THE BOYS OF SUMMER  

Richard Cox


übersetzt von Klaus-Peter Kubiak

  





THE BOYS OF SUMMER. All rights reserved.
© 2016 by Richard Cox

 

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Impressum


Deutsche Erstausgabe
Originaltitel: THE BOYS OF SUMMER
Copyright Gesamtausgabe © 2019 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

  

Cover: Michael Schubert
Übersetzung: Klaus-Peter Kubiak
Lektorat: Astrid Pfister

    

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2019) lektoriert.

    

ISBN E-Book: 978-3-95835-449-4

    

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Danksagung

 

Dieses Buch wäre ohne die fleißige und wertvolle Mitarbeit meines guten Freundes Matt Bialer niemals zustande gekommen. Aber meine Dankbarkeit gilt auch Jeremy Lassen, Cory Allyn und Mark Tavani für ihre konstruktive und engagierte editorische Arbeit.

Mein besonderer Dank geht an Don Henley und Mike Campbell für ihre Beiträge zu diesem Projekt.

Nicht zuletzt danke ich meiner Frau Kimberly, die mit dafür gesorgt hat, dass den handelnden Personen wirkliches Leben eingehaucht wurde. Ich liebe sie sehr.

 

Anmerkungen des Autors

 

Die ersten Szenen dieses Buches beschreiben ein Wetterereignis, das mehr als vierzig Bürgern der Stadt Wichita Falls in Texas das Leben gekostet hat und zu einem der katastrophalsten Tornados in der Geschichte der USA geführt hat. Ich habe mir alle Mühe gegeben, die Ereignisse jenes Tages so realistisch wie nur möglich dazustellen, aber natürlich habe ich mir auch einige dichterische Freiheiten bei der Schilderung dieser Ereignisse erlaubt. Einige genaue Analysen der Wetterbedingungen dieses Tages und des Tornados, der sich daraus entwickelt hat, finden Sie im Internet unter http://www.sth.noaa.gov/oun/?n=events-1979410.

Die Wettervorhersagen in diesem Roman wurden so formuliert, wie sie beim Nationalen Wetterdienst der USA üblich sind. Natürlich haben sich einige Formulierungen des NWS (National Weather Service) im Laufe der Jahre leicht verändert, der Einfachheit halber sind sie alle den heutigen Standards angepasst worden.

Ich überlasse es Ihnen, lieber Leser, zu entscheiden, was in diesem Buch real ist.

 





Entweder man liest ein Buch, oder man lässt es bleiben.

 

Jonathan Franzen

 

Wenn man den Legenden glauben will, war die Stadt Wichita Falls vom ersten Augenblick an verflucht. Die Gemeinde, die in der Nähe eines kleinen Wasserfalls an einem schlammigen Nebenarm des Red River errichtet worden war, erhielt ihren offiziellen Namen am 27. September 1872. Kurz vor Sonnenuntergang, als die Landbesitzer ihre neue Stadt feierten, erinnerte sie der verehrte Häuptling Tawakoni Jim an eine alte Legende des Caddo-Stammes, in der es um einen Jungen ging, der die Gabe besaß, schwarze Wolken aufziehen zu lassen und gewaltige Stürme zu entfachen. Tawakoni Jim akzeptierte den Anspruch von Texas auf das Land des Stammes nicht und bat deshalb alle weißen Männer, die ihn hören konnten, ihre Heimat nicht auf einem Boden zu bauen, den sie seinem Volk gestohlen hatten.

»Die Macht des Zyklons hat eine lange Geschichte«, soll Jim gesagt haben. »Ihr mögt hier eine Siedlung bauen, die viele Jahre lang wächst und gedeiht, aber eines Tages, wenn ihr unser Volk schon lange vergessen habt, wird der Junge Rache nehmen. Baut eure Häuser ruhig mit dem stärksten Holz und mit dem stärksten Eisen! Kein Haus der Weißen wird dieser Macht widerstehen können. Der Junge wird eure Stadt wegfegen und viele Leben werden dabei verloren gehen. Um das Unglück zu vermeiden, bitte ich euch inständig, euch nicht hier niederzulassen.«

Die neuen Landbesitzer, die zwar von Geburt, aber nicht unbedingt von ihrer Natur aus Christen waren, hielten diese Geschichte für den dummen heidnischen Aberglauben eines Wilden, der sich zugegebenermaßen sehr geschickt ausdrücken konnte. Sie ließen sich in der Nähe des Wasserfalls nieder, und ihre Stadt wuchs und entwickelte sich viele Jahre lang.

1882 wurde sie an das Netz der Fort Worth und Denver Eisenbahn angeschlossen, und 1911 entdeckte man ganz in der Nähe Öl.

1960 war die Bevölkerung bereits auf hunderttausend Menschen angewachsen, und abgesehen von einem kleinen Tornado im Jahre 1958, bei dem ein Farmer getötet worden war, blieb Wichita Falls von den Launen der Natur weitgehend verschont. Bis zu diesem Zeitpunkt war jeder, der die unheilvolle Prophezeiung von Tawakoni Jim noch selbst gehört hatte, längst gestorben. Selbst 1964, als ein heftiger Tornado den nördlichen Teil der Stadt heimgesucht hatte, kamen dabei nur sieben Menschen ums Leben. Die neue Radartechnologie ermöglichte es den Wetterexperten, Stürme genauer zu analysieren als jemals zuvor und die Bevölkerung rechtzeitig vor einem bevorstehenden Tornado zu warnen. Natürlich hatte Jim diese wissenschaftlichen Fortschritte nicht voraussehen können.

Aber manchmal weiß man einfach, dass etwas Schreckliches auf einen zukommt, und man ist trotzdem nicht in der Lage, der Katastrophe rechtzeitig aus dem Weg zu gehen. Am 10. April 1979 fegte ein massiver Multivortex-Tornado, also ein Tornado mit mehreren Wirbeln, durch Wichita Falls, ein Meilen breites Ungeheuer, das Schulen und Geschäfte verwüstete und zwanzigtausend Menschen obdachlos machte. Bilder und Videoaufnahmen von den Folgen dieses Tornados schockierten die Menschen im ganzen Land. Der Schaden war katastrophaler und kostspieliger als der jedes anderen Tornados während der vorangegangenen zwanzig Jahre. Der Sturm hatte zwar nicht die gesamte Stadt ausgelöscht, wie es Jim prophezeit hatte, aber er hatte eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die neunundzwanzig Jahre später zu einer noch viel schlimmeren Katastrophe führen sollten.

Was am 2. Juni 2008 in Wichita Falls geschah, wurde später sogar als biblisch beschrieben, obwohl die Wichita-Indianer wussten, dass es absolut nichts mit der Bibel zu tun hatte, was dort geschah. Aufmerksame Leser der folgenden Geschichte werden jedoch Hinweise auf ein geheimnisvolles Buch entdecken, das tatsächlich zum Untergang dieser Stadt im Mittleren Westen der USA und einiger ihrer Bewohner geführt hat.

 

TEIL EINS

10. APRIL 1979

    

WETTERVORHERSAGE FÜR DEN BEREICH
NATIONALER WETTERDIENST NORMAN OK
TXZ086-111000-
WICHITA-
EINSCHLIESSLICH DER STÄDTE … WICHITA FALLS
13.55 UHR CENTRAL STANDARD TIME, 10. APRIL 1979

    

… TORNADO-ÜBERWACHUNG ZWISCHEN 14.30 UHR UND 19.00 UHR CENTRAL STANDARD TIME …

    

HEUTE NACHMITTAG … MEIST BEWÖLKT MIT VEREINZELTEN GEWITTERN. EINIGE STÜRME KÖNNEN STÄRKER AUSFALLEN MIT EXTREM STARKEN WINDEN UND GROSSEN HAGELKÖRNERN. MÖGLICHE TORNADOS. TEMPERATUREN BIS 80°F. STÜRMISCHE WINDE AUS SÜDWEST MIT GESCHWINDIGKEITEN BIS ZU 10 – 20 MEILEN PRO STUNDE. WAHRSCHEINLICHKEIT VON REGEN 70 %.
HEUTE NACHT … BEWÖLKT UND KÜHLERE TEMPERATUREN. TEMPERATUREN UM 45°F. MITTWOCH … TEILWEISE BEWÖLKT. TEMPERATUREN BIS ZU 60°F. WIND AUS NORDWEST 10 – 15 MEILEN PRO STUNDE.
DONNERSTAG … MEIST SONNIG UND ETWAS WÄRMER. TEMPERATUREN BIS ZU 70°F. LEICHTER UND WECHSELHAFTER WIND.

    

Kapitel 1

 

Der Tag war irgendwie elektrisch geladen und voller Möglichkeiten. Bobby Steele konnte es in der feuchten Luft und im auffrischenden Wind fühlen. Über ihm wurde der Himmel immer dunkler. Er war zehn Jahre alt und hatte das seltsame Gefühl, dass etwas Wichtiges unmittelbar bevorstand; etwas, das sein Leben für immer verändern würde. Bobby fuhr gerade in Richtung Süden, wo Jonathan Crane wohnte, und als er den Midwestern Parkway überquerte, war es gerade mal fünf Uhr.

Sein Haar wurde gegen seinen Kopf geweht, es war blond und dick. Sein Lächeln war anziehend.

Es war der zweite Tag der Frühlingsferien und seine Mutter erwartete ihn nicht vor Anbruch der Dunkelheit zurück. Sie hätte ihn sogar noch länger draußen bleiben lassen, wenn nicht sein Vater Kenny wäre, der ziemlich irrational reagierte, wenn Bobby Zeit mit Jonathan verbrachte. Doch sein Vater arbeitete als Bauarbeiter, und abends spielte er Karten. Vor acht Uhr kam er niemals heim, und bis dahin waren es noch drei Stunden. Drei Stunden waren eine halbe Ewigkeit.

Die Straße war in diesem Teil der Stadt breiter als die in seiner eigenen Nachbarschaft, und die Häuser waren größer und aus Ziegeln gebaut. Jeder konnte Bobbys leicht verbeultes Fahrrad sehen, das sie gebraucht gekauft hatten, und gleich erkennen, dass er nicht in dieser Gegend wohnte. Jeder konnte sehen, dass er gerade weit von seinem Haus entfernt war. Aber er fuhr ganz entspannt dorthin, wo es ihm gefiel … manchmal auch freihändig. Denn selbst als Kind wusste er schon, dass man an jedem Ort am besten fuhr, wenn man so tat, als ob man dort hingehörte.

Es war eine lange Fahrt, und inzwischen war er ein wenig außer Atem. Doch wenn es ein Rennen gewesen wäre, dann hätte er noch sehr lange durchhalten können. Er war ein ziemlich kräftiger Junge, einer, der keiner Kraftprobe aus dem Weg ging. Er war ein Gewinner, und das musste er auch sein, denn sein Vater wurde niemals müde, überall zu erzählen, dass er keinen Verlierer großgezogen hatte.

So war das Leben von Jungen, die als Söhne legendärer Football-Stars aufwuchsen, eben. 1966 hatte Kenny als Quarterback die Onley Cubs in die 1A Texas State Football-Meisterschaft gebracht, indem er fünf Touchdowns schaffte und damit für seine Mannschaft den Sieg über eine, wie er sie nannte, Mannschaft voller Mexikaner errang. Im letzten Viertel des Spiels, als sie den Sieg schon fast in der Tasche gehabt hatten, entschied sich sein Vater, nicht in der Endzone des Gegners zu knien, um das Spiel abzubrechen, sondern stattdessen ohne einen Blocker weiter zu rennen. So wie sein Vater die Geschichte erzählte, war Kenny Steele ein armer Junge aus einer Kleinstadt gewesen, der versucht hatte, die Trainer von einigen Colleges zu beeindrucken, und das alles war ihm von irgendeinem zweitrangigen mexikanischen Spieler versaut worden. Doch in Wirklichkeit hatte der alte Mann nur ein wenig angeben wollen, und Bobby nahm an, dass der wütende Linebacker, der den sechsten Touchdown nicht anerkennen wollte, ihm einfach ein wenig Karma hatte zurückgeben wollen. Der Zusammenprall zerschmetterte die Kniescheibe seines Vaters, als ob sie aus Glas gewesen wäre, und das war das letzte Mal, dass er die Gelegenheit hatte, auf dem Spielfeld anzugeben.

Bobby liebte Football ebenfalls, und er wusste, dass er eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters treten würde, aber er hatte das Gefühl, dass es im Leben noch mehr gab als nur Football. In letzter Zeit hatte er immer öfter in Jonathans Haus gespielt, weil er dort Dinge tun konnte, die er in seinem eigenen Haus einfach nicht durfte. Zum Beispiel Schach spielen. Während sein eigener Vater Brettspiele für ziemlich sinnlos hielt, sah Jonathans Vater gern dabei zu, wie die beiden Jungs Schach spielten. Manchmal brachte er ihnen auch strategische Züge bei. Strategie war ein Begriff, der Bobby vollkommen fremd gewesen war, bis er mit dem Schachspielen anfing. Es war so, also ob man mit seinem Gehirn statt mit seinem Körper gewinnen würde. Manchmal fragte er sich, was passieren würde, wenn er Football spielen so angehen würde wie ein Schachspiel, wenn er Sport mit Strategie verbinden würde. Aber sein Vater hielt nicht viel von dieser Idee. Er erklärte ihm, dass Football ein Spiel war, bei dem es auf Geschwindigkeit und Stärke ankam, und auch auf Einschüchterung. Schach war nur etwas für Weicheier, und wenn sein Sohn vorhätte, einer von diesen laschen intellektuellen Uni-Typen zu werden, dann solle er gefälligst woanders wohnen. Danach erwähnte Bobby das Wort Schach nie wieder, und versprach, Jonathan nicht mehr zu besuchen. Er war nicht besonders stolz darauf, so unehrlich zu sein, aber manchmal war sein Vater doch ziemlich unvernünftig.

Als er sein Fahrrad in Jonathans Einfahrt abstellte, bemerkte er, dass die Wolken am Himmel im Südwesten noch dunkler geworden waren, und dass sie sich auf eine Art und Weise bewegten, wie er es niemals zuvor gesehen hatte. Es war fast so, als ob jemand dort oben sie mit Absicht durcheinanderwirbelte. Der Klang der Türglocke war lauter, als er erwartet hatte. Sie klang fast so, als ob sie irgendetwas sagen wollte. Als Jonathan die Tür öffnete, war Bobby erleichtert, das Haus zu betreten.

»Hallo. Ich hätte nicht gedacht, dass du heute kommst.«

»Warum nicht? Ist alles in Ordnung?«

»Irgendwas ist seltsam draußen.«

»Ja, schlechtes Wetter.«

»Vielleicht wärst du besser daheim geblieben.«

Jonathans Haus roch wie immer angenehm. Es war so, als ob jemand Hühnchen briet, Kartoffeln kochte und Plätzchen backte, und das alles gleichzeitig. Manchmal wünschte sich Bobby, dass Mrs. Crane seine eigene Mutter wäre.

»Was für ein schlechtes Wetter?«, fragte er.

»Durch Vernon ging gerade ein Tornado durch. Meine Mutter guckt Fernsehen und sie zeigen ständig das Radar.«

»Wo liegt Vernon denn?«

Jonathan schaute ihn mit so einem verächtlichen Blick an, dass Bobby versucht war, ihm eine reinzuhauen, aber er ließ es bleiben. Schließlich war einer der Gründe, warum er sich mit ihm angefreundet hatte, dass er hoffte, dass ein wenig von Jonathans Intelligenz auf ihn abfärben würde.

»Vernon liegt nordwestlich von hier«, erklärte Jonathan.

»Also kommt der Tornado auf uns zu?«

»Der nicht. Der Typ im Fernsehen sagte aber, dass noch ein weiterer Sturm aus Richtung Seymour kommt.«

Bobby nickte, als wenn das einen Sinn ergäbe. In Wirklichkeit hatte er keine Ahnung, wo Seymour lag. Allmählich hatte er das Gefühl, dass heute niemand Schach spielen würde.

»Also, was machen wir jetzt?«

»Schauen wir uns doch mit meiner Mutter das Radar an. Mein Vater ist auf der Arbeit, und sie ist ziemlich besorgt.«

Jonathan ging daraufhin zum hinteren Teil des Hauses, wo die Schlafzimmer waren, und Bobby folgte ihm.

»Du glaubst doch nicht, dass der Tornado ausgerechnet hierherkommt, oder?«

»Kann man nie wissen«, sagte Jonathan. »Sie meinten, er sei ziemlich schlimm, und dass es vielleicht mehrere sind.«

Er führte Bobby ins Zimmer, wo der Fernseher lief. Mrs. Crane saß auf der Kante ihres Bettes und starrte auf den Bildschirm. Sie saß so nahe am Gerät, dass sie die Programme wechseln konnte, ohne aufzustehen.

»Hi, Mom«, sagte Jonathan. »Bobby ist hier.«

Jetzt sah sie auf. »Bobby? Warum bist du nicht zu Hause?«

»Ich wusste nicht, dass das Wetter so schlecht wird.«

»Er könnte doch mit uns zu Abend essen«, schlug Jonathan vor. »Er wird es nie zurückschaffen, bevor es anfängt zu regnen.«

»Ich weiß nicht, Bobby. Könntest du nicht deine Mutter anrufen, damit sie dich abholt? Sie wird sich wahrscheinlich besser fühlen, wenn du bei ihr bist.«

»Wir haben nur einen Lieferwagen, und damit fährt mein Vater jeden Morgen zur Arbeit.«

»Vielleicht macht er ja heute früher Schluss«, warf Jonathan ein. »Im Regen kann er ja nicht arbeiten.«

Daran hatte Bobby noch gar nicht gedacht. Plötzlich war er sich sicher, dass es ein Fehler gewesen war, heute hierherzukommen. Wenn sein Vater früher heimkam und ihn suchte, dann waren die Tornados noch seine geringste Sorge.

»Ja, vielleicht sollte ich wirklich gehen«, meinte er. »Vielleicht bin ich ja schon zu Hause, bevor der Sturm losgeht.«

Im Fernsehen erklärte ein Reporter gerade, wo man Schutz suchen konnte, und dass man jederzeit dazu bereit sein müsste.

»Nein, wenn du schon mal da bist«, sagte Mrs. Crane, »dann ist es wahrscheinlich besser, wenn du hierbleibst, falls wir deine Eltern telefonisch nicht erreichen können.«

»Aber mein Vater …«

»Wir rufen sie an, und sagen ihnen, dass du bei uns bleibst, okay?«

»Gut«, sagte Bobby. Es war leicht, seinen Vater für das verantwortlich zu machen, was als Nächstes geschehen würde, aber eigentlich war die Anwesenheit von Bobby hier doch eher so eine Art vorsätzlicher Betrug, und noch schlimmer war, dass er sich (sehr häufig) gewünscht hatte, dass Mrs. Crane seine Mutter wäre. Natürlich hatte er das nicht so ganz wörtlich gemeint, aber wer auch immer für solche Dinge zuständig war, musste wohl etwas falsch verstanden haben. Als die Tragödie vorüber war und seine Mutter zu den Opfern zählte, hatte Bobby keine andere Wahl mehr, als die Verantwortung dafür zu übernehmen. Aber es war eine zu große Bürde für einen Jungen von gerade mal zehn Jahren, besonders für einen Jungen, der schon mit den Erwartungen seines dominanten und verbitterten Vaters belastet war, der seine eigene Chance auf Ruhm und Größe längst verspielt hatte. Doch Bobby nahm diese Bürde auf sich, und trug sie bis zu jenem Abend neunundzwanzig Jahre später, als er sein Leben gab, um für diesen und all die anderen Fehler, die er begangen hatte, zu büßen.

Das Radar im Fernsehen war mit großen orangefarbenen und gelben Flecken bedeckt, die ihn aus irgendeinem Grund an Feuer erinnerten, so als würden die Stürme, die sich näherten, nicht aus Regen und Wind bestehen, sondern aus gewaltigen Säulen wirbelnder Flammen.

Einen Augenblick später heulten auch schon die Tornado-Sirenen.

 

Kapitel 2

 

Am Fluss standen die Bäume ziemlich dicht zusammen. Der zehnjährige David Clark wohnte in einem der neueren Häuser von Tanglewood, aber er konnte bis zum Ende der Siedlung gehen, wo nicht mehr gebaut wurde, und dann durch einen Stacheldrahtzaun direkt in die Wildnis eintreten. Er genoss das Gefühl der Einsamkeit … das fast greifbare Gefühl, direkt in die Vergangenheit einzutauchen, als wenn er Tom Sawyer oder Huckleberry Finn wäre. Tatsächlich verbrachte er soviel Zeit in den Wäldern, dass er sich mehrere Monate zuvor ein Fort aus Kanthölzern, Sperrholz und Zaunlatten gebaut hatte, die er sich vom Bau besorgt hatte. Einige seiner Freunde waren sehr überrascht gewesen, wie bereitwillig die Arbeiter ihm das Rohmaterial überlassen hatten. David jedoch war darüber weniger erstaunt, denn er hatte von seinem Vater gelernt, dass Menschen alle möglichen Sachen machten, wenn man nur den Mut aufbrachte, sie nett danach zu fragen.

Er hatte geplant, das Fort so weit vom Schuss zu bauen wie es nur ging, so weit in den Wäldern, dass man ganz vergaß, wo man eigentlich war, aber es war ziemlich schwierig gewesen, das ganze Material durch den Wald zu tragen. Deshalb hatte er sein Fort letzten Endes nur etwa vierzig Meter vom Stacheldrahtzaun entfernt gebaut. Was er wirklich brauchte, war ein Platz zum Abhängen in der Nähe des Flusses. Dort verbrachte er nämlich den größten Teil seiner Zeit.

Heute war ein perfektes Beispiel. Er war am Fluss gewesen und hatte die Biber und die Alligatorhechte beobachtet, als der Himmel plötzlich dunkel wurde und sich Regen ankündigte. Da er überhaupt keine Lust hatte, nass zu werden, machte er sich sofort auf den Heimweg und bahnte sich seinen Weg durch das Dickicht. Dabei achtete er sorgfältig darauf, dass er nicht mit giftigem Efeu in Berührung kam. Er befand sich schon auf halbem Weg zum Stacheldrahtzaun, als die ersten großen und dicken Regentropfen vom Himmel fielen.

Dann bemerkte er plötzlich, wie der Boden mit jedem Schritt unter seinen Füßen zu rutschen anfing. Er sah, wie sich die Bäume im Wind beugten. Regentropfen klatschten auf die Zweige über ihm und auf den Boden, und einige von ihnen mussten wirklich sehr groß sein, denn sie klatschen härter auf den Boden als er es erwartet hatte. Dann machte der Pfad einen Bogen um eine kleine Gruppe von Mesquite-Bäumen und stieg auf zu einer kleinen roten Klippe. Große freiliegende Wurzeln waren wie Stufen, auf denen es aufwärtsging. Sie waren aber sehr rutschig, und beinahe wäre er hingefallen, und … ich kann dich sehen … die Welt schien sich irgendwie zu drehen, als wäre oben unten und unten oben, und für einen Moment kam es David so vor, als ob er eine Gitarre hörte … als ob jemand einige Takte Musik spielen würde, ein Lied, das er noch nie zuvor gehört hatte, das ihm aber trotzdem irgendwie bekannt vorkam. Dann fiel er auf den Rücken und sah über sich die Bäume, die wie Wolkenkratzer in den Himmel ragten. Die Regentropfen, die um ihn herum auf den Boden klatschten, waren jetzt wie Trommeln … der Wind, der durch die Zweige pfiff, war Musik, und er stellte sich vor, dass diese Geräusche die ersten Klänge des Songs waren, den er soeben gehört hatte. Für eine Weile lag er einfach nur auf dem Boden und lauschte dem Wald und seiner Musik, und vielleicht hätte er sich nie mehr bewegt, wenn ihn nicht plötzlich etwas im Gesicht getroffen hätte … etwas Scharfes, das schmerzte … etwas, das sich wie ein Stein anfühlte.

War vielleicht irgendjemand mit ihm hier draußen? Hatte ihn jemand beobachtet?

Dann fiel ein weiterer Stein direkt neben ihm zu Boden … und noch einer. Aber es waren überhaupt keine Steine, es waren Hagelkörner. Überall um ihn herum fielen kleine Eismurmeln auf den Boden. Einer traf ihn an der Schulter.

»Aua!«, schrie David. »Hör auf damit!«

Der Wald spielte nun keine Musik mehr, er war in Aufruhr. Die Bäume bogen sich in alle Richtungen, der Wind heulte, Regentropfen und Hagelkörner fielen überall um ihn herum. David erhob sich vom Boden und setzte seinen Heimweg fort. Wieder hatte er ein ungutes und sehr reales Gefühl, dass ihm jemand folgte und ihn beobachtete. Im Gras hatte er etwas Weißes und Ungewöhnliches bemerkt. Es hatte ausgesehen wie ein Hagelkorn, aber das konnte nicht sein. Das Ding hatte die Größe eines Tennisballs gehabt.

Immer mehr von ihnen fielen vom Himmel.

David rannte los. Er flog den Pfad geradezu hinunter, so schnell ihn seine Füße tragen konnten. Es hatte keinen Zweck mehr, zu versuchen, das Haus zu erreichen. Selbst, wenn er es aus dem Wald herausgeschafft hätte, war da immer noch die freie Strecke von fünfzig Metern über den Rasen des Hinterhofes, wo er dem Himmel hilflos ausgesetzt wäre. Die einzige Möglichkeit war, zum Fort zurückzulaufen und zu hoffen, dass das Dach ihn schützen würde.

Die meisten Hagelkörner waren klein, kalt und hart, aber die größeren konnten bei einem direkten Treffer durchaus einen Knochen brechen. Zersplitterte Äste und Hagelkörner trafen den Boden jetzt mit gewaltiger Kraft. Eins fiel direkt vor ihm auf den Weg; ein Eisbrocken, der so hart auf den Boden schlug, dass er es mit den Füßen spüren konnte.

Der Himmel war jetzt so dunkel, als ob die Sonne untergehen würde. David konnte nur noch fünfzig Meter weit sehen. Zum ersten Mal in seinem Leben kam ihm ein schrecklicher und unvorstellbarer Gedanke.

Was ist, wenn ich jetzt sterbe?

David war mit dem Tod so vertraut wie jeder andere, aber bis heute hatte er ihn nicht direkt mit sich selbst in Verbindung gebracht. Jetzt schien dieser Gedanke plötzlich so real zu sein wie die Hagelkörner, die um ihn herum auf den Boden prallten. Er könnte jetzt sterben. Er könnte für immer verschwinden und niemals wieder etwas sehen oder einen weiteren Gedanken haben. Wie würde das wohl sein? Wie konnte er hier sein und gleichzeitig doch nicht hier sein?

Ein Lichtblitz erhellte den gesamten Himmel. Ein ohrenbetäubender Donner erschütterte den gesamten Wald. Äste, Blätter und Hagelkörner, die so massiv waren, dass er kaum glauben konnte, was er sah, fielen überall zu Boden. Er rannte jetzt so schnell, wie er konnte … er rannte um sein Leben. Wieder glaubte er, Schritte zu hören, die seinen eigenen folgten.

Jemand schien sich direkt hinter ihm zu befinden.

Im Geist hörte er die Stimme seines Vaters, oder zumindest etwas, was er für die Stimme seines Vaters hielt, die ihn anfeuerte. Schau nicht zurück, du sollst niemals zurückschauen. Eigentlich klang es eher wie jemand, der sang. Es war so, als ob er wieder diesen geheimnisvollen Song hörte. Ich dachte, ich wüsste, was Liebe ist …

Dann sah er endlich das Fort zwischen den Bäumen auftauchen. Hagelkörner, die aussahen wie Murmeln und Golfbälle, und gelegentlich sogar wie ein Baseball, knallten auf das Dach. Als er die Tür erreichte, versuchte er den Riegel zurückzuschieben, aber es gelang ihm nicht. Jeden Augenblick könnten die fremden Schritte ihn erreichen, und David fummelte immer noch an dem Riegel herum. Donner explodierte über ihm. Er klang wie Gewehrschüsse, und David war drauf und dran zu schreien.

Gerade, als es ihm gelang, den Riegel wegzuschieben, traf ein Hagelkorn seinen Knöchel. Hitze und Schmerz durchströmten sein Bein, doch er biss die Zähne zusammen und kroch unter die Werkbank. Er hatte das Gefühl, dass sein Knöchel vollkommen zerschmettert war.

David hoffte, dass er sich ein wenig ausruhen könnte, aber als er durch die Ritzen in der Wand den Sturm sah, hatte er das Gefühl, als ob er aus dem Fenster eines Flugzeugs schauen würde. Es kam ihm so vor, als ob er vom Boden abhob und beobachtete, wie dieser allmählich unter ihm verschwand. Das war schon seltsam, wenn man bedachte, dass er noch niemals zuvor geflogen war. Flugzeuge hatte er bisher nur im Fernsehen gesehen. Er konnte den Sturm mit seiner Vision, in der Luft zu sein und wegzufliegen, gar nicht in Verbindung bringen. Für einige Sekunden waren beide Realitäten so lebendig, dass er das Gefühl hatte, er würde dazwischenstehen … als wenn er eine Seite seines Lebens umblätterte und auf die Nächste überging.

Schließlich brachte der Ansturm der Hagelkörner David in die Realität zurück. Er schloss seine Augen, und ihm kamen unwillkürlich die Tränen. Lautlos betete er zu allen Göttern, die ihm zuhören mochten, sein Leben zu verschonen. Er versprach, immer lieb und großzügig zu sein und es fortan allen recht zu machen. Zu geben, anstatt zu nehmen, und dankbar dafür zu sein, dass er den Sturm überlebt hatte.

Sein zehn Jahre altes Selbst konnte nicht wissen, dass der spätere David diese Versprechungen nicht halten würde, und dass sich sein Charakter im Laufe der Zeit allmählich in eine ganz andere Richtung entwickeln würde. Es sollten noch vier Jahre vergehen, bevor er Todd Willis treffen würde und bevor er dieses geheimnisvolle Lied hören würde, und selbst dann würde er dessen Bedeutung nicht verstehen. Er würde die Seltsamkeit dieses stürmischen Abends erst nach weiteren neunundzwanzig Jahren verstehen. Nach dem Mord an seinem Vater und einer Reihe katastrophaler Brände, die letzten Endes den Untergang der Stadt einläuten würden. Aber dann wäre sein Schicksal bereits besiegelt, und alles, was er noch tun konnte, war, hilflos mit anzusehen, wie sein Leben allmählich den Bach runterging.

Schließlich ließ der Hagel langsam nach und hörte dann abrupt ganz auf. David stand vorsichtig auf, achtete dabei auf seinen verletzten Knöchel und öffnete die Tür. Durch die Bäume hindurch, nahm er die schwärzeste Wolke wahr, die er jemals gesehen hatte. Er humpelte zu dem Stacheldrahtzaun, stieg hindurch und rannte dann wie verrückt in die Richtung seines Hauses. Er hatte es schon fast erreicht, als er das unheimliche Heulen der Tornado-Sirenen hörte.

Es war ein Geräusch, das ihn schon bald in seinen Träumen verfolgen sollte.

 

Kapitel 3

 

Der Augenblick, in dem sich Jonathan Cranes Leben für immer verändern sollte, kam, als jemand laut an die Vordertür seines Hauses hämmerte. Die Ursache für diesen Lärm war Bobbys Vater, Kenny Steele, der sich lautstark Zutritt verschaffen wollte. Carolyn weigerte sich, ihn reinzulassen, und hatte gerade schon panisch versucht, ihren Mann per Telefon zu erreichen.

»Dad hebt nicht ab«, sagte sie. »Er ist wahrscheinlich schon zu uns unterwegs.«

Bobby war leichenblass. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, aber nichts kam heraus. Seine Mutter legte beruhigend ihre Hand auf seine.

»Mach dir keine Sorgen. Ein Erwachsener ist wegen irgendetwas aufgebracht. Vielleicht können wir das ja regeln, ohne gleich die Polizei zu rufen.«

Jonathan, der noch nie erlebt hatte, dass sein Vater aggressiv wurde, fragte sich, wie Bobby jeden Tag mit einem Mann wie Mr. Steele zusammenleben konnte. Später, als alles vorüber war, würde er es natürlich bedauern, dass er eine solche Vorstellung heraufbeschworen hatte.

Das Hämmern an der Tür wurde nun so heftig, dass die Tür im Rahmen erzitterte. Mit jedem Schlag schien das ganze Haus zu beben, und Jonathan konnte sehen, dass seine Mutter mit jeder Sekunde ängstlicher wurde.

»Ich denke, ich rufe jetzt doch lieber die Polizei«, sagte sie schließlich.

Aber Bobby wurde ganz verrückt vor Angst bei diesem Gedanken.

»Bitte, Mrs. Crane! Mein Vater hatte schon letztes Jahr ziemlichen Ärger mit der Polizei. Bitte tun Sie das nicht!«

Carolyn griff trotzdem nach dem Telefon, und wählte bereits die Nummer, als der Lärm an der Tür plötzlich aufhörte. Jonathan hörte nun die Stimme seines Vaters.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich suche Jonathans Vater«, antwortete Mr. Steele.

Es folgte ein Moment des Schweigens, dann hörte Jonathan noch einmal die Stimme seines Vaters, dieses Mal etwas weiter entfernt.

»Ich bin Michael Crane. Was geht hier vor sich?«

Jonathan konnte sich nicht entscheiden, ob er die Tür aufmachen sollte, doch dann tat er es automatisch, als könnte er nicht anders.

»Liebling!«, rief seine Mutter. »Geh nicht da raus!«

»Aber Dad ist vielleicht in Schwierigkeiten!«

Tatsächlich standen sein Vater und Mr. Steele auf dem vorderen Rasen, und sie standen sich so nahe gegenüber, dass sich ihre Nasen fast berührten.

»Was hier vor sich geht«, sagte Mr. Steele, »ist, dass Ihr Sohn versucht, meinen Jungen zu einem Weichei zu machen.«

Jonathan rieb sich die Augen und fragte sich, ob das, was er da sah, wirklich passierte. Es war wie eine Szene, die sich jemand für einen Roman ausgedacht hatte. Wenn man so gerne las wie Jonathan, dann war es ganz natürlich, sich manchmal zu fragen, ob man selbst auch in der Lage wäre, etwas zu schreiben, und in letzter Zeit hatte er tatsächlich öfter versucht, sich die realen Erlebnisse seines Lebens als geschriebene Szenen vorzustellen.

In dieser Szene jetzt trug Bobbys Vater ein Flanellhemd und abgetragene Jeans und hatte sich seit Tagen nicht mehr rasiert. Er war aufgebracht, denn er schien zu glauben, dass Jonathan Bobby in irgendeiner Art und Weise verdorben hätte. Aber was genau glaubte er, das geschehen war? Und hatte er ernsthaft vor, deshalb eine Schlägerei anzufangen?

In diesem Augenblick gingen die Tornado-Sirenen wieder los. Es war das zweite oder dritte Mal, dass er sie in den letzten zwanzig Minuten gehört hatte. Jonathan fühlte plötzlich etwas in seinem Rücken, und merkte dann, dass seine Mutter und Bobby ihn von der Tür aus beobachteten. Wind kam auf, und dieser wurde auf einmal so stark, dass man kaum noch hören konnte, was die beiden Männer sagten.

»Hören Sie mal«, schrie sein Vater. »Ich weiß ja nicht, was Sie glauben, was mein Sohn mit Ihrem Jungen gemacht hat, aber was auch immer es ist, ich bin mir sicher, dass wir das regeln können. Doch jetzt sollten wir erst einmal …«

»Sie werden Ihrem Weichei von Sohn jetzt erst einmal sagen, dass er sich von meinem Jungen fernhalten soll. Das ist genau das, was Sie jetzt erst einmal tun werden!«

Jonathan verstand nicht, warum Mr. Steele ihn mit solchen Schimpfnamen belegte, und wie es aussah, konnte sein Vater es auch nicht nachvollziehen. Mit jedem Augenblick schien er frustrierter zu werden.

»Hören Sie«, sagte sein Vater. »Sie wissen doch bestimmt, was es bedeutet, wenn die Sirenen losgehen. Reden wir ein anderes Mal darüber, wenn nicht gerade ein Tornado …«

»Da kommt kein Tornado!«, rief Mr. Steele.

Bis jetzt hatte Jonathan den weißen Kleinlaster kaum bemerkt, der vor ihrem Haus stand, doch jetzt öffnete sich die Tür, und Bobbys Mutter stieg aus und ging zu ihrem Mann.

»Kenny!«, schrie sie. »Ich habe dich gebeten, hier keine Schlägerei anzufangen. Wir müssen jetzt in den Schutz-Keller!«

Jonathan konnte sehen, wie sein Vater überlegte, wie er jetzt weiter vorgehen sollte. Er schien wütend genug zu sein, um Mr. Steele eine reinzuhauen, aber er schaute auch besorgt hinauf zum Himmel und auf die wirbelnden Wolken.

»Ich sehe schon, wo er das herhat«, sagte Mr. Steele abfällig. »Dieses Weichliche in Ihrem Sohn … ich kann ganz genau sehen, woher …«

Jetzt packte sein Vater Mr. Steele an der Gurgel. Jonathan konnte kaum glauben, was da gerade passierte. Sein ganzes Leben lang hatte man ihm beigebracht, dass es ein Problem sei, und, keine Lösung, sich zu prügeln. Doch jetzt verstand er plötzlich, dass es manchmal durchaus nötig war, zu kämpfen. Das Gefühl, das er empfand, als er sah, wie sein Vater ihn so entschlossen verteidigte, war genauso mächtig wie der Sturm, der gerade über ihnen tobte. Jonathan hatte ihn nie so sehr geliebt wie in diesem Augenblick.

Das Gefühl verging jedoch sehr schnell, als Mr. Steele ebenfalls den Hals seines Vaters ergriff, und beide kurz darauf am Boden lagen. Man konnte sehr schnell erkennen, wer gewinnen und wer verlieren würde.

Jonathan wollte seinem Vater beistehen, aber Mrs. Steele kam ihm zuvor und sprang auf den Rücken ihres Mannes. Michael rollte sich zur Seite. Er keuchte schwer und griff sich an den Hals. Carolyn eilte an seine Seite und versuchte, ihn vom Boden hochzuheben.

»Jonathan«, rief sie. »Komm her und hilf mir.«

Aber sein Vater war schon wieder auf den Beinen. Doch er schaute die beiden nicht an, stattdessen blickte er zum Himmel.

»Wir müssen reingehen, und zwar jetzt sofort!«

Jonathan schaute ebenfalls nach oben und sah dort Wolken; schwarze Wolken, die sich wild drehten. Sie waren so nahe, dass man das Gefühl hatte, sie berühren zu können. Jenseits davon, nicht sehr weit entfernt, hörte man ein Brüllen.

»Oh, mein Gott!«, rief Carolyn.

»Ein Tornado!«, schrie Bobby hinter ihr.

Das Brüllen wurde immer stärker. Es war grollend und unmissverständlich. Es waren Geräusche wie von einem wilden Tier. Jonathan drehte sich zu seinem Vater um, doch er wusste noch nicht, dass es das letzte Mal sein würde, dass er direkten Augenkontakt mit ihm haben würde.

»Lauf los, mein Sohn! Lauf schnell rein!«

»Deine Mutter und ich kommen gleich nach. Lauf schnell rein! Jetzt sofort!«

Jonathan starrte Bobby und seine Eltern noch einen Moment an. Er wollte wütend sein über das, was geschehen war, denn wenn Bobby nicht so ein Schwachkopf wäre und irgendeine Vorstellung von diesem Sturm gehabt hätte, dann wäre er daheim geblieben, und all das wäre gar nicht erst passiert, aber schließlich hatte ja niemand wissen können, dass ein Tornado genau hierherkommen würde, und es war auch nicht Bobbys Schuld, dass sein Vater eine Schlägerei angefangen hatte.

Die wirbelnde Masse, die sich ihnen jetzt rasend schnell näherte, war kein Wetterphänomen. Es war ein Albtraum, der irgendwie seinen Weg in die Wirklichkeit gefunden hatte. Es gab keine Hoffnung, dass er an ihnen vorübergehen würde. Dafür war er viel zu groß, und er kam genau auf sie zu.

»Beeilt euch!«, rief Michael. »Gehen wir rein, bevor es zu spät ist!«

Sein Vater lief zur Tür und ergriff dabei Jonathans Hand. Zusammen rannten sie durch die Küche in die Vorratskammer.

»Quetscht euch hier rein«, rief Michael. »Carolyn … Sie auch, Mrs. Steele …«

Sein Vater drehte sich um und packte auch Bobby und seine Mutter.

»Ihr beide auch. Mr. Steele und ich gehen ins Gästebadezimmer.«

»Was?«, schrie Carolyn. »Wir passen hier doch alle rein! Lasst uns hier nicht allein!«

»Ihr seid nicht allein. Ihr seid doch alle zusammen. Wir gehen nur um die Ecke.«

»Mike!«

Die Geräusche, die der Tornado von sich gab, hatten sich verändert. Jetzt klang er wie ein durchdringender Schrei, der sich für Jonathan wie Wasser anhörte, das durch einen gewaltigen Abfluss lief. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand mehr Angst haben könnte, als er in diesem Augenblick.

»Gehen wir«, sagte sein Vater zu Mr. Steele. »Wir haben keine Zeit mehr.«

»Mike, nein! Bitte!«

Sein Vater schloss die Tür. Das Licht ging nicht an, deshalb standen alle vier in völliger Dunkelheit da. Sie konnten überhaupt nichts sehen. Alles, was sie wahrnahmen, war der Sturm draußen und die durchdringenden und unheimlichen Geräusche des Tornados. Er schien den gesamten Sauerstoff aus der Luft zu ziehen. Bobby und seine Mutter weinten, Jonathan schwieg und versuchte, zu hören, ob sein Vater immer noch da und immer noch am Leben war.

»Zum Badezimmer geht es hier entlang«, rief Michael nun. »Kommen Sie, wir können …«

Er wurde vom Lärm zerberstender Fensterscheiben unterbrochen, und ein schweres Gewicht zwang Jonathan auf die Knie. Dann hörte er einen schrecklichen Schrei; den Schrei einer Frau. Er hoffte, dass es nicht seine Mutter war, und er hoffte, dass sein Vater in Sicherheit war. Er tastete seinen eigenen Körper ab und suchte nach Verletzungen oder nach Blut, nach irgendeinem Hinweis, ob er verletzt worden war, aber er konnte nichts finden. Sein Körper schien überhaupt nicht mehr da zu sein. Als er versuchte, nach einem Zeichen dafür zu suchen, was überhaupt passiert war und wo er sich befand, wurde ihm plötzlich klar, dass er nichts sehen konnte. Überall, wo er hinschaute, war nichts.

Nichts als Weiß.

 

Kapitel 4

 

Alicia Ulbrecht war erst neun Jahre alt, und es gab viele Dinge, die sie verwirrten. Aber einer Sache war sie sich hundertprozentig sicher: Ihr Daddy konnte sie vor allem beschützen, besonders vor Gewittern. Ihrer Einschätzung nach wusste er mehr über das Wetter als irgendjemand sonst auf der ganzen Welt.

Das Problem war jedoch, dass ihr Vater jedes Mal, wenn ein Sturm kam, seine Kamera ergriff und mit dem Wagen wegfuhr, um ihn sich aus der Nähe anzusehen. Alicia und ihre Mutter mussten immer daheimbleiben und auf sich selbst aufpassen. Später kam er dann wieder nach Hause und erzählte Geschichten über erstaunliche und schreckliche Dinge, die er gesehen hatte, wie zum Beispiel Bäume und Autos, die wie Spielzeuge herumgewirbelt wurden, und Häuser, die aus ihren Fundamenten herausgerissen worden waren. Manchmal zeigte er ihr sogar Fotos. Es waren Bilder, die ihr jedes Mal einen Schauer über den Rücken trieben. Ihre Lieblings-Tornados waren die, die schlank, dunkel und unheimlich waren und sich gegen den gelben Himmel abzeichneten.

Doch heute waren die Stürme nicht irgendwo dort draußen. Sie kamen direkt in die Stadt, so nahe, dass der Mann im Fernsehen erklärt hatte, dass eine LEBENSBEDROHENDE GEFAHR FÜR WICHITA FALLS BESTAND. Und ihr Vater war nirgendwo zu finden.

In ihrem späteren Leben fragte sie sich immer wieder, ob ihre Unfähigkeit, Beziehungen aufrechtzuerhalten, auf das Gefühl des Verlassenseins zurückzuführen war, das sie in diesem Augenblick empfunden hatte. Vielleicht war sie zu der Überzeugung gelangt, dass selbst in Männern mit sehr guten Charaktereigenschaften ein instinktiver Drang zum Nomadentum steckte, der sie dazu zwang, sie irgendwann zu verlassen und sich woanders umzusehen. Dieses Gefühl sollte sich später noch verstärken, als ihre Mutter krank wurde und zu einem Pflegefall wurde. Selbst dann konnte ihr Vater es nicht über sich bringen, mit dem Reisen aufzuhören oder jemanden zu engagieren, der sich um sie kümmerte. Er erwartete einfach von Alicia, dass sie half, und natürlich tat sie das auch. Sie hätte ihm schließlich niemals etwas abschlagen können.

 

Im Augenblick war ihre Mutter ziemlich von der Rolle. Sie rannte ständig in den Hof, um nach ihrem Gatten Ausschau zu halten, und kam dann wieder rein, um nach Alicia zu sehen. Es wäre komisch gewesen, ihr dabei zuzuschauen, wenn es draußen nicht so dunkel gewesen wäre, wenn der Wind nicht so geheult hätte und die Tornado-Sirenen nicht wie gigantische Geister gejault hätten.

»Wo ist er denn nur?«, schrie seine Mutter. »Er sagte, dass er zurückkommen würde, wenn der Sturm zu nahe käme. Wo ist er jetzt nur?«

Alicia wusste, dass sie und ihre Mutter in die Badewanne steigen und sich mit Matratzen schützen mussten, sobald ein Tornado auf sie zukam, aber da jetzt anscheinend niemand daran dachte, stand sie stattdessen auf ihrem Bett und schaute aus dem Fenster. Von hieraus konnte sie sehen, wie sich der Sturm immer mehr näherte. So würde sie auch ihren Daddy sehen können, sobald er mit seinem Wagen in ihre Straße einbog.

Der Himmel sah aus, als ob er auf die Erde gefallen wäre. Schwarze Wolken tanzten dort mit einer Geschwindigkeit, die fast irreal war. Es war fast so, als ob man sich einen Film im Zeitraffer anschauen würde. Müll landete in ihrem Garten, Silberpapier und Pappkartons und Papier – überall lag Papier. Plötzlich war da ein seltsames Geräusch um sie herum, so wie ein mächtiger Zug, der auf ein unbekanntes, aber vorherbestimmtes Ziel zuraste. Sie stellte sich einen oder mehrere Jungen vor, die Schutz vor dem Sturm gesucht hatten. Einer der Jungen dachte, dass er vielleicht tot sei, aber sie wusste, dass er es nicht war, denn eines Tages würde sie sich in ihn verlieben. Über den Dächern der Häuser, vielleicht zwei Straßen weiter, konnte sie das gewaltige wirbelnde Monster sehen. Der Tornado ähnelte keinem der Stürme auf den Bildern, die ihr Vater ihr gezeigt hatte. Es war keine Röhre oder Trichter. Es war ein Ungeheuer mit vielen Armen; eine gewaltige Spinne, die Pirouetten drehte. Ein Auto wirbelte jetzt in der Luft herum. Blaugrünes Licht blitzte am Boden auf … schnelle Impulse … eins, zwei, drei. Das Dach eines Hauses wurde nun in die Luft gerissen und verschwand einfach. Jetzt war der Vater des Jungen tot.

»Alicia!«, schrie ihre Mutter. Ihre Stimme klang verzweifelt und so rau, als ob sie gleich sterben würde. Aber sie würden nicht sterben. Wenn man den Tornado ganz genau beobachtete, sah man, dass er sich jetzt in eine andere Richtung bewegte.

»Alicia! Wo bist du?«

»In meinem Zimmer, Mom.«

Ihre Mutter erschien und riss sie vom Fenster weg.

»Mom, was machst du denn da?«

»Wir steigen jetzt in die Badewanne!«

»Aber der Tornado ist doch schon an uns vorbeigezogen! Der kommt bestimmt nicht mehr zurück!«

Aber ihre Mutter hörte gar nicht zu. Sie trieb Alicia ins Badezimmer und setzte sie in die Badewanne.

»Mom, das ist doch blöd! Der Tornado kommt nicht hierher!«

Ihre Mutter stieg in die Wanne und zog sie in eine sitzende Position, dann schlang sie ihre Arme um sie und weinte.

»Mom, alles wird gut. Daddy sagt immer …«

»Dein Daddy ist nicht hier! Er hat uns alleingelassen.«

»Aber …«

»Sei jetzt still. Dein Daddy denkt wahrscheinlich, dass er alles über das Wetter wüsste, aber ich weiß, dass er das nicht tut. Dieses Mal tun wir das, was ich will. Niemand fragt mich jemals, was ich will!«

Später sollten sie erfahren, dass Vater irgendwo weit draußen, in der Nähe von Seymour, auf einen anderen Tornado gestoßen war, dem er mit seinem Wagen hinterhergejagt war. Dieser hatte seinen Wagen so schwer beschädigt, dass er nicht mehr fahren konnte. In dem ganzen Durcheinander, das dem Ausbruch der Tornados folgte, dauerte es Stunden, bis er von der Highway Patrol aufgelesen wurde, und Tage, bis sein Wagen geborgen wurde. Bis dahin hatte man in Wichita Falls begriffen, welche Anstrengungen notwendig sein würden, um sich von dieser Katastrophe zu erholen, und Alicia verstand zum ersten Mal in ihrem Leben, dass auch die Beziehungen von Erwachsenen – wie die Ehe ihrer Eltern – durchaus zerbrechen konnten.

 

Kapitel 5

 

Adam Altman konnte nicht verstehen, warum seine Mutter noch nicht von der Apotheke zurückgekehrt war. Sie hatte das Haus etwa dreißig Minuten zuvor verlassen, um Medizin zu besorgen, und da niemand in der Familie krank war, war die Medizin, die sie meinte, wahrscheinlich Schnaps, den sie in ihre Limonade kippte oder in die Gläser, die so winzig waren, dass nur ein kleiner Schluck darin Platz fand. Es war schon ziemlich seltsam, dieses Zeug als Medizin zu bezeichnen, denn wenn seine Eltern es tranken, ging es ihnen am nächsten Morgen nicht besonders gut.

Seine Mutter hatte es ziemlich eilig gehabt. Sie hatte nicht einmal den Fernseher abgestellt, sodass Adam und seine Schwester Christi jetzt davorsitzen und den Mann von der Wetterkarte sehen konnten, der gerade sagte, dass die Tornados mittlerweile die ganze Stadt bedrohen würden.

Das war ziemlich seltsam, wenn man bedachte, wie nahe seine Eltern Gott standen, und dass sie schon sehr oft erklärt hatten, dass kein Tornado einer Familie etwas anhaben könne, die zu Gott und seinem eingeborenen Sohn Jesus Christus betete. In jedem Frühjahr versammelte sich die ganze Familie im Vordergarten, um Gott zu preisen und um Schutz gegen das stürmische Wetter in Texas zu bitten. Vier Jahre hatte das auch sehr gut geklappt. Die einzigen Tornados, die Adam jemals gesehen hatte, waren in Büchern abgebildet gewesen. Doch jetzt sagte der Typ im Fernsehen plötzlich, dass jeder in der Stadt Schutz suchen sollte.

»Steigen Sie in die Badewanne und decken Sie sich mit Matratzen ab«, erklärte der Mann von der Wetterkarte. »Oder gehen Sie in einen Schrank und verschließen Sie die Tür. Was immer Sie tun – tun Sie es jetzt, denn es ist ein sehr großer Tornado, der gerade auf Wichita Falls zurast.«

Adam hatte eigentlich gar nicht vorgehabt, etwas zu tun, denn er war fest davon überzeugt, dass Gott über ihr Haus wachen würde. Aber dann fiel der Strom aus, die beiden starrten auf den leeren Bildschirm, und ihre Mutter war immer noch nicht da.

»Ich habe Angst«, sagte Christi. Sie war erst fünf Jahre alt und fürchtete sich so ziemlich vor allem. Adam machte sich immer über ihre Angst lustig.

Doch jetzt sagte er: »Denk daran, was Mom und Dad uns beigebracht haben. Wir beten zu Jesus, also kann uns überhaupt nichts passieren.«

»Aber der Mann im Fernsehen hat gesagt …«

»Mom kommt jeden Augenblick nach Hause, und sie wird uns schon sagen, was wir tun sollen.«

»Aber was ist, wenn sie nicht nach Hause kommt?«

Das war eine Möglichkeit, an die Adam überhaupt nicht denken wollte. Was für eine Mutter würde ihre Kinder bei einem solchen Sturm allein zu Hause lassen? Und warum sollte Gott einer Familie einen Sturm schicken, die ihn doch so verehrte?

Adam ging zur durchsichtigen Sturmtür und schaute hinaus. Der Himmel war tiefschwarz, der Wind heulte, und die Bäume in ihrem Vordergarten stöhnten, als ob sie im Sterben lagen.

»Gehen wir in den Schrank«, sagte er daraufhin zu Christi. »Ich bin mir sicher, dass nichts passiert, aber seien wir lieber vorsichtig.«

Bald standen die beiden zwischen Jacken und Mänteln in beängstigender Dunkelheit. Seine Schwester hielt sich ängstlich an den Taschen seiner Jeans fest. Sie zitterte und stand kurz davor zu weinen. Sie versuchte, ihre Arme um ihn zu schlingen, aber er stieß sie von sich weg. Er mochte es nicht, in diesem engen Schrank zu stehen und ihr so nahe zu sein, oder irgendjemandem sonst.

»Adam, halt mich fest!«

Aber das konnte er nicht, denn er war nicht so wie andere Kinder. Alles hatte sich an jenem Abend vor langer Zeit verändert, als ein Mädchen namens Evelyn ihn dazu überredet hatte, etwas ganz Schreckliches zu tun. Danach hatten ihn seine Eltern nicht mehr geliebt. Sie liebten Christi, die ihr Favorit war, und die reingeblieben war … die keine Todsünde begangen hatte.

Der Sturm wurde jetzt immer lauter. Er heulte wie ein gigantisches und wütendes Monster. Dieses Heulen klang so, als ob gleich die Welt untergehen würde, als ob Autos zerschmettert würden und Mauern einstürzen, und die Füße dieses Ungeheuers den Boden zertrampeln würden, während es sich ihnen mehr und mehr näherte.

In New Orleans hatte Evelyn ihn in jener Nacht betrogen. Adam hatte sich noch nie so verlassen und allein gefühlt. Es war ein schreckliches Gefühl gewesen, das er keinem anderen wünschen würde. Aber jetzt, wo seine Schwester bei ihm Schutz suchte, verweigerte er sich ihr. Er konnte einfach nicht verstehen, warum sie in den Arm genommen werden wollte, oder warum er derjenige sein sollte, der es tun musste.

»Adam!«, schrie Christi. Sie griff nach seinen Armen und Beinen und klammerte sich eng an ihn, aber er reagierte nicht darauf.