Brigitte Kronauer

Das Schöne, Schäbige, Schwankende

Romangeschichten

Klett-Cotta

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Cover: ANZINGER UND RASP

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Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96412-7

E-Book: ISBN 978-3-608-19158-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

1

Das Schöne, Schäbige, Schwankende

Wie sollte ich ahnen, daß die beiden schon nach sieben Wochen zu Tode erschöpft in der Nacht wie Verfolgte an die Schlagläden klopfen würden! Mir war auch ohne sie verrückt genug zumute.

Kürzlich konnte ich einige Zeit in ihrem Häuschen mit den blauen Schlagläden verbringen, um dort zurückgezogen an einem Romanmanuskript zu arbeiten. Das kam mir sehr entgegen, weil in unserem eigenen kleinen, schon achtzig Jahre alten Haus alle Leitungen erneuert werden mußten. Mein Mann Paul würde die Arbeiten beaufsichtigen. Ich durfte entwischen.

Das Manuskript trug den vorläufigen Titel »Glamouröse Handlungen«, der ein bißchen aggressiv gemeint war, denn solange ich veröffentliche, hat man mir vorgeworfen, mal grob, mal mit sanftem Kopfschütteln, vom sogenannten Plot nichts zu verstehen. Im Klartext heißt das, man unterstellt mir narrative Impotenz. Weiß ich etwa nicht, daß die Welt von sogenannten Handlungen und Ereignissen zwischen Mikro- und Makrokosmos geradezu birst und Heerscharen von Autoren ihnen nachhetzen auf Teufel komm raus? Ich hoffte, diesmal den Stier nach meinem Gusto bei den Hörnern packen zu können. Irgendwelche Leute sollten sich schwer wundern.

Das Haus ist nur durch ein schütteres Wäldchen von der Autobahn getrennt, die einerseits nach Berlin, andererseits nach Frankfurt an der Oder führt. Davon merkt man aber nichts, und die vielen Vögel der Umgebung stört es kaum. Das ist wichtig, weil hier normalerweise, wenn er sich nicht in der Stadt aufhält, ein Ornithologe wohnt, den ich, als ich ihn und seine Frau kennenlernte, nicht recht leiden mochte. In den Bücherschränken finden sich die herrlichsten Kompendien. An den Wänden hängen Fotografien, Schautafeln, Zeichnungen, auf denen das geflügelte Tierreich prächtig und in Überfülle präsentiert ist, vom Eisvogel bis zum Östlichen Waldpiwi, vom Federhelm-Turako bis zum Schwarzstirnwürger. Ein gefiedertes Volk, in dem jeder in der Lage ist, sich dann, wenn es ihm in Erdnähe zu lästig wird, in die Lüfte zu schwingen. Besonders in dem winzigen Raum, in dem ich schlief, waren sie dicht um mich versammelt und sahen mich an, sobald ich die Augen öffnete, und wenn ich sie schloß, spürte ich ihre Blicke erst recht. Beim Einschlafen glaubte ich, mich in einem italienischen Café zu befinden, in Verona war’s, und es hieß Café Dante, ganz gefüllt mit alten Leuten, die in großer Fröhlichkeit unermüdlich durcheinanderzwitscherten. Keiner hörte dem anderen zu. Darauf kam es nicht an, nur auf die jauchzende Meldung, am Leben zu sein. So war es auch in dem Haus des Vogelkundlers. Seine zweidimensionalen Genossen jubilierten und schrien aber nicht aus der Kehle heraus wie an einem frühen, noch hellgrauen Frühlingsmorgen, sondern aus Leibeskräften mit der in mir nachhallenden Farbenleidenschaft ihres Gefieders. Dann wieder schwiegen sie still, äugten nur und lauerten zu mir hin. Ich nahm in diesen Momenten ihre Schnäbel wahr, die nicht selten, wäre man ihr Opfer, zu tödlichen Instrumenten werden. So ist es von der Natur vorgesehen.

Davon hatte der Ornithologe gelegentlich erzählt. Er war mit seiner Frau, obschon beide längst ein weißhaariges Paar sind (er mit langem Bart, sie mit langem Zopf, beides ein bißchen melodramatisch alternativ), für drei Monate in Costa Rica auf Forschungsreise. Innerhalb dieses Zeitraums durfte ich, so ihr Angebot, in dem Haus wohnen. Ich hatte hocherfreut angenommen und mich auf die Frist eingerichtet, vielleicht allerdings die Wirkung ungewohnter, strikter Einsamkeit unterschätzt.

Wie sollte ich ahnen, daß sie schon, wie gesagt, nach sieben Wochen zu Tode erschöpft in der Nacht wie Verfolgte an die Schlagläden klopfen würden! Die Frau war von einem schweren, wenn auch dilettantisch durchgeführten Raubüberfall gezeichnet. Man hatte sie, als sie dieses eine Mal allein unterwegs war, vom Straßenrand weg in ein Auto gezerrt und sie später ohne ihre Expeditionskleidung, nur in der Unterwäsche, ohne Geld und Papiere, ansonsten unbeschädigt, weit außerhalb der Zivilisation in einer glühenden Steinlandschaft ausgesetzt. Zu Menschen fand sie erst nach stundenlangem Marsch durch Sonne und Staub zurück, froh immerhin, nicht wegen einer Lösegeldforderung entführt worden zu sein, die leicht mörderisch hätte enden können. Die zerlumpten, noch sehr jungen Banditen hatten sie mit einer reichen Unternehmerin aus der Schweiz verwechselt und sie, nachdem ihnen ihr Irrtum klar geworden war, unter Flüchen geplündert laufen lassen.

Ihren Mann sah sie als Patienten im Krankenhaus wieder. Er war während ihrer Abwesenheit beim Fotografieren in einer unachtsamen Sekunde von einer sehr kleinen, aber berüchtigten Schlange gebissen worden. Wem in einem solchen Fall nicht innerhalb kurzer Zeit ein Gegengift gespritzt werden kann, der muß unter kaum zu ertragenden Schmerzen sterben. Soviel Unglück reichte den beiden, zumal sich ihr fortgeschrittenes Alter, das sie bisher nicht gespürt hatten, in einer plötzlichen, ihnen bisher unbekannten Nervenschwäche und Mutlosigkeit bemerkbar machte.

Trotzdem riefen sie in jener überraschenden Ankunftsnacht abwechselnd zwischen der Schilderung von Attacken eines nach wie vor panischen Schreckens immer wieder und das zu Recht: »Wie haben wir doch alle beide großes Glück gehabt!«

Ich selbst hatte natürlich das Pech, umgehend ausziehen zu müssen aus dem grünen Idyll, einem Idyll allerdings, das in nächster Nähe Brachland mit trostlosen Schuppen, verwahrlosten Häusern und demolierten Garagen aufwies, nach denen sich das Fernsehen im Bemühen, geeignete Locations für Verbrecherisches zu entdecken, die Finger geleckt hätte. Man mußte mir nicht sagen, was zu tun war. Der Anstand gebot es leider. Dabei war ich mit meinem Roman »Glamouröse Handlungen« noch kein Stück weiter. Es mußte an den Vogelabbildungen liegen, die mich, begünstigt durch meine Abgeschiedenheit, von früh bis spät so feurig und hartnäckig umdrängten und auf ganz andere Gedanken brachten. Erinnerungen und Phantasien umstellten mich, wenn ich zwischen den heruntergekommenen Feldern wanderte, von bedrohlichen Hunden erschreckt, von anderen willkommen geheißen an einem schön gewundenen Bachlauf mit mehreren Autowracks, das Blech verrottend, die Vegetation triumphierend aus den Ritzen schießend, wenn ich im verholzten Gestrüpp zwischen den alten Fruchtständen des Sauerampfers auf ausrangierte Waschmaschinen stieß, auf verstoßene Kühlschränke und auf ein paar magere Pferde, eng umzäunt, in unmittelbarer Nachbarschaft von viel leerem Weideland, das ihnen ohne Sinn, Verstand und Mitgefühl vorenthalten wurde.

Die Vögel formierten sich auf diesen Gängen zu einer imaginären Tapete. Richtig, sie tapezierten zunehmend die Wiesen, musterten unverschämt die Wolken und starrten mich herausfordernd an. Hätte ich vor ihnen ins Freie flüchten wollen, wäre es also vergeblich gewesen. Sie warteten dort draußen schon. Mir war ihre Dauerbegleitung nicht unangenehm. Mich amüsierte nämlich etwas dabei. Wie man, jeder hat es schon erlebt, in Mauerrissen, alten Kartoffeln und Felszacken manchmal den suggestiven Zauber von Menschengesichtern entdeckt, so daß man Mühe hat, überhaupt den wirklichen Gegenstand wahrzunehmen, so zwangen mir die Vögel, von Tag zu Tag beherrschender, im Haus und draußen ihre Ähnlichkeit mit Personen auf, mit Freunden, flüchtigen und alten Bekannten.

Schließlich waren es nicht mehr die Geflügelten, die über mich regierten, es waren die Menschen, die durch sie hindurchstarrten und die sich jetzt unbedingt entfalten wollten. Dafür benötigten sie Platz, wischten ohne Rücksicht Vögel und »Handlung« beiseite und beehrten mich, den offenbar geeigneten Landeplatz für ihre Ausuferungen, voller Beschwerden, Wichtigtuereien und Ticks, rund um die Uhr mit ihrer Anwesenheit, die ich meines Berufs wegen schriftlich beglaubigen sollte.

Ich fand, um es kurz zu machen, Geschmack daran, und es war ja noch sehr die Frage, wer eigentlich Herr der Situation bleiben würde. Machten sie sich her über mich oder war ich es, die sie dorthin lenkte, wo ich sie hin haben wollte bis zum letzten Satz?

Angesichts ihrer Aufdringlichkeit rettete ich mich, vor allem weil ich nicht gedachte, mir etwas von der Bande diktieren zu lassen, durch eine bürokratische Aufteilung. Neununddreißig Porträts sollten zu je dreizehn nach drei Kategorien geordnet werden. Sie lauteten:

Das Schöne,

das Schäbige,

das Schwankende.

Das spann ich, durch die barsche, strohige, oft chaotische Landschaft stapfend, weiter aus, dabei Auge in Auge mit den Vogelgesichtern, wohin mein Blick auch fiel. Ich wollte es inzwischen gar nicht mehr anders. Mich trieb und beflügelte eine Besessenheit. Drei Entwicklungsstufen hätten die Figuren zu durchlaufen, mit sehr unterschiedlichem Erfolg, je nach Abteilung.

Die Schäbigen würden in einen stetigen Fall geraten, von akzeptabler Plattform aus wäre es ein Sturz ins immer Unerfreulichere ohne Aufenthalt.

Die Schönen müßten so beginnen, daß man ihre herausragende Eigenschaft zunächst nicht bemerkt. Erst allmählich, aber kontinuierlich, würde sich ihr Aufstieg abzeichnen aus der normalen Lebenstrübnis zur lichten Offenbarung.

Die Schwankenden, so hatte ich es geplant, sollten weder ausdrücklich so noch so beginnen, vielmehr durchmischt, unentschieden anfangen, dann zu einem glänzenden Moment aufsteigen und von dort aus wieder absinkend, in der Weise gezähmt, wie sie es jeweils verdienten.

Das alles auf gedrängtem Raum. Die Reihenfolge der Gruppen wollte ich noch offen lassen.

Ich stolperte oft beim Gehen, nicht nur wegen des schwierigen Geländes, auch, weil ich in meine Zuordnungen versunken war. Einmal rutschte ich mit dem ganzen Körper in den Matsch einer Wagenspur. Glücklicherweise war ich bei dem lächerlichen Schauspiel allein. Mag sein, daß die Vögel grinsten. Es half ihnen nicht. Ich hatte, wie es sich gehört, sie und die Personen in meiner Gewalt.

Es ging gut voran. Dann kam die Nacht, in der das Paar an die blauen Schlagläden klopfte. Etwas Merkwürdiges passierte. Das völlig unerwartete Auftauchen der beiden Weißköpfe in meiner Einöde versetzte der sorgfältig geordneten Welt meiner Skizzen und Pläne einen brutalen Stoß. Plötzlich trudelten die Rubriken durcheinander, die Figuren glitten aus ihren Umzäunungen ins Nachbarfeld, richtiger wäre zu sagen, die Linien verwischten sich, alles verlor den sortierenden Halt, alles zwitscherte durcheinander wie die Alten im Café Dante und freute sich seiner Freiheit, die ich ihnen nicht gönnte. Trotzdem ließ ich sie in meiner Ratlosigkeit gewähren.

Nur ein paar Lieblinge gibt es unter ihnen, die unangefochten für den, der sehen kann, ihr Prachtgefieder entfalten. Niemand rühre sie an!

2

Die Vögel

Die Prächtige

Kaum hatte ich, ganz zerzaust aus dem stürmischen Wetter geflüchtet, oben im Dünenrestaurant Platz genommen, setzte sich mir die Prächtige gegenüber und versperrte den Blick. Zumindest unterbrach sie ihn. Gut, kein anderer Tisch war frei, das entschuldigte sie vielleicht, änderte aber nichts daran, daß sie mich um die ungehemmte Sicht nach draußen brachte. Ich sah sie nicht weiter an, diese Person im Gegenlicht, die zwangsläufig der Brandung den Rücken zuwandte und die ich keinesfalls durch Augenkontakt zum Sprechen ermutigen wollte. Es ging nämlich, ich spürte es gleich, ein unverkennbar kontaktfreudiges Ruckeln aus von der Frau. Typisch für einsam lebende Menschen, besonders für weibliche, mit einem Redestau mangels Gesprächspartner.

War ich denn, Herrgott nochmal, nicht bereits in eine komplizierte Unterhaltung vertieft? Es ging darum, das Wichtigste auf die berühmteste Inselpostkarte zu kriegen. Ich meine natürlich die, auf der die rote Lokomotive mit ihrer Waggonreihe über den Hindenburgdamm vor der Verfolgung durch die hinter dem Zug riesig aufgetürmten und auch schon blendend weiß aufschäumenden Wassermassen Reißaus zu nehmen versucht. Donnernd werden die Wellen (besonders die am steilsten aufragende freut sich darauf), im nächsten Moment über den Scheinsiegen der Technik zusammenbrechen. Man hört das Jauchzen doch bereits im Voraus!

Ein historisches Foto, dem man besser keinen lammfrommen Glauben schenkt. Ich wollte es unbedingt an Paul schicken, den ich mit meinen Reiseberichten, wenn ich ohne ihn unterwegs sein muß, so gern verwöhne. Was aber waren die persönlichsten Nachrichten für die knapp bemessene Fläche auf der Rückseite im Kontrast zu der allen Leuten zugänglichen Vorderansicht? Da würde ich streng auswählen müssen beim Imponieren, Renommieren, beim, ja, warum nicht, Paradieren mit meinen Eindrücken. Das Zucken der Fremden vis à vis durfte mich keinesfalls ablenken.

Was also war für die Karte am besten geeignet? Die Erwähnung der durch und durch verkehrten Meeresoberfläche, oben, im äußersten Norden der Insel, wo zwei Strömungen gegeneinander wüten, rund um die Uhr, samt dem teuflischen Sog von Wirbeln und Strudeln, eine klassische Einladung zum Ertrinken? Oder das sausende Schilfrohr der grau glänzenden Wattseite, eine See aus kreiselnden Halmen mit den mimischen Experimenten eines tückischen Gesichts?

Der uralte Duft feuchter Rosen, überall aus den Gebüschen, und nach wie vor die dunkelroten Hagebutten, bei denen du mich damals zum Abendgeschrei der Vögel und den herzüberflutenden, aber auch seelenlosen kleinen Wattwellen im Regen für immer angesprochen hast?

Der kleine Junge, der, ohne sich zu rühren, mit den Händen an der Hosennaht und offenem Mund vor der Brandung strammstand, minutenlang, fassungslos, ich ein Stück hinter ihm, weil ich mich nicht von seinem Anblick losreißen konnte?

Alles Quatsch, alles Quark, sagte ich mir, runzelte dabei vermutlich die Stirn und wollte gerade in einem einzigen Satz mitteilen, wie glücklich ich sei, völlig überraschend zum ersten Mal nach vielen Jahren (Kindheit! Jugend!) vom Meer wieder bis in die Fingerspitzen, bis auf den Grund erregt zu werden, da flüsterte die Frau: »Jaja!«

Ich sah unwillkürlich oder notgedrungen auf, nahm sie wahr vor der Helligkeit des Fensters in ihrer beinahe ein wenig außerirdisch gelackten, sehr blonden Pracht, der das wüste Wetter da draußen, aus dem sie hereingekommen war, unbegreiflicherweise nichts hatte anhaben, kein Härchen hatte krümmen können.

Dunkel schimmernde Augen, wahrhaftig hagebuttenrote Lippen lächelten mich an: »Jaja.« Es klang nach einem verschwörerischen Seufzer, ein bißchen amüsiert außerdem. Ein kleines Schnauben war es auch. Ich nickte dieser hübschen, zur Not noch blühenden Frau kurz zu, gespielt zerstreut, als hätte ich das Geräusch für das Knistern beim Hantieren mit den Milchtöpfchen gehalten. Sie blieb hart und sagte jetzt laut, jetzt schon signalstark: »Jaja!!«

Nur nach außen verärgert, denn ihr mildes Lächeln wurde unwiderstehlich, fragte ich nach: »Was ›Jaja!‹?« Engelhaft, kaum in Gefahr, jemals schrill zu werden, antwortete sie auf meine Unfreundlichkeit: »Verzeihen Sie, bitte verzeihen Sie, ich habe aus Versehen die Anrede ›Lieber Paul‹ gelesen und beobachte, daß Sie nicht recht weiterkommen. ›Lieber Paul‹! Wir schreiben offenbar beide an unsere Männer? Stimmt’s? Das ist nicht immer leicht. Meiner heißt übrigens Moritz. Wie lustig, wenn Ihrer Max heißen würde! Max und Moritz.«

Wie indiskret! Aber was für ein lindes Lächeln, dazu draußen der Sturm.

Wäre die Stimme nicht von so unvergleichlicher, kaum angestrengter, kaum künstlicher Sanftmut, wäre ihr Kleid nicht so kühn in Grüntönen gefärbt, an den Schultern mit ein bißchen frechem Rot betreßt gewesen (eine wahre Gelbstirnamazone, und das ausgerechnet in der ruppigen Nordseeumgebung), hätte mich todsicher so viel Aufdringlichkeit abgestoßen. So aber, mit den Brandungswellen in der Ferne zur Rechten und Linken ihres Kopfes, fesselte, nein, bezauberte sie mich. Bei ihr mußte man die einzelnen Geschmacklosigkeiten anders verstehen, selbst die übertriebene Menge von Gold an Hals, Ohren, Fingern. Sie fühlt sich, sagte ich mir, heimisch im Gehäuse von Putz und Pracht. Das lästige Gerucke von eben hatte sie aufgegeben. Es erübrigte sich inzwischen. Sie hatte ihr Ziel erreicht: Ich hörte ihr zu.

»Sehen Sie nur«, sagte sie, und es klang überzeugend warmherzig, während sie mir das Bild eines Paares in alpiner Tracht zuschob, das vor bemalten Schlagläden auf einer geschnitzten Bank saß, »das will ich meinem Mann schicken. Da staunen Sie, daß es keine Inselkarte von hier ist? Sie kennen meinen Moritz nicht. Gerade das hier wird ihn interessieren, mehr als jeder Sonnenuntergang am Meer. Brennend interessieren. Das könnte ich schwören.«

Wieder lächelte sie, diesmal eine Spur verschmitzter als vorher, aber so reizend, daß ich die Grüße an meinen Paul verschob. So sehr eilte es ja nicht. Die hohe Welle hinter der Lokomotive würde solange den Atem anhalten.

»Sicherlich ebenfalls ein historisches Foto«, stellte ich also, um zugänglich zu erscheinen, angesichts der altertümlichen, streng genommen jedoch jugendlichen Leute in ihrer wunderlichen Bekleidung fest.

»Das nun nicht im Geringsten!« Die Prächtige lachte von Herzen, vielleicht weil ich auf den Augenschein hereingefallen war. »Es ist erst kürzlich geschossen worden, in Oberbayern nämlich. Ein echter Schnappschuß.«

»Tatsächlich? Laufen denn richtige Menschen dort in den Bergen noch heutzutage so altbacken, ich muß schon sagen: gewandet, herum?«, erkundigte ich mich. Mein ungläubiges Gesicht freute sie sehr.

»Allenfalls zu Festtagen. Aber sie sitzen dann nicht so idyllisch vor ihren Häusern. Das machen sie nur für Touristen, so wie Heidelberger Studenten für die Asiaten in ihren Kneipen alte Burschenherrlichkeit von anno dazumal spielen, gegen Stundenlohn und Freibier. Man kann sich als Fremder auch Trachten ausleihen samt malerischem Jungbauern und sich fotografieren lassen als alt-oberbayrische Bäuerin. Touristenscherze eben, ziemlich beliebt, allerdings nicht umsonst.«

Hier betrachtete sie mich so gespannt und nachdrücklich, klopfte auch auf das zwischen uns liegende Bild, daß ich eine Pointe ahnte: »Sie müssen es genauer studieren. Na? Sie stutzen? Nein? Fällt Ihnen denn gar nichts auf außer Mieder und Lederhose?«

Ich gab mir alle Mühe, etwas Besonderes zu erkennen. Ihr Finger wanderte zum Gesicht der Frau: »Kommt sie Ihnen gar nicht, kein bißchen bekannt vor?« Auf dem leicht verschwommenen Foto zeigte sie dem Betrachter das Profil. Ein hübsches allerdings, und ein lächelndes. Was ins Auge sprang, waren die schwarzen, hochgesteckten, mit bunten Perlen geschmückten Locken. Der Mann sah in ihre Richtung. Sie schienen beide den Fotografen nicht zu bemerken. Der Gelbstirnamazone platzte der Kragen: »Die sitzt Ihnen nun schon ein Weilchen gegenüber. Na? Na? Keine Verblüffung? Aber das bin doch ich, ich leibhaftig! Sie sind wirklich, nehmen Sie’s mir nicht übel, keine scharfe Beobachterin. Kann man nicht lernen. Das ist man oder man ist es nicht.«

»Sie sind diese Trachtenfrau? Sie?«, stammelte ich einigermaßen verdutzt.

»Da fallen Sie aus allen Wolken? Freilich bin ich das, ist noch nicht lange her. Sie dürfen sich nicht durch die Haarfarbe und die Frisur verwirren lassen. Man kann eine Perücke mieten, das verändert natürlich. Eine Perücke und das komische Hütchen, dieser Strohteller mit dem kleinen Federbuschen wie ein Blitzableiter oder eine Antenne, nicht wahr, der ist fix und fertig daran festgeklebt. Was meinen Sie, wie Sie selbst in der Aufmachung wirken würden. Stellen Sie sich das nur mal vor! Da müßte Ihr Max, entschuldigen Sie, Paul, schon gründlich hinschauen.«

Ich drehte meine Karte mit der Anrede, die sie nicht mehr lesen sollte, sofort um, obschon es längst zu spät war. Innerhalb weniger Minuten hatte die Person es geschafft, die Macht an sich zu reißen. Die aufgetürmte Riesenwoge erwartete, mittlerweile gemächlich schmunzelnd, einen späteren Auftritt.

»Und der Mann? Ist das etwa Ihr Moritz?«

Sie bemerkte die Ironie, fand sie offenbar doppelt komisch und kicherte in sich hinein. »Wo denken Sie hin! Warum sollte ich ihm das Foto dann schicken? Nein, meine Liebe, der fesche Alpenmensch ist vom Tourismusbüro zusammen mit der Tracht für das Foto gemietet. Allerdings haben wir in dem Ort damals, vor vielen Jahren, Moritz und ich, unsere Flitterwochen verbracht und in dem Hotel im Hintergrund gewohnt.«

Erst daraufhin führte ich mir das Paar richtig zu Gemüte. Ich äußerte nichts, benötigte einige Zeit, wurde immer verblüffter währenddessen und schlug dann als Resultat meiner Prüfung innerlich die Hände über dem Kopf zusammen.

Die Frau hielt mein Schweigen nicht aus. In ihrer Ungeduld begann sie wieder mit dem albernen Ruckeln.

Schließlich sagte ich, ohne meine Entgeisterung über die alarmierende Botschaft zu verbergen: »Und das wollen Sie Ihrem Mann schicken?«

Na klar wolle sie das, warum denn nicht, wie gesagt, es würde Moritz bestimmt interessieren. Sie sei doch recht nett getroffen, und ihr Mann liebe sie über alles. Er sei stolz auf sie, und wenn er auch im Moment nicht bei ihr sein könne, da er als Ingenieur viel reisen müsse, bis hin nach Indonesien, jetzt nur Brüssel, könne sie ihn mit dieser kleinen Katastrophe, Verzeihung, sie meine: Kostprobe, sicher aufheitern in seiner Einsamkeit. Sie lachte wie schon vorher einige Male. Ich horchte auf den Ton, der nun eine geringfügige Schärfe aufwies.

»Ich würde das nicht tun. Tun Sie das lieber nicht, Ihr Mann liebt Sie, wie Sie behaupten? Werfen Sie das verräterische Bild, wenn Sie ihn nicht mit vollem Risiko eifersüchtig machen wollen, sofort weg. Ab in den Mülleimer. Vorher zerreißen!«

Die Prächtige lehnte sich zurück. Ihr Gesicht bekam den Ausdruck von Wachsamkeit und unverhohlener Zuneigung. Eine solche Mischung hatte ich bisher noch nicht erlebt. Sie starrte das Foto an. Jetzt war sie die Schweigsame. Endlich flüsterte sie: »Und warum bitte ein so unsinniger Rat?«

»Sie müssen es genauer studieren. Na, fällt Ihnen denn gar nichts auf?«, äffte ich die leichtsinnige Person nach, die auf einmal in großer Anspannung nicht das Paar, sondern mich fixierte. »Helfen Sie mir! Was gibt es Ungewöhnliches herauszufinden auf meinem Bild?« Sie murmelte das, nuschelte es, denn sie hatte begonnen, an ihren Fingernägeln zu kauen.

Sollte ich ihrer Einfalt Glauben schenken? Ich entschloß mich halbwegs dazu, gegen den Verdacht, sie wolle mich vielleicht nur veräppeln aus Lust an Zerstreuung bei stürmischem Seewetter hinter den Scheiben: »Die pure Elektrizität! Sie müßten es selbst am besten wissen, auch wenn Sie Ihre Hände so sittsam über dem Schoß und der weißen Trachtenschürze falten. Wenn Sie schon mich, eine vollkommen Unbekannte, nicht täuschen können über das, was hier passiert, werden Sie das bei Ihrem Mann noch weniger schaffen. Die so einladend ins Mieder gestopften Blumen mögen durch dörfliche Bräuche zu entschuldigen sein, aber dieses neckische, scheinbar schamhafte und doch hocherfreute Abwenden Ihres Kopfes! Das spricht doch Bände!«

Natürlich hätte sie sich längst meine Vorwürfe verbitten müssen. Sie tat es aber nicht. Im Gegenteil. Sie lauschte begierig, als würde ihr wohltun, daß ich ihr Vorhaltungen machte. Ich warf ihr ja allerdings nicht das Flirten vor. Mich erboste nur die Dummheit dieser bisher so sanft lächelnden Person, das Foto ausgerechnet dem sie liebenden Ehemann schicken zu wollen, falls sie, noch schlimmer, ihn nicht aus Tücke zu bekümmern plante. Was mochte das überhaupt für ein Mann sein, dieser Moritz, mit einer Frau, die sich seiner Zuneigung so sicher war und damit prahlte und sie nun so aufs Spiel setzte! Oder sie auf Herz und Nieren zu prüfen beabsichtigte? Ich geriet in Fahrt.

»Sie verlangen ein offenes Wort. Sie nehmen es mir nicht übel?«

»Ich bitte Sie ausdrücklich darum«, sagte sie leise, die Augen nun wieder auf das Bild gesenkt.

»Gut! Noch ist es nicht zu spät. Säßen Sie allein auf der Bank, würde man meinen, ein Unsichtbarer kitzelte Sie an der Hüfte oder was weiß ich wo, und Sie hätten das ausgesprochen gern. Es bliebe ein Geheimnis. Aber ein sehr Sichtbarer, entschuldigen Sie, ein sich brüstend Sichtbarer befindet sich an Ihrer Seite und bedrängt Sie, nicht zu übersehen, mit seinem nackten Oberschenkel.« Es riß mich hin: »Eine erotische Brandungswelle ist das! Die Lederhose bedeckt nicht viel, stellt die Muskeln geradezu protzend aus, wobei das linke Bein zur Hälfte bei Ihrem scheinheilig langen Trachtenrock, der sich keineswegs dagegen wehrt, Unterschlupf sucht. Dort bereits verschwindet, wäre richtiger zu sagen. Schämen Sie sich!«

Hier lachte sie ohne Übergang grell auf, kein schöner Laut, schlug mit der flachen Hand auf den fotografierten Schenkel des Mannes und zog sich dann wieder schnell in ihre stille Haltung zurück, nickte mir auch zu, ich solle weitermachen. Sie biß sich dabei, etwas blasser mittlerweile, auf die Lippen.

Ich wartete auf eine Empörung oder wenigstens Verteidigung von ihrer Seite. Sie blieb stumm, lächelte schwach. Reumütig? Nein, das nicht, weh, verwehend eventuell, noch bleicher als eben. Ich begriff sie nicht. Etwas reizte mich, meine Strafpredigt um einige Grade zu forcieren, wenn ich schon die Kartengrüße an meinen Paul ihretwegen nicht schreiben konnte.

»Fällt Ihnen nicht auf, wie kokett Sie unter den gesenkten Lidern zu dem Naturburschen, diesem stattlichen Mannsbild rüberschielen? Ihre ganze Gestalt ist ein einziges Willkommenssignal für den keineswegs begriffsstutzigen Kerl mit seinem Jägerhütchen und nun dem Frauenzimmer als sicherer Beute. Mein Gott, was funkelt das Schlitzohr Sie siegesgewiß an, was zeigt er die Raubtierzähne unter dem Schnauzbart! Ein breitbeiniger, selbstgefälliger Eroberer von Touristinnen! Schnappschuß, sagen Sie? Richtig, ein um so verräterischerer, einer, bei dem jedes Detail sprechend ist, der Ihre Affäre rausposaunt. Ich wiederhole: Sofort wegschmeißen das Ding, wenn Sie kein irreparables Unheil anrichten wollen.«

Ich wunderte mich über mich selbst. Je mehr die einfältige Gelbstirnamazone verblich, desto heftiger redete ich mich in Zorn. Dieses Ereifern bewirkte, daß ich die neuerliche Veränderung der Frau erst mit einiger Verzögerung bemerkte. Deshalb versäumte ich auch, ihrem verzagten Sätzchen: »Es steht doch gar nicht in meiner Macht«, nachzuhorchen.

»Und schubst er Sie nicht an mit seinem linken Arm, zum Zeichen, daß Sie beide handelseinig sind? Berührt ein offizieller Angestellter des Fremdenverkehrsbüros so respektlos seine Kundin vor dem Fotografen?«

Die Frau hatte ihre Blässe verloren, das Blut kehrte in die Wangen, der Glanz, nun ein wütender aber, in ihre Augen zurück. Sollte ich lieber schweigen, falls sich der Unwille auf mich bezog? An diesem Punkt schaffte ich es nicht, mich selbst zurückzupfeifen von der Fährte:

»Und erst die Hände des Kerls! Beim Fotografiertwerden kriegten Sie das nicht mit, aber jetzt doch wohl! Wie lässig er in den zupackenden Arbeiterfingern seine Zigarette hält! Kämpfen muß er ja nicht mehr, und die andere Hand verbirgt, ich sage es frei heraus, vermutlich aus guten Gründen sein ›Sie wissen schon‹ zwischen den Schenkeln. Jedem, auch dem größten Trottel, müßte klar sein, welche Szene zwangsläufig dieser hier vorausgegangen und gefolgt ist. Sie sind durchschaut. Da gibt es kein Vertun. Machen Sie sich keine Illusion. Wenn Sie das Ding an Ihren Mann schicken, ist es das Eingeständnis des Ehebruchs.«

Die Frau bebte. Alle Schönheit war in Zorn und Bitternis mit dem Lächeln und der, wie ich anfangs dachte, überzeugenden Sanftmut dahingeschwunden.

»Gerade deshalb werde ich es ihm schicken«, zischte sie. Sie loderte. »Und Sie hier haben den schlagenden Beweis geliefert, haben es mir klipp und klar, unparteiisch, ohne es zu ahnen, bewiesen. Sie waren meine Testperson. Einwandfrei Ehebruch! Keine Einbildung! Ich bin ja nicht die Frau auf der Bank, nur in etwa der Typ. Sie haben sich täuschen lassen von mir. Der elende Schuft im Trachtenkostüm ist Moritz, mein eigener Mann, kostümiert natürlich. Nicht in London oder Hongkong, sondern in einem ganz bestimmten oberbayrischen Dorf. Er hat mich auch mit dem Aufenthaltsort hintergangen. Die Person daneben kenne ich nicht, die hat er sich angelacht. Das Foto wurde mir anonym zugeschickt. Womöglich von dieser Dirndlperson da, die nun triumphiert.« Sie begann zu ächzen und zu stöhnen: »Ich wollte mich hier auf der Insel beruhigen. Es geht aber nicht. Bisher hoffte ich noch auf ein Mißverständnis, Sie waren es, Sie Wohltäterin, die mir klargemacht hat«, sie starrte mich in ihrer Verwirrung böse an, »daß ich mich nicht irre. Geben Sie her. Ich werde es ohne Kommentar, aber mit meinem Namen an ihn weiterschicken. Als endgültig letzte Post meinerseits.«

Der prächtige Vogel war in die Mauser gekommen. Ein großer Jammer brach in Tränen, in flattrigen Bewegungen aus der Betrogenen hervor. Dann steckte sie das Foto ein, legte etwas Geld auf den Tisch und sprang auf. Dabei wischte sie die historische Postkarte zu Boden. Sie rutschte unter einen Stuhl in die Pfütze von nassen Schuhen. Beim Versuch, mit ihrem Regenschirm danach zu angeln, stieß sie die Spitze mitten in die Riesenwelle.

»Die können Sie nun nicht mehr verschicken. Gott sei Dank ist sie noch nicht frankiert«, rief sie mir von der Tür aus, schon im Mantel, krächzend zu, denn der Wind blies sofort ins Lokal und riß ihr die Schluchzer vom Mund weg.

Ich sah sie noch am Fenster vorüberlaufen, sah sie vorübertreiben als zerfledderte Krähe, als vom Sturm zerfetzter schwarzer Schirm.

Die Sicht aufs Meer war wieder frei. Hinter den Scheiben erkannte ich die gelassene, unsinnige Arbeit, die schneeweißen Lineale, die Zollstöcke der aus der Entfernung scheinbar bewegungslosen Brandung am Rand einer grenzenlosen dunklen Flut.

Der rote Lukas

»Mechatroniker. Du weißt ja, von meiner ersten Ausbildung her Mechatroniker. Der Beruf gefiel mir. Maschinen interessierten mich von klein auf, nur habe ich es nach ein paar Jahren körperlich nicht mehr gebracht. Der Job war für mich nicht leidensgerecht. So nennen die das heute. Jetzt, als Pfleger, eigentlich wegen des lädierten Rückgrats eher als Betreuer, sieht die Sache auch nicht schlecht aus, sogar besser vielleicht.«

Er hatte noch immer die Angewohnheit, vor jedem Satz ein Weilchen abschmeckend zu schmunzeln, bevor er ihn aussprach: »Kürzlich war ich mit einem Trupp alter Männer unterwegs. Wir standen an einer Haltestelle, als aus dem offenen Hotelfenster gegenüber im ersten Stock ein Lustgebrüll losbrach. Marke Urschrei beim Höhepunkt. Sex! Du hättest sehen sollen, wie mein kalkweißes Völkchen mit offenem Mund unter dem plötzlichen Blitz und Donner zusammenzuckte und den Rollator losließ. Ganz verzagt standen sie da. Die erschrockenen Greise erinnerten sich. Die wußten noch genau, trotz ihrer Klapprigkeit, jede Wette, weshalb da oben die Hölle los war.

Ich habe einen Neunzigjährigen vorrätig, der den größten Teil des Tages seine rechte Hand studiert, von morgens bis abends die fünf Finger abzählt, ob sie noch alle da sind. Schön und gut. Vorgestern hat er die Ulrike, unsere hübscheste Pflegerin, gefragt, ob er ihr ein einziges Mal in den Ausschnitt fassen darf.«

Lukas, ganz der alte Rotkopfspecht von früher, ließ sich von seinem GPS – natürlich in einer Spezialversion – beschimpfen und fuhr, um das Ding zu reizen, abwegige Kurven. Es freute ihn, wenn er von dem Apparat »Dummkopf« genannt wurde. Er gab ordentlich Contra. »Meine Patienten fürchten sich vor allem Digitalen. Ich nenne unsere Leute mal Kunden, mal Patienten. Ihre Krankheit? Das Alter, unheilbar. Das Internet fesselt und ängstigt sie. Da sind sie ganz demütig. Dabei wissen die meisten mehr davon als mein Schwager. Wie der durch die Gegenwart kommt, ist ein Rätsel. Unterrichtet Latein und Griechisch. Der findet wohl immer einen Schutzengel, der ihn vor Zusammenstößen mit der bösen Computerwelt bewahrt. Der Bruder meiner Beate, die schwer in Ordnung ist.« Eine Weile schwieg er. Dann ergänzte er: »Sie hält vom gepflegten Fußboden mehr als vom raffinierten Würzen des Essens, ist aber schwer in Ordnung. Ein guter Mensch.«

Wieder sagte er eine Weile nichts, nachdem er anfangs zu meiner Erleichterung viel am Stück geredet hatte. »Bei mir ist das Technische schon immer eine Leidenschaft gewesen.« Wir lachten beide herzlich, da wir seine Kindheit kannten, und zwar besonders unter diesem Aspekt.

Zwischendurch nahm er ohne hinzusehen aus einer aufgeschnittenen Tüte neben dem Fahrersitz bunte Gummifrüchte, ein selbstverständlicher Griff im Zweiminutentakt, fraß das Zeug maschinell in sich rein.

Ob er deshalb ziemlich dick geworden war, der ursprünglich spindeldünne Kerl mit der wegen seiner enormen Länge schon früh schlechten Körperhaltung? Beide Arme waren, soweit das Camouflagehemd sie freiließ, tätowiert. Er trug trotz der Hitze eine olivgrüne Schirmmütze und zumindest an der mir zugewandten Seite einen Ring im Ohr. Das alles wirkte bei ihm sympathisch und mochte seinen »Patienten« Vertrauen einflößen, weil es nichts Ärztliches an sich hatte. Nur seine Augen schienen mir merkwürdig unklar, geradezu verschwiemelt. Das konnten seine Medikamente verursacht haben, die starken Schmerzmittel, die er gelegentlich brauchte.

»Frau Bingelklein, meine Kundin und keusche Trockenpflaume, machte mir am meisten Spaß. Sie hat wohl früher viel in ihrer Pfarrei geholfen. Bei uns im Heim, immer wenn sie auf dem Klo saß, hörte man sie beim Drücken keuchen: ›Herr, laß Dein Angesicht über uns leuchten.‹ Trotzdem waren ihre letzten Worte vor dem Tod: ›Die Hemden bei dreißig Grad waschen.‹ Solche Menschen hinterlassen eine Lücke. Sie fehlt mir regelrecht. Ihre Freundin, eine Frau Schlupf, hat heimlich getrunken und geraucht. Eines Tages lag sie im Bett, hat gegrinst und war tot. War trotzdem die beste Freundin von Frau Bingelklein, unserer frommen Taube.«

Wir nannten ihn den roten Lukas, zur Unterscheidung. Es gab nämlich in der Familie noch einen zweiten Lukas, ein blasses Bürschchen, das nicht weiter auffiel. Der rote Lukas befand sich fast immer im Zustand einer Erregung, mal der Begeisterung, mal der Wut. Deshalb schien die Farbe seiner Locken auf die runden Bäckchen abzufärben. Glühen war sein Dauerzustand. Außerdem besaß der Kleine einen roten Strickanzug, von dem er sich jedesmal nur unter Protest trennte. Ein schwieriges Kind, der Schrecken seiner Tanten, bei denen er die Wohnung in Windeseile, sofern es sich um technische Geräte handelte, in Stücke zerlegte, aus reiner Neugier auf das Innere von Apparaturen. Er dachte sich nichts Schlechtes dabei. Es war die reine Freude an allem Technischen und dessen ausführlicher Untersuchung. Das wußte man. Was half es? Reparieren konnte er die zerstörten Dinge nicht, und so verhielt man sich dem hübschen roten Teufel gegenüber reserviert.

Das galt nicht für seine Mutter, die, kein Kunststück, jeder ins Herz geschlossen hatte, eine sanfte, feenhafte Person, die das, was der Sohn anrichtete, nach Kräften wieder gutzumachen versuchte und manchmal, wenn es nicht gelang, einfach in Tränen ausbrach. Niemand war darüber unglücklicher als ihr wilder Sprößling, denn er liebte seine Mutter nicht weniger als sie ihn. Er besuchte schon die erste Klasse der Grundschule, als er immer noch seine Schmusestunden mit ihr forderte, die sie ihm mit zärtlichem, ein bißchen verstohlenem Lächeln wohl allzu gern gewährte. Dabei hatte sie nicht nur, das eben doch, seinetwegen unvermeidlichen Ärger mit Schwestern und Schwägerinnen zu ertragen, auch im Kindergarten schaffte man es nicht, ihren ungebärdigen Lukas zu zügeln oder gar einzuschüchtern. Was vielleicht niemand sonst tat, sie verzieh ihrem Zappelphilipp alles und streichelte ihn bereits, noch während sie sich Mühe gab, streng die Stirn zu runzeln. Sie lebten in diesen ersten Jahren beide im Glück. Sicher auch, weil eine stets lauernde Angst vor dem Vater, der Beppo, dem ockerfarbenen Mischlingshund von Lukas, häufig unter Lachen die Ohren umdrehte und sich am Ducken, dem unterwürfigen Zittern des Tieres ergötzte, beide zusätzlich einigte.

Später erzählte Lukas oft von der königlichen Stunde, wenn die Mutter am Samstag, nachdem alle Hausarbeit für das Wochenende erledigt war, eine frische, duftende Schürze umband und noch einmal die Küche ausfegte, während er auf seinem Stuhl die Beine hochzog und alle ihre gleitenden Bewegungen in der neuen Reinlichkeit andächtig beobachtete, angesteckt von ihrem Frieden, ohne irgendetwas kaputt zu machen.

Er war erst sechs, als sie an einem heißen Sommertag während einer eigentlich unkomplizierten Operation starb. Das Entsetzen des Kindes muß viel zu groß für den kleinen Burschen gewesen sein. Es machte Lukas nicht stiller, sondern lauter. Panisch suchte er bei den Tanten, indem er sich an deren weiche Busen preßte, nach einer Ersatzmutter. Keine der Frauen, zwischen Mitleid und Befürchtungen, war bereit, diese Rolle zu übernehmen. Der hilflose Vater griff schließlich zum äußersten Mittel. Er steckte den Jungen in ein Waisenhaus. Beschwichtigend wurde gesagt, es sei nur vorübergehend.

Wir hörten ab und zu von seinen Tobsuchtsanfällen und den Bestrafungen dort. Stundenlang mußte er, um seinen Willen zu brechen, in einem Winkel stehen, bei besonders schweren Vergehen wurde er in den Keller gesperrt. Merkwürdigerweise beklagte er sich nicht, als wäre seine Hoffnungslosigkeit schon zu weit fortgeschritten oder seine Scham zu groß. Erst als verheirateter Mann sprach er darüber.

Ich bilde mir ein, er hätte diese ganze Zeit über den roten, eine Weile mit ihm wachsenden Kleinkinder-Strickanzug getragen.

Der Vater wußte keinen Rat und wurde schwermütig. Auf Drängen wohlmeinender Bekannter heiratete er schließlich eine Kindergärtnerin. Die würde sicher dem Sohn und ihm selbst eine warme Heimstatt bieten. Die strammen Körperformen dafür hatte sie und war diesbezüglich nicht mit seiner zierlichen ersten Frau zu verwechseln, auch in keiner anderen Hinsicht, wie sich bald herausstellte. Zunächst aber waren Vater und Kind guter Hoffnung.

»Ein Hintern wie ein Achtzig-Taler-Pferd. Bei so einem Gesäß hatte mein Vater nach der Enthaltsamkeit für seine Pratzen ordentlich was zu packen. Mich zog es eher zum großen, vielversprechenden Busen meiner Stiefmutter. Auch wenn mir ihr Geruch nicht gefiel, mein jämmerliches Bedürfnis nach weiblicher Liebe war stärker«, sagte Lukas und kaute freundlich grinsend ein Gummitier. »Die Erwartungen meines Vaters wurden anfangs offenbar erfüllt. Er zeugte mit ihr rasch hintereinander zwei Söhne. Ich störte, ich war überflüssig. Schlimm für mich, ziemlich schlimm.«

Wieder schwieg er lange. Sein GPS war ausgestellt. Er hatte es ja auch bloß zum Spaß benutzt.

»Ich durfte, was ich zuerst so gern getan hätte, nicht ›Mutter‹ zu ihr sagen. Diese Anrede war für die eigene Nachkommenschaft von vornherein reserviert. Sie umarmte mich nie. Mein Vater, in dem neuen Haushalt, verschloß die Augen vor ihrer Härte, obschon man sie kaum übersehen konnte. Er wollte unbedingt glücklich sein, wenigstens in Frieden leben. Im Zweifelsfall hielt er deshalb immer zu ihr. Jetzt war er nicht mehr der starke Mann wie früher. Sie hatte ihn schnell klein gekriegt. Er kuschte. Die Drohung, mich wieder ins Waisenhaus zu schicken, stand bei allem im Hintergrund. Ich wurde dadurch nicht, sagen wir mal: umgänglicher. Ist ja klar.«

Er schmunzelte gegen die Windschutzscheibe und schüttelte den Kopf wie in Erinnerung an seine verzweifelten Streiche. Was er mir sagte, war für mich kaum Neues. Ich hatte es nur noch nicht von ihm selbst gehört. Sein Vater sprach damals bei Besuchen davon, wenn er ein bißchen getrunken hatte. Dabei starrte er trübsinnig vor sich hin und wiederholte einige Male: »Kein Vergleich zu meiner Maria, kein Vergleich. Was war meine Erste nur für ein Engel!«

Zu späte Reue offenbar, denn Lukas fuhr fort: »Am tollsten trieb sie es an einem Heiligabend, obschon gar nichts Besonderes vorgefallen war. Als die vier, Vater, Mutter und die beiden Prinzen im Wohnzimmer ihre Bescherung abhielten, durfte der Störenfried nicht dabei sein. Ein Grund dafür wurde mir gar nicht erst mitgeteilt. Sie machten es vorsorglich. Das war das Weihnachtsgeschenk für den Spielverderber: Ich wurde ausgesperrt vom Familienfest wie ein Fremder und bekam in mein kaltes Zimmer irgendwas zu essen geschoben, ich sehe es wieder, Rotkohl und Frikadelle, außerdem einen kleinen Werkzeugkasten. Ich hörte sie singen, die schönen Weihnachtslieder, zu denen uns früher meine Mutter auf dem Klavier begleitet hatte, meine schönen Weihnachtslieder, die sangen sie ohne mich. Jaja, ich hockte allein bei Rotkohl und Frikadelle und, durch die Wand hindurch, bei deren blödem Gesang. Als ich mit lautem Hämmern protestierte, wurde gelacht, nur mein Vater kam und strich mir mit traurigem Gesicht über den Kopf. Er gab mir einen kaputten Föhn und einen alten Schalter zum Auseinandernehmen, weil ich das gern tat. Dann ließ er mich wieder allein.«