Heiner Müller

Germania

Germania Tod in Berlin
Germania 3 Gespenster am toten Mann

Mit einem Nachwort
von Albert Ostermaier

Suhrkamp

Germania Tod in Berlin

DIE STRASSE 1

Berlin 1918.

MANN Das war der Krieg. Den Arm hat er behalten.

FRAU Du bist heraus, Mann. Alles ist beim alten.

Kinder, s gibt Brot, der Vater ist zurück.

MANN Wenn uns das Brot gehört und die Fabrik.

Ab. Dunkel.

STIMME DAS IST DER GENERALSTREIK

KINDER Bäcker!

In seiner Ladentür erscheint überlebensgroß der Bäcker.

KINDER Brot.

BÄCKER

Mein Brot wächst nicht vom Himmel. Habt ihr Geld? Kein Geld kein Hunger. Ist es meine Welt?

Fernes Schießen.

STIMME DAS IST DIE REVOLUTION

Der Bäcker schließt sehr schnell seinen Laden.

KINDER He. Bäcker. Sie »schießen«. Tot!

Laufen in die Richtung, in der geschossen wird. Auftritt der Schilderverteiler, ebenfalls überlebensgroß, mit Schildern. Auf den Schildern steht »Nieder mit Spartakus«.

SCHILD Was da gebraut wird, ist nicht euer Bier.

Ein Mann ein Groschen. Vier mal eins macht vier

Wenn ihr mein Schild durch eure Straße tragt.

Es ist für Deutschland, wenn euch einer fragt.

KIND 1 Ich geh nicht mit, mein Vater ist dabei.

SCHILD Nummer eins ist satt. Vier weniger eins macht drei. Er steckt einen Groschen weg.

KIND 1 Mein Hunger ists der mitgeht, ich bins nicht.

SCHILD Der oder du. Hat er nur dein Gesicht.

Kinder demonstrieren mit den Schildern. Schießen aus.

ANDRE STIMME RUHE UND ORDNUNG. WIEDER

HERGESTELLT.

Licht. Der Bäcker macht seinen Laden wieder auf. Die Kinder treten zum Schilderverteiler und halten die Hände auf.

SCHILD Was wollt ihr?

KINDER Den Groschen.

SCHILD Was kriegt der Hund, wenn er bellt.

Lacht. In seiner Ladentür steht der Bäcker und stimmt in das Lachen ein. Lachen weiter nach dem Vorhang.

DIE STRASSE 2

Berlin 1949.

LAUTSPRECHER ES LEBE DIE DEUTSCHE DEMOKRATISCHE REPUBLIK DER ERSTE ARBEITERUNDBAUERNSTAAT AUF DEUTSCHEM BODEN

Beifall aus dem Lautsprecher.

MANN Der Russenstaat.

ANDRER schlägt ihn nieder: Merk dir den Tag.

MANN steht auf, blutig: Und du.

Taumelt weg.

Es gibt noch Bäume, Äste dran, in Deutschland.

Wir sehn uns wieder, Russe, wenn du hängst.

STIMMEN Haltet den Hetzer.

Halt ihn.

Wo?

Da.

Weg.

ALTER mit Kind auf dem Rücken:

Hier haben wir Berlin, der Kaiserhure

Die Fetzen vom Kartoffelbauch gerissen

Den Preußenflitter von der leeren Brust.

Die Kaiserhure war Proletenbraut

Für eine Nacht, nackt im Novemberschnee

Von Hunger aufgeschwemmt, vom Generalstreik

Gerüttelt, mit Proletenblut gewaschen.

Wir warteten im Schnee, der weiß wie nie kam

Der Nebel stieg, die Hand fror am Gewehr

Der Schnee fiel sieben Stunden ohne Aufhörn.

Die Bonzen saßen warm im Schloß, berieten.

Wir warteten im Schnee der weiß wie nie kam

Von keinem Rauch aus keinem Schlot geschwärzt.

Wir wurden weniger. In der achten Stunde

Schmiß der und jener sein Gewehr weg, ging.

Im Schloß die Bonzen ritten auf den Stühlen

Und stimmten Karl und Rosa an die Wand.

Wir schlugen die Gewehre an den Bordstein

Krochen zurück in unsre Mauerlöcher

Und rollten unsern Himmel wieder ein.

Der Präsident. Ein Arbeiter wie wir.

STIMME 1 Ein Arbeiter wie wir. Wo ist mein Schloß.

STIMME 2 Die kennen ihre eigne Mutter nicht mehr.

EINARM Viel laßt ihr euch gefalln.

MANN 1 Und nicht von jedem.

Pause.

EINARM Seid ihr noch Deutsche?

Pause.

MANN 2 Hast du einen Arm

Zu viel?

Pause.

EINARM Smolensk, Kamerad. Das nächste mal besser.

Pause.

MANN 3 Es ist der Kopf. Der hat einen Kopf zu viel.

MANN 2 Komischer Vogel.

MANN 1 Der sucht einen Käfig.

MANN 3 Glück muß man haben. Vogel, du hast Glück.

Da geht ein Käfig, der sucht einen Vogel.

Einarm ab. Staubmantel.

STAUBMANTEL Wo ist er hin.

MANN 1 Wer.

MANN 2 War hier jemand?

MANN 3 Niemand.

Staubmantel ab. Windjacken auf Fahrrädern.

WINDJACKE 1

Das macht sich breit. Fußgänger. Gibts was ohne?

MANN Staatsfeiertag. Sohn. Hast du was dagegen?

WINDJACKE 1 Was für ein Staat.

MANN 2 Nicht deiner.

WINDJACKE 2 Merkst du was

Von einem Staat hier?

Reißt eine Fahne ab und tanzt darauf. Zwei Staubmäntel.

MANN Die sind blau.

STAUBMÄNTEL reißen den Windjacken die Windjacken auf. Flugblätter fallen heraus: Davon.

Führen die Windjacken ab. Zwei Herren mit Koffern.

HERR 1 Hören Sie das Gras wachsen? Das ist die Steppe. Die Steppe kommt. Das kitzelt die Fußsohlen. Sehn Sie meine Schuhe: grün. Schnell, eh das Gras uns einholt.

Vorbei. Drei Huren. Ein Zuhälter.

ZUHÄLTER Die Straße voll Kunden. Warum arbeitet ihr nicht.

HURE 1 Staatsfeiertag, Süßer.

ZUHÄLTER Gefickt wird unter jeder Regierung.

HURE 2 Bei mir nicht mehr lange. Vorm Frühjahr spring ich ab.

Zuhälter will sie schlagen.

HURE 1 Polente.

Zuhälter ab. Die Huren lachen.

HURE 2 Den Dicken nehm ich noch aus. Eine Strumpffabrik in Sachsen. Lange macht er nicht mehr, hat schon dreimal die Volkskontrolle gehabt. Die Gemahlin wird auch renitent. Einen Nerz will ich noch herausschlagen.

HURE 3 höhnisch: Den will ich sehn.

HURE 1 Der Blonde vom Revier hat mir gesagt, er muß mich heiraten, wenn ich nicht bald von der Straße bin, damit er mich aus dem Bericht hat.

Singt: ES WAR EINMAL EIN TREUER HUSAR

HURE 3 Heiraten. Einen Bullen.

HURE 1 Der Blonde gefällt mir.

HURE 3 Das ist das letzte. Spuckt aus.

HURE 1 Du hast es nötig, auf dem Strich seit 71.

HURE 3 Aas.

HURE 1 Nach dir.

Prügeln sich. Polizist.

POLIZIST Streit, meine Damen?

HURE 3 Keine Spur, Herr Kommissar.

HURE 1 Sie müssen uns verwechselt haben.

HURE 2 Sinds die Augen, geh zu ANSORG.

Polizist ab.

HURE 3 Die sind überall. Ich geh zum Kudamm.

HURE 1 Die warten auf dich, du Skelett.

HURE 3 Die Fresse zerkratz ich dir.

Ein Polizist geht vorbei. Hure 3 und 2 gehn.

HURE 2 Gehst du nicht mit.

HURE 1 Ich bleib. Mir gefällts hier.

Hure 3 und 2 ab. Ein Betrunkener.

BETRUNKENER singt: WALDESLUST WALDESLUST

He, Puppe!

JUNGER MANN Laß die Frau los.

BETRUNKENER torkelt weiter:

O WIE EINSAM SCHLÄGT DIE BRUST

JUNGER MANN Gehn wir zusammen?

HURE 1 Heute ist Feiertag. Heut geh ich allein.

BRANDENBURGISCHES KONZERT 1

Manege. 2 Clowns.

CLOWN 1 Ich bin der König von Preußen. Ich habe mir ein Schloß gebaut in dieser schönen Gegend, weil sie mir gefällt und damit ich meinem Volk besser dienen kann, denn ich habe Hämorrhoiden und das Rheuma von den Kriegen, die ich führen mußte in Schlesien, Böhmen und Sachsen für die Ehre Preußens und die sehr berühmt sind.

CLOWN 2 Ich will auch König von Preußen sein.

CLOWN 1 Du bist der Müller von Potsdam.

CLOWN 2 Habe ich auch Hämorrhoiden.

CLOWN 1 groß: Hast du meine Schlachten geschlagen.

Clown 2 eingeschüchtert.

CLOWN 1 Deine Mühle steht neben meinem Schloß. Sie klappert den ganzen Tag. Da stört sie mich natürlich beim Regieren. Und beim Flötespielen, das ich sehr liebe und in dem ich ein Meister bin.

CLOWN 2 Mich stört sie nicht, ich kann auch Flöte spielen. Greift sich an die Hose.

CLOWN 1 Ich spiele nur ernste Musik. Ich kann mir natürlich in einer andern Gegend ein andres Schloß bauen. Schließlich bin ich der König von Preußen. Ich brauche zum Beispiel nur England zu erobern, was für mich eine Kleinigkeit wäre, wie du zugeben wirst, und ich kann mein Schloß in England bauen. Aber ich will es hier, in meinem lieben Preussen, in dieser Gegend, die mir so sehr gefällt.

CLOWN 2 Das ist meine Mühle. Ich lasse mir meine Mühle nicht wegnehmen. Wenn ich meine Mühle nicht behalten darf, spiele ich nicht mit.

CLOWN 1 Das ist gut. Ich habe mich nämlich entschlossen, gewissen Gerüchten entgegenzutreten, die meine Feinde über mich verbreitet haben, weil mein Ruhm sie nicht schlafen läßt, indem ich der Welt ein Beispiel gebe, denn ich spreche französisch und bin sehr aufgeklärt.

CLOWN 2 schlau: Wie kommt das Kind in den Bauch. Das ist einfach. Aber wie kommt es nicht in den Bauch.

CLOWN 1 Das ist eine philosophische Frage. Dafür habe ich jetzt keine Zeit. Ich bin der erste Diener meines Staates.

CLOWN 2 läßt die Hose herunter: Mein Staat ist größer als deiner. Machst du es mit der rechten oder mit der linken Hand.

CLOWN 1 Das geht dich gar nichts an. Zieh deine Hose wieder hoch oder ich rufe den Sprechstallmeister.

Clown 2 greift sich erschrocken an den Hintern und zieht schnell die Hose wieder hoch.

In der Politik verstehe ich keinen Spaß. Ich bin der erste Diener meines Staates.

Clown 2 lacht und hält sich erschrocken die Hand vor den Mund.

Darum, wenn es mir auch das Herz bricht, und es wird mir das Herz brechen, ich weiß es bestimmt, werde ich zu dir gehen, der König von Preußen zu dem Müller von Potsdam, und dir den Befehl geben, daß du deine Mühle anderswo aufstellen sollst, weil sie mich beim Regieren stört und beim Flötespielen. Aber du wirst dich nicht einschüchtern lassen, sondern mir entgegentreten als ein deutscher Mann und mir ins Gesicht sagen, daß du einen Gewerbeschein hast und eine Baugenehmigung und daß du deine Mühle nicht woanders aufstellen willst und wenn ich dreimal der König von Preußen bin, weil es noch Richter in Berlin gibt, und deine Mühle wird stehen bleiben neben meinem Schloß, obwohl sie den ganzen Tag klappert und meine Regierung stört, für die ich die äußerste Konzentration brauche, weil ich alles allein machen muß, denn in Preußen pißt kein Hund ohne meine ausdrückliche Erlaubnis und ich bin ein Tierfreund, sowie mein Flötenspiel, das ich sehr liebe und in dem ich ein Meister bin, aber ein König ist kein Mensch, sondern der erste Diener seines Staates, Clown 2 lacht und hält sich erschrocken die Hand vor den Mund: und wenn es ihm das Herz bricht, und es wird mir das Herz brechen, ich weiß es bestimmt. Weint. Hast du dir alles gemerkt.

CLOWN 2 Der Löwe.

Ein Löwe tritt auf. Clown 2 hängt sich an ein Trapez, das vom Schnürboden herunterkommt. Clown 1 hängt sich an Clown 2 und klettert an ihm hoch. Clown 2 ist kitzlig und läßt, von Lachkrämpfen geschüttelt, das Trapez los. Sie fallen auf den Löwen, der in zwei Teile zerbricht, die nach verschiedenen Seiten abgehn. Das Trapez verschwindet im Schnürboden.

CLOWN 1 Jetzt haben wir den Löwen kaputt gemacht.

CLOWN 2 Du hast den Löwen kaputt gemacht.

CLOWN 1 Du hast losgelassen.

CLOWN 2 Weil du mich gekitzelt hast.

Pause. Clown 1 denkt.

CLOWN 1 Wir sagen einfach, der Löwe war nicht hier.

CLOWN 2 Sie werden uns nicht glauben.

Pause. Clown 1 denkt.

CLOWN 1 Wir sagen, es gibt gar keine Löwen.

CLOWN 2 Ja, das ist gut.

CLOWN 1 Jetzt fangen wir an.

CLOWN 2 Und wo ist meine Mühle.

CLOWN 1 Du mußt sie dir eben vorstellen. Ich muß mir mein Schloß auch vorstellen. Hast du keine Fantasie.

CLOWN 2 Nein. Ich weiß, wie ich es mache. Ich werde den Müller spielen und die Mühle.

CLOWN 1 Das gilt nicht. Eine Mühle kann jeder spielen, aber wie soll ich mein Schloß spielen. Ein Schloß kann man sich nur vorstellen.

CLOWN 2 Dafür ist es auch viel schöner.

CLOWN 1 strahlt: Ja, das ist wahr.

Auftritt Direktor mit Peitsche.

DIREKTOR Was habt ihr mit dem Löwen gemacht.

Clown 2 stellt sich hinter Clown 1.

CLOWN 1 UND 2 Es gibt keine Löwen.

Dem Direktor fällt die Kinnlade herunter. Er hebt sie auf und geht, sich scheu umblickend, ab.

CLOWN 1 Jetzt fangen wir an. Zuerst kommt das Regieren. Wo ist mein Stuhl.

Stuhl vom Schnürboden, Clown 1 will sich setzen, Clown 2 schleicht sich hinter ihn, zieht den Stuhl weg, Clown 1 setzt sich nicht, richtet sich wieder auf.

Halt. Wir haben etwas vergessen. Mein Windspiel. Ohne mein Windspiel kann ich nicht regieren.

CLOWN 2 Dein Windspiel?

CLOWN 1 Ja. Wo ist mein Windspiel.

Hund vom Schnürboden.

CLOWN 2 Haha. Das soll ein Windspiel sein. Das ist ja ein Hund.

CLOWN 1 streng: Ein Windspiel ist ein Hund. Der Stuhl steht zu weit hinten.

CLOWN 2 Du stehst zu weit vorn.

CLOWN 1 Ja. Der Stuhl steht zu weit hinten und ich stehe zu weit vorn.

CLOWN 2 Ich weiß, was wir machen. Du gehst nach hinten und ich trage den Stuhl nach vorn.

CLOWN 1 Ja, das ist gut.

Sie tun es.

Jetzt steht der Stuhl zu weit vorn und ich stehe zu weit hinten.

CLOWN 2 Wir haben es falsch gemacht. Ich muß den Stuhl nach hinten tragen und du mußt nach vorn gehen.

CLOWN 1 Ja.

Der Stuhl verschwindet im Schnürboden.

CLOWN 1 Der Stuhl ist weg.

CLOWN 2 Ja, ich sehe ihn auch nicht mehr.

CLOWN 1 Ich werde mich auf dich setzen, du bist mein

Stuhl.

CLOWN 2 Und wer ist die Mühle.

CLOWN 1 Eins nach dem andern.

Clown 2 läßt sich auf Hände und Knie nieder, Clown 1 setzt sich auf ihn.

Jetzt regiere ich, und du mußt klappern.

Clown 2 steht auf, Clown 1 fällt um.

Du kannst nicht einfach aufstehn, während ich regiere.

CLOWN 2 Jetzt bin ich die Mühle. Du mußt dir den Stuhl eben vorstellen.

CLOWN 1 Ja. Clown 1 setzt sich in die Luft.

CLOWN 2 ES KLAPPERT DIE MÜHLE AM RAUSCHENDEN BACH KLIPP KLAPP KLIPP KLAPP KLIPP KLAPP

CLOWN 1 Länger kann ich mir den Stuhl nicht vorstellen.

CLOWN 2 Warum regierst du nicht im Stehen.

CLOWN 1 Das geht nicht. Ich glaube, ich höre auf mit dem Regieren. Es ist zu schwer. Wir machen jetzt das Flötenspiel.

CLOWN 2 Spielen wir mit meiner Flöte oder spielen wir mit deiner Flöte. Ich weiß, wie wir es machen: Du spielst mit meiner Flöte und ich spiele mit deiner Flöte.

CLOWN 1 Du hast keine Flöte, du bist der Müller von Potsdam. Fang an.

CLOWN 2 Ich bin der Müller von Potsdam. Der König von Preußen ist mein Nachbar. Meine Mühle steht neben seinem Schloß. Ich habe gehört, daß meine Mühle den König von Preußen beim Regieren stört und beim Flötespielen, weil sie den ganzen Tag klappert, und er will zu mir kommen, der König von Preußen zu dem Müller von Potsdam, und mir den Befehl geben, daß ich meine Mühle Clown 1 applaudiert. Clown 1 applaudiert. Clown 1 applaudiert. Clown 1 applaudiert.