Harper Lee
GR A PH I C NOV E L
Illustr ier t und bearbeitet
von FRED FORDHAM
Aus dem Englischen von Claire Malignon
Überarbeitet von Nikolaus Stingl
Rowohlt Taschenbuch Verlag
Diese Graphic Novel ist eine Bearbeitung von Harper Lees Roman
«To Kill a Mockingbird». Die deutsche Erstausgabe des Romans
erschien 1962 unter dem Titel «Wer die Nachtigall stört …»
im Rowohlt Verlag.
Deutsche Erstausgabe
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag,
Reinbek bei Hamburg, Dezember 2018
Copyright
© 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Lektorat Marie-Ann Helle
Die englische Originalausgabe erschien 2018
unter dem Titel «To Kill a Mockingbird. A Graphic Novel»
bei William Heinemann, London
Copyright © 1960 by Harper Lee LLC (Originaltext)
Copyright © 2018 by Fred Fordham
(Illustration und Bearbeitung des Originaltextes)
Einbandgestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt,
nach der Originalausgabe
von William Heinemann, London
Einbandillustration Copyright © 2018 by Fred Fordham
ISBN Printausgabe 978 3 499 21822 4
ISBN E-Book 978 3 644 40678 0
www.rowohlt.de
«Auch Rechtsanwälte, glaube ich, waren einmal Kinder.»
- CHARLES lAMB
Das Unglück mit dem Arm
passierte kurz vor Jems
dreizehntem Geburtstag.
Teil 1
Als der komplizierte Ellbogenbruch
verheilt war und die Sorge, nie mehr
Football spielen zu können, hinfällig
wurde, kümmerte sich mein Bruder
kaum noch um seine Behinderung.
1
Maycomb, Alabama
1933
Der linke Arm war etwas kürzer als der
rechte; im Stehen und beim Gehen knickte
der Handrücken rechtwinklig zum Körper
ab, während der Daumen nach unten wies.
Das störte Jem jedoch nicht
im Geringsten, solange er
nur den Ball annehmen und
zuspielen konnte.
Als so viel Zeit vergangen war, dass wir
gelassen auf die Ereignisse zurückblicken
konnten, sprachen wir bisweilen über die
Umstände, die zu dem Unfall geführt hatten.
Ich behauptete, die Ewells seien an
allem schuld gewesen; aber Jem,
vier Jahre älter als ich, meinte, es
habe schon früher begonnen …
… nämlich in jenem
Sommer, als Dill zu uns
kam …
2
… und uns auf den
Gedanken brachte, Boo
Radley herauszulocken.
Charles Baker
Harris.
Ich bin
Hallo!
Selber
hallo
kann
lesen.
Ich
Na und?
würdet vielleicht gern
wissen, dass ich lesen
kann.
Ich dachte nur, ihr
habt, was gelesen
werden muss,
kann ich’s
machen.
Wenn ihr was
bist du denn?
Viereinhalb?
Wie alt
sieben!
Bald
3
du dir nichts drauf
einzubilden.
Dann brauchst
dabei geht sie noch
nicht mal zur Schule.
Scout hier liest
schon, seit sie
geboren ist, und
klein, aber
alt.
Ich bin
Warum kommst
du nicht rüber zu
uns, Charles Baker
Harris?
sieben wirst, siehst du aber
ziemlich knirpsig aus.
Dafür, dass du bald
komischer als
deiner.
Auch nicht
Tante Rachel sagt, du
heißt Jeremy Atticus
Finch.
anderes, weil ich groß
genug für so einen
Namen bin,
Bei mir ist das was
ja länger als du
selber.
aber deiner ist
nennen mich
Dill.
Alle Leute
Meine Güte,
was für ein
Name!
ein ganzes
Ende
länger.
Sogar
Drüberweg geht’s besser
als drunterdurch.
Wo bist du
denn her?
Meridian,
Mississippi.
Ich verbringe die Ferien
bei meiner Tante Rachel.
Und zwar von nun an
jeden Sommer.
Maycomb ein Kino? Ich
bin in Meridian schon
zwanzigmal ins Kino
gegangen.
Habt ihr hier in
4
Hier gibt’s keine Filme,
nur im Rathaus spielen
sie manchmal welche mit
Jesus.
Hast du schon
mal ’nen
interessanten
gesehen?
Dies war eine Offen-
barung, die Jem bewog,
Dill mit einigem Respekt
zu betrachten.
Ein merkwürdiger
Bursche, dieser Dill.
Erzähl
mal
davon.
Hab Dracula
gesehen.
Während er uns die alte
Geschichte erzählte, er-
hellten und verdunkelten
sich seine Augen.
Er lachte laut und fröhlich und zupfte unentwegt an
einem Haarbüschel, das ihm in die Stirn hing.
Nachdem Dill Dracula
in Staub verwandelt und
mein Bruder erklärt hatte,
der Film scheine besser zu
sein als das Buch, fragte
ich Dill nach seinem Vater.
Von dem hast
du noch gar
nichts gesagt.
Weil ich keinen habe.
Ist er tot?
Nein …
Dill wurde rot, und Jem befahl mir, den
Mund zu halten – ein sicheres Zeichen
dafür, dass er Dill geprüft und für
würdig befunden hatte.
Wenn er nicht tot ist,
dann hast du doch
einen, oder?
Von nun an verlief der Sommer
nach unserem bewährten Schema.
5
Bewährtes Schema hieß: unser Baumhaus
zwischen den beiden riesigen zusammen-
gewachsenen Chinabäumen auf dem Hof
verschönern …
… sich
zanken …
… oder unser Theater-
repertoire durchspielen –
frei nach den Werken von
Oliver Optic, Victor Appleton
und Edgar Rice Burroughs.
In dieser Hinsicht war es ein Glück,
dass wir Dill hatten. Er übernahm nun
die Charakterrollen, die vorher mir
zugefallen waren, zum Beispiel den
Affen in Tarzan, Mr. Crabtree in den
Rover Boys und Mr. Damon in Tom Swift.
Wir lernten ihn dabei als
einen Merlin im Taschen-
format kennen, dessen
Kopf von exzentrischen
Plänen, seltsamen
Gelüsten und wunder-
lichen Ideen überquoll.
Gegen Ende August aber hatten
wir das Theaterspielen nach
unzähligen Reprisen satt …
… und Dill setzte uns den
Gedanken in den Kopf, Boo
Radley herauszulocken.
6
Das Haus der Radleys hatte es Dill
angetan.
Trotz unserer Warnungen und Erklärungen
zog es ihn an wie der Mond das Wasser.
Allerdings wagte
er sich nur bis zur
Laterne an der Ecke.
Dort stand er oft in
sicherer Entfernung
vom Tor.
In diesem Haus lebte ein
bösartiges Gespenst.
Man sagte, es existiere
wirklich, aber Jem und
ich hatten es noch nie
gesehen.
Angeblich kam es nur in
mondlosen Nächten zum
Vorschein und spähte durch
die Fenster in fremde
Häuser.
Wenn bei einem Kälte-
einbruch die Azaleen
im Garten erfroren,
dann hatte er sie be-
haucht.
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Einmal versetzten eine Reihe makabrer nächtlicher Vorkommnisse die Stadt in Schrecken:
Ein unbekannter Täter verstümmelte Hühner und Haustiere. Obgleich Crazy Addie der
Schuldige war, ein Verrückter, der sich schließlich in Barkers Teich ertränkte, wollten die
Leute ihren ursprünglichen Verdacht nicht aufgeben und beobachteten misstrauisch das
Radley-Haus.
Kein Neger wagte nachts daran
vorbeizugehen, jeder wechselte auf die
andere Straßenseite und pfiff beim
Gehen laut vor sich hin.
Die Kinder rührten die Nüsse nicht
an, die von den hohen Pecanbäumen
der Radleys in den angrenzenden
Schulhof fielen: Radley-Nüsse
brachten den Tod.
Flog ein Ball in den Radley-Hof, so galt
er als unwiederbringlich verloren.
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Der Unstern über diesem Haus war lange vor Jems und meiner Geburt aufgegangen. Die
Radleys, überall in der Stadt wohlangesehen, lebten sehr zurückgezogen – ein Verhalten, das
man in Maycomb nicht verzieh.
Gerüchten zufolge hatte sich der jüngere Radley-Sohn als
Halbwüchsiger mit den Cunninghams angefreundet, einer
weitverzweigten Sippschaft aus Old Sarum im Norden von
Maycomb County. Sie bildeten eine Art Bande und waren das
Äußerste, was Maycomb in dieser Beziehung je erlebt hatte.
Arthur
Boo
Radley
Eines Nachts kurvten die stark angeheiterten Burschen in einem
geliehenen Wagen im Rückwärtsgang über den Marktplatz,
widersetzten sich der Festnahme durch den alten Gerichtsdiener,
Mr. Conner, und sperrten ihn schließlich in die Toilette des
Rathauses ein.
!*?%!
Die Burschen wurden also
vor den Jugendrichter
gebracht. Die Anklage
lautete auf unziemliches
Betragen, ruhestörenden
Lärm, schwere tätliche
Beleidigung sowie Gebrauch
unflätiger, lästerlicher Worte
in Gegenwart weiblicher
Personen. Auf die Frage des
Richters, worauf sich die
letzte Beschuldigung beziehe,
antwortete Mr. Conner …
Dame in Maycomb sie
gehört haben muss.
… sie haben so laut
geflucht, dass jede
9
Der Richter entschied, dass die Burschen in die staatliche
Besserungsanstalt geschickt werden sollten, wohin man
Jungen mitunter nur deshalb verfrachtete, um ihnen
Nahrung und anständige Unterkunft zu sichern: Es war
kein Gefängnis und der Aufenthalt dort keine Schmach.
Aber Mr. Radley
fand es
entehrend.
Er bat den Richter, seinen Sohn freizu-
lassen, und versprach, dass Arthur nie
wieder Anstoß erregen würde. Da der
Richter wusste, dass man auf Mr. Radleys
Wort vertrauen konnte, erfüllte er ihm die
Bitte.
Die anderen Jungen kamen in die
Anstalt und erhielten dort die beste
Mittelschulerziehung, die der Staat zu
bieten hatte.
Die Türen des Radley-Hauses blieben nun sowohl wochen-
tags als auch sonntags geschlossen, und der jüngere Sohn
wurde fünfzehn Jahre lang nicht mehr gesehen.
Die Nachbarschaft er-
wartete, dass auf Mr.
Radleys Tod Boos Er-
scheinen folgen werde,
Bruder Nathan
nahm Mr. Radleys
Platz ein.
doch es kam
anders: Boos
wissen, was er da
drin tut.
Möchte bloß
wenigstens mal den
Kopf aus der Tür
stecken.
Könnte doch
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mal mitten in der Nacht aufgewacht
ist, und da hat er sie durchs Fenster
angestarrt.
Der kommt schon raus, aber
nur, wenn’s stockdunkel ist. Miss
Stephanie hat mir erzählt, dass sie
oft seine Fußstapfen
bei uns auf dem Hof
gesehen.
Ich hab morgens
Als wenn einen
ein Totenschädel
anglotzt, sagt sie.
Wie er wohl
aussieht?
Fußspuren zu
urteilen, ist
Nach den
er mindestens
zwei Meter
groß,
erwischt. Deshalb sind seine
Hände immer mit Blut
rohen Eichhörnchen und
Katzen, wenn er welche
er ernährt sich von
beschmiert, denn wer Tiere
roh ist, kann das Blut nie
mehr wegwaschen.
eine lange Zickzacknarbe,
und die paar Zähne, die
Über sein Gesicht läuft
er noch hat, sind gelb und
faul und meist tropft ihm
Speichel aus dem Mund.
mal versuchen, ihn
rauszulocken.
Lass uns doch
Wenn du umgebracht
werden willst, dann
brauchst du nichts
Jem hatte in seinem ganzen Leben noch
keine Wette abgelehnt.
weiter zu tun, als an
Radleys Haustür zu
klopfen.
Gartentor der
Radleys.
Ich wette, du
traust dich
nicht weiter
als bis zum
Es wurde um zwei Bände Tom
Swift gegen Dills Ausgabe von
Das graue Gespenst gewettet.
11
Jem überlegte sich die
Sache drei Tage lang.
Tag 1
Ich glaube, seine Ehre
war ihm lieber als sein
Kopf, denn Dill wurde
zuletzt doch mit ihm
fertig.
Du hast
Angst.
Angst nicht,
bloß Respekt.
Tag 2 Du hast sogar Angst,
deinen großen Zeh auf
Ich gehe ja schließ-
lich jeden Tag am
Radley-Grundstück
vorbei zur Schule.
den Vorplatz zu setzen.
immer im
Galopp.
Aber
Tag 3
In Meridian gibt
es keine solchen
Angsthasen wie in
Maycomb.
So ängstliche
Leute wie hier hab
ich ja noch nie
gesehen.
Hoffentlich ist dir klar,
dass er uns allesamt
umbringen wird, Dill
Harris.
nicht die Schuld,
wenn er dir die
Gib bloß mir
Augen auskratzt.
Du hast damit
Ich habe vor
nichts Angst.
angefangen, ver-
giss das nicht.
Ich würd’s
ja tun …
herauslocken können,
ohne dass er uns
erwischt.
wüsste, wie wir ihn
… wenn ich nur
Du hast
immer
noch
Angst.
Außerdem
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kleine Schwester Rücksicht
nehmen. Was wird aus ihr,
wenn ich dabei draufgehe?
… muss ich auf meine
Dill, so was muss
man sich überlegen.
Lass mich doch
mal ’n Augenblick
nachdenken …
vor der Wette
drücken?
Du willst
dich wohl
wenn man eine
Schildkröte
rauslocken
will …
Das ist so
ähnlich, als
Wie macht
man denn
das?
zündet ein
Streichholz
drunter an.
Man
Wenn du Radleys
Haus in Brand
Schildkröten
steckst, sag ich’s
Atticus.
Es ist gemein,
unter einer
Schildkröte
ein Streichholz
anzuzünden.
fühlen doch nichts,
Blödmann.
Du bist wohl schon
mal ’ne Schildkröte
gewesen, was?
Quatsch! Lass mich
doch nachdenken,
Dill …
Dill machte ein kleines
Zugeständnis:
gedrückt hast, und du kriegst
Das graue Gespenst auch
dann, wenn du nur bis zum
Haus gehst und die Wand
berührst.
dass du dich vor der Wette
Ich werde nicht sagen,
Bloß die Hauswand
berühren? Ist das
auch wirklich alles?
Nicht dass du
mir nachher mit was
anderem kommst,
wenn ich wieder
da bin.
Ja, das ist
alles.
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Wahrscheinlich rennt er dir nach, wenn er
dich im Hof sieht. Dann gehen Scout und
ich auf ihn los, halten ihn fest und sagen
ihm, dass wir ihm nichts tun wollen.
Ich geh
ja schon.
und ich bleiben
dicht hinter
dir.
Na los, Scout
Hetz mich
bloß nicht.
Hn!
14
KLATSCH
Als wir hinüberstarrten, war uns, als hätte sich
drinnen ein Fensterladen bewegt.
Blink.
Eine winzige, fast
unsichtbare Bewegung …
und dann rührte sich
nichts mehr.
15
Als Südstaatler fanden es einige in unserer Familie
beschämend, dass keiner unserer Vorfahren auf der
einen oder auf der anderen Seite an der Schlacht
von Hastings teilgenommen hatte.
Alles, was wir bieten konnten, war der Trapper
Simon Finch, ein Apotheker aus Cornwall, dessen
Frömmigkeit nur noch durch seinen Geiz
übertroffen wurde.
Er machte sich auf den Weg über den
Atlantik nach Philadelphia, von da
aus nach Jamaika, dann weiter nach
Mobile und den Saint-Stephens-Fluss
hinauf.
Da er seines Meisters Worte über den Besitz von Gütern
in Menschengestalt vergessen hatte, kaufte er sich drei
Sklaven und errichtete mit ihrer Hilfe eine Behausung
am Ufer des Alabama.
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Die Finchs hielten bis ins 20. Jahrhundert hinein an
der Tradition fest auf Simons Besitz, Finch’s Landing
zu bleiben. Erst mein Vater, Atticus Finch, entschloss
sich, in Montgomery Jura zu studieren, und sein
jüngerer Bruder ging zum Studium der Medizin nach
Boston. Auf Finch’s Landing blieb nur Alexandra
zurück, die Schwester der beiden.
Atticus, Jem und ich sowie Calpurnia,
unsere Köchin, lebten in der Haupt-
straße des Wohnviertels in Maycomb.
Calpurnia war seit Jems Geburt bei
uns, und so weit ich zurückdenken
konnte, hatte ich ihre tyrannische