und Mallory Matney, der Presseagentin Aisha Cloud, Tim Terhune von der Produktion sowie dem gesamten Vertriebsteam von Random House. Ich danke auch Afua Richardson, die so ein wunderschönes Superman-Poster geschaffen hat, und Steven Malk, weil er der beste Literaturagent ist, den sich ein Schriftsteller nur wünschen kann. Und, das Wichtigste, ich möchte auch meiner Frau Caroline und unseren beiden Kindern Luna und Miguel danken. Ihr seid meine Superhelden.

KAPITEL 1

Das Unwetter war fast ohne Vorwarnung gekommen. Ein Blitz ließ Clarks Brillengläser kurz aufleuchten, während er sich mit drei Teamkameraden aus seiner ehemaligen Footballmannschaft unter der Markise des Java Depot zusammendrängte. Sie alle schauten in den starken Regen hinaus, der unvermittelt auf die Straßen des Ortszentrums von Smallville niederprasselte. Der Wolkenbruch zwang sie, sich dicht aneinanderzupressen – es war fast wie zu alten Zeiten, damals, als Clark und seine Footballtruppe wie Pech und Schwefel zusammengehalten hatten.

Er bezweifelte jedoch, dass sie sich jemals wieder so nahekommen würden.

Nicht nachdem er sie im Stich gelassen hatte.

Clark hatte schon immer über die gewaltige Macht von Gewittern gestaunt, die selbst seine eigenen mysteriösen Kräfte klein erscheinen ließ. Für andere hingegen war das Unwetter nicht mehr als ein Ärgernis. Ein älterer Geschäftsmann hielt sich eine Aktentasche über den Kopf und sprintete zu einem silbernen SUV, entriegelte die Tür mit seinem Funkschlüssel und hechtete hinein. Eine kleine gefleckte Katze huschte völlig durchweicht hinter einen großen Müllcontainer, um dort ein trockenes Plätzchen zu finden, wo sie das Ende des Regengusses abwarten konnte. Und hinter ihnen, hinter dem großen Fenster des Cafés, saßen völlig ungerührt ein Dutzend Menschen, die sie alle kannten, an kleinen runden Tischen, tranken Kaffee, redeten oder machten ihre Hausaufgaben.

»Wir können nicht den ganzen Tag hier rumstehen«, überschrie Paul das Rauschen des Regens. »Kommt, rennen wir zur Bibliothek.«

Kyle verschränkte die Arme vor der Brust und wippte auf den Fersen nach hinten. »Alter, das ist eine verdammte Sintflut da draußen. Ich renne nirgendwohin.«

»Wir könnten es auch einfach hier erledigen.« Tommy warf einen Blick zu der geschlossenen Tür des Cafés hinüber und drehte sich zu Clark um. »Einverstanden, Großer?«

Clark zuckte die Achseln und fragte sich immer noch, was »es« war.

Und warum eigentlich niemand sonst in Hörweite sein sollte.

Er war ziemlich überrascht gewesen, als Tommy Jones, ein gedrungener Offensive Lineman, in der Schule an ihn herangetreten war und vorgeschlagen hatte, zusammen »abzuhängen«. Genauso überrascht war er gewesen, als Tommy dann im Café plötzlich zusammen mit dem gefeierten Runningback Paul Molina und dem Fullback Kyle Turner aufgetaucht war. Schließlich hatten sie fast zwei Jahre lang nichts mit Clark zu tun haben wollen – seit dem Tag, an dem er sich mitten im Schuljahr abrupt aus der Highschool-Mannschaft zurückgezogen hatte.

Jetzt waren sie alle hier und hingen wieder zusammen auf der Main Street ab.

Als sei es nie anders gewesen.

Aber Clark wusste, dass die Sache einen Haken haben musste.

Tommy hob den Schirm seiner Baseballkappe an und räusperte sich. »Ich nehme mal an, du kennst unsere Bilanz der vergangenen Saison«, begann er. »Wir sind irgendwie … na ja, hinter den Erwartungen zurückgeblieben.«

»Man könnte es auch noch ganz anders ausdrücken«, kommentierte Kyle, und Paul schüttelte widerwillig den Kopf.

Clark hätte es eigentlich wissen müssen. Bei diesem Treffen ging es um Football. Wenn Tommy, Kyle und Paul mit einer Sache zu tun hatten, ging es schließlich immer um Football.

»Wie dem auch sei, wir drei haben uns mal unterhalten.« Tommy schlug Clark mit seiner großen, fleischigen Hand auf die Schulter. »Nächstes Jahr sind wir alle in unserem letzten Highschool-Jahr. Und wir wollen uns mit einem Paukenschlag verabschieden.«

Ein gewaltiger Donner hallte über ihnen wider und ließ die drei Footballspieler zusammenzucken. Clark hatte eine derartige Reaktion noch nie verstanden. Dass sich selbst die mutigsten Menschen, die er kannte, durch ein bisschen Donner einen solchen Schreck einjagen ließen. Ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr er sich von seinen Altersgenossen unterschied.

In diesem Moment bemerkte Clark etwas Seltsames.

Ungefähr dreißig Meter rechts von ihm stand mitten auf der Straße ein stockdürrer Mann Anfang zwanzig, der mit ausgestreckten Armen in den strömenden Regen hinaufstarrte. Er hatte eine kurze Stoppelfrisur und war von Kopf bis Fuß braun gekleidet. Braunes, langärmliges Hemd. Braune Hose. Braune Kampfstiefel. Clark hatte ein ungutes Gefühl bei seinem Anblick.

»Seht euch diesen Spinner an«, sagte Paul, der den Mann ebenfalls bemerkt hatte.

»Wen?«, fragte Tommy.

»Dort drüben.« Paul streckte die Hand aus, aber im gleichen Moment rumpelte ein langsam fahrender großer Sattelschlepper vorbei und versperrte ihnen die Sicht. Als der Laster sie passiert hatte, war der Mann verschwunden.

Paul runzelte die Stirn, kratzte sich seinen rasierten Hinterkopf und ließ den Blick über die leere Straße schweifen. »Vor einer Sekunde hat er noch dort gestanden. Das kann ich beschwören.«

Clark hielt ebenfalls Ausschau nach dem Mann. Auf den Straßen von Smallville erschienen nicht einfach so irgendwelche x-beliebigen Fremden, die ganz in Braun gekleidet waren, nur um Sekunden später wieder verschwunden zu sein. Wer war dieser Typ? Clark sah erneut durch das Fenster ins Java Depot und fragte sich, ob einer der Gäste des Cafés ihn gesehen hatte.

So schnell das Gewitter gekommen war, war es auch schon wieder vorbei und ging in einen leichten, gleichmäßigen Regen über. Dampf stieg von der durchnässten Main Street auf. Schwere Tropfen fielen von den Bäumen. Sie rannen über die Windschutzscheiben geparkter Autos und liefen im Zickzack an Straßenschildern hinab. Der Asphalt war ein Meer aus Pfützen.

»Kommt, gehen wir«, sagte Tommy und sie machten sich auf den Weg Richtung Stadtplatz. Clark hielt immer noch nach dem braun gekleideten Mann Ausschau.

Die vier Jungen mussten um eine Reihe orangefarbener Pylone herumlaufen, die einen der zahlreichen Baustellenbereiche absperrten. Eine boomende lokale Wirtschaft hatte im Laufe der vergangenen Jahre zu einer grundlegenden Verwandlung des Zentrums von Smallville geführt. Verschwunden waren all die mit Brettern vernagelten Ladenfronten und die heruntergekommenen Gebäude aus Clarks Jugend. An ihrer Stelle gab es jetzt modische Restaurants, Büros von Immobilienmaklern, einen im Entstehen begriffenen Komplex von Luxuswohnungen und zwei blitzblanke neue Bankfilialen. Es schien jetzt immerzu eine Vielzahl von Bauprojekten zu geben, darunter auch die künftige Zentrale der mächtigen Mankins Corporation. Aber an diesem Nachmittag wurde nicht gearbeitet. Das Unwetter hatte die Umgebung der Main Street in eine Geisterstadt verwandelt.

»Hör mal, Clark«, versuchte Tommy, das Gespräch da wieder aufzunehmen, wo er es unterbrochen hatte, »wir alle wissen, wie viel besser wir mit dir wären. Ich meine, es gibt einen Grund dafür, warum wir bei den Spielen, die wir im ersten Jahr mit dir gemacht haben, unbesiegt geblieben sind.«

»Ja, bis er uns dann im Stich gelassen hat«, schob Paul verächtlich hinterher.

Tommy warf Paul einen bösen Blick zu. »Was haben wir denn vorhin besprochen, Mann? Hier geht es darum, nach vorn zu schauen. Es geht um zweite Chancen.«

Clark schrumpfte förmlich zusammen.

Zwei Jahre waren vergangen, und noch immer machte ihm der Gedanke schwer zu schaffen, dass er die Mannschaft sitzen gelassen hatte. Und sie obendrein noch angelogen hatte. Er hatte das Footballspielen nicht aufgegeben, um sich ganz auf die Schule zu konzentrieren, wie er es damals allen erzählt hatte. Er hatte aufgehört, weil er bei so gut wie jedem Spiel vom ersten Moment an Punkte hätte machen können. Und der Drang, das Spiel zu dominieren – so falsch er auch schien – , war mit jedem weiteren Spiel nur stärker geworden. Bis er eines Tages bei einem Tackling im Training Miles Loften über den Haufen gerannt und ihn mit gebrochenen Rippen ins Krankenhaus befördert hatte. Und dabei hatte Clark nur etwa fünfzig Prozent gegeben. Nach dem Training war er die Tribünen hinaufgeklettert und hatte bis tief in die Nacht allein dort gesessen und über das nachgedacht, was er nun nicht mehr hatte beiseiteschieben können: wie drastisch er sich doch von den anderen unterschied. Und wie schlimm es wäre, sollte irgendjemand dahinterkommen.

In jener Nacht hatte er beschlossen, seine Stollenschuhe an den Nagel zu hängen.

Er hatte seither keinen Mannschaftssport mehr betrieben.

Als Tommy stehen blieb, stoppten auch alle anderen. »Ich komme einfach direkt zur Sache.« Er sah Kyle und Paul an, um sich dann wieder Clark zuzuwenden. »Wir brauchen dich.«

Kyle nickte. »Komm bald zurück, dann bist du noch vor dem Sommertraining wieder fester Bestandteil der Mannschaft. Verdammt, der Trainer würde dich wahrscheinlich sogar zum Kapitän machen.«

»Was sagst du dazu, Clark?« Tommy versetzte ihm einen spielerischen Hieb auf den Arm. »Können wir auf dich zählen?«

Clark wünschte sich nichts sehnlicher, als sich für diese Jungs ins Zeug zu legen. Die Schützer überzustreifen und wieder loszulegen. Wieder das Gefühl zu haben, Teil von etwas zu sein, etwas, das größer war als er selbst. Aber es war unmöglich. Mannschaftskameraden verletzen und sieben Touchdowns pro Spiel erzielen – wenn so etwas vor aller Augen geschah und sich herumsprach … Er konnte es einfach nicht riskieren. Seine Eltern hatten ihn gewarnt, wie gefährlich es werden konnte, sollte die Welt das Ausmaß seiner geheimnisvollen Fähigkeiten entdecken. Und auf keinen Fall wollte er seiner Familie Ärger machen. Seine Mitschüler neckten ihn bereits damit, dass er viel zu gut sei. Zu perfekt. Eben deshalb hatte er angefangen, eine Brille zu tragen, die er eigentlich gar nicht brauchte. Und dafür gesorgt, dass neben den Einsen auch einige Zweien auf seinem Zeugnis standen.

Clark rückte seine Brille zurecht und senkte den Blick Richtung Gehweg. »Ich wünschte wirklich, es ginge«, beschied er Tommy mit ausdrucksloser Stimme. »Aber ich kann nicht. Es tut mir leid.«

»Seht ihr?«, rief Paul. »Ich hab euch doch gesagt, dass wir ihm scheißegal sind.«

»Unglaublich«, fügte Kyle kopfschüttelnd hinzu.

Tommy wandte sich von Clark ab. »Immer mit der Ruhe, Leute. Wir können ihn nicht dazu zwingen, loyal zu sein, wenn er …«

Der Mann in Braun kam um die Ecke gebogen und schob sich mitten zwischen den vier Jungen hindurch. Dabei rempelte er Tommy an, sodass dem Jungen sein Eiskaffee aus der Hand glitt und zu Boden fiel.

Clark und seine alten Mannschaftskameraden waren für mehrere Sekunden sprachlos, bis Kyle den Plastikbecher mit einem Tritt über den Bürgersteig fliegen ließ und dem Mann hinterherrief: »Hey, Arschloch! Pass doch auf, wo du hinläufst, verdammt!«

Der Mann wirbelte herum und rief Kyle etwas auf Spanisch zu. Dann spuckte er auf den Bürgersteig und hielt ein kleines Messer hoch, als wolle er sie warnen, jetzt besser den Mund zu halten.

»Hey, er hat ein Messer!«, rief Paul.

Als Clark vor seine Freunde trat, sah er, wie nervös die blutunterlaufenen Augen des Mannes wirkten. Und er murmelte leise irgendetwas vor sich hin.

»Was sagt er?«, fragte Kyle an Paul gewandt, der Mexikaner war und zu Hause Spanisch sprach.

Paul schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Dass er nach Metropolis zurückwill oder so.«

Clark fragte sich, ob der Mann vielleicht auf Drogen war. Was sonst könnte seine blutunterlaufenen Augen und die Art erklären, wie er vorhin mitten im strömenden Regen gestanden hatte? Und jetzt starrte er Clark nicht einfach an. Er starrte vielmehr durch ihn hindurch. »Lassen wir ihn lieber in Ruhe«, meinte Clark, den Blick auf das Messer in der linken Hand des Mannes gerichtet. »Irgendetwas stimmt nicht mit ihm.«

»Scheiß drauf«, murrte Kyle und schob sich an Clark vorbei. Er zeigte auf den Mann und rief: »Niemand rempelt einen von uns an, ohne sich zu entschuldigen. Meinst du, ich hab Angst vor deinem lächerlichen kleinen Messer?«

Der Mann machte einen Satz auf ihn zu, schwang blitzschnell das Messer und ließ die Klinge über Kyles Unterarm streifen, um dann sofort wieder zurückzuweichen.

Kyle sah auf das Blut, das an seinem Arm hinunterrann. Und richtete seinen Blick auf den Mann.

Dann brach die Hölle los.

Clark stürmte vorwärts, trat dem Mann das Messer aus der Hand und ließ es unter einen geparkten Wagen fliegen. Tommy und Paul warfen ihre Rucksäcke auf die Straße und griffen an. Sie drückten den Mann auf das harte, nasse Pflaster, aber es gelang ihm, sich aus ihrem Griff zu winden, aufzuspringen und zurückzuweichen.

Kyle machte Anstalten, sich ebenfalls ins Getümmel zu stürzen, aber Clark zog ihn zurück. »Lass gut sein!«

»Oh, verflucht, nein! Er hat mir gerade den Arm aufgeschlitzt!« Er schloss sich Tommy und Paul an und die drei Jungen verfolgten den Braungekleideten, trieben ihn zwischen einer Reihe geparkter Autos in die Enge. Diesmal achtete Kyle darauf, dem Mann nicht allzu nahe zu kommen.

Clark wusste, wie einseitig der Kampf sein würde. Der Mann mit den verstörten Augen zeigte keine Furcht, aber drei massigen Footballspielern war er offensichtlich nicht gewachsen.

Clarks Instinkt sagte ihm, dass er dazwischengehen und alles beenden musste, bevor jemand ernsthaft verletzt wurde. Aber als er das letzte Mal in aller Öffentlichkeit auf seine Kräfte zurückgegriffen hatte, war die Sache katastrophal schiefgegangen. Es war im Winter gewesen. Er war auf dem Weg zur Bibliothek, als vor seinen Augen auf einer längeren vereisten Stelle des Highway 22 ein großer Sattelschlepper ins Schleudern geriet. Ohne nachzudenken, war er hinübergerannt und hatte mithilfe seiner Kräfte den gewaltigen Lastwagen aufgehalten, ehe er den Stand von »Alvarez Obst und Gemüse« am Straßenrand plattmachen konnte. Nur dass er irgendwie den Schwung des großen Sattelschleppers allzu sehr abgebremst hatte, sodass sein Auflieger umgekippt war und Dutzende von Ölfässern auf dem zweispurigen Highway gelandet waren. Öl war überall hingespritzt.

Clark würde nie vergessen, wie er dem Fahrer aus den Trümmern des Lasters geholfen hatte. Das Gesicht des Mannes war weiß wie ein Laken gewesen und sein Bein auf groteske Weise verdreht. Ob er wohl überhaupt verletzt worden wäre, wenn Clark erst gar nicht seine Nase in die Sache hineingesteckt hätte? Die Frage verfolgte Clark noch immer, und er hatte sich fest vorgenommen, erst einmal innezuhalten und nachzudenken, bevor er sich wieder auf eine derartige Weise in irgendetwas einmischte.

Aber von seiner Stimme konnte er ja wohl Gebrauch machen.

»Lasst ihn gehen, Leute!«, rief er seinen ehemaligen Mannschaftskameraden zu. »Das ist es nicht wert!«

Der Mann in Braun wich zurück, bis er gegen einen alten Laster knallte, dann schlüpfte er zwischen zwei geparkten Autos hindurch und rannte davon.

Tommy drehte sich zu Kyle um, griff nach dessen blutendem Arm und untersuchte die Schnittwunde. Paul lief schnaubend mitten auf die Straße, um sich seinen Rucksack zu holen.

Clark folgte dem Mann in Braun vorsichtig den nächsten Häuserblock entlang. Er musste sicherstellen, dass er wirklich das Weite suchte und nicht noch mehr Unheil anrichtete. Er blieb wie angewurzelt stehen, als der Mann plötzlich mit nackten Fäusten gegen einen zerbeulten weißen Pritschenwagen hämmerte, während der Fahrer sich hinter sein Lenkrad duckte. Clark stand reglos da und verfolgte völlig perplex das Geschehen. Was stimmte mit diesem Mann nur nicht? Und warum schlug er ausgerechnet auf diesen Pritschenwagen ein? Der Kleinlaster hatte einfach unschuldig mit laufendem Motor am Straßenrand gestanden. Und der Mann attackierte ihn mit schockierender Wildheit und schlug sich dabei die Fäuste blutig.

Dann machte er abrupt kehrt und stapfte in die andere Richtung zurück, hin zu Clark und den Footballspielern. Clark machte eine Bewegung, um ihm den Weg abzuschneiden, aber der Mann sprang nun stattdessen auf den silbernen SUV zu – den, in dem der grauhaarige Geschäftsmann immer noch das Ende des Regens abwartete. Der Mann in Braun riss die Fahrertür auf, zerrte den Geschäftsmann auf die Straße und kletterte in den Wagen, um den Motor anzulassen.

Clarks Augen weiteten sich vor Panik, als der SUV aus der Parklücke schlingerte und dann beschleunigte. Er raste direkt auf Paul zu, der immer noch auf der Straße kniete und gerade den Reißverschluss seines Rucksacks zuzog.

»Vorsicht!«, schrie Clark.

Paul erstarrte, als er den brüllenden Motor hörte.

Er kniete einfach nur da, eine leichte Beute.

Clark spürte die vertraute Schwerelosigkeit, wie immer, wenn er Warpgeschwindigkeit erreichte.

Seine Haut kribbelte und fühlte sich wie wund an.

Seine Kehle schnürte sich zu, als er lautlos auf die Straße sprang, den Blick auf den SUV gerichtet, der auf Paul zuschoss.

Clark berechnete instinktiv den Winkel, den er zum SUV einnahm, die Geschwindigkeit des Wagens und das drohende Maß der Zerstörung. In der letztmöglichen Sekunde hechtete er los. Und während er durch die Luft flog, blickte er in die wahnsinnigen Augen des Fahrers, der das Lenkrad umklammert hielt, und er sah, wie verloren der Mann war, wie verstört. In diesem Moment begriff Clark, dass er es hier mit einem Geschehen zu tun hatte, das viel weitreichender sein musste, als jeder von ihnen ahnen konnte.

Dann kam der mörderische Aufprall.

KAPITEL 5

Als Clark am nächsten Nachmittag zu Fuß auf dem Weg zur öffentlichen Bibliothek war, um sich dort mit Lana zu treffen – ihr seit Langem bestehendes Samstagnachmittagsritual nach Erledigung der häuslichen Pflichtarbeiten – , kam ein leuchtend roter Sportwagen den Highway entlang auf ihn zugeschossen. Als er näher kam, hielt der Fahrer direkt auf Clark zu, als wolle er versuchen, ihn von der Straße zu jagen.

Doch Clark rührte sich keinen Zentimeter.

Er blieb einfach wie angewurzelt stehen und starrte auf die dunkel getönte Windschutzscheibe, als der Wagen an ihm vorbeizischte und ihn nur um Haaresbreite verfehlte.

»Hier bin ich!«, rief er dem davonfahrenden Wagen hinterher.

Clark hatte noch nie jemanden so rücksichtslos auf dem Highway 22 fahren sehen, der schmalen, zweispurigen Straße, die viele der umliegenden ländlichen Farmen mit dem Ortszentrum von Smallville verband. Der Fahrer musste mindestens hundertsiebzig Sachen draufgehabt haben. Fast das Doppelte der erlaubten Höchstgeschwindigkeit. Und wer war das überhaupt? Clark hatte sein ganzes Leben in Smallville verbracht und kannte so ziemlich jedes Auto in der Stadt, wusste, welcher Familie es gehörte und wer es höchstwahrscheinlich fuhr. Es gab natürlich einen ganzen Haufen Kleinlaster und Lieferwagen. Und alte Limousinen. Und Kleinbusse. Aber absolut niemandem in Smallville gehörte ein leuchtend roter Sportwagen mit getönten Fenstern.

Es musste jemand von auswärts sein.

Er ging weiter, bis er »Alvarez Obst und Gemüse« erreichte, den überdachten Verkaufsstand, der von Carlos Alvarez und seinem Sohn Cruz betrieben wurde. Seit Clark denken konnte, gehörte er zum festen Inventar des Highway 22, und die Kents schauten jedes Wochenende hier vorbei. Clark hatte Cruz von einem schüchternen Grundschüler, der Plastiktüten austeilte, zu einem selbstbewussten Mittelschüler heranwachsen sehen, der an der Kasse bediente und seinem Dad übersetzte, wann immer der eine Verständigungshilfe im Umgang mit der Kundschaft benötigte. Cruz war groß für sein Alter. Fast so groß wie Clark. Daher vermuteten die meisten Menschen, dass er bereits die Highschool besuchte – zumindest, bis er den Mund aufmachte.

Clark entdeckte die beiden vor ihrem Stand, wo sie die Straße hinunterschauten. »Habt ihr zwei das eben auch gesehen?«

Carlos stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf. »Ist sehr gefährlich.«

»Weißt du, was für ein Wagen das war?«, wandte sich Cruz an Clark. »Er sah nicht aus wie ein Lamborghini. Vielleicht ein Aston Martin? Oder ein Maserati?«

Clark zuckte die Achseln. »Es war jedenfalls kein Ford F-150, so viel steht fest.«

»Ich habe gehört, dass ein Maserati mühelos über dreihundert Sachen schafft. Weißt du, wie krank das ist? Ich würde wahrscheinlich jeden Tag einen Strafzettel für zu schnelles Fahren bekommen.« Cruz hatte große Ehrfurcht vor allem, was protzig war und für ihn als typisch US-amerikanisch galt. Luxusschlitten. Große, angeberische Häuser. Kino-Blockbuster und Promiklatsch. Aus den Gesprächen, die Clark im Laufe der Jahre mit dem Jungen geführt hatte, wusste er, dass er sich danach sehnte, eines Tages dem Obst-und-Gemüse-Stand Auf Wiedersehen zu sagen. Aus Kansas fortzugehen und eine Karriere einzuschlagen, die ihm Aussichten auf irgendeine Art von Ruhm eröffnete.

Carlos schnippte seinem Sohn gutmütig ans Ohr und bedeutete ihm, wieder an die Arbeit zu gehen. Cruz verdrehte die Augen, dann trat er an einen Tisch mit grünen Äpfeln und begann sie neu anzuordnen.

Die Begegnung mit Carlos und Cruz ließ Clark an Gloria denken. Sie waren miteinander verwandt. Im Sommer nach ihrem ersten Jahr an der Highschool hatte sie sogar an dem Stand gearbeitet. »Was ich gern wissen würde …«, begann er und dachte an das, was Gloria ihm in der Schule erzählt hatte. »Wisst ihr irgendetwas über … Leute, die verschwinden?«

Carlos riss ein welkes Blatt von einer Tomate. »Oh ja, natürlich.« Er nickte. »Aber einige junge Leute …« Er wandte sich an seinen Sohn und sagte etwas auf Spanisch.

Cruz hörte sich an, was sein Dad zu sagen hatte, dann drehte er sich wieder zu Clark um. »Mein Dad meint, die Leute bekommen bei der Mankins Corporation recht hohe Löhne. Mehr Geld, als sie je zuvor gehabt haben. Und einige von ihnen gehen damit nach Metropolis, um zu spielen und alles Mögliche zu kaufen. Er sagt, es sei eine sehr schlechte Idee.« Cruz grinste und fügte leiser hinzu: »Ich persönlich wüsste nicht, warum es so falsch sein sollte, ein bisschen Geld zu scheffeln. Ich habe selbst schon daran gedacht, für Mankins zu arbeiten.«

Carlos sagte etwas zu Cruz, der sich dann wieder an Clark wandte und hinzufügte: »Er ist auf jeden Fall vorsichtig und hält die Augen offen. Er weiß nicht, wie sicher es im Augenblick für uns in Smallville ist.« Cruz warf seinem Dad einen raschen Blick zu, bevor er Clark wissen ließ: »Ich habe jedenfalls vor niemandem Angst. Die sollen ruhig herkommen!«

Clark wusste den Wagemut des Jungen zu schätzen. »Was ist mit der Polizei?«, fragte er und dachte an das zur Abstimmung stehende Gesetz. »Sie halten doch nicht wahllos x-beliebige Leute an, oder?«

Carlos wirkte nun richtig verunsichert. »Nein, nein. Es ist das Gleiche wie früher mit ihnen.«

Diese Beteuerung erleichterte Clark. »Na, dann mal gut.« Er winkte seinen Freunden zum Abschied. »Man sieht sich.«

Die beiden winkten lächelnd zurück und Clark ging weiter die Straße entlang.

Ungefähr eine halbe Meile später, gerade als Clark an der großen weißen Kirche direkt am Highway vorbeikam, hörte er das Brummen des roten Sportwagens hinter sich näher kommen. Er blieb stehen, drehte sich um und machte sich auf neuen Ärger gefasst. Aber diesmal bremste der Fahrer und hielt mit quietschenden Reifen neben ihm an.

Der Motor lief noch für einige Sekunden weiter, von den Reifen stieg Rauch auf.

Clark versuchte, durch das Beifahrerfenster zu spähen, aber die Verdunkelung war so stark, dass er nichts erkennen konnte. Und als er versuchte, seinen neu entdeckten Röntgenblick einzusetzen, geschah gar nichts. Er wusste, dass bei einem normalen Menschen in diesem Moment Angst aufkommen würde, aber er war nie sehr gut im Angsthaben gewesen. Er war im Wesentlichen einfach neugierig. Der Wagen sah definitiv teuer aus. Er kannte nicht einmal das Logo am Kühlergrill. Wer immer darin saß, musste reich sein – und offenbar wollte er, dass alle es erfuhren.

»Wollen Sie sich den ganzen Tag da drin verstecken?«, rief Clark.

Das Beifahrerfenster ging langsam herunter und Bryan Mankins streckte den Kopf heraus. »Clark«, rief er. »Alles in Ordnung mit dir? Ich habe versucht, Lex davon abzuhalten, so dicht an dir vorbeizufahren.«

»Bryan?« Clark schaute an ihm vorbei auf die Fahrerseite, wo dieser Typ, Lex, saß. Aber er bekam keine gute Sicht auf den Mann. »Ihr hättet mich beinahe überfahren.«

Bryan lächelte unbehaglich. »Tut mir leid, Mann. Er findet solchen Scheiß witzig. Aber ich habe ihn zurückfahren lassen, damit wir dir anbieten können, dich mitzunehmen.«

»Ich gehe gern zu Fuß«, antwortete Clark leicht verärgert.

Bryan flüsterte dem Fahrer etwas zu und drehte sich dann wieder zu Clark um. »Im Ernst jetzt, spring rein. Wir bringen dich, wohin immer du willst.«

Im ersten Moment zögerte Clark. Er kannte Bryan ja nicht einmal. Genauso wenig diesen Witzbold Lex. Und er hatte die Nummer definitiv nicht gut gefunden, die sie da eben abgezogen hatten. Aber auf der anderen Seite war er tatsächlich ein wenig neugierig auf den Wagen. »Ich bin auf dem Weg in die Bibliothek im Ortszentrum«, stellte er klar.

»Kein Problem, Mann, wir fahren sowieso in diese Richtung. Komm schon.«

Clark kletterte an Bryan vorbei auf den engen Rücksitz. Er nahm seinen Rucksack ab, legte ihn sich auf den Schoß und schnallte sich an. Dann musterte er Lex, den Fahrer, mit einem raschen Blick in den Rückspiegel. Er war ein junger Weißer, nicht viel älter als Clark und Bryan, aber er war gekleidet wie ein wichtiger Geschäftsmann. Er trug ein Sakko und ein Hemd. Sein Haar war gewellt und auf seiner Nase thronte eine teuer aussehende Designersonnenbrille.

Er war der Typ Mann, den Lana womöglich als gut aussehend beschreiben würde.

Und er war der Typ Mann, den Clark als Waschlappen beschreiben würde.

Das Innere des Wagens war genauso protzig wie das Äußere. Ledersitze. Alles digital. Ein gewaltiger Touchscreen, der mehr als die Hälfte des Armaturenbretts in Anspruch nahm. Es war das schönste Auto, das Clark je gesehen hatte. Eigentlich kam es ihm mehr wie ein Raumschiff vor. Er fragte sich, ob es wohl eines dieser selbstfahrenden Autos war.

»Das ist also der Junge, der dich gerettet hat?«, fragte Lex und stupste Bryan an. Offensichtlich gehörte Lex der Wagen. Er schien sich hinter dem Lenkrad eines so teuer aussehenden Gefährts völlig zu Hause zu fühlen.

»Ja, das ist er.« Bryan drehte sich zu Clark um. »Wie war noch mal dein Nachname?«

»Kent. Clark Kent.«

Bryan nickte. »Genau. Clark Kent, ich möchte dir gern meinen Kumpel Lex Luthor vorstellen.« Er tippte dem Fahrer auf den Arm. »Lex, das ist Clark.«

Lex trat aufs Gas.

Alle drei wurden in ihren Sitzen zurückgeworfen, als der Wagen mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit beschleunigte. Bryan wirbelte mit weit aufgerissenen Augen herum und sah Clark an. »Hast du jemals eine solche Kraft gespürt?«, überschrie er den Wind, der durch sein geöffnetes Fenster peitschte.

»Eine ziemlich schnelle Kiste«, pflichtete Clark ihm bei und staunte über den leisen Motor. Er hatte solche Geschwindigkeiten schon zu Fuß erreicht, aber niemals als Beifahrer in einem Wagen. Es fühlte sich seltsam an, die Kontrolle anderen zu überlassen.

Lex nahm den Fuß vom Gas und ließ den Wagen langsamer werden. »Bibliothek, hast du gesagt?«

»Wenn es dir nichts ausmacht«, antwortete Clark.

Lex deutete auf Bryan. »Du hast diesem Burschen das Leben gerettet, da hast du dir auch eine Freifahrt verdient.«

»Danke«, sagte Clark. »Aber eigentlich habe ich überhaupt niemanden gerettet.«

»Ich hab’s dir ja gesagt«, wandte sich Bryan an Lex. »Der Typ weigert sich, sich die Sache als Verdienst anrechnen zu lassen.«

Lex musterte Clark im Rückspiegel. »Jetzt sag mal, was ist da eigentlich genau passiert?«

Clark wusste, dass er das Ganze geraderücken musste, bevor irgendwelche Gerüchte die Runde machten. »Ich habe zufällig mit meinem Dad auf der Farm gearbeitet und … Wir haben den Hubschrauber beide herabstürzen sehen, also sind wir losgelaufen.« Er tippte Bryan auf die Schulter. »Sind alle okay?«

Bryan nickte. »Ich habe nicht einmal die Schlinge für meinen Arm anbehalten müssen.«

Clark lehnte sich erleichtert zurück. »Da haben wir wohl alle ein ziemliches Glück gehabt.«

»Glück. Ja, das war es wahrscheinlich.« Lex beschleunigte und überholte einen großen, ratternden Sattelschlepper. »Irgendwie so, wie du während deines ersten Highschool-Jahres Glück auf dem Footballfeld gehabt hast, nicht? Nach dem, was ich gelesen habe, hast du in nur sechs Spielen dreiunddreißig Touchdowns erzielt, stimmt’s? Du musst ja mit Glück geradezu gesegnet sein.«

Clark konnte es nicht fassen, dass irgend so ein reicher Typ mit einem Luxusschlitten seine Footballstatistik aufsagen konnte.

Bryan fuhr zu Clark herum. »Himmel, ist das wahr?«

Clark zuckte die Achseln. »Ich glaube, ich mag es einfach nicht, getackelt zu werden. Also bin ich gerannt. So schnell ich konnte. Aber wie auch immer, es war nur Anfängerfootball.«

»Warum spielst du nicht mehr? Die Mannschaft ist in diesem Jahr ziemlich schlecht gewesen, stimmt’s? Und normalerweise sind sie doch ziemlich gut, oder?«

»Ja.« Clark klopfte auf seinen Rucksack. »Aber ich sollte mich lieber weiter den Büchern widmen. Man hört immer wieder von durch Football verursachten Gehirnerschütterungen, das klingt ziemlich beängstigend.«

Bryan drehte sich wieder zu Lex um. »Woher kennst du seine Statistik?«

Lex grinste. »Es gibt da so eine neue Sache namens Internet, Bry. Das solltest du dir mal anschauen.«

Bryan grinste. »Alter, du musst ziemlich viel Freizeit haben, wenn du zwei Jahre alte Footballstatistiken aus der neunten Klasse liest.«

Lex lächelte, ließ die Straße aber keine Sekunde lang aus den Augen. »He, ich google jeden. Als du mir das mit Clark erzählt hast, habe ich mich natürlich über ihn informiert.«

Bryan schaute über seine Schulter zu Clark zurück und verdrehte die Augen. »Scheint mir immer noch etwas sonderbar. Wie dem auch sei, Clark, du musst ziemlich viel Kraft haben, um dich so oft bis zur Endzone durchkämpfen zu können. Was war dein Geheimnis? Einfach jeden Tag Gewichte heben? Auf der Farm Kuhscheiße schaufeln?«

Clark zuckte die Achseln. Er wusste, dass Bryan nur herumalberte, aber er hatte Witze über das Farmleben nie sonderlich gemocht. Zumindest nicht, wenn sie von Leuten kamen, die nichts damit zu tun hatten. Echte Farmkinder durften so viele Landeiwitze machen, wie sie wollten. So lief das eben. »Ich bin wohl schon das eine oder andere Mal ins Fitnessstudio gegangen«, erklärte Clark. »Aber hauptsächlich ist es die Küche meiner Mom. Sie steht auf Fleisch und Kartoffeln.«

»Ich muss meine Ernährung umstellen«, entschied Bryan und quetschte durch sein Hemd hindurch seinen rechten Bizeps. »Thunfischtatar bringt mich nicht weiter.«

In Wirklichkeit hatte Clark schon in der neunten Klasse mit dem Gewichtheben aufgehört. Sobald ihm klar geworden war, dass er es überhaupt nicht nötig hatte. Damals war er auch noch ein ziemlich dünnes Kerlchen gewesen. Aber seine Kräfte hatten den äußeren Anschein immer um Längen übertroffen.

Bryan machte sich an dem Touchscreen auf dem Armaturenbrett zu schaffen. Als er im Satellitenradio auf einen Hip-Hop-Song stieß, drehte er die Lautstärke auf.

Lex stellte sofort wieder leiser. »Wir können uns diesen Kram anhören, wenn wir in deinem Flugzeug sitzen. Aber in meinem Auto gibt es nur Hardcore.« Er wechselte den Sender und ein hämmernder Rocksong schallte aus dem Lautsprecher. Lex drehte die Lautstärke weit genug herunter, dass sie sich noch unterhalten konnten. »Du weißt, dass dieser Bursche noch nicht mal einen Führerschein hat, oder?«, fragte Lex und sah Clark im Rückspiegel an.

»Die meisten Leute in Metropolis haben keinen«, verteidigte sich Bryan.

»Ich habe einen«, betonte Lex.

»Ja, damit du mit deinem Auto angeben kannst.« Bryan drehte sich zu Clark herum. »Normale Menschen nehmen die U-Bahn. Oder rufen ein Taxi. Oder gehen zu Fuß. Außerdem habe ich einen Pilotenschein.«

Clark hatte gehört, dass Bryan zunächst ein Nobelinternat in Metropolis besucht hatte, bevor er die Schule gewechselt hatte, um das Jahr an der Smallville High zu beenden. Gerüchten zufolge hatte Bryans Bruder Corey seinen Abschluss an einer Schule in der Schweiz gemacht, die zuvor auch schon ihr Dad besucht hatte. »Wieso bist du eigentlich aus Metropolis weggegangen?«, fragte Clark. Diese Frage hatten sich viele gestellt, seit Bryan so spät im Schuljahr hier aufgekreuzt war. Sobald sie einmal herausgefunden hatten, wer er war.

Bryan schwieg für einige Sekunden und sein Gesicht wurde ernst.

Lex sah ihn an, als sei er neugierig, wie Bryan mit der Frage umgehen würde.

»Es gab dort kaum eine Gelegenheit zu fliegen«, sagte Bryan schließlich, ohne Clark anzusehen. »Mit einem Flugzeug, meine ich. Anders als hier. Und das ist das Einzige, was ich in letzter Zeit wirklich will.«

Clark erkannte an Lex’ Gesichtsausdruck, dass Bryan nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Aber er beschloss, nicht weiter in ihn zu dringen.

Lex drosselte das Tempo ein wenig, als er vom Highway 22 herunterfuhr und auf die Main Street einbog. Sie passierten eine Reihe von festen Institutionen des Stadtlebens – Howes Café, Randys Eisenwarenladen, den Old Winter Saloon – und kamen dann durch einen Straßenabschnitt mit vielen neuen Geschäften. Da waren der Lebensmittelladen und die Apotheke, die beide während des Winters neu eröffnet hatten. Dann das Java Depot. Und dieses thailändische Restaurant, das Lana schon seit Wochen unbedingt zusammen mit Clark ausprobieren wollte. Es folgte ein großes Spielzeuggeschäft, das nach der Eröffnung noch nicht einmal die Zeit gefunden hatte, ein Ladenschild anzubringen.

Als sie an der großen Baustelle gegenüber vom Rathaus vorbeifuhren, streckte Bryan den Arm aus. »Da ist es«, sagte er in sarkastischem Tonfall. »Trautes Heim, Glück allein.«

Jedes Mal, wenn Clark den zukünftigen Sitz der Mankins Corporation sah, musste er unwillkürlich an den ganz in Braun gekleideten Mann denken, der den SUV gekapert hatte und damit um ein Haar Paul überfahren hätte. Die Stützwand, in die der Wagen schließlich hineingekracht war, war immer noch schwer beschädigt. Aber jetzt bemerkte Clark noch eine weitere Besonderheit. Vor diesem Teil der Wand befanden sich keine Reifenspuren. Der Mann hatte überhaupt nicht auf die Bremse getreten. Vielleicht war die Schutzwand vor dem neuen Mankins-Hauptquartier ja wirklich die ganze Zeit über sein Ziel gewesen.

Aber warum?

»Das Ding müsste doch jetzt fast fertig sein, nicht wahr?«, fragte Lex.

Bryan nickte. »Ich glaube, nächste Woche oder so veranstalten sie eine Art große Eröffnungsfeier. Es wird bestimmt ein gewaltiges Spektakel, aber was soll’s.«

Als Lex den Sportwagen vor die Treppe zur Bibliothek steuerte, um dort anzuhalten, schauten die drei über die Straße hinüber zum Rathaus, wo etwa ein Dutzend Mexikaner und Mexikanerinnen demonstrierten.

»Was haltet ihr von dem neuen Gesetz, das da zur Abstimmung steht?«, erkundigte sich Clark. Es war zweifellos eine recht heikle Frage, aber es war ihm wichtig zu sehen, wie die beiden darauf reagierten.

»Die Sache mit den willkürlichen Personenkontrollen?«, fragte Bryan. »Das ist menschenverachtend. Also, ich muss sagen: Wenn die hier mit etwas Derartigem durchkommen, weiß ich, dass Smallville nicht der richtige Ort für mich ist.«

»Ja, in Metropolis würde so etwas niemals auch nur vorgeschlagen werden«, fügte Lex hinzu. »Es ist so ein typisches Kleinstadtding.«

Normalerweise verspürte Clark das Bedürfnis, seine Heimatstadt zu verteidigen, wenn sie jemand kritisierte, aber hier lag der Fall anders. Bryan hatte recht; wenn ein solches Gesetz in Smallville durchkommen sollte, wäre das eine Schmach für den Ort. Also saß Clark einfach im Wagen und sah zu den Menschen hinüber, die schweigend ihren Marsch fortsetzten und ihre Schilder hochhielten. Er erkannte einen der Männer. Er arbeitete in der Firma für Viehfutter und Traktorenzubehör direkt außerhalb der Stadt. Eine der Frauen war eine neue Referendarin an der Smallville High. Der Bursche, der der Anführer zu sein schien, war nicht viel älter als Lex. Er hatte ein Ziegenbärtchen und schwarzes abstehendes Haar und schien sämtliche Bewegungen der Demonstrierenden zu steuern.

»Wir werden das Gesetz ablehnen«, erklärte Clark, plötzlich von Zuversicht gepackt. »Ich glaube an die Menschen von Smallville.«

Ein älterer Weißer im Anzug und mit einer Einkaufstasche in der Hand näherte sich den Demonstranten von der anderen Straßenseite. Clark war überrascht, als der Mann nun Wasserflaschen zu verteilen begann.

»Einer von euren Leuten?«, fragte Lex.

Bryan nickte. »Mein Dad lässt ihnen auch Essen bringen. Und er finanziert diese neue Kampagne: ›Steht auf und geht wählen‹.«

Clark war aufrichtig beeindruckt, dass sich ein reicher Mann wie Montgomery Mankins dafür interessierte, wie andere Menschen behandelt wurden, die weniger vom Glück gesegnet waren als er. Schließlich hätte der Bursche auch ganz einfach in seinem Elfenbeinturm sitzen und sein Geld zählen können.

Bryan stieg aus dem Wagen und klappte den Sitz vor. Nachdem Clark mit seinem Rucksack hinausgeklettert war, gab ihm Bryan einen Klaps auf den Arm. »Hey, ich hab mir was überlegt. Warum treffen wir uns nicht morgen Abend im All-American Diner?«

Clark war verblüfft. »Klar doch«, sagte er. »Um wie viel Uhr?«

»Halb acht?«

»Okay, passt. Also dann bis morgen.« Clark drehte sich um und ging auf die Bibliothek zu.

»Hey, Clark!«, rief Bryan.

Er drehte sich noch einmal um.

»Versuch, dir beim Lernen da drin keine Muskelzerrung zu holen, ja?« Bryan kletterte wieder auf seinen Sitz zurück und machte die Tür zu. Der rote Sportwagen sauste davon.

Clark sah ihm nach, wie er über die nächste Kreuzung schoss. Lex’ Musik plärrte jetzt laut durch sein offenes Fenster. Bryan hatte Clark nicht verraten, warum er Metropolis wirklich verlassen hatte, und Clark wurde bewusst, dass er auch bei Lex nicht den geringsten Schimmer hatte, warum er sich in Smallville aufhielt. Er schien definitiv kein Kleinstadttyp zu sein. Es kam ihm so vor, als hätte er nur umso mehr Fragen, je besser er die beiden kennenlernte.

KAPITEL 4

Clark stand unter der Dusche und ging in Gedanken noch einmal alles durch, was gerade an der alten Scheune passiert war. Wie er in Sekundenschnelle quer über den Hof gehuscht war. Wie er den abstürzenden Hubschrauber mit bloßen Händen gepackt und es irgendwie geschafft hatte, ihn zu Boden zu bringen, ohne dass sich irgendjemand ernsthafte Verletzungen zuzog. Aber der Punkt, zu dem Clark immer wieder zurückkam, war sein Gespräch mit Bryan.

Bryan hatte ihn einen Helden genannt.

Das hatte noch nie jemand getan.

Clark wusste, dass er seine Kräfte nicht in der Öffentlichkeit nutzen sollte, doch konnte er das Hochgefühl nicht leugnen, das es in ihm ausgelöst hatte, als Held bezeichnet zu werden. Es gab ihm das Gefühl, wichtig zu sein. Es weckte in ihm den Wunsch, in die Welt hinauszugehen und noch jemanden zu retten.

Während ihm das warme Wasser weiter auf den Hinterkopf prasselte, dachte Clark über seine sich so schnell verändernden Kräfte nach. Als er im Regen zu dem herabstürzenden Hubschrauber gerannt war, hatte er den plötzlichen Drang verspürt, einfach … hoch in den Himmel zu springen. Zu der zwei Tonnen schweren Maschine emporzuschweben und sie aufzufangen. Mitten in der Luft. Was natürlich lächerlich war, das wusste er. Menschen konnten nicht fliegen. Aber die instinktive Regung in ihm war unglaublich mächtig gewesen.

»Clark!«, rief seine Mutter von unten herauf und riss ihn aus seinem Tagtraum. »Das Abendessen ist fertig.«

Clark drehte das Wasser ab, rubbelte sich trocken und ging in sein Zimmer, um sich anzuziehen. Auf dem Weg die Treppe hinunter stellte er sich vor, wie es wohl wäre, jetzt Football zu spielen. Er malte sich aus, wie er den Ball vom Quarterback entgegennahm, erst eine Finte nach links machte und dann hoch in die Luft sprang, um einer sich vor ihm zusammenballenden Wand aus Verteidigern aus dem Weg zu gehen. Und danach nicht wieder zu landen, bis er etwa vierzig Meter weiter die Ziellinie überquert hatte. Von irgendwo nahe des Torpfostens warf er dann den Ball zu Boden, während die gegnerische Verteidigung ihm ehrfürchtig nachstarrte.

Er stellte sich vor, wie Lana auf ihrem Platz hinter der Bank wild jubilierte.

Und Gloria applaudierte ebenfalls.

Tommy, Paul und Kyle hoben ihn auf ihre Schultern und trugen ihn in den Umkleideraum, um seinen Triumph zu feiern.

Als sich Clark zu seinen Eltern an den Tisch setzte, reichte sein Dad ihm die Schüssel mit den grünen Bohnen und sagte: »Ich habe deiner Mutter gerade erzählt, was passiert ist.« Er schüttelte den Kopf. »So etwas habe ich noch nie gesehen, mein Sohn. Du hast heute drei Menschenleben gerettet.«

Clark strahlte und wieder kam ihm dieses Wort in den Sinn: Held.

Martha Kent warf ihm einen Blick zu, während sie Butter auf ihr Brötchen strich. »Solange du nur vorsichtig bist.«

»Ich habe einfach reagiert.« Clark nahm sich eine anständige Portion Bohnen zu seinem Hähnchen mit Kartoffelpüree. Seine Mom hatte sich immer ein einfacheres, friedlicheres Leben für ihn gewünscht. Ein glückliches Leben. Und sie machte sich Sorgen, dass die Last seiner Gaben für ihn eines Tages zu groß werden könnte, um sie zu tragen.

»Deine Mutter hat recht, Clark.« Jonathan legte seine Gabel beiseite. »Was du heute getan hast …«, begann er. »Es war wirklich etwas Wunderbares. Ich bin mir sicher, Montgomery Mankins würde dafür sorgen, dass du für den Rest deines Lebens ausgesorgt hast, wenn er wüsste, dass du seine Söhne gerettet hast.«

Clark schob sich einen großen Happen Kartoffelpüree in den Mund und murmelte: »Aber …«

»Aber wir wollen nicht, dass du irgendwelche unnötigen Risiken eingehst. Wie ich dir schon erklärt habe, gibt es so manche Leute auf dieser Welt, die … na ja, die es nicht zu schätzen wissen, wenn jemand anders ist.«

»Das könnte es für dich wirklich schwierig machen«, ergänzte seine Mom.

Clark schaute aus dem Fenster. Er wusste, dass seine Eltern lediglich versuchten, ihn zu schützen, aber war es wirklich fair, ihn zu bitten, anders zu sein, als er nun mal war, nur um ein paar bornierte Leute zufriedenzustellen? Er drehte sich wieder zu ihnen um. »Ich verstehe, was ihr meint, aber wenn ich die Gelegenheit habe, jemandem zu helfen … Ich meine, sollte ich diesem Menschen dann etwa nicht helfen?«

»Natürlich«, antwortete sein Dad. »Wir verlangen ja nicht von dir, jemanden, der in Gefahr ist, im Stich zu lassen.«

»Aber unsere Hauptsorge bist du«, sagte seine Mom.

Jonathan nickte. »Mir fällt da ein Zitat ein, mein Sohn. Aus der Bibel. ›Wem viel gegeben wurde, von dem wird viel zurückgefordert werden.‹ Es wäre gut, wenn du das im Hinterkopf behalten würdest.«