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Uwe Voehl, Jahrgang 1959, ist Schriftsteller, Herausgeber und Werbetexter, der hauptsächlich – teilweise unter Pseudonym – Werke des Krimi-Genres und der Phantastik veröffentlicht. Er lebt in Bad Salzuflen. Seit 2014 ist Uwe Voehl als Redakteur für die Reihe Cotton Reloaded verantwortlich, ein Remake der erfolgreichen Kriminalromanreihe Jerry Cotton. Seit 2017 betreut Uwe Voehl die Romanserie Professor Zamorra. Für seine Erzählungen und Kurzgeschichten erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Sternenkinder erhielt 2007 den UTOPIA-Literatur-Preis, verliehen von dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der Aktion Mensch.

Uwe Voehl

Der Kuss der Medusa

SCHWARZE EIFEL

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© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: info@kbv-verlag.de
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln
eISBN 978-3-95441-503-8

And I’m going down, all the way!
I’m on the highway to hell …

AC/DC

Inhalt

I. Erweckung

II. Anbetung

III. Verdammnis

IV. Auferstehung

I. Erweckung

Brigitte sah einfach umwerfend aus. Sie saß im Schneidersitz auf dem Kies, nur einen Meter von mir entfernt. Zum ersten Mal konnte ich sie völlig ungeniert betrachten – wenn auch nur von hinten. Ihre wilde, rote Haarmähne leuchtete, weil die Flammen des Lagerfeuers darin tanzten.

Ihre Haare waren es, die mich von Anfang an fasziniert hatten. Sie waren fein wie gesponnene Seide und in ständiger Bewegung, als würde der Wind sanft über sie streichen. In Wahrheit waren sie wohl so filigran, dass sie jede noch so kleine Regung ihrer Trägerin mitvollzogen.

Brigitte summte vor sich hin. Ich kannte die Melodie nicht. Aber sie hörte sich sehr sinnlich an. Vor allem aus Brigittes Mund.

Mein Blick wanderte weiter hinab, ihren schlanken Hals entlang, der leicht gebräunt war und auf dem kurze, helle Härchen wuchsen. Ein kleines Muttermal setzte sich deutlich von ihrer Haut ab. Ich verliebte mich sofort in dieses Muttermal, das ich immer und immer wieder mit meinen Gedanken einkreiste.

Ihre Schulterblätter zeichneten sich unter ihrem engen Shirt deutlich ab. Ebenso deutlich war zu sehen, dass sie keinen BH trug. Nicht wie die anderen Mädchen …

Ich stellte mir vor, wie ich näher rückte und wie selbstverständlich einen Arm um diese schmalen Schultern legte. Wie sie sich an mich schmiegte und wir gemeinsam der Musik lauschten, die aus Axels nagelneuem Blaupunkt-Cassettenrecorder dröhnte.

T-Rex. Da wurden alle Mädchen schwach, wenn Marc Bolans hypnotische Samtstimme sie umschmeichelte. Von Axel hatte ich gehört, dass Brigitte in Marc Bolan verknallt war und dass sie sich deshalb immer diese Glitzer-Tattoos aus der BRAVO auf die Wangen klebte.

Das, was ich am liebsten gesehen hätte, konnte ich leider nicht erkennen: ihre unendlich langen, wohlgeformten Beine. Sie trug heute Abend wieder ihre grünen Hot Pants, die ihr sicher eine Nummer zu klein waren, was sie für mich nur noch interessanter machte.

Es war so verdammt frustrierend. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie flüchtig das Glück sein kann. Ich musste nur den Arm ausstrecken, um es zu berühren. Aber ich wagte es nicht. Wahrscheinlich würde sie gleich aufstehen, und ich hatte die Chance wieder mal verpasst. Wie bisher jedes Mal in diesem viel zu kurzen Sommer …

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Es waren noch sechs Tage bis zu meinem vierzigsten Geburtstag. Etwas war anders als in den Nächten zuvor. Ich lauschte. Der Wind pfiff ums Haus. Genau wie schon in den vergangenen Nächten. Die Balken des uralten Hauses ächzten, vor allen Dingen im Dachstuhl. Doch auch daran hatte ich mich längst gewöhnt. Es war stockdunkel. So dunkel, dass farbige Schatten vor meinen Augen tanzten, weil ich sie zu angestrengt aufriss. Meine Finger tasteten sich zur Nachttischlampe, doch ich zögerte. Neben mir hörte ich Hannas ruhige, gleichmäßige Atemzüge. Sie schlief tief und fest. Aus irgendeinem Grunde wollte ich nicht, dass sie etwas mitbekam. Doch auch dieser Gedanke löste bei mir gleich wieder eine Flut neuer Gedanken aus. Wovon sollte Hanna nichts mitbekommen? Wovor hatte ich Angst? Schließlich und endlich bestand nur die Gefahr, mich lächerlich zu machen.

Ein weiteres Mal, dachte ich.

Die Leuchtdioden des Weckers standen auf 23.23 Uhr. Genau wie in der letzten Nacht. Ich glaubte nicht an Zufälle. Wohl aber an die untrügliche Macht des Unterbewusstseins. Wahrscheinlich hatte es mich exakt wieder um diese Zeit geweckt, damit ich meinen Reinfall der letzten Nacht wettmachen konnte. Ich entschloss mich, Hanna schlafen zu lassen. Schon, damit wenigstens sie sich keine Sorgen machte.

Langsam lüftete ich die Bettdecke. Das Lattenrost knarrte kaum. Das Bett war neu. Meine nackten Füße berührten die kalten Holzdielen. Ich glaubte sogar, die einzelnen Vertiefungen darin spüren zu können. Wenn Hanna jetzt aufwachte, würde ich behaupten, zur Toilette zu müssen. Und wenn ich ehrlich war, ich hätte noch immer nicht sagen können, was mich wirklich umhertrieb.

Während ich mich behutsam vorwärtsbewegte, lauschte ich auf Hannas Atem. Unwillkürlich atmete ich in dem gleichen Rhythmus wie sie. Ein. Und aus. Und wieder ein … Dabei hatte ich das Gefühl, dass auch der Wind in unseren Takt einfiel. Sich erhob. Und wieder verebbte. Sich erhob … und verebbte. Irgendetwas störte mich selbst daran. Auch dies, sicherlich nicht mehr als ein Zufall, ließ merkwürdige Assoziationen in mir auferstehen. Das Auf und Ab des Windes erschien mir wie ein Voyeur oder ein lästiger Besucher, der sich zwischen Hanna und mich zu drängen versuchte.

Ich hielt den Atem an. Der Wind schwieg.

Auch Hannas Atem hatte für einen Moment ausgesetzt. Im Schlaf drehte sie sich im Bett herum. Sie murmelte etwas, wahrscheinlich im Traum. Es klang wie »weit weg«. Das konnte ich nur unterstreichen. Wir waren weit weg. Der nächste Nachbar wohnte einen Kilometer weit entfernt. Die Straße, die zu ihm führte, schlängelte sich an unserem Haus vorbei und führte noch tiefer in den Wald hinein. Auch rechts und links befanden sich nur Wälder. Nur nach Süden hin ging es schroff den Fels hinab. Unter unseren Füßen lag Mürlenbach.

Ich wartete, bis Hannas Atem wieder eingesetzt hatte. Obwohl ich noch immer nichts erkennen konnte, wusste ich ungefähr, wo ich mich befand. Ich tastete mich weiter vorwärts, und meine Finger bekamen die Tür zu fassen. Rasch ertastete ich die Klinke, drückte sie hinunter und öffnete die Tür nach innen. Die Scharniere waren gut geölt. Auch sie gaben keinen Laut von sich. Draußen auf dem Korridor schloss ich die Tür hinter mir. Ich atmete auf und spürte mein Herz klopfen. Der Wind war nicht mehr zu hören. Sogar das Knarren im Gebälk war verstummt. Wieder hatte ich das Gefühl, als würde das, was auf mich wartete, nur den Atem anhalten. Mehr noch als zuvor fühlte ich mich belauert.

Ich machte Licht.

Augenblicklich fühlte ich mich wohler. Der Korridor lag in seiner vertrauten Art vor mir. Keine wispernden Schatten, keine Gespenster. Wenn das so weiterging, würde ich noch beim Nervenarzt landen. Vielleicht lag es einfach daran, dass ich bald vierzig wurde. Unwillkürlich musste ich grinsen. Vierzig! Es hatte tatsächlich Momente im letzten Jahr gegeben, da hatte ich es mir auf grausamste Art ausgemalt, vierzig zu werden. Die Schwelle, die in meinen Augen endgültig die Tür zum Altenheim öffnete. Wenigstens hatte ich früher so gedacht. Doch je näher der Zeitpunkt rückte, desto entspannter wurde ich. Vielleicht lag es auch an Hanna. Mehr als einmal, wenn ich auf meine Ängste zu sprechen kam, hatte sie mir zu verstehen gegeben, dass sie auf alte Knacker wie mich stand. Hanna war dreiundzwanzig und bildschön. Ich konnte verstehen, dass die Männer sie vor zwei Jahren zur Miss Eifel gewählt hatten. Dabei hatte ich das Gefühl, dass sie mit jedem Jahr noch begehrenswerter wurde.

Ich konzentrierte meine Gedanken wieder auf die Gegenwart. Eigentlich hätte ich mich nun umwenden und wieder zurück ins Schlafzimmer gehen können. Der Gedanke, mich an Hannas schlafwarmen Körper zu kuscheln, war verlockend. Aber ich wusste, dass ich dann noch immer nicht würde schlafen können. So einfach ließen sich die Schatten nicht bändigen.

Ich ging die gewundene Treppe hinab und durch das Wohnzimmer in die Küche. Auch dort knipste ich zuerst das Licht an. Im Gegensatz zu den anderen Räumen erstrahlte hier helles, klinisches Neonlicht von den Röhren unter der Decke. Bisher hatte ich es als praktisch empfunden, doch in dieser Nacht trug es zu meiner Beunruhigung bei. Die Ecken, in die es nicht reichte, waren ebenfalls mit Schatten gefüllt, doch anders als bei normalem Licht, wenn selbst den Schatten etwas Wärme innelag, wirkten diese kalt und ihre Konturen wie mit dem Seziermesser geschnitten. Ich nahm mir vor, gleich am nächsten Tag in den Baumarkt zu fahren und für ein anderes Licht zu sorgen. Warum war uns das nicht vorher schon aufgefallen? Wahrscheinlich, weil wir bisher nicht viel Zeit in der Küche verbracht hatten. Sie war der einzige Raum, den wir weitgehend von den Vorbesitzern übernommen hatten. Bei Tageslicht wirkte die Küche sogar recht wohnlich. Die schwarz-weißen Kacheln, der riesige Kohlenofen und die altertümlich wirkenden, weißen Emaille-Waschbecken erinnerten an eine Zeit, in der wahrscheinlich noch Personal auf diesem Anwesen gelebt und für die Großgrundbesitzer gekocht hatte.

Hanna und ich hatten bisher kaum Zeit zum Kochen gehabt. Unsere ganze Energie hatten wir in den letzten Monaten darauf verwandt, dieses Gebäude halbwegs wieder bewohnbar zu machen. Und abends waren wir meist so kaputt gewesen, dass es höchstens für den Pizzadienst oder für einen Besuch in der Dorfkneipe gereicht hatte. Zumal Hanna sowieso nicht gerade eine leidenschaftliche Köchin war. Dafür hatte sie andere Vorzüge. Sie konnte Tapeten anbringen, streichen und sogar Kabel verlegen und Lampen anschließen.

Das kalte, neongrelle Licht spiegelte sich in den Fensterscheiben, die dadurch noch schwärzer wirkten – wie pechschwarze Spiegel, in die man versinkt, wenn man sie zu lange betrachtet. Gleichzeitig hatte ich das unbehagliche Gefühl, dass etwas mich daraus anstarrte. Etwas, das sich im Schutze der Dunkelheit verbarg. Ich musste wieder an das Geräusch denken, von dem ich geweckt worden war.

Ich zwang mich, die Fenster zu ignorieren. Sie lagen ebenerdig, und in dieser Nacht war ich zum ersten Mal froh darüber, dass sie mit starken Gitterstäben gegen mögliche Einbrüche gesichert waren. Auch dies hatte der Vorbesitzer veranlasst; das wäre uns wahrscheinlich nicht in den Sinn gekommen.

Ich selbst neigte dazu, sämtliche Gefahren der Welt als übertrieben zu betrachten – solange sie mich nicht selbst tangierten. Ich war in Köln geboren, aufgewachsen und hatte dort fast vierzig Jahre gelebt. Außer an den Karnevalstagen war ich nie in irgendwelche Auseinandersetzungen verwickelt gewesen. Von Einbrüchen hatte ich nur von Bekannten gehört. Ich hatte mich bisher ziemlich aufgehoben und sicher gefühlt. Um wie viel sicherer würde es da erst in der Eifel sein, hatte ich gedacht. Hanna, die in jeder Hinsicht noch weit sorgloser war als ich, hatte sogar gewitzelt, dass die häufigsten Verbrechen hier wahrscheinlich Wilddieberei und Schwarzbrennerei seien. Es war leicht, bei Tage darüber Späße zu machen. Jetzt befand ich mich in meiner eigenen Küche, es war 23.27 Uhr in der Nacht, und die nächste Polizeistation gab es wahrscheinlich erst in Gerolstein.

Ich versuchte mich zu beruhigen. So langsam ging mir meine eigene Ängstlichkeit auf die Nerven. Wenn sich dort draußen irgendjemand herumtrieb, so hieß das nicht, dass auch irgendeine Gefahr von ihm ausging. Doch während ich zum Kühlschrank schlich und eine Afri-Cola herausholte, musste ich mir eingestehen, dass es das nicht war: Es waren keine realen Ängste, die mich aus dem Bett getrieben hatten. Nach wie vor fand ich den Gedanken, dass dort draußen möglicherweise Einbrecher herumschlichen, lächerlich.

Es war etwas anderes, und es hatte etwas mit mir zu tun.

Als ich in den Schubladen nach dem Flaschenöffner suchte, setzte unvermittelt der Wind wieder ein. Ich zuckte zusammen, so unverhofft begannen die Geräusche abermals ihr nächtliches Konzert. Irgendein loses Brett klapperte, der Wind pfiff und heulte, das Gebäude ächzte erneut und erinnerte an einen asthmakranken, alten Mann. Aber das alles war es nicht, was mich wie schon in der letzten Nacht aufgeweckt hatte. Es war etwas anderes – und jetzt vernahm ich es erneut. Und das Schlimmste war: Obwohl ich genau wusste, dass ich dieses Geräusch kannte, wusste ich es weder einzuordnen noch zu bestimmen. Vielleicht war es auch einfach zu leise oder zu weit weg. Doch es war laut genug, dass ich glaubte, die Haut auf meinem Rücken würde sich plötzlich in eine hauchdünne Eisschicht verwandeln. Es hörte sich an, als würde jemand summen. Eine Frauenstimme. Doch der Wind schien die Melodie wie ein Wirbel aus tanzenden Messern zu zerhacken. Meine überreizten Gehörgänge gaukelten mir vor, dass das Summen im nächsten Moment wie das eines Mannes klang, dann wieder wie die Schreie eines Babys. Konnte das sein? Lag dort draußen vielleicht irgendwo ein Säugling? Man hörte und las ja öfters davon. Zumindest in Köln. Aber meistens wurden die Neugeborenen von ihren Müttern vor irgendwelchen Krankenhäusern oder Krippen abgelegt und nicht vor einem Wohnhaus in der tiefsten Vulkaneifel. Dennoch, ich wusste, dass ich nicht wieder würde einschlafen können, bevor ich mich davon überzeugt hatte, dass ich mich irrte.

Vielleicht war es Zufall, aber im dem Augenblick, da ich den Entschluss fasste, draußen nachzusehen, bekamen meine noch immer nach dem Flaschenöffner tastenden Finger den Knauf eines Messers zu fassen. Es gab viele Messer in den unzähligen Schubladen. Und die meisten gehörten ebenfalls dem Vorbesitzer.

Ich zog es hervor. Der Knauf war abgegriffen und zeugte von unzähligen Einsätzen. Doch die Klinge schien nagelneu. Sie war so scharf, als sei sie gerade erst geschliffen worden und funkelte im Neonlicht gleißend auf. Das Irritierende an ihr waren jedoch die rotbraunen Flecken. Es handelte sich nicht um Rost. Vielmehr erinnerten sie an Blut. Sie waren längst getrocknet, wahrscheinlich schon mindestens ein Jahr alt, aber nichtsdestoweniger ließ meine Entdeckung die Eisschicht auf meinem Rücken dicker werden. Ich verzichtete darauf, weiter nach dem Öffner zu suchen. Stattdessen packte ich das Messer fester. Ich drehte mich um. Einen Moment lang glaubte ich, dass ein Schatten in eine der Ecken flüchtete. Und wieder schwor ich mir, die Neonröhren gleich am nächsten Tag auszuwechseln.

Das Messer fühlte sich gut an in meiner Hand. Ich war froh, dass Hanna schlief. Wenn sie mich sehen könnte, würde das, was mir allein selbstverständlich erschien, nur lächerlich wirken. Aber war nicht die Lächerlichkeit der Anfang der Schutzlosigkeit? Nur weil wir annahmen, dass es keine Gefahren gab, mochten doch welche über unser Leben entscheiden. – Fünf Minuten zuvor hatte ich noch ganz anders darüber gedacht.

Um nach draußen zu gelangen, musste ich noch nicht einmal zurück ins Wohnzimmer und durch den Korridor. Von der Küche aus führte eine kleine Tür in den Kräutergarten. Als wir das erste Mal die Küche inspiziert hatten, war uns gleich der muffige Geruch aufgefallen. Wir hatten die Tür zum Garten geöffnet und den ganzen Tag für Durchzug gesorgt. Der Kräutergarten selbst war uns nur eine kurze Begutachtung wert gewesen. Ich erinnerte mich an Hannas Begeisterung: »Tollkirsche, Stechapfel, ich glaub es nicht! Hier wächst sogar Bilsenkraut! Das ist kein Kräutergarten, das ist ein Hexengarten!«

»Seit wann kennst du dich denn damit so gut aus?«

»Tja, ich habe noch längst nicht alle Facetten meiner Persönlichkeit vor dir enthüllt«, hatte Hanna lächelnd erwidert. Dabei war sie rot geworden. Als hätte ich sie bei einer peinlichen Handlung erwischt. »Jedenfalls werde ich mir den Garten in Ruhe vornehmen, wenn wir erst mit dem Haus fertig sind.«

»Und was willst du dann machen? Hexenkräuter und -salben daraus herstellen und vertreiben?«

»Wer weiß? Vielleicht brauche ich es ja, um dich zu verhexen?«

Ein paar Tage später hatte Hanna mir beiläufig am Frühstückstisch erzählt, dass sie sich tatsächlich als Jugendliche für Hexenkräuter interessiert hatte. Es war in ihrer sogenannten »Gothic-Phase« gewesen. Außer einigen Rauschzuständen hatten sie jedoch nichts weiter bewirkt, und Hanna hatte bald die Finger davon gelassen. Dennoch hatte sie sich ihr Faible für, in meinen Augen, esoterischen Unsinn bewahrt.

Die Tür zum Hexengarten hatten wir seitdem nicht wieder geöffnet. Wir hatten einen Handwerker damit beauftragt, ein sicheres Schloss einzubauen und einen Riegel anzubringen. Wegen der Versicherung.

Meine Gedanken kamen zurück in die Gegenwart. Der Schlüssel zur Tür hing an einem Nagel rechts daneben. Ich ergriff ihn. Es war ein schmaler, silberner Schlüssel an einem Lederbändchen, und das Schloss, zu dem er gehörte, ein spezielles Sicherheitsschloss. Warum nicht?, dachte ich. Was sprach dagegen, mitten in der Nacht auszuprobieren, ob der Schlosser auch gute Arbeit geleistet hatte? Ich legte den Riegel um, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn zweimal herum. Dann stieß ich die Tür nach außen auf und ließ die Nacht herein.

Der Wind schlug mir so heftig entgegen, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich ihm endlich Einlass gewährte. Er kam mir nicht wie ein Naturereignis vor, sondern tatsächlich wie eine stoffliche Erscheinung. Ich hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Er zerteilte sich, raste links und rechts an mir vorbei und stieß irgendetwas in der Küche um.

Ich stolperte vorwärts. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie unvorbereitet ich war. Der holprige Boden war feucht und nachgiebig. Meine Hausschuhe versanken im Matsch. Viel schlimmer aber war, dass ich nichts sah. Es war stockdunkel hier draußen. Und zum ersten Mal erlebte ich, was Dunkelheit in der Eifel wirklich bedeutete.

Ich tappte blind vorwärts, immer an der Hausmauer entlang. Der Wind heulte und schrie, die lose Latte schlug den Takt dazu. Vor meinen Augen entstand ein Orchester aus lauter Skeletten, die auf schauerlichen Instrumenten den Lärm erzeugten. Und wieder war inmitten des Lärms diese Melodie zu hören. Vielleicht war sie auch nur in meinem Kopf. Die anderen Geräusche waren so laut, dass ich nicht hätte schwören können, dass ich da tatsächlich etwas hörte.

Ich überlegte, ob ich nicht wieder reingehen und eine Taschenlampe holen sollte, als die Außenbeleuchtung anging. Ich atmete einmal tief durch. Ich hatte den Hof erreicht, und der Bewegungsmelder hatte die Lichter anspringen lassen.

Ich schaute mich um. Hier war nichts, was irgendwie verdächtig aussah. Das holprige Pflaster des Hofs war mir inzwischen vertraut. Ebenso wie die Ruinenmauern vis-à-vis, die unser Grundstück begrenzten. Rechts befand sich das Seitenschiff, das ebenfalls mehr einer Ruine glich. Wir hatten noch nicht entschieden, was wir damit anstellen würden. Es abzureißen verbot die Denkmalbehörde. Daraus Gästezimmer zu machen, wie es Hanna vorschwebte, würde ein Vermögen kosten. Also hatten wir es erst mal so gelassen, wie es war. Gleich dahinter ging es steil hinunter nach Mürlenbach.

Ich schaute nach links. Wenigstens diese Mauer hatten wir inzwischen instandgesetzt. Die aus Bruchsteinen errichtete Abgrenzung war mannshoch. Ein Torbogen führte nach draußen. Die Holzpforte stand offen, wie immer. Sie führte zum angrenzenden Weg.

Es gab mehrere Gründe, warum wir kein Schloss anbrachten. Zum einen mochten es weder Hanna noch ich, uns zu verbarrikadieren. Also war die Tür zum Hof immer geöffnet. Außerdem hatte uns ein Herr Kehlmann von der Denkmalbehörde zu verstehen gegeben, dass das Anwesen durchaus auch Allgemeinbesitz war – zumindest was den Hof anging. Und dass es nur in unserem Interesse sein konnte, etwaigen Besuchern die Tür nicht zu verschließen. Da wir mit nicht unerheblichen Zuschüssen rechneten, hatten wir eingewilligt. Aber bisher hatte sich nicht ein Tourist oder Geschichtsprofessor hier blicken lassen.

Langsam bewegte ich mich auf das Tor zu. Zum ersten Mal, seitdem ich hier wohnte, störte es mich, dass es geöffnet war. Es schien, als ob der Wind mit jedem Schritt, den ich mich dem Tor näherte, an Heftigkeit zunahm. Er zog und zerrte an meinem Schlafanzug, die eiskalte Luft schlug mir schneidend ins Gesicht. Wieder dachte ich an Hanna und wie wunderbar es wäre, ihren warmen Körper zu spüren …

Ich hatte die Tür fast erreicht, als sie mit einem heftigen Stoß von selbst zuflog. Rasch trat ich hinzu und drehte den altertümlichen Schlüssel, der seit eh und je in dem Schloss steckte. Ich wunderte mich, dass dies so ohne Weiteres ging. Insgeheim hatte ich damit gerechnet, dass ich auf Widerstand stoßen würde.

Der Wind war plötzlich verebbt. Von einem Moment zum anderen, sodass ich mir fast schon einbildete, ihn tatsächlich ausgesperrt zu haben.

Dafür war nun das andere Geräusch umso deutlicher zu hören. Mmmmmhmmmhmmmm … Das melodische, auf und ab schwellende Summen trug einen melancholischen Unterton mit sich, eine unstillbare Sehnsucht. Zumindest klang es nicht wie ein Kind oder Säugling.

Ich drehte mich um und folgte dem Laut. Er kam eindeutig von rechts, aus dem unrestaurierten Teil.

Vielleicht waren es ja irgendwelche Jugendliche oder Obdachlose, die dort herumlungerten …

Ich überquerte den Hof, dabei sah ich, dass oben im ersten Stock das Licht anging. Hanna! Wahrscheinlich würde sie sich wundern, wo ich steckte!

Dennoch, ich musste endlich wissen, was hier vorging. In der vorherigen Nacht hatte ich das Geräusch ebenfalls gehört. Ich hatte es bis zur Tür geschafft, als Hanna aufgeschreckt war. Da sie im Gegensatz zu mir nichts gehört hatte, war auch ich schließlich überzeugt gewesen, nur geträumt zu haben.

Und auch jetzt konnte es sein, dass mich jeden Moment Hanna zwicken und ich aus einem Traum erwachen würde.

Das ist doch auch Unsinn!, sagte ich mir. Selbst wenn sich ein paar Jugendliche hier hochgequält und vor dem Sturm in den Ruinen Zuflucht gesucht hatten: Warum sollte einer von ihnen plötzlich anfangen zu summen? Damit ich aufwachte und sie vergraulte? Und warum hatte ich dann dasselbe Geräusch schon nachts zuvor gehört? Bei Tage hatte ich hier nie jemanden gesehen, auch hatte ich bislang keine Spuren entdeckt, die darauf schließen ließen, dass sich außer uns jemand hier häuslich eingerichtet hatte – noch nicht einmal vorübergehend.

Dennoch, ich folgte dem Summen. Das Messer hielt ich nach wie vor umfasst.

Als ich das Nebengebäude erreichte, fuhr ich zusammen. Die Tür öffnete sich knarrend. Wie von Geisterhand.

Natürlich war das nur wieder der verfluchte Sturm!

Misstrauisch spähte ich in die Dunkelheit hinein. Sie war noch umfassender als hier draußen, so als wäre jegliche Erinnerung an einen Sonnenstrahl auf immer verschluckt worden. Nein, dachte ich plötzlich, ich würde dort nicht hineingehen! Es war verrückt, es war unsinnig, aber dennoch würde mich keine Macht der Welt in dieser Nacht dazu bewegen können, noch einen weiteren Schritt vorwärts zu machen.

Das Geräusch verstummte.

Der Sturm war plötzlich wieder zu hören.

In der Dunkelheit vor mir bewegte sich etwas. Ein Schatten …

»Malte!«

Ich wankte zurück. Jemand ergriff von hinten meine Schulter, hielt mich fest. Ich schlug um mich, bis ein erneuter Schrei mich innehalten ließ.

»Mein Gott, was machst du mit dem Messer? Was hast du vor? Was stehst du hier mitten in der Nacht auf dem Hof?«

Mein Blick klärte sich. Es war Hanna. Der Wind zerrte an ihrem weißen, halbtransparenten Nachthemd, unter dem sich ihr Körper abzeichnete. Ihr kastanienbraunes Haar wurde vom Sturm zerzaust und erinnerte an unzählige, winzige Schlangen, die sich in Bewegung befanden. In diesem Moment kam sie mir vor wie eine Windgöttin oder eine andere mystische Erscheinung. Wahrscheinlich starrte ich sie entsprechend verwirrt an, denn sie wiederholte ihre letzte Frage.

»Das Geräusch«, stammelte ich. »Dieses Summen … Hast du es denn nicht gehört?«

»Sprichst du von dem Geräusch, dass du angeblich auch in der letzten Nacht gehört hast?«, fragte Hanna misstrauisch.

Ich nickte. Und ich wusste, dass sie mir nicht glaubte.

»Das Messer!«, beharrte sie. »Was wolltest du mit dem Messer?«

Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte ich auch sagen?

»Gib es lieber mir«, verlangte sie.

Ich lächelte. »Fürchtest du, ich bin irgendwie – nicht ganz richtig im Kopf? Du brauchst keine Angst zu haben.«

»Ich habe keine Angst um mich. Ich habe Angst um dich«, antwortete Hanna. »Wie wär’s, wenn wir einfach wieder ins Haus gehen?«

Ich nickte. Wahrscheinlich hatte sie recht. Es gab nichts, was ich in dieser Nacht noch herausfinden wollte.

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Als ich erwachte, war Hanna bereits aufgestanden. Im Zimmer war es hell. Zwar schien keine Sonne, das kam hier in der Eifel selten genug vor, aber zumindest war der Himmel etwas freundlicher als am Tag zuvor. Von meinem Bett aus konnte ich sogar ein Stück Blau erhaschen.

Ich stand auf, schlüpfte in meine Hausschuhe und bemerkte, dass sie noch nass waren. Ich schaute hinab. Sie waren noch immer von Schlamm beschmutzt. Natürlich, wer hätte sie auch inzwischen säubern sollen? Personal hatten wir keines – nur uns selbst.

Ich zog die Hausschuhe wieder aus, warf mir einen Bademantel über und ging auf nackten Sohlen hinunter. Ich brauchte dabei nur dem verführerischen Duft zu folgen. Als ich die Küche betrat, hantierte Hanna gerade am Herd und wendete den Speck. Als sie mich hörte, drehte sie sich um und lächelte mich an.

Im Gegensatz zu mir hatte sie sich bereits fertig gemacht und angezogen. Ihr Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebändigt, sodass ihre klassischen Gesichtszüge noch besser zur Geltung kamen. Ich spürte einen kleinen Stich, als mir abermals bewusst wurde, welches Glück ich hatte. Sie war so jung, so schön, so voller Lebensfreude. Und das alles schenkte sie mir, wobei ich mich nicht zum ersten Mal fragte, ob ich das wirklich verdient hatte.

»Na, hast du deine Träume verdaut?«, fragte sie. Im Gegensatz zur letzten Nacht erkannte ich keine Besorgnis mehr in ihrer Stimme. »Ich habe dich ausschlafen lassen, damit du ausgeruht bist.«

Ich trat zu ihr und gab ihr einen Kuss. Dabei blinzelte ich über ihre Schulter hinweg in die Pfanne. Mir lief bereits das Wasser im Mund zusammen. »Ich bin froh, dass du mich nicht gleich in die Klapsmühle schicken willst«, sagte ich. »Ich weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist. Ich glaubte, draußen so ein Summen zu hören – also bin ich nachsehen gegangen.« Mir wurde bewusst, wie lächerlich sich das bei Tageslicht anhörte.

»Ein Summen, aha«, sagte Hanna. »Wie wär’s mit Kaffee?«

Ich nickte und ließ es mir gefallen, dass sie mich bediente.

»Ich glaube, dass du geträumt hast«, erklärte sie. »Dazu kam der Sturm. Ich bin ja selbst von ihm wach geworden. Nur das Messer macht mir Sorge. Du hättest wer weiß was damit anstellen können.«

Ich sah sie schräg von unten an. »Das ist Quatsch«, sagte ich. »Ich danke dir für deine Fürsorge, aber ein Amokläufer steckt nun wirklich nicht in mir, sei beruhigt.«

»Ich habe mir das Messer mal angesehen«, sagte Hanna. »Es befanden sich Blutspuren daran.«

Ich erinnerte mich. »Ja, aber alte«, sagte ich. »Wahrscheinlich noch von dem Vorbesitzer. Vielleicht hat er damit Steaks geschnitten. Wer weiß, was der hier alles getrieben hat.«

Wir hatten das Anwesen von einem Makler erworben. Über den ehemaligen Besitzer hatte der Makler nicht viel sagen können – oder wollen. Er veräußerte das Anwesen im Auftrag einer Erbengemeinschaft.

»So alt schienen mir die Flecken nicht«, nahm Hanna das Thema wieder auf. »Sie waren leicht wegzuwaschen. Einfach mit heißem Wasser.«

»Ich habe keine Ahnung, wie schnell so etwas weggeht«, entgegnete ich leicht gereizt. »Ich habe das Messer mehr oder weniger unbewusst an mich genommen.« Ich überlegte. Warum war es so verdammt schwierig, ihr verständlich zu machen, dass ich ganz einfach einen Heidenschiss gehabt hatte?

Sie schüttete sich Kaffee ein, danach servierte sie mir ein Spiegelei und Speck auf frischem Toastbrot. Erst dann setzte sie sich mir gegenüber. Mir wurde bewusst, dass wir gerade das erste Mal in der Küche frühstückten. Sonst hatten wir die Speisen immer im angrenzenden Esszimmer zu uns genommen. Wenigstens hatte Hanna darauf verzichtet, die gleißenden Neonlichter anzuknipsen. Es drang genügend Morgenlicht von draußen herein.

»Vielleicht solltest du mal mit einem Arzt reden«, schlug Hanna vor.

Ich sah sie stirnrunzelnd an. Konnte sie jetzt auch schon Gedanken lesen? Immerhin hatte ich in der letzten Nacht genau daran auch gedacht.

»Du meinst einen Psychiater? Ich kenne sogar einen«, sagte ich. Dabei hatte ich Markolf bestimmt seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Er war nach Freiburg gezogen, um dort eine Praxis zu eröffnen. Seitdem hatten wir nur miteinander telefoniert oder uns gemailt. Dennoch bezeichnete ich ihn als Freund.

»Wie wär’s, wenn du ihn einfach mal zu uns einlädst?«

Na prima. Sie dachte also wirklich, ich sei verrückt. Markolf würde es sicherlich gefallen, wenn ich ihn beiseite zöge und ihm von meinen nächtlichen Spinnereien erzählte. Vor allem von den Geräuschen.

Sein Gesicht konnte ich mir jetzt schon vorstellen. »Mal sehen«, wiegelte ich ab. »Aber glaub nicht, dass ich ihn damit behelligen werde. Markolf würde denken, ich bin wirklich übergeschnappt. Außerdem waren wir uns doch einig, dass wir sowieso eine Housewarming-Party machen, wenn alles fertig ist.«

»Also in einigen Jahren«, seufzte Hanna. »Mail ihm doch, er soll einfach mal vorbeischauen. Sagtest du nicht, dass er auch ein ganz guter Handwerker sei?« Sie ließ nicht locker.

»Ja, er hat sein Bio-Solar-Haus eigenhändig erbaut. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass er sich hier einspannen lässt.« Ich schob mir ein Brotstück mit Speck in den Mund und hoffte, dass Hanna es damit endlich bewenden ließ.

Ein kühler Luftzug streifte meinen Nacken. Irritiert drehte ich mich um. Die Tür zum Garten stand einen Spaltbreit offen. Ich hatte es zuvor nicht bemerkt. »Hast du die Tür geöffnet?«, fragte ich. Augenblicklich strömten die Bilder der Nacht wieder auf mich ein.

»Ich habe frische Luft hereingelassen«, sagte Hanna. »Zieht es dir?«

»Nein, nein, es ist schon gut«, sagte ich. »Komisch ist nur, dass wir die Tür vorher nie aufhatten …«

»Ich lüfte hier jeden Morgen«, widersprach Hanna. Es ist dir wahrscheinlich bisher nicht aufgefallen. Der Geruch, wenn man morgens in die Küche kommt, ist irgendwie eigenartig.«

Für mich roch es nach wie vor nur nach Kaffee und Speck. Entweder übertünchten deren Gerüche alles andere, oder das Lüften hatte gewirkt. Oder aber Hanna hatte weit empfindlichere Geruchsnerven als ich. »Wonach riecht es denn?«, fragte ich. Ich war froh, dass wir das Thema Markolf hinter uns gelassen hatten.

»Du bist am essen, deshalb möchte ich es nicht näher beschreiben. Lass uns später darüber reden.« Dann, nach einer Pause: »Der Kräutergarten ist übrigens eine Wucht!«

»Klar, wachsen eine Menge Giftpflanzen darin!«, bestätigte ich zwischen zwei Bissen.

»Du hast ja keine Ahnung! Was du Giftpflanzen nennst, bezeichnen die Eingeweihten als Heilpflanzen.«

Insgeheim verdrehte ich die Augen. Ich kannte Hannas Faible für Mystik nur zu gut. Es gab tausend Dinge, die ich an ihr mochte: Ihre Schönheit, ihre Sanftmut, ihre Klugheit … Aber ihre Spökenkiekerei war mir von Anfang an suspekt gewesen. Ich erinnerte mich an den ersten Abend in ihrer Kölner Dachgeschosswohnung. Ich war frisch verliebt und hatte gewusst, dass diesem Abend etwas ganz Besonderes innewohnte. Hanna hatte mich mit einem Kuss empfangen, mich in ihre nach Rosmarin duftende Wohnung geführt und mir ein unvergessliches Drei-Gänge-Menü kredenzt. Später hatte sie mir verraten, dass es ein spezielles Liebesmenü gewesen sei, um mich zu bezirzen. Allerdings glaubte ich noch heute, dass eher ihre Ausstrahlung als die Ingredienzien ihrer Speisen dafür verantwortlich war, dass wir uns kurze Zeit, nachdem wir den Nachtisch geschlemmt, in den Armen gelegen und bis zum nächsten Morgen nicht mehr voneinander gelöst hatten. Wenn überhaupt, dann hatte der Wein sein Übriges getan. »Hexenwein« hatte Hanna ihn augenzwinkernd genannt. »Ich habe ihn mit Zimt, Anis, Gewürznelken, Honig und Holunderbeeren angesetzt«, hatte Hanna verraten. »In der Kombination entfalten die Gewürze ihre aphrodisierende Wirkung.«

»Aberglaube«, hatte ich geantwortet. »Aber ich habe mich gern von dir behexen lassen.«

Meine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Der Kaffee schmeckte ungewöhnlich aromatisch …

»Glaubst du, gestern Nacht ist jemand ums Haus geschlichen?«

Die Frage kam unverhofft. Und viel zu direkt. Aber irgendwann mussten wir ja wieder darauf zu sprechen kommen. Ich schluckte den Bissen herunter, spülte mit Kaffee nach und antwortete: »Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, ich sollte mal mit Markolf reden.«

Sie trat von hinten an mich heran, legte die Hand auf meine Schulter. »Sei nicht so stur«, mahnte sie. »Immerhin bleibe ich den ganzen Tag über heute allein hier. Glaubst du, es ist für mich ein gutes Gefühl, jederzeit anzunehmen, es könnte hier jemand herumschleichen?«

»Musst du heute nicht zur Uni?«

»Vorlesungsfrei«, erwiderte sie lapidar.

Ich sah auf die Uhr. »Du meine Güte!«, entfuhr es mir. Es war bereits nach neun. Jetzt erst wurde mir bewusst, dass ich viel zu spät dran war. »Gatterbaum! Wir haben einen Termin um zehn. Ich verstehe nicht, warum ich das verschwitzt habe!« Ich gehörte zu der Sorte Menschen, die keinen Wecker benötigen. Und seitdem wir in der Eifel wohnten, wurde ich jeden Morgen um viertel vor sieben wach. Auf die Minute. Gewöhnlich saß ich spätestens um halb acht in meinem Wagen, und eine halbe Stunde später hatte ich die A 1 bei Blankenheim erreicht. »Scheiße!«, setzte ich hinzu.

»Reg dich doch nicht so auf«, versuchte mich Hanna zu beruhigen. »Du hast doch genug Leute in der Agentur. Die werden das schon regeln. Außerdem hast du den Schlaf wahrscheinlich gebraucht …«

»Du redest daher, als wärst du ganz froh, dass ich verschlafen habe«, zeterte ich. »Außerdem ist Gatterbaum nicht irgendein Kunde, sondern mein allerwichtigster.« Ich stand auf, dabei kippte der Stuhl nach hinten und fiel auf den Boden. Dies gab meinem Abschied etwas weit Dramatischeres, als ich es beabsichtigt hatte.

Normalerweise genoss ich die morgendliche Fahrt durch die Eifel. Ich liebte das sanfte Auf und Ab der Strecke, den Tau, der noch auf den Wiesen lag, die nebelverhangenen Hügel in der Ferne. Manchmal, wenn der Verkehr es zuließ, nahm ich mir extra Zeit, meine neue Heimat mit allen Sinnen zu genießen. Dann kurbelte ich das Fenster herunter und sog die typischen Gerüche ein: den Rauch eines fernen Feuers, den Duft von Wald und Wiesen. Manchmal auch nur die Abgase eines Treckers. Und selbst diese waren etwas Neues und irgendwie Abenteuerliches für mich.

An diesem Morgen war alles anders. Ich hatte keinen Blick für die Schönheiten des Weges. Kurz vor Blankenheim wurde ich aus einem Starenkasten heraus geblitzt. Ein anderes Mal überholte ich trotz durchgezogener Mittellinie. Ein VW Golf kam mir entgegen, und die Lichthupe blendete auf. Wahrscheinlich reagierte sein Fahrer eher erschreckt als empört. Offenbar passierte es ihm nicht alle Tage, dass ihm ein knallroter Porsche 911 entgegengerast kam. Für einen Moment sah ich das entsetzte Gesicht des Fahrers. Im nächsten Augenblick war ich bereits wieder nach rechts geschert und hatte mich eine Handbreit vor dem überholten Fahrzeug eingefädelt. Ich atmete auf. Immerhin war ich jetzt wach. Richtig wach. Auf der A 1 gab ich dem Porsche Zucker und erreichte Köln in neuer Bestzeit.

Ich war nicht stolz drauf.

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Als ich endlich mein Büro erreichte, kam mir Mike bereits entgegengelaufen. Seinem Dackelblick entnahm ich, dass er sauer auf mich war. Mike war genauso lange wie ich in der Firma. Wir hatten das marode Unternehmen von unserem Vorgänger übernommen und hatten uns seitdem zu einer der zehn gefragtesten Top-Agenturen in Köln gemausert. Die Tendenz zeigte weiter nach oben. Dank Gatterbaum. Während ich für den kreativen Part zuständig war, hatte Mike sich von Anfang an um die Finanzen gekümmert. Mit dieser Arbeitsteilung waren wir bestens gefahren.

»Wenn ich jetzt auch noch deine Arbeit machen muss, nehm ich mir bald einen Strick«, begrüßte mich Mike.

»Wo ist denn Olga?« Olga war meine rechte Hand und Mädchen für alles. Vor allen Dingen konnte sie perfekt mit den Kunden umgehen.«

»Migräne – wie jeden Monat.«

»Na gut, und was ist das Problem, wenn ich einmal im Leben zu spät komme?«

»Frag Gatterbaum. Der ist bester Laune Punkt neun hier aufgeschlagen und hatte die unterschriebenen Verträge dabei. Ich hab ihn mit Kaffee und Croissants versorgt und mit Engelszungen auf ihn eingeredet – aber er wollte den Deal absolut nur mit dir perfekt machen. Tja, und um zehn hatte er angeblich eine Verabredung und ist gegangen.«

Ich fluchte.

»Mach dir nichts daraus«, tröstete mich Mike. »Er hat einen neuen Termin gemacht. In einer Woche!«

»In einer Woche?« Ich konnte es nicht fassen.

»Wieso das denn? Es war doch alles in trockenen Tüchern? Ich habe Tage und Nächte an den Entwürfen gesessen, bis ihm endlich alles genehm war. Und jetzt lässt er uns eine weitere Woche schmoren?«