Gerhard Roth

Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern

Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Unter Mitarbeit von Sebastian Herbst

Völlig überarbeitete und aktualisierte Auflage

Klett-Cotta

Impressum

Die 1. bis 13. Auflage sind unter dem Titel Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern von 2007 bis 2019 im Verlag Klett-Cotta erschienen. Das vorliegende Buch ist eine völlig überarbeitete und aktualisierte Ausgabe des Titels.

 

 

 

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Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2007/2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

ISBN 978-3-608-96456-1

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96456-1

E-Book: ISBN 978-3-608-19185-1

Zweite Auflage, 2019

 

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Vorwort

Das vorliegende Buch erschien zuerst im Jahr 2007 und wurde in den zahlreichen Neuauflagen nur stellenweise überarbeitet. Seither sind viele neue und sogar neuartige Erkenntnisse in Hinblick auf die Grundlagen und die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und damit auf die Veränderbarkeit des Menschen und sein Entscheidungsverhalten hinzugekommen, die einer Berücksichtigung bedürfen. Auch hat sich das Thema »Veränderungen« dramatisch in den Vordergrund der öffentlichen, politischen und wirtschaftlichen Diskussion geschoben – mit deutlichen Auswirkungen auf unser berufliches und privates Leben. Jeden Tag müssen wir uns fragen, wie wir die Veränderungen meistern können, die unabweisbar anstehen. Dabei geht es erstens darum zu fragen, ob überhaupt sinnvolle Wege erkennbar sind, die Veränderungen zu bewältigen, zweitens, ob Menschen diese Wege gehen können, und drittens, ob sie auch bereit sind, dies zu tun, oder wie sie darauf vorbereitet werden können.

Angesichts der unleugbaren Verschärfung dieser Fragestellungen haben sich Autor und Verlag zu einer grundlegenden Überarbeitung des sehr erfolgreichen Buches entschlossen. Die Veränderung(1) im Buchtitel zeigt an, dass der Hauptakzent deutlicher als bisher auf den Möglichkeiten und Grenzen der Versuche liegt, den Menschen zu verändern, denn hier herrscht nach wie vor die größte Uneinigkeit. Die zentrale Frage lautet weiterhin: Was folgt aus den Erkenntnissen der Kognitions- und Neurowissenschaften zu dieser Thematik für die beruflich-gesellschaftliche Praxis und natürlich auch für unser Selbstbild?

Einige Kapitel sind neu hinzugekommen, andere wurden gestrichen, die meisten verbliebenen wurden gründlich überarbeitet und auf den aktuellen wissenschaftlichen Stand gebracht. Unter den neu hinzugekommenen Kapiteln befindet sich eines über das Thema »Führung und Persönlichkeit«, das Sebastian Herbst zusammen mit dem Autor dieses Buchs geschrieben hat, und das Kapitel »Change Management«, das Sebastian Herbst allein verfasst hat. Damit soll deutlicher als bisher eine Brücke zur beruflichen Praxis geschlagen werden.

Lilienthal und Bremen, Juli 2019.

Einleitung

Kaum etwas erregt die öffentliche Diskussion in unserer Gesellschaft derzeit so sehr wie die tatsächlich oder vermeintlich anstehenden großen Veränderungen. Die Bedrohung unserer Lebenswelt, etwa in Form des Klimawandels und des Artensterbens, nimmt offenbar dramatisch zu. Die Arbeitswelt scheint sich aufgrund des demographischen Wandels, der Globalisierung, der Beschleunigung, Automatisierung und Digitalisierung stark zu verändern, die politische Gesamtlage ist deutlich unübersichtlicher geworden, und auch in der Art, wie wir leben, unsere Kinder erziehen, kommunizieren, uns von A nach B bewegen oder mit unserer Umwelt umgehen, finden viele Umbrüche statt.

Auf der einen Seite werden die anstehenden Veränderungen lautstark gepriesen, auf der anderen wird ebenso lautstark vor ihnen gewarnt. Das war aber schon immer so seit der Einführung des Rades oder des Eisenpfluges: Die einen, die »Veränderungssüchtige(1)n«, begrüßen jeden Wandel, denn alles kann nur besser werden, die anderen, die »Veränderungsvermeider«, haben große Angst davor, denn jeder Wandel kann Unheil bringen. Die meisten Menschen stehen irgendwie dazwischen, d. h., sie fühlen sich in einigen Bereichen sicher, in anderen aber durch Veränderungen bedroht.

Interessanterweise ist nach neueren Untersuchungen (Lengfeld und Ordemann, 2016) die Angst vor dem gesellschaftlichen und ökonomischen Absturz in der »mittleren Mittelschicht«, d. h. bei beruflich qualifizierten Menschen mit gehobenen Routineaufgaben im Dienstleistungsbereich, zur Zeit stärker als bei denjenigen mit einem höheren sozioökonomischen Status mit Führungsaufgaben, aber auch im Vergleich zu jenen mit einem deutlich niedrigeren Status mit starker beruflicher Abhängigkeit. Es fühlen sich offenbar genau diejenigen bedroht, die in den langen Jahren vorher einen Statusgewinn erlebt haben. Dies zeigt, dass es nicht ein faktischer Statusverlust, sondern die Angst davor ist, die viele Angehörige der Mittelschicht umtreibt, also diejenigen, welche die wichtigste Mitarbeiterschicht in den Betrieben und Verwaltungen direkt unterhalb der Führungsebene bilden.

In den vergangenen Jahren haben Sozialpsychologen untersucht, was denn das ist, das diese Menschen beunruhigt und ihre Lebenszufriedenheit(1) beeinträchtigt. Ganz allgemein ist es das spannungsvolle Verhältnis zwischen den privaten Bedürfnissen, Wünschen und Zielen einerseits und den Arbeitsbedingungen andererseits. Es zeigt sich, dass beide Bereiche viel stärker ineinandergreifen als bisher gedacht. Wurde lange die Vorstellung gehegt: Hier die Maloche, dort das private Vergnügen, so beeinflusst die berufliche Tätigkeit durch starke Veränderungen in den Arbeitsbedingungen heutzutage das Privatleben immer stärker. Zwei Drittel der 2018 Befragten geben an, sich in der Freizeit mit Tätigkeiten zu beschäftigen, die eigentlich ihrer regulären Arbeitszeit zuzurechnen sind. Dies steht der überall propagierten »Work-Life Balance« diametral entgegen.

Viele derzeit hochgepriesene Veränderungen der Arbeitswelt im Zusammenhang mit »Arbeit 4.0(1)« oder dem »agilen Arbeiten(1)« zeitigen neben eindeutigen Vorteilen auch schon jetzt erhebliche Probleme, und das macht eine sachliche Beurteilung der anstehenden Entwicklung so schwierig, wie kürzlich festgestellt (vgl. Bonin und Heßler, 2019). Überall ist Hilflosigkeit hinsichtlich der Frage anzutreffen, was genau denn zu tun sei. So schätzen manche Experten, dass rund 80 % der kürzlich stattgefundenen Veränderungsprozesse in der Wirtschaft und Verwaltung schiefgelaufen sind. Falls dies zutrifft, fragt es sich, was wurde da falsch gemacht?

Die 2018 erschienene Gallup-Studie (»Gallup Engagement Index(1) 2018«), die großes Aufsehen erregte, beschäftigte sich mit einem zentralen Punkt der Arbeitswelt, nämlich dem Verhältnis von Führungskräften und Arbeitnehmern, und kam zu einem denkbar schlechten Ergebnis: Nur jeder fünfte Arbeitnehmer sagte aus, die Führung, die er im Beruf erlebe, motiviere ihn, hervorragende Arbeit zu leisten. Dies bedeutet: Die Menschen werden schlecht geführt. Im Anschluss an die genannte Gallup-Studie war denn auch der Sündenbock für die tatsächlich schlechte Arbeitsmoral in vielen deutschen Betrieben sofort ausgemacht, nämlich die inkompetente Führungskraft.

Dies heißt im Klartext: Viele Veränderungen scheitern an einem mangelhaften Verhältnis zwischen Führungskräften und Mitarbeitern, und dafür kann es die verschiedensten Gründe geben. Meist heißt es von Seiten der Mitarbeiter(1), die Führungskraft unterstütze sie nicht genug. Nur die Hälfte führte mit ihnen ein längeres Mitarbeitergespräch und dies auch nur einmal im Jahr. Sie würden entweder vorwiegend Veränderungen anordnen, anstatt vorzubereiten oder zu überzeugen, oder sie wälzten die Durchführung der Veränderungen und die Verantwortung dafür auf die Mitarbeiter ab. Oft zeigten sie sich mit den Inhalten der Veränderungen unvertraut (etwa im IT-Bereich) und wirkten überhaupt nicht glaubhaft usw.

Dass die Persönlichkeit des Mitarbeiters mehr als bisher im Zentrum der Veränderungen stehen muss, hat sich bereits herumgesprochen, aber was dies genau bedeutet, d. h., was mit »Persönlichkeit« überhaupt gemeint ist, wie man diese erkennt und auf sie Einfluss nimmt, ist kaum bekannt und wird, so denn bekannt, kaum in die Tat umgesetzt. Bei der Frage, wie man Mitarbeiter(2) motiviert, verhält es sich genauso. Und es wird nicht gesehen, dass die Persönlichkeit der Führungskraft genauso im Zentrum der Veränderungen stehen muss: Wie können Veränderungen erfolgreich sein, wenn nicht die Frage beantwortet wird, welche Eigenschaften eine erfolgreiche Führungskraft ausmachen soll.

Es gibt zwar viele Darstellungen »unerlässlicher« Eigenschaften von Führungskräften, die man inzwischen in jeder Bahnhofsbuchhandlung finden kann, oft mit dem Attribut »Neuro« versehen. Die allermeisten Autoren solcher Ratgeber sind indes keine professionellen Psychologen und erst recht keine Neurowissenschaftler, und das darin eventuell enthaltene neurobiologische Wissen ist meist veraltetes bzw. missverstandenes und für die anstehenden Probleme irrelevantes Lehrbuchwissen. Entsprechend werden Führungskräfte zu wahren Lichtgestalten stilisiert, anstatt ein realistisches Anforderungsprofil zu entwickeln.

Wir müssen also zwei Dinge leisten, nämlich zum einen die aktuellen und gesicherten Erkenntnisse über die psychologischen und neurowissenschaftlichen Grundlagen menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns zusammentragen und zweitens daraus diejenigen Schlüsse ziehen, die für die Praxis der Veränderung(2) wichtig sind. Beides soll in diesem Buch getan werden.

Wir werden uns in Kapitel 1 mit dem Aufbau und den Hauptfunktionen des menschlichen Gehirns beschäftigen. Die Hirnforschung geht davon aus, dass sich die Persönlichkeit und die Psyche eines Menschen in unauflöslicher Einheit zusammen mit dem Gehirn entwickeln, genauso wie dies für den Bereich der Wahrnehmung, der kognitiven Leistungen wie Denken, Vorstellen und Erinnern, der sprachlichen und nichtsprachlichen Kommunikation, der Motorik und Verhaltenssteuerung zutrifft. Diese Zustände und Vorgänge werden durch Aktivitäten in kleineren und größeren Netzwerken im Gehirn hervorgebracht, die – wenn entwickelt – auf diese Netzwerke zurückwirken und sich möglicherweise längerfristig verändern.

Für die Thematik des Buches ist hierbei das sogenannte limbische System(1) wichtig, dessen Zentren für unbewusste und bewusste Emotionen, für die sich daraus entwickelnden Motivationszustände und schließlich für die emotional-motivationale Verhaltenssteuerung zuständig sind. Wir werden sehen, in welchem Maße hierbei genetische, epigenetische und vorgeburtlich sowie nachgeburtlich einwirkende Umwelteinflüsse eine Rolle spielen und die Persönlichkeit eines Menschen gestalten. Im Anschluss daran werden wir auch die »Bausteine« der neuronalen Erregungsverarbeitung, die Mechanismen des Lernens sowie der Gedächtnisbildung(1) und damit die Prinzipien der Veränderungen im Gehirn kennenlernen.

In Kapitel 2 werden wir uns mit den gängigen psychologischen Persönlichkeitsmodellen beschäftigen, insbesondere mit der Frage, wie aus psychologischer Sicht die wichtigen Merkmale einer Persönlichkeit bestimmt werden können. Wir werden erkennen, dass diese Modelle, auch das am weitesten verbreitete »Big-Five-Modell«, Defizite aufweisen, zum Beispiel hinsichtlich der Frage, warum es genau die Grundmerkmale sind, die vom »Big-Five-Modell« propagiert werden. Weiterhin bleibt unklar, wie sich diese Merkmale entwickeln, warum jemand in seiner Persönlichkeit so ist, wie er ist, und ob und gegebenenfalls wie man ihn hierin ändern kann.

Viele Kritiker des »Big-Five-Modells« haben darauf hingewiesen, dass dieses von der Alltagspsychologie ausgehende Konzept »in der Luft hängt«, d. h. keine neurowissenschaftliche Grundlegung besitzt, wie sie in den Bereichen der Wahrnehmung, der kognitiven Leistungen und der Sprache(1) auch von Psychologen als selbstverständlich angesehen wird (vgl. Myers, 2014).

Deshalb wollen wir in Kapitel 3 die neueren Erkenntnisse der Hirnforschung hinsichtlich der Verankerung der Persönlichkeit und Psyche im Gehirn, insbesondere im limbischen System(2) betrachten. Dabei werden wir das Modell der »vier Ebenen der Persönlichkeit« (dreier limbischer Ebenen und einer kognitiven Ebene) und das Modell der sechs psychoneuralen Grundmechanismen des Psychischen kennenlernen, die zur Grundlage der in den weiteren Kapiteln behandelten Themen werden. Hier werden wir auch diejenigen Faktoren herausarbeiten, welche die Stabilität und Veränderbarkeit der Persönlichkeit bestimmen. Ebenso gelangen wir auf dieser Grundlage zu einer Persönlichkeitstypologie(1), die aus neurowissenschaftlicher Sicht fundierter ist als die Big-Five-Typologie, weil sie »normale« und »abweichende« Entwicklungen der Persönlichkeit erklären kann, was für die Praxis der Personalauswahl und -führung von großer Bedeutung ist.

In Kapitel 4 werden wir uns mit einem ganz besonderen Persönlichkeitsmerkmal befassen, nämlich der Intelligenz(1). Kaum ein Persönlichkeitsmerkmal ist so von Vor- und Fehlurteilen bestimmt wie Intelligenz, insbesondere hinsichtlich der Frage, was dieser Begriff eigentlich meint, was an ihr »angeboren« und was erlernt bzw. umweltabhängig ist. Wir werden fragen, welche Hirnzentren an Intelligenzleistungen beteiligt sind und welches die neuronalen Grundlagen der unterschiedlichen Ausmaße von Intelligenz sind.

Kapitel 5 behandelt vertieft die im zweiten Kapitel bereits genannte Tatsache, dass aus neurowissenschaftlicher Sicht große Teile unserer Persönlichkeit dem Bewusstsein(1) nicht zugänglich sind, weil sie nicht in einem »bewusstseinsfähigen Format« vorliegen. Dies gilt für alle Prozesse in »subcorticalen« Zentren außerhalb der Großhirnrinde (Cortex(1)), aber auch für schnelle Vorgänge in Teilen der Großhirnrinde. Viele Konzepte der Psychotherapie und des Coachings bauen – aus neurowissenschaftlicher Sicht völlig zu Recht – darauf auf, dass Inhalte des Unbewussten entscheidend unser Fühlen, Denken und Handeln beeinflussen. Zugleich gehen sie fälschlicherweise davon aus, dass diese Inhalte präzise erkennbar sind (zum Beispiel über eine gründliche Befragung oder Traumdeutung). Es erhebt sich die wichtige Frage, ob das Unbewusste(1) uns generell verschlossen ist oder ob es doch irgendwelche indirekten Zugänge zu ihm gibt, und die andere Frage, was das Bewusstsein(2) denn für eine Rolle spielt, wenn doch das Unbewusste so »mächtig« ist.

In Kapitel 6 geht es um Gefühle, ihr Entstehen und ihren Sitz im Gehirn sowie ihre Funktionen. Warum beherrschen sie uns so stark? Auf welche Weise bestimmen sie unser Verhalten? Gibt es Unterschiede in der Wirkung unbewusster und bewusster Gefühle, »Empfindungen« genannt?

Kapitel 7 befasst sich mit dem tatsächlichen oder scheinbaren Gegensatz zu den Gefühlen, nämlich den Verstandesfunktionen, von denen wir bereits die Intelligenz(2) kennengelernt haben. Seit dem Altertum heißt es: »Lass bei allem, was du tust, den Verstand(1) dein Lenker sein!« Auch wenn jeder Mensch die Erfahrung macht, dass dies oft nicht der Fall ist, so sollte man doch nach dieser Maxime handeln – einfach weil verstandesmäßiges Handeln das beste ist! Entsprechend ist die nach wie vor in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften am weitesten verbreitete Lehrmeinung diejenige des »rationalen Entscheidens und Handelns«, obwohl seit langem Psychologen an diesem Modell zweifeln. Wie wir sehen werden, stützen neurowissenschaftliche Erkenntnisse diese Zweifel. Rationalität(1) – so werden wir hören – ist nur ein Ratgeber, die Entscheidungen treffen letztendlich andere Instanzen, vor allem Emotionen(1) und Intuition(1).

Kapitel 8 dreht sich um die Frage, wie aus Emotionen und Intuition(2) diejenigen Beweggründe unseres Handelns entstehen, die wir Motive(1) (wenn unbewusst) und Ziele(1) (wenn bewusst) nennen. Wir lernen dabei eines der wichtigsten Systeme in unserem Gehirn kennen, nämlich das kognitiv-limbische Bewertungssystem, das zuerst unbewusst und dann bewusst alles, was wir tun oder erleben, danach klassifiziert, ob es gut oder schlecht für unser biologisches, psychisches und soziales Leben und Überleben war, dies abspeichert und für das zukünftige Tun und Erleben nutzbar macht. Dies legt fest, dass wir uns den als positiv bewerteten Dingen nähern bzw. sie wiederholen und den als negativ eingestuften Dingen aus dem Weg gehen oder sie beenden. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Frage, ob sich beim Tun und Erleben unsere positiven und negativen Erwartungen erfüllen, oder ob es positive oder negative Abweichungen davon gibt, die zu Korrekturen in unseren Erwartungen Anlass geben. Wir werden erfahren, dass die Stärke der Motivation zu einem bestimmten Tun von der Stärke dieser Abweichungen und damit von den Belohnungserwartungen(1) abhängt. Diese Erkenntnisse sind – wie wir dann später sehen werden – wichtig für jegliche Maßnahmen der Verhaltensänderung.

Kapitel 9 schließt die Erörterung der psychologischen und neurobiologischen Grundlagen unserer Persönlichkeit und unseres Fühlens, Denkens und Handels ab. Wir werden untersuchen, wie sich im Gehirn unbewusste Motive zu bewussten Zielen verhalten – ob zwischen ihnen eine Übereinstimmung (»Konsistenz«) oder ein Konflikt herrscht und wie im Falle einer hinreichenden Übereinstimmung Prozesse der konkreten Handlungsplanung und Handlungsvorbereitung ablaufen, bis schließlich etwas in einer bestimmten Weise getan wird. Dies kann reflektorisch, automatisiert oder willentlich geschehen. Wir werden uns dabei mit dem immer noch populären psychologischen Handlungs-Entscheidungs-Modell, dem »Rubikon-Modell(1)«, auseinandersetzen und feststellen, dass dieses bejahrte Konzept aus neurobiologischer Sicht schwere Mängel aufweist, indem es etwa eine explizit gewollte Handlung zum Normaltyp der Entscheidung macht und die allermeisten Entscheidungsweisen in unserem Alltag, die wir mehr oder weniger automatisiert ausführen, außer Acht lässt.

In Kapitel 10 wenden wir uns dem Alltag zu und fragen uns, was aus Sicht der bisher vorgetragenen Erkenntnisse die beste Art zu entscheiden ist. Wir werden sehen, dass es eine generell beste Entscheidung gar nicht gibt, sondern nur den jeweiligen Umständen entsprechende automatisierte(1), rein emotionale(1), rationale(1) und aufgeschobene intuitive Entscheidungen(1), je nachdem, ob eine Standardsituation vorliegt, ob die anstehenden Probleme einfach oder komplex sind und ob Zeitdruck(1) herrscht. Wir werden aber erkennen, dass es eine Art der Entscheidung gibt, die fast immer falsch ist, nämlich die affektive Entscheidung(1) unter Zeitdruck, und auch verstehen, warum sie es ist.

Kapitel 11 fragt anhand sozialpsychologischer Untersuchungen über die Lebensspanne von Menschen nach der Stabilität und Variabilität der individuellen Befindlichkeit, insbesondere der Lebenszufriedenheit(2). Wovon hängt diese Lebenszufriedenheit ab? Was macht denn einen Menschen langfristig zufrieden oder gar glücklich? Sind Zufriedenheit(1) und Glück eher intrinsisch bedingt, etwa durch die Gene bzw. Epigene und frühkindlichen Prägungen, oder sind sie eher von späteren Umweltbedingungen abhängig, sei es von sozioökonomischen Faktoren, dem beruflichen Erfolg oder den privaten Verhältnissen? Und wie verschieden sind die Motive und Ziele, die bei den einzelnen Menschen zu Zufriedenheit und Glück führen? Wenn alle letztendlich nach denselben Zielen streben, wäre das für diejenigen, die sich um das Wohl der Menschen kümmern (oder dies vorgeben) sehr bequem. Wenn aber Menschen ganz verschiedene Lebensziele anstreben, dann muss man diese Ziele – und die darunter liegenden Motive – erst einmal identifizieren und dann bei Veränderungsmaßnahmen in Rechnung stellen.

In Kapitel 12 stellt sich konkret die Frage, wie man Menschen, zum Beispiel Mitarbeiter(3), so ändert, dass sie langfristig und mit Überzeugung das tun, was wir von ihnen verlangen. Wir haben bereits gehört, dass dies viel schwieriger ist, als üblicherweise angenommen und vollmundig behauptet wird, und dass sehr viele Veränderungsmaßnahmen scheitern – oft verbunden mit enormen Kosten und tiefen Enttäuschungen, dem berühmten »Tal der Tränen«. Aber warum ist das so? Warum genügt es nicht, den Adressaten unseres Veränderungswunsches klar und deutlich zu sagen, worum es geht und was jeder zu machen hat?

Hierbei kommen sehr unangenehme Fragen auf, nämlich erstens »Können die Menschen das überhaupt?« und zweitens »Wollen sie diese Veränderungen auch?« bzw. »Sind sie dazu bereit?« Diese Fragen treffen ins Zentrum aller Veränderungsbemühungen im beruflichen Bereich – aber auch im Privatleben. Wir werden uns also mit den Widerständen befassen müssen und fragen, ob und auf welche Weise wir diese schließlich überwinden können.

Kapitel 13 befasst sich detailliert mit einer Grundvoraussetzung für alle Veränderungsmaßnahmen, nämlich dem Erfassen der Persönlichkeit der zu verändernden Person, ihren unbewussten Motiven und ihren bewussten Zielen und – ganz entscheidend – mit der Passung zwischen diesen Faktoren und den Anforderungen einer Tätigkeit oder Position. Wir werden sehen, dass auch dies viel schwerer ist, als es die Populärliteratur, aber auch die gängigen psychodiagnostischen Verfahren(1) uns vorgaukeln, die generell auf Selbstauskunft(1) von Personen beruhen. Zugleich erklären uns führende Persönlichkeitspsychologen, dass Selbstauskunft ein höchst unzuverlässiges Verfahren zur Feststellung von Persönlichkeitseigenschaften und Eignungsprofilen ist – und die Neurowissenschaften bestätigen dies. Um aber diese Sache noch schwieriger zu machen, geht es ja nicht nur um die Auskunft über Dinge, die ein Befragter, sofern er dazu bereit ist, zumindest im Prinzip korrekt und ehrlich beantworten kann, sondern es geht um seine unbewussten Eigenschaften und Motive, wovon er selbst keinerlei Ahnung hat – und sich dieses Umstands oft auch gar nicht bewusst ist (»Ich bin doch so, wie ich mich empfinde!«). Diesen Umstand haben wir bereits im fünften Kapitel angesprochen, und nun werden wir sehen müssen, ob und wie es uns gelingt, zu diesen unbewussten Inhalten vorzudringen. Nur dann werden wir bei Veränderungsmaßnahmen die richtigen Dinge tun.

Kapitel 14 lenkt den Blick auf uns selbst. Viele Menschen glauben, man könne sich selbst am besten erkennen, da man sich schließlich am nächsten stehe (»Nichts trennt ja mich von meinem Ich!«), und man könne sich aufgrund dieser Selbsterkenntnis gezielt verändern. Der Aufruf zur Selbsterforschung(1) und zur entsprechenden Änderung der Lebensführung ist klassisch für die Philosophie der westlichen Welt. Psychologen und Neurowissenschaftler halten diese Maxime aber für eine Illusion: Außenstehende können, sofern sie dies gelernt haben, uns besser einschätzen und besser verändern als wir uns selbst. Aber was können wir trotz dieser Tatsache tun? Ist der kritische Blick auf uns selbst tatsächlich immer vergebens? Und können wir uns denn gar nicht aus eigenem Antrieb ändern?

In Kapitel 15, das von Sebastian Herbst und Gerhard Roth geschrieben wurde, geht es um die Frage, was auf der Grundlage des bisher Gesagten eine gute Führungskraft ausmacht, welche grundlegenden Persönlichkeitseigenschaften und welche Fach- und Methodenkompetenz(1)en sie haben soll. Diese Frage stellt sich unabweisbar angesichts der zu Beginn genannten Ergebnisse der Gallup-Umfrage 2018, die das gegenwärtige Verhältnis zwischen Führungskräften und Arbeitnehmern in ein sehr schlechtes Licht gesetzt hat.

Das 16. Kapitel, geschrieben von Sebastian Herbst, ist der zentralen Frage gewidmet, warum aus Sicht der Change-Management-Praxis die große Mehrheit der bisherigen Veränderungsmaßnahmen in Wirtschaft und Gesellschaft gescheitert ist, welche spezifischen Hürden, Hemmnisse und Widerstände existieren und wie durch die in diesem Buch vorgestellten wissenschaftlichen Erkenntnisse Veränderungsprozesse offener und strukturierter angegangen werden können. Es wird hierbei das »People-Change-Management«-Modell vorgestellt, das auf die konkrete Arbeit mit Führungskräften und Mitarbeitern abzielt. Es folgt eine Zusammenfassung und Abschlussbemerkung.

Kapitel 1 

Ein Blick in das menschliche Gehirn(1)

Die Mehrzahl der Hirnforscher und mit ihnen viele Psychologen sind der Ansicht, dass dasjenige, was Menschen fühlen, denken und tun, untrennbar mit den Strukturen und Funktionen unseres Gehirns verbunden ist, und dies gilt natürlich auch für die Persönlichkeit und die aus ihr sich ergebenden Entscheidungs- und Handlungsweisen eines Menschen. Wollen wir all dies hinreichend verstehen, so müssen wir uns mit dem Gehirn befassen. Dabei wollen wir so einfach wie möglich vorgehen. Das Standardlehrbuch zu dem Thema ist nach wie vor das Werk von Nieuwenhuys et al. (1978ff.)

Das menschliche Gehirn, wie in Abbildung 1a und b dargestellt, ist im Vergleich zu unserem Körper ziemlich groß und füllt den oberen Teil unseres Kopfes vollkommen aus. Es hat ein Volumen von rund 1300 Kubikzentimetern bzw. ein Gewicht von 1,3 Kilogramm. Allerdings ist es – anders als man häufig liest – bei weitem nicht das größte Gehirn im Tierreich. Es gibt einige Tiere, wie Wale, Delfine und Elefanten, deren Gehirne bis zu 10 Kilogramm wiegen. Der Grund hierfür liegt überwiegend darin, dass diese Tiere im Vergleich zum Menschen riesige Körper haben und die Gehirngröße wesentlich von der Körpergröße bestimmt wird. Allerdings hat der Mensch im Vergleich zu seiner Körpergröße ein überproportional großes Gehirn, das rund 2 % des Körpervolumens ausmacht. Beim Blauwal sind es 0,05 % – ein ziemlicher Unterschied!  

Das menschliche Gehirn zeigt den typischen Aufbau eines Säugetiergehirns und besteht, vom Rückenmark ausgehend (s. Abbildung 1a), aus sechs Teilen: dem verlängerten Mark (Medulla oblongata(1)), der Brücke (Pons)(1), dem Kleinhirn(1) (Cerebellum(1)), dem Mittelhirn (Mesencephalon), dem Zwischenhirn (Diencephalon) und dem End- oder Großhirn (Telencephalon). Mittelhirn, Brücke(2) und verlängertes Mark(2) werden zusammen als Hirnstamm(1)