image

image

Daniel Mezger

Alles außer ich

Roman

image

Der Salis Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Die Arbeit an diesem Buch wurde unterstützt durch Werk- und Förderbeiträge der Fachstelle Kultur des Kantons Zürich, der Kulturförderung von Stadt und Kanton Schaffhausen und der Pro Helvetia.

 

Daniel Mezger

 

Alles außer ich

 

Roman

Verlag

Salis Verlag AG, Zürich

 

info@salisverlag.com

 

www.salisverlag.com

Lektorat

Kristina Wengorz

Korrektorat

Patrick Schär

Satz

Peter Löffelholz

Umschlaggestaltung

André Gstettenhofer

Umschlagbild

Daniel Mezger

Gesamtrealisation

www.torat.ch

Gesamtherstellung

CPI Books GmbH, Leck

 

1. Auflage 2019

 

© 2019, Salis Verlag AG

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN 978-3-906195-89-6

 

eISBN 978-3-906195-90-2

 

Printed in Germany

INHALT

ERSTER TEIL

ANFANG

Kapitel 1

Stine

Kapitel 2

Ursina

Kapitel 3

Ursina

Kapitel 4

Ursina

Kapitel 5

Ursina

Kapitel 6

WAS SIE SAGT

Stine

ZWEITER TEIL

MITTE

Kapitel 7

Ursina

Kapitel 8

Ursina

Kapitel 9

Ursina

Kapitel 10

Ursina

Kapitel 11

WAS SIE NICHT SAGT

Stine

DRITTER TEIL

ENDE

Kapitel 12

Stine

Kapitel 13

Ursina

Kapitel 14

Stine

Kapitel 15

Ursina

Kapitel 16

ZUM AUTOR

»Identität, die: Abbildung, die jedes Element des Definitionsbereichs auf sich selbst abbildet, für die also gilt: f(x) = x für alle x.«
Lexikon der Mathematik, Band 2 (Eig bis Inn)

Sein Englisch ist schlecht, »rusty«, sagt er, eingerostet. »I am sorry«, sagt er. Wie haben sie sich damals bloß verständigt? Er macht lange Pausen zwischen den Sätzen, ordnet vorab die Wörter, spricht sie dann der Reihe nach aus. Er sagt: Ich wusste nicht, dass ihr noch in Kontakt steht.

Er sieht mir ähnlich, denkt sie. Offensichtlich ist es nicht. Die Nase, die auf jeden Fall; die Art, wie er den Hals einzieht, ähnliche Schultern möchte man sagen, aber vielleicht ist er nur ähnlich nervös.

Er sagt: Wie geht es ihr?

Sie fragt: Wem?

Er sagt: Stine.

Sie sagt: Meiner Mutter geht es meistens schlecht. Sie fügt an: Ich hege langsam den Verdacht, dass sie das so mag.

Ist sie krank?, fragt er.

Sie denkt: Er hat wirklich keine Ahnung. Sagt: Ja, ich denke schon.

Auf ihrer Liste der Fragen hätte nun gestanden: Wie war sie denn früher?

Und außerdem:

Warum hast du dich nie gemeldet; warum auch später nicht; denkst du manchmal an uns; denkst du an sie; hast du jemandem von uns erzählt; als sie es dir erzählt hat, warst du da wütend; bist du es noch; freust du dich, mich zu sehen?

Er schaut zur Balkontür, hinter der Scheibe sein Bruder, seine Mutter, beide versuchen wohl, von der Sofaecke aus zu erraten, was hier draußen gesprochen wird, erwarten etwas von ihm, klar, dass er sich unter Druck fühlt. Auch sie erwartet etwas von ihm, denkt sie, während dieser fremde ältere Herr auf der anderen Seite des Metalltischchens dasitzt auf dem unbequemen Metallstuhl, der einzig darum praktisch ist, weil er den Regen aushält, solange der Lack nicht abblättert, weswegen er vorsichtshalber dann doch zusammengeklappt und weggestellt wird, wenn man ihn nicht braucht, weswegen man ihn wohl selten braucht, denn man muss ihn ja erst auseinanderklappen, ans Tischchen stellen, das ist umständlich, zumindest wenn man sich nicht vornimmt, hier länger zu sitzen, wenn man nicht wie sie und er die Stühle extra an dieses Tischchen gestellt hat, um sich endlich einmal gegenüberzusitzen, nur sie und er, worauf sie und er nun so dasitzen an diesem Tischchen, sie auf dieser Seite, er auf jener. Der Balkon ist eng, höchstens für ein paar Pflanzen geeignet oder eine schnelle Zigarette, falls man denn raucht, ihre Oma raucht bestimmt nicht, sie raucht, etwas muss man ja tun mit den Händen. Der fremde ältere Herr ihr gegenüber hält seine ruhig auf der Tischplatte, wie bei einem Verhör, denkt sie, er der Angeklagte, der auf unschuldig plädiert, der versucht, so ruhig wie möglich zu bleiben, sie die Kommissarin, die ihn zappeln lässt, bis er aufgibt und gesteht, aber vielleicht sind die Rollen auch vertauscht und er lässt sie zappeln, aber irgendwann wird er sie stellen, die eine Frage, die, die sie nun nicht mehr recht beantworten kann: Warum wolltest du mich sehen?

Stattdessen: Du rauchst ziemlich viel.

Sie: Nur heute. Wobei nein, eigentlich immer. Hast du nie geraucht?

Er sagt: »Can I …?«

Sie sagt: »Of course.«

Jetzt haben sie etwas zu tun, sie kann ihm die Packung entgegenschieben, er kann sie nehmen, er kann lesen, was darauf steht, »Blue Ribbon«, kann er sagen, kann die Augenbrauen hochziehen dabei, es wird heißen: Was auch immer das für ein Kraut ist.

Die Packung ist frisch angebrochen, die Zigaretten liegen noch eng beieinander, mit spitzen Fingern versucht er, eines der Enden zu erwischen, erst als er auf die Idee kommt, von unten dagegenzuklopfen, gelingt es ihm. Er schiebt die Packung zurück, sie beugt sich über den Tisch, um ihm Feuer zu geben, natürlich erlischt die Flamme zu früh, er schirmt den nächsten Versuch mit seinen Händen ab, hält dabei die ihren umfasst. Kurz bleibt dieses Bild stehen: Vater und Tochter, Hand in Hand.

Diesmal klappt es mit dem Feuer, beide lehnen sich zurück.

ERSTER TEIL

ANFANG

1

Am Anfang ist da dieser Name, und er passt nicht dazu, wie er ausgesprochen wird. Er passt nicht an diesen Ort, nicht zu dieser jungen Frau mit ihren hellblonden Haaren. Ein Schweizer Name.

Ihr steht in der Morgendämmerung, ein Autobahnrastplatz, irgendwo kurz nach Hannover, sie hat sich eine Zigarette angezündet, zieht daran, als gälte es, diese in einem einzigen Zug runterzurauchen. Zeige- und Mittelfinger durchgestreckt und an die Lippen gepresst, die Mundwinkel streng nach unten gezogen, jeder Zug eine seltsame Grimasse. Du stehst daneben, wohin mit den Händen?

Du sagst: »Hallo«, es klingt wie »Entschuldigung«.

Sie schaut dich kaum an: »Hi.«

Du fragst, ob du auch eine Zigarette haben kannst, wiederholst die Frage auf Englisch, sie streckt dir die Packung hin. Blue Ribbon, nie gehört. Du rauchst sonst nicht, nimmst dir vor, damit anzufangen, sie drückt dir das Feuerzeug in die Hand, du fängst an. Ein erster Zug auf Lunge, einen weiteren gepafft.

Das reichte noch nicht für einen Anfang, du versuchst es neu, streckst ihr die Hand hin, nennst deinen Namen. Ein leichtes Lächeln von ihr, dann wieder wie abwesend nennt sie den ihren: Ursina.

In Kiel hatte sie bereits im Auto gesessen, als du angehetzt kamst. Du entschuldigtest dich wortreich beim Fahrer, er hatte nur den Satz »Gerade noch Glück gehabt« für dich übrig. Die Beifahrerin war offenbar ebenfalls schlechter Laune, und hinten auf der Rückbank saß sie, Ursina, wenn auch zu dem Zeitpunkt noch namenlos, denn sie schenkte dir weder einen Blick noch eine Begrüßung. Die Fahrt ging los. Sowieso wurde kaum gesprochen im Auto, die Beifahrerin schmollte vor sich hin, der Fahrer hatte sich, wie du dem Rückspiegel entnehmen konntest, dennoch ein fies-vergnügtes Grinsen ins Gesicht geklebt. Ab der Autobahn blieb seine Hand auf ihrem Oberschenkel liegen. Nach einem Autobahndreieck namens Bordesholm nannte sie ihn »eigentlich voll das Arschloch«, er drückte als Antwort betont lässig an seinem Bordcomputer herum. Fortan Musik. Auf seine Soundanlage konnte er stolz sein, der Bass wusste Trommelfelle zu zerstören.

Die Situation war wie geschaffen für den Austausch konspirativer Blicke mit einer Rückbanknachbarin. Du tatest dein Bestes, sie schaute aus dem Fenster. Als der Bass kurz aussetzte, versuchtest du es mit einem Geräusch, einem tonlosen Auflachen, damit sie schaute. Sie schaute, du zeigtest nochmals den Blick von vorhin, sie drehte sich wieder zum Fenster.

Beim Dreieck Hannover-Nord legte endlich auch die Beifahrerin ihre Hand auf das Bein des Fahrers, zwei Hände deuteten Massagebewegungen an, nach Hannover nahm er seine Hand weg, setzte den Blinker, schaltete runter. Ein Rastplatz. Namenlos leider, du wolltest dir alle Namen merken, sie würden die Geschichte glaubhafter machen, wenn du sie irgendwann erzählst.

Er stoppte den Wagen, drehte sich zur Rückbank um, wies euch Mitfahrer an auszusteigen: »Zehn Minuten Pause.«

Und nun steht ihr hier auf dem Parkplatz, das Paar ist im Wagen geblieben, man hört das Pulsieren des Basses, kann das Geknutsche hinter den Scheiben schemenhaft erkennen. Es ist das erste Mal, dass du mit einer Mitfahrgelegenheit unterwegs bist, du hast dir so eine Fahrt anders vorgestellt. Warum nehmen sie Mitfahrer mit, wenn sie allein sein wollen?

Deine Leidensgenossin scheint von der Situation nicht irritiert zu sein. Sie schlendert ein paar Schritte vom Auto weg. Bleibt in Sichtweite. Raucht.

Ursina also.

»I hope, they won’t leave without us«, dein weiterer Versuch, das Gespräch anzukurbeln.

»Yes«, ihre Antwort.

Du fragst sie, woher sie komme. Du bräuchtest ein originelleres Thema, um sie aus der Reserve zu locken, sie zündet sich lieber eine weitere Zigarette an, als sich zu unterhalten. Erst als die Zigarette brennt und als der erste Zug mit der dazugehörigen Grimasse der Mundwinkel vollzogen ist, sagt sie: »Denmark.«

»Oh«, sagst du, lässt es klingen, wie es in amerikanischen Filmen klingt, als wäre es mehr Auftakt als Feststellung. Du sagst etwas über den Norden, etwas über das Land, in dem du nie warst, dein Schulenglisch lässt die Sätze noch floskelhafter klingen, als sie sowieso bereits sind. Sie sagt nichts, dann fällt auch dir nichts mehr ein, du betrachtest die Autobahn, als gäbe es irgendetwas Interessantes an vorbeirasenden Autos. Man kann ja auf Toilette gehen, denkst du, du murmelst das Wort, nimmst dir vor, dir Zeit zu lassen.

Der Fahrer und seine Freundin lassen euch wieder einsteigen. Ihre Gesichter sind gerötet, sie freuen sich wohl bereits jetzt auf den nächsten Rastplatz. Im Auto riecht es nun ebenfalls nach Zigarettenrauch. Menthol. Der Fahrer beschleunigt rasant, biegt zackig auf die Autobahn ein, überholt übermütig.

Du schielst rüber zu ihr. Ursina, die Dänin. Sie lässt ihren Sicherheitsgurt einrasten, bettet ihren Kopf hinein. Es sieht bequem aus.

Die Musik ist nun leiser, vorne werden Sätze ausgetauscht. Christian heißt der Fahrer, sie nennt ihn Chris, er nennt sie meist Herz oder Baby, bemüht sich, seine Sätze so anfangen oder enden zu lassen, Baby für den Satzanfang, Herz fürs Satzende: »Baby, die Situation ist einfach gerade etwas komplexer.« – »Gibt es sonst noch etwas, das du mir sagen möchtest, Herz?« In Wirklichkeit wird sie irgendwas mit Tsch heißen, denkst du und beschließt, sie fortan Tschanina zu nennen. Tschanina, genau.

Sie wird die Affäre von Christian-Chris sein, der zu Hause, was vermutlich Zürich ist, eine Freundin hat. Was die beiden im Norden gemacht haben, bleibt eins ihrer wenigen Geheimnisse. Dass sie bereits in Stuttgart aussteigen muss und dass sie eifersüchtelt, ist nicht zu überhören. Sie sagt, er habe doch bloß was zum – und den Rest flüstert sie, aber er ist trotz Musik bestens zu verstehen – Vögeln gesucht. Er setzt wieder sein süffisantes Grinsen auf. Und während er sich bewundert in seinem Hechtsein, musst du zugeben, dass auch du ihn bewunderst. Weil er sich nicht hinterfragt.

Seit vier Monaten bist du nun getrennt. Den ersten davon habt ihr, Nela und du, weiter in der gemeinsamen Wohnung gewohnt. Dann stapelte sie ihre Kisten und Möbel in den Raum, der einmal Arbeitszimmer hieß. »So wenig Platz braucht also so ein Leben«, hatte sie gesagt, bevor sie zum Flughafen fuhr. Natürlich war das absichtlich melodramatisch, natürlich dachtest du dennoch: Für mein eigenes Leben hätte ein deutlich kleineres Zimmer gereicht.

Von dir befreit, schien sie auch ihre Möbel nicht allzu sehr zu vermissen.

Nela. Ein Jahr vor eurer Trennung, als sie gerade nach Zürich gezogen war, hatte sie plötzlich angefangen, sich mit vollem Vornamen vorzustellen.

Du: »Wieso nun auf einmal Daniela? Du wurdest nie so genannt, das ist doch albern.«

Und sie: »Du hast deinen Nachnamen geändert, das ist erst recht albern.«

Und du: »Du weißt, was ich meine. Das ist doch irgendwie seltsam.«

»Ich heiße nun mal Daniela.« Nela sei ein Kindername, und sie sei längst erwachsen. Dazu einen gewissen Unterton und einen seltsam zusammengekniffenen Blick, beides als Denksportaufgabe an deine Adresse.

Zweieinhalb Jahre hielt sie es mit dir aus. Drei Monate lebtest du mit ihren Möbeln, einer Arbeitszimmertür, die sich nicht mehr schließen ließ, und dem ständigen Anblick eures Scheiterns.

Der Bekannte eines Bekannten, der gerade auf Zimmersuche war, kommentierte: »Sieht gut aus. Wahrscheinlich hell.« Er lachte, und dir war es zu peinlich, den Raum noch weiteren Personen zu zeigen. Er bekam den Zuschlag. Nela schrie in den Hörer, wie sie das denn nun auch noch alles organisieren solle, du gabst klein bei, mietetest einen Bus und trugst »ihr Leben« Stück für Stück alleine die Treppen runter. Lampenständer, Bücherkisten, Topfpflanzen.

Du hältst dich am Griff über der Tür fest, betrachtest an den Vordersitzen vorbei die Mittelstreifenstücke, die auf das Auto zurasen. Sie leuchten in der nun vormittäglichen Sonne. Die Musik ist zwar leiser, aber immer noch unerbittlich stumpfsinnig, du beginnst, sie zu genießen. Fängst an, den Rhythmus von Mittelstreifen, Leitplankenunterbrechungen und Musik einzutakten. Du freust dich ein wenig an der Absurdität dieser Rückfahrt. Absurd ist gut, ist ungewöhnlich, ist eine Abwechslung. Alles andere fühlt sich viel zu normal an. Immer dieses: So ist es halt, so ist der Lauf der Dinge. Man ist zusammen, man trennt sich, man unternimmt demütigende Fahrten in die neue Stadt der alten Liebe, bringt Möbel zurück, fährt wieder nach Hause. Als Geschichte vielleicht einigermaßen brauchbar, aber als Erlebnis nur mäßig einschneidend. Wie dir kaum etwas einschneidend vorkommt in deinem Leben, diesem ewigen Warten. Auf was? Egal, nur wesentlich soll es sein. Die Fahrt, Nela, die Möbel, eine weitere Phase, eine Zwischenphase, denn irgendetwas muss man ja tun, während man wartet, bis das Leben losgeht. Und manchmal hast du den unangenehmen Verdacht, dass du dich schon viel zu lange in dieser Zwischenphase befindest, dass du es dir hier unterdessen viel zu wohnlich eingerichtet hast. Eine gescheiterte Beziehung hin oder her. Du verbringst deine Tage mit Menschen, die mehr Bekannte sind als Freunde, und weil man sich regelmäßig sieht, ernennt man sie irgendwann zu Übergangsfreunden, auf dass irgendwann die richtigen kommen, diejenigen, die einen wirklich interessieren, doch auch die Behelfsfreunde werden immer mehr zum Dauerzustand, und weil keine anderen kommen, richtest du dich eben mit ihnen ein, vielleicht vergisst du ja eines Tages, dass sie bloß ein Provisorium sind. Rolf zum Beispiel.

Die Mittelstreifen, die Leitplanken, das Pulsieren des Basses, du döst mit offenen Augen. Die Nacht war zu kurz, das Hostelbett zu schmal, die Matratze zu weich. Wenn du den Kopf nicht bewegst, siehst du Ursinas Knie, für mehr müsstest du dich ihr zuwenden. Du lässt es, du kannst warten, die da vorne werden sicherlich bald wieder Zweisamkeit brauchen.

Gestern also Kiel. Du kamst völlig verkrampft dort an. Du bist kein geübter Autofahrer, erst recht nicht, was lange Strecken anbelangt und Kleinbusse und deutsche Autobahnen und keine Ablösung. Stundenlang das Gefühl, jederzeit eine Massenkarambolage verursachen zu können, dann plötzlich die Stadt, wo du drauf und dran warst, mehrere Fußgänger zu überfahren. Von Nela nur eine Kurznachricht: »Bahnhof.« Dieser war leicht zu finden, statt Nela tauchte dort allerdings ihr Vater auf. Er stieg ein, dirigierte dich durch den Ort. Dazu mühsam ernährte Gespräche. Und nach dem Ausladen ein kräftiger Händedruck, der wohl Vermissen ausdrücken sollte. Du kamst nach Ladenschluss beim Kieler Ableger der Autovermietung an, wahrscheinlich würde man dir mehr als die geplanten vierundzwanzig Stunden berechnen. Du schimpftest. Auf die Fahrt, auf dich, auf Nela. Du schriebst ihr eine weitere Kurznachricht, keine Antwort; es gab wohl nichts mehr zu besprechen. Du liefst durch das Städtchen, auch zufällig begegnetet ihr euch nicht. Beim Hafen kauftest du ein Dosenbier, setztest dich auf eine Mauer, trankst in großen Schlucken, der Wind tat gut. Die leere Dose warfst du ins Wasser. Gerne hättest du etwas geschrien dazu. Du nahmst dir vor, dich am Abend in irgendeiner Spelunke zu betrinken, du nahmst dir vor, nochmals bei ihrer Wohnung vorbeizuschauen, nahmst dir vor, ihr die Meinung zu sagen. Du betrachtetest die Dose, die es zurück in Richtung Ufer getrieben hatte, jetzt schwamm sie zu deinen Füßen im Brackwasser. Du würdest niemandem von dieser Fahrt erzählen. Du schriebst Nela eine weitere Kurznachricht. Keine Antwort. Du fandest ein paar Stufen und wärst beinahe ins Hafenbecken gefallen, als du die Dose wieder aus dem Wasser fischtest.

»Why is your name Ursina?«

Du hast die Frage lange vorbereitet, hast dir überlegt, wie du an das nicht recht begonnene Gespräch würdest anknüpfen können, wenn endlich die nächste Pause fällig war.

Es hat lange gedauert, ihr fuhrt an Göttingen vorbei, du recktest den Hals, sahst bloß Lärmschutzwände. Eine weitere Stunde. Dann begann vorne endlich wieder die gezischelte Unterhaltung. Tschanina schimpfte über irgendetwas, Tschanina deutete nach hinten, Tschanina sagte: Wenn er, Chris, nicht auf die idiotische Idee gekommen wäre, Mitfahrer mitzunehmen, würde sie ihm jetzt eine Abreibung verpassen. Chris lachte dreckig beim Wort Abreibung, sie sagte, er wisse genau, was sie eigentlich von ihm wolle, und das gehe so nicht mehr weiter, er sagte: »Baby, sollen wir mal Pause machen?«

Das Schild zum Autohof Remsfeld, Chris-Christian nahm seine Hand von Herz-Babys Knie, scheuchte die ihre, die sich unterdessen unaufhörlich in Richtung Oberschenkelinnenseite vorgearbeitet hatte, weg, setzte den Blinker, schaltete runter, bog ein, bremste ab und verkündete, dass hier nochmals Rast gemacht werde. Endlich.

Ihr macht ein paar Schritte vom Auto weg, du bist froh, wenn du möglichst wenig von den beiden Idioten mitbekommen musst. Du willst Ursina Kaffee oder einen Sandwichkauf vorschlagen, aber sie hat ihre Zigarettenpackung schon in der Hand.

Also stellst du sie endlich, die lange aufgestaute Frage: Warum heißt du Ursina?

Du bist der Erste, der mir diese Frage stellt, sagt sie.

»Really?«, du.

Ein mitleidiger Blick von ihrer Seite. Vielleicht auch belustigt. Du hast dir dafür mindestens einen weiteren Satz verdient. Drei Wörter hat sie für dich: »A long story.« Sie rollt das R, sie würde dir wohl auch keine kurze Geschichte erzählen wollen.

Wenn du jetzt noch eine rauchst, dann wirst du kein Sandwich mehr hinunterbekommen, sie streckt dir Packung und Feuerzeug ungefragt hin.

»And why Zurich?«

Sie zieht wieder ihre Grimasse, selten hast du jemanden so eindringlich rauchen gesehen.

Du setzt an zu: »It’s a nice city but …«

Sie schaut dir zum ersten Mal gerade in die Augen: »Will you shut up, if I tell you?«

Natürlich, sagst du, klar.

Und sie: »I’m looking for my father.«

Du: Warum dein Vater, warum Zürich? Entschuldige, dass ich frage, du muss es mir nicht erzählen, aber …

Sie: Man könne es kurz machen, sie kenne ihn nicht, er lebe in Zürich, sie wolle ihn kennenlernen, sie müsse ihn dazu nur noch finden.

Sie hat einen langen Satz gesprochen, ihre Stimme klingt herb, ihr Akzent überdeutlich. Auch beim Sprechen verformt sie den Mund mehr, als man müsste. Du fragst dich, ob das wohl bei ihrer Muttersprache auch so ist, du fragst dich, ob du sie eigentlich schön findest. Sie hat ein hübsches Gesicht, sie ist nicht besonders groß, hat breite Schultern, wirkt ansonsten eher schmal, das Tattoo, das sich über die eine Seite des Ringfingers zieht, sieht aus wie ein Überbleibsel aus Teenagertagen. Du schaust sie an, besonders lang können die Teenagertage noch nicht zurückliegen.

Sie nimmt einen weiteren tiefen Zug, stößt den Rauch in einem kurzen Ausatmer aus. »His name is Hans Meier«, sagt sie.

Hans Meier? Der Name lässt dich auflachen.

Warum lachst du?

»I’m sorry.« Ihre Suche werde wohl nicht ganz einfach. Sagst du. Es gebe viele Hans Meiers in der Schweiz, es gebe wohl keinen häufigeren Namen. In Zürich sowieso. »Actually my name would be Meier too«, ja, ein Meier, also von Amts wegen, und ja, dein Vater heiße tatsächlich auch Hans.

Sie scheint dir dein Lachen nicht übel zu nehmen, im Gegenteil, ein Grinsen huscht über ihr Gesicht: »So we are brother and sister.« Es ist das erste Mal, dass bei ihr so etwas wie Humor zu erkennen ist.

»Yes, maybe we are.« Wobei dein Vater leider nicht in Zürich lebe. »I’m sorry.«

Sie schnippt ihre Zigarette weg, zündet sich eine neue an, allzu nachhaltig scheint sie ihr wiedergefundener Bruder nicht zu interessieren. Und du hast dummerweise versprochen, nach ihrer Antwort die Klappe zu halten.

Ja, du bist ein Meier. Du trägst zwar den Mädchennamen deiner Mutter, aber du weißt es, und dein Pass weiß es auch: ein Meier. Du stammst aus einem durchschnittlichen Vorort eines Vororts von Zürich, du siehst durchschnittlich aus, du bist durchschnittlich groß, hast durchschnittlich dunkelblonde Haare, du könntest für Anatomiebücher posieren oder für Bekleidungskataloge, jeder würde sich angesprochen fühlen. Ein Meier. Wenn du jemanden Neues kennenlernst, hörst du oft: »Wir kennen uns doch von irgendwoher?« Aber meist findet ihr weder eine gemeinsame Begegnung noch eine mit dir verwechselte Person, man hat dich einfach schon einmal gesehen, bevor man dich gesehen hat.

»Why is your name actually Meier?« Ursina fragt beiläufig, es fällt dir erst gar nicht auf, dass sie sich das erste Mal aktiv dir zuwendet.

Du schaust sie verwirrt an, eine seltsame Frage: Ähm, wie das halt so ist, mein Vater, mein Großvater und so weiter …

Sie: Nein, du habest gesagt, dein Name sei eigentlich Meier. Was das heißen solle?

Wenn sie so weitermacht, wird das noch ein echtes Gespräch. Du erklärst, dass du den Namen halt abgelegt habest. Sie versteht dich nicht, du wühlst in deinem Englischwortschatz, findest: »I don’t use it anymore. I have an artist name.«

»You are an artist?«

Ja, sagst du. Und wirst nicht rot dabei.

Sie zeigt sich unbeeindruckt, zieht an ihrer Zigarette, sie ist jung, aber sie ist eine geübte Raucherin. Zur Abwechslung stößt sie den Rauch aus den Nasenlöchern aus. »Me too«, sagt sie.

Ein Meier. Auch deine Fähigkeiten sind Durchschnitt, dein Englisch ist passabel, du bist mittelmäßig sportlich, du hast eine vage Vorstellung der europäischen Geografie, als Liebhaber hast du weder Beschwerden noch überschwängliche Komplimente geerntet, das Einzige, was du überdurchschnittlich gut beherrschst, ist Mathematik. Ausgerechnet.

Es ist dir spät aufgefallen, denn Zahlen haben dich kaum je interessiert und du bist ein langsamer Kopfrechner. Dein Vater, der dir gerne ab und an eine kleine Rechenaufgabe hinwarf und der das für ein geeignetes Kinderspiel hielt, gleichermaßen lehrreich und ihm selbst Freude bereitend, schüttelte immer den Kopf, er konnte nicht nachvollziehen, dass man wegen zwei dreistelliger Zahlen ins Grübeln geriet. Aber Mathematik beginnt da, wo das Rechnen aufhört, Buchstaben lösten im Gymnasium die Zahlen ab, und von da an war dir auf einmal alles vertraut. Je abstrakter es wurde, desto mehr fühltest du dich zu Hause. Kurvendiskussionen, Identitätsgleichungen, angewandte und umgewandelte Formeln, nichts davon bereitete dir Kopfzerbrechen. Denn es galt letztlich nur eine Regel, diejenige der Logik. Und Logik konntest du. Dass dein Talent hingegen von irgendeinem Nutzen sein könnte, fiel dir erst auf, als du von den Mädchen in deiner Klasse, an deren Liebe du höchstens beim heimlichen Masturbieren zu denken wagtest, gefragt wurdest, ob du ihnen beim Lernen helfen könnest. Ihr brütetet über den Heften, dein Lohn waren sich zufällig berührende Arme, die Anwesenheit, der Duft und noch intensiveres Masturbieren, wenn du wieder zu Hause warst.

Dein Vater bekam weder von deinem aufkeimenden Sexualtrieb noch von deinem mathematischen Talent viel mit. Und du hütetest dich, ihm von deiner Begabung für Abstraktes zu erzählen. Denn dein Talent war seins. Die Mathematik, das war seine Welt. Und du wolltest vieles werden, aber eins ganz bestimmt nicht: wie dein Vater.

Ein Langweiler, der auch stolz darauf war. Er hatte als Erster der Familie das Gymnasium besucht, du hingegen habest es leicht gehabt, sagte er, er selbst habe damals keine solche Unterstützung genießen können. Du sagtest ihm nicht, dass du auf »solche Unterstützung« gerne verzichtet hättest, dass du es gehasst hattest, wenn er hinter dir stand, auf deine Hausaufgaben schaute, sie »keine Herausforderung« nannte. Er hatte Bauingenieurwesen studiert, nebenher Mathematik, er hätte beides abschließen können, sagte er, aber er wusste von Anfang an, was er werden wollte: Statiker.

Die Beifahrertür öffnet sich, Tschanina-Herz richtet ihren Rock, steigt aus, kommt auf euch zu. Sie muss jetzt auch noch auf Toilette, bevor die Fahrt weitergehen kann.

Du brichst das Schweigen, fragst Ursina, was ihr Vater von Beruf sei.

»Something with traffic«, ist ihre Antwort. Verkehr. Schade, denkst du. Eine unbekannte Schwester, das wäre interessant gewesen.

Du surfst wieder auf Mittelstreifen, taktest sie ein mit den Reflektoren der Leitplanke. Es passt nie ganz, erst scheint es, als träfe der jeweils dritte Mittelstreifen auf den jeweils zweiten Leitplankenreflektor, dann ist es wohl doch der jeweils siebte, der den jeweils vierten trifft, dann sind es wohl doch deutlich mehr.

Gerne schimpfte dein Vater über Unwissende, am liebsten schimpfte er über »die Künstler«, der Ton war sarkastisch, gemeint waren die Architekten, die ihm das Leben schwer machten, weil sie keine Ahnung hatten von den einfachsten Grundregeln der Statik. Also hattest du dir kurzzeitig überlegt, Architekt zu werden. Fürs Zeichnerische hattest du leider keine Begabung; aber Schauspieler reichte, um in den Augen deines Vaters als gescheitert zu gelten.

Du willst nicht über deinen Vater nachdenken jetzt. Ursina hat dich darauf gebracht, du schaust hinüber zu ihr, sie surft wohl ebenfalls gerade auf Mittelstreifen. Du hättest ihr gerne gesagt, dass Väter nicht besonders wichtig seien. Dass sie meist eher enttäuschten. Du lässt es, betrachtest sie. Sie scheint es zu spüren, vielleicht sieht sie dich auch in der Spiegelung des Fensters, jedenfalls dreht sie ihren Kopf, der Blick sagt: Warum schaust du so? Du deutest mit dem Kinn nach vorne, das seltsame Pärchen ist eine sichere Ausrede, du hebst die Augenbrauen. Sie zuckt mit den Schultern, schaut wieder aus dem Fenster.

Du stellst dir vor, wie du mit Ursina durch Zürich schlenderst, wie du ihr bei der Vatersuche hilfst, ihr die entscheidenden Tipps gibst. Wie du beim Einwohnermeldeamt den Übersetzer spielst. Ihr seid im Einwohnermeldeamt, sie findet dank deiner Hilfe die entscheidende Information, sie umarmt dich. Dann tretet ihr auf die Straße, und zufällig steht da Christian-Chris, diesmal aber mit seiner eigentlichen Freundin. Sie sieht Nela erschreckend ähnlich. Ursina und du, ihr schaut euch an, ihr wisst genau, was der andere denkt, ihr geht auf Chris und die Nela-Kopie zu, begrüßt ihn wie einen alten Freund, das sei so eine nette Begegnung gewesen bei der gemeinsamen Fahrt, sagt ihr. Und wo denn Tschanina, seine schöne Freundin, sei. Die sei so nett und toll gewesen, er solle sie mal ganz herzlich von euch beiden grüßen. Dabei beobachtet ihr die falsche Nela, die echte Freundin, deren Mimik langsam zerfällt. Bevor sie sich zu Chris umdrehen und ihn anschreien kann, verabschiedet ihr euch breit grinsend und verschwindet um die nächste Ecke.

Du musst eingeschlafen sein, das Auto steht. Steht es schon lange? Wo bist du?

Chris wendet sich nach hinten: »Rise and shine, Turteltäubchen. Mittach! Halbe Stunde.«

Ursina blinzelt dich aus kleinen Augen an, sie hat offenbar ebenfalls gedöst. Reflexartig greift sie nach ihrer Jacke, zieht die Zigarettenpackung aus der Tasche.

»Lunchtime«, sagst du, etwas gar zu flüsternd, sie zieht kurz und unamüsiert die Mundwinkel hoch. Nein, das sollte kein Raucherwitz sein, Chris meinte das mit dem Mittag ernst. Aber bevor du dich erklären kannst, ist sie ausgestiegen, du nestelst noch am Sicherheitsgurt herum, sie nimmt draußen den ersten das Gesicht in die Länge ziehenden Zug.

Christian-Chris streckt die Beine aus, Tschanina zündet sich eine Mentholzigarette an, dir ist übel.

»Wo sind wir?«, fragst du.

Chris schaut dich an, du hast gerade die idiotischste Frage, die er je gehört hat, gestellt. »Man nennt es Raststätte.« Er wendet sich an seine Begleiterin: »Ein Salätchen, Herz?« Er lacht dreckig.

»Arschloch«, ist ihre Antwort, dann stöckelt sie davon in Richtung Schnellrestaurant.

Du bleibst beim Wagen, bist unentschlossen, was du tun sollst. Schnorrst du dir eben nochmals eine Zigarette. Wenn das so weitergeht, übergibst du dich bald.

Ursina reicht dir Kippe und Feuer, sagt: »Maybe we should stay in the car and make love this time.«

Du musst sie sehr verdutzt angeschaut haben, denn diesmal ist ihr Grinsen echt. Du überlegst, was du Schlagfertiges sagen könntest, irgendetwas, das gleichermaßen anzüglich wie charmant klänge. Die Pause wird lang und länger.

Ob sie wisse, wo ihr seid, fragst du, sie zuckt mit den Schultern.

Ob sie auch was essen wolle?

»Why not.«

Drinnen lässt du ihr den Vortritt, schiebst dein Tablett auf den Chromstahlröhren hinter ihrem her. Ursina entscheidet sich zielsicher für ein winziges Brötchen, du hättest mehr Hunger, musst das ganze Nikotin, das dich so zittrig macht, irgendwie ausgleichen. Die Vorstellung, wie sie dir gegenübersitzt und du dein Pastamenü in dich reinstopfst, hält dich ab, du greifst nach dem üppigsten Baguettebrötchen, frisch sieht anders aus, ein Bier wäre jetzt das Richtige, du zapfst dir ein dir unbekanntes Süßgetränk. Bei der Kasse schaut ihr euch nach eurem Fahrer und seiner Begleitung um, sie sitzen ganz hinten beim Fenster.

Sollen wir zu denen?, scherzt du.

Das sollten wir unbedingt, sagt sie. Und steuert tatsächlich auf die beiden zu, wählt den Tisch direkt neben ihnen, setzt sich, als würde man sich nicht kennen. Du bekommst den Platz Rücken an Rücken mit Chris. Wenn das ihr Humor ist, dann verstehst du ihn nicht ganz.

Sie scheint wacher und vergnügter als am Anfang, isst ihr Brötchen in großen Bissen, seltsamerweise verzieht sie den Mund dabei deutlich weniger als beim Rauchen und Sprechen. Ein merkwürdiger Mensch, denkst du. Ihr Gesicht kindlich, ein großer Mund, die Lippen, was? Aufgeworfen? Im Kunstlicht sieht man leichte Augenringe, sie ist wohl ähnlich unausgeschlafen wie du. Angezogen ist sie eigenwillig, irgendwie Fünfzigerjahre, irgendwie secondhand, dabei sehr schick, beinahe damenhaft, ein starker Kontrast zum Alter, auf das du sie schätzt. Mitte zwanzig? Jünger? Um das Handgelenk eine Kette aus übergroßen, knallroten Kugeln.

Nun schaut sie dir direkt ins Gesicht, hat dich offenbar dabei beobachtet, wie du sie betrachtest.

»So, you are an artist?« Sie fragt, als ob sie dir sowieso kein Wort glauben wird.

Du willst souverän wirken, wirkst gerade deswegen komplett unsicher, sagst, äh, ja, Schriftsteller seist du, und Schauspieler, aber das eigentlich nicht mehr, jetzt also eher Schriftsteller, also hauptsächlich.

»Good. I never met a shy actor.« Sie.

»I’m not shy.« Du.

»Sure.« Sie.

Eine kurze Pause.

Dann endlich die erlösende Frage von dir: Und was für Kunst machst denn du?

Sie: »I do art stuff.«

Du: »Okay.«

Sie: »Yeah.«

Das wird niemals ein richtiges Gespräch. Sie lässt nochmals eine Pause entstehen, hat dann aber endlich ein Einsehen. Nahtlos, als hättet ihr seit Stunden geplaudert, setzt sie an. Ihr Englisch ist trotz Akzent perfekt, da sie in ihrer Geschichte allerdings Abkürzungen macht, die nur ihr logisch erscheinen, verstehst du dennoch nicht alles. Dass sie an einer Kunsthochschule studiere, verstehst du, und dass diese Reise vielleicht ein Projekt werde. Hier bist du bereits nicht mehr ganz sicher. Sie erzählt etwas von einer Semesterarbeit und von etwas, das sie »my Swiss Project« nennt.

Dass man dir also ansieht, dass du kein Schauspieler bist. Denkst du. Denkst an die Schauspielschule. Das war die gute Zeit. Endlich hattest du deinesgleichen getroffen, gingst zwei Jahre lang mit Freude über imaginierte Steine, Sandstrände, Kohle, trainiertest deine Aussprache, und auf Partys, die deine Kommilitonen etwas wilder feierten, mit etwas mehr Drogen, bliebst du bis zum Schluss, denn wer lange blieb, ging nicht allein nach Hause. Und also waren auch die Nächte gut. Du spürtest, du hattest Talent, doch nach zwei Jahren, in denen du alles richtig gemacht hattest, erklärten dir die Dozenten, du würdest dich permanent bemühen, alles richtig zu machen, und außerdem brauche man schon auch so etwas wie Talent, und da hätten sie sich eben getäuscht damals bei der Aufnahmeprüfung, das müssten sie sich nun eingestehen und das sei natürlich auch für sie selbst schwer und deswegen habe man länger an dich geglaubt, als es fair sei.

Zu Hause benutztest du das Wort Zwischenjahr. An der Ernst Busch erzähltest du nichts von deinem Vorsprung und fielst bei der Aufnahmeprüfung bereits in der ersten Runde durch. Eine der Prüfungskandidatinnen erzählte dir von ihrem Studium, Sozialwissenschaften, du fuhrst zu ihr, Göttingen, bliebst ein, zwei Tage in der Stadt, saßest neben ihr in der Vorlesung, wie sich herausstellte, hatte sie bereits einen Freund.

Sie bekam den Studienplatz, du ihr WG-Zimmer, du schriebst dich in Sozialwissenschaften ein. Dass ausgerechnet Statistik das einzige Thema war, das dich dabei interessierte, versuchtest du, vor dir so gut wie möglich zu verbergen.

Du saßest herum. Im Park neben der Mensa trafen sich abends die Gymnasiasten, hatten ihr Bier vom Kiosk, spielten ein seltsam kompliziertes Ballspiel, bei dem es vor allem darum zu gehen schien, dass man bei Punktverlust oder -gewinn einen Schluck trinken musste. Du versuchtest, die Spielregeln zu durchschauen, versuchtest, das aufsteigende Gefühl von grenzenloser Einsamkeit abzuschütteln.

Tagsüber standest du in Fluren herum, studiertest die Anschlagbretter, rissest ein paar Zettel ab, schautest dir WG- Zimmer an, vielleicht eine Möglichkeit, interessante Menschen kennenzulernen, doch die interessanten Menschen schienen gerade alle ein Erasmusjahr zu machen.

Am Anschlagbrett entdecktest du den Aushang der studentischen Theatergruppe, du gingst zu einem ihrer Stücke, es war lahm inszeniert, langatmig gespielt, trotzdem sprachst du hinterher eine der Mitwirkenden an, eine Rothaarige mit großem Mund und guter Figur, sie hatte dir von allen noch am besten gefallen.

Du sagtest: »Das hat mir gut gefallen, was du da gemacht hast«, sie lächelte, ihr Mund sah noch riesiger aus.

Bei den ersten Proben brilliertest du gleich mit deiner kräftigen Stimme und deiner deutlichen Aussprache. »Man hört kaum, dass du Schweizer bist«, hieß es öfter. »Man merkt, dass du Schauspieler bist«, hörtest du hingegen nur ein einziges Mal.

Von Nela.

Sie hatte auf dich gewartet. Nach einer der Vorstellungen. Sie saß an der improvisierten Bar.

»Danke«, sagtest du, und woher sie das wisse.

Sie lächelte, zeigte mit dem Kinn in die Richtung, wo Sinje stand, die Rothaarige, ihr wart unterdessen und nach vielem Zögern ein Paar.

»Außerdem«, sagte Nela, »habe ich dich glaub ich schon mal irgendwo gesehen.«

Sie schwärmte dir noch ein wenig von dir vor, sie sagte, man spüre deine feine Seite sofort. Und nun herausfordernd und leise: »Außerdem sahst du in dem Kostüm da ziemlich sexy aus.« Sie lachte, als sie deinen Blick zu Sinje erhaschte. »Keine Sorge, ich lasse dich gleich in Ruhe.«

Nela ging.

Du sagtest Sinje etwas von einem Referat, das du vorbereiten müssest.

Tatsächlich wartete Nela draußen: »Da bist du ja endlich.«

Mit zwei großen Flaschen Bier landetet ihr an ihrem so deklarierten Lieblingsort des Städtchens, du schautest dir das Rinnsal von Bach an, lobtest es als wunderschön, dann endlich trautest du dich, sie zu küssen. Ihr gingt zu ihr, für guten Sex warst du zu betrunken, es schien sie nicht zu stören. Am nächsten Morgen versuchtet ihr es noch einmal, sie wand sich unter dir, alles würde gut werden.

Eine Woche später saßest du mit Sinje auf der Wiese neben der Mensa, sie rupfte Gras aus der Erde, zerkleinerte es systematisch. Du warst keiner, der eine Frau einfach gegen eine andere austauschte, auch nicht, wenn er gerade Knall auf Fall die Liebe seines Lebens gefunden hatte. Du suchtest nach Erklärungen, du fandest diese: Du habest es dir lange überlegt, du wollest hier wieder wegziehen. Zürich, sagtest du. Einen neuen Anlauf als Schauspieler wagen, beim Schweizer Film seien die Chancen derzeit nicht schlecht. Und das habe nun nichts mit ihr zu tun, aber für eine Fernbeziehung reiche es wohl einfach nicht. »Das siehst du doch auch so.«

Du hörtest dir zu, gabst dir recht: Ja, weggehen, es woanders versuchen, genau. Vielleicht klappte das mit dem Film ja tatsächlich, schließlich erfülltest du die beiden Grundkriterien: Schweizerdeutsch als Muttersprache, durchschnittliches Aussehen.

Auch du griffst nach ein paar Grashalmen, wiederholtest: »Es tut mir leid.« Hofftest, dass euch bald die Teenager mit ihrem Saufspiel von hier vertreiben würden.

Ursina schaut dir in die Augen. Wenn es ihr um das Spiel geht, wer zuerst blinzeln oder wegschauen muss, dann hat sie soeben gewonnen.

Du bist also noch am Leben!

Was?

Keine Sorge, du musst mir nicht zuhören. »I am sick of all this fucking art talk myself.«

Bestimmt wirst du jetzt rot. Bestimmt denkt sie jetzt wieder, du seist ein unsicherer Mensch. Du nimmst zur Überbrückung einen großen Bissen von deinem Baguette, versuchst, am Brot vorbei beiläufig zu klingen: Nein, nein, nur noch etwas müde, die lange Fahrt und gestern die Reise nach Kiel und –

Was du in Kiel gemacht habest, unterbricht sie dich.

»A long story«, wiederholst du ihren Satz von vorhin.

»Okay«, sagt sie, kein Ansatz eines Nachfragens, dabei hättest du die Geschichte gerne erzählt, es ist nicht eine deiner schlechtesten.

Sie schweigt wieder, du hast sie mit deinem Wegdriften aus dem Schwung gebracht, ihr Brötchen ist unterdessen weg, du bist bei deinem noch nirgends. Die Nacht war wirklich zu kurz. Jetzt erzählt sie schon mal, und du? Gehst dein Leben durch? Also, nimm noch einen Anlauf! Wenn du Glück hast, gibt sie dir nochmals eine Chance.

Ja, also eben, genau, dieses »Swiss Project«, du müssest jetzt zugeben, so richtig habest du das noch nicht verstanden. Also worum es da gehe. Um die Schweiz, das sei klar, ja, genau. Aber den Rest müsse sie leider kurz wiederholen.

Wiederholen?

Ja.

Und sie: Das hatte ich noch gar nicht erzählt.

Du: Entschuldige, die Nacht, zu wenig Kaffee und so weiter.

Sie: Ja, genau, gutes Stichwort. »Black or with cream?«

Du musst ihr die Bestellung hinterherrufen; als sie dir wieder gegenübersitzt, rührt sie sich drei Tütchen Zucker in den Milchkaffee.

Danke.

Wo waren wir? Ach ja, genau. Schweiz. Es sei ihr hauptsächlich um Klischees gegangen. Oft genug habe sie ihren Vornamen erklären müssen, dann habe sie sich eben einmal der Sache gewidmet. »So basically I worked on chocolate.«

Du: »Okay.« (Du musst dir unbedingt neue Floskeln ausdenken.)

Sie scheint sich nicht um deine Reaktion zu kümmern, lacht in sich hinein. Ja, »basically«, wiederholt sie. »On chocolate«, wiederholt sie. Und das dürfe man ruhig wörtlich verstehen.

Du schaust sie mit einem großen Fragezeichen im Gesicht an, sie lacht weiter, wird dann übergangslos ernst.

Sie habe da dieses Kunstwerk aus Schokolade gemacht, so eine Serie. Sie habe eine ein auf zwei Meter große Fläche aus Schokolade gegossen, erst habe sie sich da selbst hinlegen wollen, hatte gedacht, dass die Unterlage bloß Sprünge bekommen würde. Das Süße, das unter der Last der Realität Risse bekäme oder so etwas. Was man halt so in die Konzeptpapiere schreibe. Aber die Schokolade sei, wenn man lange genug dagelegen habe, angeschmolzen. Also habe sie sich für eine Reihe von Abdrücken entschieden. Habe diese fotografisch festgehalten. Ein Kollege aus dem Studium habe sich hinlegen müssen. Nackt.

Sie habe auch damit experimentiert, dass er sich hinterher auf ein weißes Leintuch legte; es habe minimale Verfärbungen gegeben. Wie bei diesen Grabtüchern.

Aber hauptsächlich habe sie sich auf die Schokoladenfläche konzentriert. Gut sei das eine Bild geworden: der Abdruck seines Rückens und seiner Beine, zwischen den Beinen Knie. Ihre Knie, da sie ihm gerade einen blase. Der Titel der Serie natürlich bittersweet. »I know the title sucks.« Interessant sei gewesen, dass die Leute nur auf das Sexuelle reagiert hätten, darauf, dass sie eine Frau war und ihr Modell männlich. Man habe das Ganze also sofort feministisch gedeutet. Meist würden ja Frauen so zum Objekt gemacht. Oder Frauen stellten sich selbst als solches dar. Die Tatsache, dass eine Frau den Abdruck eines nackten Mannes ausstellt, wurde offenbar als wichtiger empfunden als das Werk an sich. Ende.

Dir liegt einmal mehr ein überfordertes »Okay« auf der Zunge.

Du kannst nicht sagen, ob sie sich das alles gerade ausgedacht oder ob sie diese Serie tatsächlich gemacht, ob sie dir tatsächlich gerade so unverblümt von »I blew him« erzählt hat. Wahrscheinlich hast du sie nicht recht verstanden. Ein sprachliches Missverständnis. Oder sie will dich veräppeln. Ihr Humor ist schwer zu durchschauen. Du willst einen interessierten Kommentar abgeben, der besagt, dass du solche Mann-Frau-Diskurse ebenfalls seltsam fändest und dich gleichzeitig Abdrücke von Frauen-knien zwischen Männerbeinen kein bisschen aus der Reserve lockten – auch wenn die Frauenknie dir gerade gegenüber in diesem Raststättenrestaurant sitzen, auch wenn du die Besitzerin der Frauenknie eben erst kennengelernt hast, auch wenn die Frauenkniebesitzerin offenbar freizügiger ist, als dir in deinem Meiersein lieb ist, auch wenn die freizügige Frauenkniekünstlerin hübsch ist und dich mit ihren freizügigen Geschichten aus der Reserve lockt. Sie verwirrt dich. Vielleicht absichtlich.

Viel zu langes Schweigen. Dann: Hast du Bilder dabei?

Wie du dir das vorstellen würdest, lacht sie, das seien Prints in Originalgröße, sonst könne das gar nicht wirken.

Ja, sagst du. Logisch.

Sollen wir eine Zigarette rauchen gehen? Fragst du.

Stine

Zählen hilft. Selten wirkt es vor hundert. Aber Zählen hilft. Zählen hilft meistens. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Man darf nur nicht abschweifen. Man darf nicht abschweifen beim Zählen, sonst hilft es nicht. Sieben. Acht. Neun. Man darf nicht an die Hundert denken. Daran, dass der Weg dahin lang ist. Mach das mal, zähl mal bis hundert. Konzentriert! Ohne abzuschweifen! Von Zen-Buddhismus weiß sie wenig. Aber sie stellt sich ungefähr das darunter vor: nicht abschweifen, etwas Unwichtiges tun, sich auf das Unwichtige konzentrieren. Wo war sie? Zehn, genau. Elf. Zwölf. Dreizehn. Vierzehn. Das Schwierigste ist, den Rhythmus zu ignorieren. Der Rhythmus verselbstständigt sich. Man denkt, dass man zählt. Aber man hat nur den Rhythmus im Kopf und lässt die Zahlen an sich vorbeistreifen. Erst Viertel, dann in den Zehnern Achtel, dann ab einundzwanzig triolisch. Wo war sie? Noch nicht in den Zwanzigern, erst fünfzehn. Sechzehn. Siebzehn. Zählen hilft. Aber übers Zählen nachdenken hilft auch. Seit Minuten hat sie über nichts anderes nachgedacht. Achtzehn. Neunzehn. Zwanzig. Sie schaut auf ihre Armbanduhr, groß und klobig, die Zeiger auf zehn Uhr zweiundzwanzig. Seit Minuten hat sie nicht darüber nachgedacht, dass es bereits nach zehn ist und sie keinen Grund sieht, ihr Morgenprogramm zu starten. Erst ein, zwei Übungen, dann duschen, dann Kaffee, dann an diesen Artikel von gestern, dann das Treffen mit Gregory. War das um eins? Ja, genau. Um eins. Wo war sie? Ja, einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Zählen hilft. Zählen hilft, den Gedanken zu verscheuchen, dass sie auch ebenso gut liegen bleiben könnte. Dass sie den Artikel ebenso gut morgen übersetzen könnte. Dass sie Gregory anrufen könnte mit irgendeiner Ausrede. Dass sie sich nicht vorstellen kann, mit Gregory zu telefonieren. Wo war sie? Irgendwas mit zwanzig. Sie schaut auf die Uhr. Zehn Uhr zweiundzwanzig. Immer noch? Bewegt sich der Minutenzeiger überhaupt? Sie betrachtet ihn, betrachtet ihn genau. Wenn man ihn genau genug betrachtet, müsste man sehen, ob er sich bewegt. Soll sie nun einfach bei zweiundzwanzig weiterzählen, oder ist das dann geschummelt? Schummeln ist in Ordnung, denkt sie. Solange Schummeln hilft, ist Schummeln in Ordnung. Sie wird Gregory nicht anrufen. Sie wird ihn nicht anrufen, und sie wird nicht hingehen. Sie wird nicht hingehen, und wenn er hier vorbeikommt, wird sie nicht zur Tür gehen. Und wenn er fragt, wo sie war, wird sie sich eine Ausrede ausdenken. Im Krankenhaus. Dreiundzwanzig. Es geht nicht um Gregory. Sie kann heute einfach nicht raus. Sie kann heute nicht um eins draußen sein, und sie kann keine Fragen beantworten. Weil Gespräche immer mit Fragen anfangen. Und weil die Fragerei immer anfängt mit: Justýna, wie geht es dir? Sie will darauf heute keine Antwort geben müssen. Justýna, was hast du so gemacht? – Warum sagt niemand, wie es ist? Zu Hause gesessen und gewartet, dass die Zeit vergeht. Dazu möglicherweise etwas von dem Wein, weil man dann schneller vergisst, dass die Zeit nicht vergeht. Oder duschen. Duschen hilft. Duschen, bis der Nachbar klopft, weil auch er duschen möchte und er nicht duschen kann, wenn jemand anders im Haus duscht. Weil dann kein Wasser kommt. Oder nur kaltes. Stine schaut auf die Uhr. Zehn Uhr zweiundzwanzig.

2

Zu gerne hättest du Rolf von der Fahrt erzählt. Von dem Paar. Von deiner Bekanntschaft, die du bereits wieder aus den Augen verloren hast. Rolf ist doch extra gekommen, um dich zu sehen? Vielleicht ist er gekommen, weil er vergessen hat, dass du wieder da bist. Wahrscheinlich hat er vergessen, dass du je weg warst.

»Rolf, alles klar bei dir?«

Ein Murmeln von Rolf, ein Rumstochern. Es gibt diese Tage, an denen er vergisst, was Kommunikation ist. Rolf wühlt in den Abrechnungszetteln, muss seinem überflüssigen Besuch irgendeinen Sinn verleihen.

»Kommst du später noch einmal vorbei?«, fragst du.

Ein Blatt Papier erfordert seine ganze Aufmerksamkeit, er schaut es an, er nickt den Zahlen zu, vielleicht auch dir.

»Ich war ja gestern mit einer Mitfahrgelegenheit unterwegs und –«

Ein »Mal schauen, was noch so ist« schafft es über seine Lippen, die Konsonanten lassen den Vokalen den Vorsprung.

Dann sammelt er sich, du siehst es kommen, heute ist es so weit, er wird dir mitteilen, dass er Insolvenz anmelden muss.

Stattdessen eine weitere Einleitung: »Da war was in der Zeitung über mich, die haben alles falsch aufgeschrieben, aber das Foto ist ganz nett.«

Die Stadt ist klein, das Lokalblatt schreibt gern und öfter über ihre beiden Originale Kino und Rolf, aber wenn er nichts von dir wissen will, dann willst du jetzt auch nichts von ihm wissen: »Ah, schön, kannst mir den Artikel ja nachher zeigen.«

Rolf macht ein Geräusch.

Du horchst, ob von Rolf noch was kommt, von Rolf kommt nichts mehr.

Das Kino. Rolf hat es von seiner Mutter geerbt. Diese wie derum hatte es geschenkt bekommen, geschenkt für zu großzügiges Schnapseinschenken und Schnäpseanschreiben. Sie habe verkündet, dass sie dafür nun ein Pfand brauche, der immerdurstige Kinobesitzer habe auf einen Zettel geschrieben, was ihm die nächste Runde wert war. So geht die Geschichte. Und: Niemand habe daran geglaubt, dass er jemals das Bare aufbringen könne, um all die ausgetrunkenen und angeschriebenen Runden zu bezahlen, aber noch viel weniger hätte wer gedacht, dass die Wirtin eines Tages ernst machen und mit besagtem Zettel zu einem Notar gehen würde. Fortan gehörte ihr neben dem Goldenen Schlüssel das Kino der Stadt. Ob sie es anfangs zu verkaufen versuchte oder gleich beschloss, selbst ins zwielichtige Geschäft einzusteigen, ist nicht bekannt, den Filmvorführer behielt sie, verknurrte ihre Kellner zum wöchentlichen Kartenabreißdienst und musste sie bald dazu verknurren, daneben weiterhin im Goldenen Schlüssel zu servieren.

Das Kino erwies sich bei richtiger Programmgestaltung als blendendes Geschäft. Richtige Programmgestaltung hieß, Filme in italienischer Originalsprache zu bestellen und jeweils Freitagabend den Gastarbeitern Gastgeber zu sein, samstags durfte es ein freizügigerer Streifen sein, die kleine Stadt lag nicht im Blickfeld der in Zürich deutlich strengeren Sittenaufsicht; man sagt, so mancher Zürcher habe den Weg ins Kino gefunden, Kino und Kleinstadt seien überlaufen gewesen damals und elektrisiert von anderorts ungesehenen Kurven.