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Bisher vom Autor bei KBV erschienen:

»Sommer der Hexen«

»Wolfsherbst«

»Dämonenwinter«

»Schattenschrei«

Georg Miesen, Jahrgang 1962, hat mit seinem 2002 erschienen Roman Hexensommer in der Eifel den Reigen der fantastischen Eifelliteratur eröffnet. Es folgten drei weitere im KBV Verlag veröffentlichte Romane (Wolfsherbst, Dämonenwinter, Schattenschrei), die mit einer Neuauflage seines ersten Werks unter dem Titel Sommer der Hexen ihren vorläufigen Abschluss fanden.

Er ist Mitglied des FDA und leitet gemeinsam mit Andreas Züll die Schreibwerkstatt Nettersheim und die Lesereihe Zümiesmus.

Georg Miesen

Schattenschrei

SCHWARZE EIFEL

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© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

Für meine Tochter Miriam,
die die Entstehung dieser Geschichte
in den fernen USA verfolgt hat

und

für meine Freunde,
weil sie es mir nicht übel nehmen, wenn ich wieder einmal
in eine neue Geschichte abgetaucht bin.

Inhalt

Schwarzer Engel

1. Schwarzer Engel

2. Der Gehängte

3. Gerald

4. Michaela

5. Marion

6. Nachtwanderung

7. Schütts Laptop

8. Der Ritter der Schwerter

9. Gerechtigkeit

10. Thomas

11. Traumflucht

12. Die Hohepriesterin

13. Spurensuche

14. Neue Verbündete

15. Goldwein

16. Der Magier

17. Im Schattenreich

18. Auf dünnem Eis

19. Nächtlicher Überfall

20. Tausend Tode

21. Vermisst

22. Die Wahrheit

23. Der Andere

24. Beute

25. Auf finsterem Pfad

26. In den Fängen des Magiers

27. Zugriff

28. Die andere Welt

29. Verführung

30. Sieg und Niederlage

31. Flucht und Suche

32. Gabriel

33. Krisenstab

34. Die Herrin vom Berge

35. Der Turm

36. Die Prophezeiung

37. Die Schlacht

Epilog

Danksagung

Schwarzer Engel

Finstergram aus tiefem Schlunde
raubet dir den Schlaf der Nacht
Schreit so laut aus schwarzem Munde
kalt berührt dich seine Macht

Grausig Flüstern dich durchdringet
windet sich in deinen Traum
Alp und Nachtmahr mit sich bringet
seine Kraft hält nichts im Zaum

Senkt sich tief in deine Seele
sucht das Biest, das dort versteckt
Angst erdrücket deine Kehle
wehe wenn es aufgeweckt

Doch das Untier sich schon reget
aufgestachelt blind vor Wut
Sturm der nimmer mehr sich leget
deiner Schatten dunkle Brut

Aufgewühlt im tiefsten Grunde
wandelst du dich selbst zum Tier
deines Herzens klaffend Wunde
schreit Zerstörung jetzt und hier

Schwarze Schwingen sich entfalten
wehen fort was menschlich ist
ewiglich im Bann gehalten
des Engels Diener du nun bist

1. Schwarzer Engel

Und der Engel, der entsandt war, ihn schauen zu lassen, gehörte nicht zu diesem Firmament und nicht zu den Engeln der Herrlichkeit, sondern er war aus dem siebentem Himmel gekommen.

Apokryphen, »Himmelfahrt des Jesaja«

Ihr Anblick schien ihm eigentümlich vertraut. Eigentümlich, weil er sich nicht vorstellen konnte, so etwas wie sie jemals gesehen zu haben. Höchstens in einem uralten Horrorfilm, gedreht in einer Zeit, in der man den Zuschauer noch mit dem Anblick eines weiblichen Menschen mit acht Armen in einen Zustand zwischen Schrecken und Begierde versetzen konnte.

Shiva, die vielarmige Göttin der Hindus, erinnerte er sich jetzt. Ein Gott, der Welten erschafft, aber auch zerstört.

Sie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Darstellung dieser Gottheit, die sie im entrückten Tanz auf menschlichen Gebeinen zeigt. Eine eigenartige Faszination ging von ihr aus, ein unausgesprochenes Versprechen, verlockend und erschreckend zugleich.

»Löse dich von deinen Schranken«, flüsterte ihm ihre Stimme zu. »Folge mir und werde wahrhaft frei.«

Ein Lächeln entstand auf den klaren Zügen ihres makellosen Gesichts und entblößte eine Reihe schwarz glänzender, nadelspitzer Zähne.

Das war kein menschliches Gebiss.

Durch irgendeinen Zauber war sie plötzlich so nahe gekommen, dass ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren.

Der eigenartige Duft ihres Atems drang in seine Nase, erdig und schwer, wie Moschus aber auch süß und lockend. Eine Wiese voll farbenprächtiger Blüten, deren Düfte mit leisen, weichen Stimmen zu ihm sprachen. Wie warmer Nebel sank ihr Atem in ihn hinein und füllte seinen Körper bis zur letzten Zelle mit einem Verlangen, das ihn erzittern ließ.

Ganz im hintersten Winkel seines Bewusstseins fragte sich der Rest seines Verstandes, warum er angesichts dieser ungeheuerlichen Erscheinung eine solche Lust empfinden konnte.

Sicher, sie war schön auf eine unergründliche Weise, ihr Körper üppig, ein perfektes Gleichmaß weiblicher Rundungen, ihr Gesicht ein Ebenmaß in Vollendung. Jede Linie schien voller verlockender Geheimnisse.

Aber schon die gelben Augen mit den katzenartigen Pupillen verrieten das Unmenschliche hinter der perfekten Fassade. Oder besser das Nichtmenschliche. Hinzu kamen die Zähne, die hinter den kirschroten Lippen ihres Mundes blitzten wie stählerne Nägel.

Dennoch konnte er sich ihrer dunklen Erotik nicht entziehen. Immer fester zog sie ihn in ihren Bann.

Erst als sie die Lippen weiter öffnete und sich ihre Zunge wie ein eigenständiges Wesen zwischen ihren Zähnen hervor wand, regte sich endlich Widerstand in ihm. Da war es jedoch bereits zu spät. Sanft aber unnachgiebig hatte sie ihre Arme um seinen Körper gelegt und zog ihn die letzten Zentimeter zu sich heran, bis ihre Lippen einander berührten.

In dem Moment, in dem ihre Zunge in ihn eindrang, seinen Mund ausfüllte, sich weiter in seine Kehle schlängelte, dass er zu ersticken drohte, erinnerte er sich.

Ja, er hatte sie schon einmal gesehen. Nicht in irgendeinem Film, sondern in der Realität, soweit man das, was ihm dabei passiert war, als Realität bezeichnen konnte.

Eine offene Tür, versteckt und doch auffallend, die ihn geradezu hypnotisch anzog, eine Stimme, die aus dem Raum hinter der Tür zu kommen schien und gleichzeitig direkt in seinem Kopf war. Ein Flüstern, das geheime Begierden weckte und mit unwiderstehlicher Kraft lockte. Er war dem Ruf gefolgt und hatte in das Dunkel hinter der Tür geschaut. Da hatte er sie das erste Mal gesehen.

So wie sie hatte er sich die Sirenen der griechischen Mythologie vorgestellt, nur dass ihr die Flügel fehlten.

»Ich bin verloren«, stellte er fest, aber trotzdem war er eigentümlich ruhig. Die Lust, die ihn eben noch durchdrungen hatte, war verschwunden und einem Zustand lähmender Apathie gewichen. So als hätte sie seinen Willen dick in Watte eingepackt.

Tiefer und tiefer drang ihre Zunge in ihn ein, bis er spürte, dass sie sein Zentrum erreicht hatte. Ein kurzer heftiger Schmerz, ein Moment in dem der Schlag seines Herzens aussetzte. Etwas fiel aus ihrer Zunge in ihn hinein, stieß irgendwo auf Grund und blieb liegen. Ein dunkles Samenkorn, das pulsierte und dabei eisige Kälte ausstrahlte.

Wolf fuhr entsetzt hoch und schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender.

Sein Bett. Sein Schlafzimmer. Zu Hause.

Ein Traum. Nur ein Traum. Gott sei Dank.

Er hatte die schreckliche Begegnung nur geträumt.

Erleichtert fuhr er sich über die Haare und stieß mit einem leisen Pfiff die Luft aus seinen Lungen. Im silbernen Licht des Vollmondes, der draußen aus einem wolkenlosen Himmel die Nacht erhellte, sah er sich im Zimmer um.

Marion, seine Frau, schlief den Schlaf der Gerechten. Ihr Kopf, eingerahmt von der dunklen Flut ihrer Haare, fest in ihr Kopfkissen gedrückt, die Arme um ein Ende der Bettdecke geschlungen, bot sie ein friedlich anrührendes Bild, das ihn eigentümlich berührte und die drohenden Schatten seines Albtraums in den Hintergrund drängte.

Die gleichmäßigen Züge ihres Atems gaben ihm zusätzlich das beruhigende Gefühl von Normalität.

»Nur ein Traum«, flüsterte Wolf leise und schwang seine Füße aus dem Bett. Seine Beine zitterten unkontrolliert, und er musste einen Moment warten, bevor er aufstehen konnte. Vorsichtig, um seine Frau nicht zu wecken, schlich er sich auf nackten Füßen aus dem Zimmer zur Toilette.

Das Licht schaltete er auch dort nicht ein. Das große Dachfenster im Bad ließ genügend Mondlicht durch. Nachdem er sich erleichtert hatte, fiel sein Blick auf den Spiegel über dem Waschbecken. Er war dunkel. Dunkler als er trotz der schwachen Beleuchtung hätte sein sollen.

Etwas in ihm regte sich, als er sich näherte. Einem Impuls folgend kniff er sich fest in die Hand und schrie kurz auf.

Der Schmerzen pulsierte immer noch, er war also eindeutig wach. Aber etwas aus diesem Traum, der ihm wie Blei in den Knochen steckte, war hier.

Sein Gesicht tauchte im Spiegel auf, bleich vor einem düsteren undurchdringlichen Hintergrund, fast so, als würde der Schein des Mondes nur ihn beleuchten.

Wolf streckte seinem Spiegelbild die Zunge heraus und erntete ein hämisches Grinsen.

Es dauerte einen Moment, bis ihm die Ungeheuerlichkeit dessen, was er gerade wahrgenommen hatte, aufging.

Verwirrt schloss er die Augen, schüttelte sich und schaute erneut in den Spiegel.

Das Gesicht dort starrte zurück, bleich mit hohlen Augen. Wolf schnitt eine Grimasse, die sein Spiegelbild brav nachahmte. Er war jedoch zu misstrauisch geworden, um die Verzögerungen dabei zu übersehen. Außerdem stimmte das Bild nicht. Es war ihm zwar ähnlich, verdammt ähnlich, aber dennoch bemerkte Wolf ein paar Züge in dem Gesicht, die nicht zu ihm gehören konnten.

Scharfe Falten zogen seine Mundwinkel zu einem grimmig bösen Ausdruck nach unten. Die Augen, tief gelegen und dunkel wie die Nacht, waren kaum auszumachen.

»Wer bist du?« flüsterte er in den Spiegel.

»Ich bin du«, kam die Antwort, eine tonlose Stimme in seinem Kopf.

»Schau, was wir beide gleich machen werden.«

Wolfs Hände krallten sich so fest um die Ränder des Waschbeckens, dass die Knöchel weiß hervorstachen, während entsetzlich grausame Bilder auf ihn einströmten. Bilder von unglaublicher Gewalt und blind wütendem Blutdurst.

»Nein!« flüsterte er, kaum mehr fähig, seine Stimme zu gebrauchen.

»Nein! Nicht meine Familie. Das darfst du nicht.«

Sein Spiegelbild erschien wieder, eine verzerrte Karikatur seines eigenen Gesichts, bleich, mit weit aufgerissenen Augen, in denen sich blankes Entsetzen widerspiegelte.

Diesmal war es real, aber Wolf nahm es kaum noch wahr, seine Aufmerksamkeit war von einer Regung in seinem Inneren abgelenkt worden. In der Nähe seines Herzens, dort, wo der schwarze Engel, wie er seine Traumerscheinung unwillkürlich getauft hatte, sein Samenkorn in ihn hineingelegt hatte, spürte er eine eisige Kälte, die sich auszubreiten begann.

Mit Schrecken wurde ihm klar, was gerade mit ihm passierte. Das, was sich in ihm befand, wollte ihn heute Nacht zum Mörder seiner eigenen Familie machen.

Verzweiflung und Wut stritten sich in ihm um die Oberhand, bis die Adern an seinem Hals hervortraten. Noch waren es seine eigenen Gefühle, noch hatte das Ding, das erschreckend schnell in ihm heranwuchs, nicht die Kontrolle über ihn übernommen.

Wolf sah nur einen Ausweg: Flucht!

Er musste weg, jetzt sofort!

Aber vorher musste er noch einmal in das Schlafzimmer. Seine Sachen lagen dort, seine Kleider, aber wichtiger noch: Geld, Papiere und Scheckkarte.

Er hatte die Türklinke zum Schlafzimmer bereits in der Hand, als er spürte, wie das Ding in ihm sich fast explosionsartig ausbreitete. Entsetzt wich er zurück.

Zu gefährlich, es musste auch so gehen. So schnell er konnte, eilte er zum Waschraum und holte seine Kleider vom Vortag. Sie waren zwar feucht geworden, aber im Moment hatte er andere Sorgen. Wolf spürte, dass das Ding in ihm wieder etwas zurückgewichen war, machte sich aber keine Hoffnung, dass es ganz verschwinden würde. Rudloff hatte ihn und Gerald vor dem Zustand gewarnt, in dem er sich jetzt befand.

Besessenheit.

Es gab nicht viel, was sie dagegen tun konnten, aber ein paar Dinge sollten sie beachten, das hatte Rudloff ihnen eingeschärft.

Draußen auf der Straße traute sich Wolf zum ersten Mal innezuhalten, um seine nächsten Schritte zu überlegen.

Den Wagen durfte er nicht benutzen. Hände weg von technischem Gerät! Rudloffs erste Regel. Womöglich war das, was seinen Körper übernehmen wollte, gar nicht in der Lage, ein Auto zu fahren und würde gegen den nächsten Baum fahren.

Oder noch schlimmer, es würde zurück nach Hause fahren und das tun, was ihm der Spiegel angekündigt hatte.

Aber er musste weg. So schnell und so weit wie möglich.

»Verdammt, was mache ich jetzt?«

Lauft fort, so lange es noch möglich ist, aber sorgt dafür, dass ihr nicht zu schnell erschöpft seid. Entfernt euch von den Menschen, sucht die Einsamkeit.

Diesem weiteren Rat Rudloffs folgend, lief Wolf los, konzentrierte sich nur auf die gleichmäßigen Bewegungen seiner Beine. Er musste es unbedingt schaffen, weit genug voranzukommen, damit das Ding in ihm, wenn es seinen Körper übernahm, nicht mehr zu seinem Haus zurückfand.

Unterwegs dachte er kurz daran, Rudloff anzurufen, aber dummerweise hatte er sein Handy zu Hause gelassen.

Als er sich irgendwann auf der Umgehungsstraße wiederfand, die über den Zingsheimer Kreisel zur Autobahn führte, merkte er, dass der eisige Punkt in ihm verschwunden war. Schwer atmend blieb er stehen und versuchte herauszufinden, was das zu bedeuten hatte.

Hatte er sich das alles eingebildet, war er vielleicht dabei, den Verstand zu verlieren?

Plötzlich wurde ihm die Stille bewusst, die ihn umgab. Eine Stille, die körperlich spürbar war und ihn mit abgrundtiefer Einsamkeit anhauchte.

Seine gepressten Atemstöße, die ihm entsetzlich laut erschienen, verstärkten diesen Eindruck noch. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass es kurz vor drei war. Die sonst vielbefahrene Straße wand sich als ein graues, leeres Band zu seinen Füßen. Der Himmel schimmerte in einem silbernen Grau, hier und da schaffte es ein Stern, den hellen Schleier des Mondlichts zu durchdringen.

»Mein Gott, was tue ich hier?«

Mit Macht zog etwas an ihm und lenkte seine Füße dahin, wo er hergekommen war.

Während er mit unsicheren Schritten wieder zurück nach Hause stakste, setzte ein seltsam tonloses Wispern in seinem Kopf ein. Mit unsichtbaren aber festen Fäden durchwebte es sein Bewusstsein, bis er die Worte, die es ihm einflüsterte, nicht mehr von seinen eigenen Gedanken unterscheiden konnte.

»Du hast dir alles nur eingebildet.«

Aber der Traum und das Gesicht im Spiegel?

»Ein Produkt deiner Phantasie, ein Hirngespinst. Eine Reaktion deines Unterbewusstseins auf die unglaublichen Dinge, mit denen dich deine Arbeit mit Rudloff immer wieder konfrontiert.«

Hierauf fiel Wolf kein Gegenargument ein.

Seit er gemeinsam mit Gerald Wilden, einem Spezialisten für Spurensicherung, in Rudloffs Team eingestiegen war, führte sein auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufgebautes Weltbild ein ständiges Rückzugsgefecht.

Kriminalhauptkommissar Jürgen Rudloff leitete eine eigens für ihn eingerichtete Abteilung beim Bundeskriminalamt. Die Sonderkommission »Okkulte Kriminalität« war zuständig für Fälle, bei denen sich kein vernünftiges Ermittlungsergebnis einstellen wollte. Oder – mit anderen Worten gesagt – bei denen es nicht mit rechten Dingen zuging.

Wolf hatte Rudloff bei den Ermittlungen in einer grausigen Mordserie im Raum Euskirchen kennen gelernt. Wolf war auf undurchschaubare Weise in die Morde verstrickt gewesen und immer mehr in den Verdacht geraten, selbst der Täter zu sein. Rudloff und Gerald waren damals die einzigen, die zu ihm hielten.

Für Wolf war es am Ende eine leichte Entscheidung gewesen, als Rudloff ihm nach Abschluss des Falles einen Posten in seiner Abteilung anbot.

Eine Abteilung, die seitdem aus drei Ermittlungsbeamten bestand: Jürgen Rudloff, Gerald Wilden und Wolf Krüger.

Auch wenn sein Leben durch diesen Arbeitswechsel weitaus aufreibender, verwirrender und vor allem gefährlicher geworden war, Wolf hatte seine Entscheidung keinen Augenblick bereut.

Im Gegenteil, er hatte sich nie zuvor so lebendig gefühlt.

Er spürte, dass er mit seinen Aufgaben wuchs und entdeckte in sich ungeahnte Fähigkeiten und Talente.

Angespornt von seinen Fortschritten, entwickelte er einen Eifer, wie er ihn an seinem früheren Arbeitsplatz nicht gekannt hatte.

Das schien sich jetzt jedoch zu rächen. Wenn der Job wirklich dabei war, seinen Verstand zu untergraben, ihm den Bezug zur Realität zu rauben, musste er Schluss machen, das war er sich und vor allem seiner Familie schuldig.

Wolf wollte jetzt nur noch so schnell wie möglich nach Hause und fiel in einen leichten Trab.

Plötzlich ließ ihn jedoch etwas stutzen. Er spürte deutlich, dass er nicht mehr allein war. Da war eine Bewegung, die er nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte.

Ein weiteres Hirngespinst? Drehte er jetzt endgültig durch?

Furcht sprang ihn wie ein unsichtbares Tier aus dem Hinterhalt an und ließ ihn keuchend Luft holen.

Wolf blieb um Fassung ringend abrupt stehen. Es kostete ihn unendlich viel Kraft, nicht einfach loszurennen.

Zitternd drehte er sich um und stellte fest, dass da tatsächlich etwas war. Ein Schatten mit schemenhaften Umrissen, wie ein Riss in der Wirklichkeit.

Der Anblick, so erschreckend er auch war, löste ihn aus seiner Starre.

Jetzt hatte er wenigstens eine Gestalt vor sich. Seine Panik verschwand, aus dem Ratlosen, Gehetzten wurde ein entschlossener Polizist. Hier waren genau die Kräfte im Spiel, deren Bekämpfung seine Aufgabe war und er würde sich nicht weiter zum Narren halten lassen.

Mit einem Ruck stieß er vor und versuchte den Schatten zu greifen.

Seine Hände fuhren ins Leere, dennoch war da etwas.

»Du bist stark und mutig, Wolf Krüger, aber wenn du zurückgehst, wirst du verloren sein.«

»Wer bist du?«

»Ich bin das, was du in mir siehst. Ihr Menschen habt im Laufe der Jahrtausende viele Namen für meine Existenz gefunden, es waren meist nicht sehr schmeichelhafte. Da kann ich mich fast schon glücklich schätzen, dass du mich als einen Schwarzen Engel siehst. Ich mag zwar bedrohlich erscheinen, aber ich bin es nicht, die dir böses will.«

Während der Schwarze Engel zu ihm sprach, wandelte er seine Form und nahm in groben Zügen eine Gestalt an, die Wolf sofort wieder erkannte. Nur, dass sie jetzt statt der zusätzlichen Arme ein Paar schwarzer Flügel auf ihrem Rücken trug.

»Du bist das Wesen aus meinem Traum«, keuchte er entsetzt. »Du hast dieses kalte Ding in mich hineingelegt.«

»Ja, das war ich«, bestätigte die Erscheinung, »aber ich bin nicht dafür verantwortlich, was danach geschehen ist. Meine Aufgabe ist es, den Menschen ihre Schwächen vor Augen zu führen, nicht, sie in rasende Bestien zu verwandeln.«

Wolf versuchte das Gesicht des seltsamen Engels zu erkennen, aber die Züge schienen wie hinter einem milchigen Schleier verborgen zu sein.

Sprach sie die Wahrheit oder trieb sie nur ihre Spielchen mit ihm?

»Dieses Ding, was ist es? Kann es wirklich das mit mir machen, was ich im Spiegel gesehen habe?«

Der Schwarze Engel nickte und nahm für einen Moment eine festere Form an und Wolf fühlte, wie sich etwas in ihm regte.

»Sie ist schuld an dem, was mit dir passiert, sie bedroht dich, deine Frau und deine Kinder«, wehrte er sich dagegen. Aber es half nichts.

»Warum nimmst du es nicht wieder heraus«, fragte er schließlich und versuchte mit einem entschlossenen Unterton die verwirrenden Gefühlsregungen zu verbergen, die der Anblick des schwarzen Engels in ihm auslösten.

»Das kann ich nicht«, kam ihre Antwort, »jedenfalls nicht, bis du mich gefunden hast.«

»Was soll das heißen, du bist doch hier!«

»Nein, was du siehst ist nur ein Bild, du weißt, wo du mich zu finden hast.«

Wolf brauchte nicht lange, um sich zu erinnern. Selbst in seinem Traum war ihm klar gewesen, dass er dem Schwarzen Engel schon einmal begegnet war. Jetzt fiel ihm auch ein, wo das gewesen war.

Es war ein heruntergekommener Laden, auf den er bei der Suche nach einem bestimmten Amulett gestoßen war.

Er musste nach Köln, den Laden würde er spielend leicht wieder finden.

Sichtlich erleichtert nickte Wolf und richtete sein Augenmerk wieder auf den Schemen, dessen Umriss nun wieder eine unbestimmte Form angenommen hatte.

Um das schreckliche Ding in ihm loszuwerden, wäre er bereit gewesen, durch die Hölle zu gehen, da war die Fahrt ins nahe Köln doch vergleichsweise harmlos.

»Wenn ich den Wagen nehme, kann ich gleich um Neun, wenn der Laden öffnet, auf der Matte stehen.«

»Es ist leider nicht so einfach, wie es für dich aussehen mag«, antwortete der Schwarze Engel. Wolf bemerkte, dass seine Stimme etwas leiser geworden war. Auch war die Präsenz, die er ausstrahlte, das Gefühl einer starken Kraftquelle, schwächer geworden.

»Der Schatten, den ich in dich hineingelegt habe, ist außer Kontrolle geraten. Es fällt mir immer schwerer, ihn zurückzuhalten, aber mach dir keine Sorgen. Ich kann zwar nicht verhindern, dass er Macht über deinen Körper erlangt, aber ich habe dafür Sorge getragen, dass er deinen Geist vorerst nicht finden kann. Außerdem werde ich ihn von hier fortlocken, damit er kein Unheil anrichten kann. Sobald er wach wird, musst du dich allerdings ruhig verhalten, versuche nicht, gegen ihn anzukämpfen. Warte, bis er sich ausgetobt hat und schläft, dann kannst du deinen Körper wieder übernehmen. Suche mich, aber halte dich von den Menschen fern, so lange es noch möglich ist. Du hast gesehen, zu welchen Grausamkeiten er fähig ist.«

Die Stimme wurde schwächer, der Schwarze Engel durchsichtiger, und Wolf spürte etwas Dunkles, Kaltes und abgrundtief Böses, das sich mit rasender Geschwindigkeit aus der Mitte seines Körpers ausbreitete.

Er wollte sie noch etwas fragen, da verlor er den Kontakt zu seinen Augen und fand sich in absoluter Dunkelheit wieder.

»Du kannst mit seinen Augen sehen, wenn du willst«, meldete sich der schwarze Engel ein letztes Mal zu Wort. »Aber ich rate dir davon ab. Selbst ich vermeide es, ihm in seiner Raserei zuzusehen.«

Wolf probierte es dennoch aus. Nach einer Weile blinden Tastens hatte er tatsächlich eine Möglichkeit gefunden, den Kontakt zu seinen Augen und Ohren wieder herzustellen.

Allerdings war es ohne das dazugehörige Körpergefühl ziemlich verwirrend. Er spürte deutlich die Bewegungen seines Körpers, hatte jedoch keinerlei Kontakt zu seinen Muskeln. Ein Gefühl, als befinde er sich auf einem winzigen Schiff auf stürmischer See. Schon nach wenigen Minuten wurde ihm schwindelig, und er zog sich zurück. Er hatte genug gesehen, um sicher zu sein, dass die Bestie, die seinen Körper kontrollierte, sich von seinem Wohnort entfernte. Sie folgte einem Schatten, der zum Greifen nahe, wenige Meter vor ihr in der Luft schwebte.

Der schwarze Engel schien sein Versprechen zu halten.

»Welch ein Irrsinn!«, dachte Wolf, dann überkam ihn eine bleierne Müdigkeit und sein Bewusstsein schaltete auf Tiefschlaf.

2. Der Gehängte

Und es wird geschehen am Tage des Gerichtes derer, die abgefallen sind vom Glauben an Gott und die Sünde getan haben …

Apokryphen, »Offenbarung des Petrus«

Thomas Schmidt wollte gerade genussvoll in seinen Hamburger beißen, als das Handy klingelte. Beethovens Fünfte schepperte blechern aus dem Gerät und unterbrach ihn bei seiner Lieblingsbeschäftigung. Für einen Moment rang er mit dem Drang, sein Vorhaben zu Ende zu führen, aber die Vorstellung, mit vollem Mund in sein Handy zu nuscheln und möglicherweise eine ganz bestimmte Kollegin am Apparat zu haben, hielt ihn davon ab. Mit ärgerlichem Brummen legte er sein Essen beiseite, wischte sich einen Soßenklecks vom Handrücken und kramte das Mobiltelefon aus der Innentasche seiner ledernen Polizeijacke hervor.

»Schmidt!«, bellte er unwirsch in das versteckte Mikro.

Silvia Wollenweber, seine Kollegin, sah mit gerunzelter Stirn von ihrer Portion Pommes hoch.

»Was immer es ist, wir haben keine Zeit«, zischte sie ihm verärgert zu.

Als sie die weibliche Stimme hörte, die aus dem Handy in das Ohr ihres Kollegen säuselte, fügte sie leiser und mit hochgezogenen Augenbrauen hinzu: »Lass dich bloß nicht schon wieder einwickeln.«

Dabei schob sie ihre Pommes jedoch bereits in die Papiertüte zurück. Es war die Stimme Anjas, Thomas’ heimlicher Liebe. Heimlich allerdings nur für ihn, alle anderen wussten schon längst Bescheid.

Thomas war ein durchaus intelligenter Mensch, als Polizist flexibel, kritisch und entscheidungsfreudig. Aber sobald Anja Nussbaum auf den Plan trat, verwandelte er sich in ein unbeholfenes Kind. Und Anja, dieses Aas, nutzte das nach Strich und Faden aus. Zumindest sah es Silvia so, und sie hatte der Kollegin schon mehrere Male ihre Meinung zu ihrem Verhalten gesagt. Dabei hatte sie jedoch lediglich ein gleichgültiges Schulterzucken geerntet.

»Thomas ist ein erwachsener Mann, was kann ich dafür, dass er mir hinterher dackelt wie ein Schoßhund?«

Das war erniedrigend und außerdem nicht wahr. Thomas hätte sich nie getraut, hinter Anja herzurennen, jedenfalls nicht offen. Sie hätte Anja am liebsten eine gelangt, als sie das gesagt hatte, aber zum Glück hatte sie sich noch beherrschen können.

»In Ordnung, wir sind schon unterwegs.«

Silvia verdrehte die Augen und trat ihrem Kollegen kräftig gegen das Schienbein.

Fluchend fuhr Thomas hoch und stieß mit dem Knie gegen die Tischkante.

»Geschieht dir recht!«, fuhr Silvia ihn an. »Wir haben jetzt Pause, warum ruft sie nicht Robi und Pete, die haben sich gerade die Wänste vollschlagen können.«

Thomas hangelte sich aus seiner beengten Position zwischen Stuhl und Tisch heraus und rieb sich das schmerzende Bein.

»Pete und Robi sind schon draußen, sie haben uns ausdrücklich angefordert.«

Irritiert sah Silvia zu Thomas hoch. Seiner Stimme fehlte der selig melancholische Tonfall, der sich immer einstellte, wenn er mit Anja gesprochen hatte. Er klang verunsichert.

Heftiger als sie vorgehabt hatte, schob sie ihren Stuhl zurück und konnte nur Dank ihrer schnellen Reaktionsfähigkeit verhindern, dass er umfiel.

»Was ist los?«

»Ich weiß nicht«, antwortete er schulterzuckend. »Anja sagte nur, dass hier Spezialisten gebraucht werden.«

»Spezialisten? Doch nicht etwa in einer ganz bestimmten Richtung?«

Statt einer Antwort zog Thomas eine Grimasse und nickte kurz.

»Mist!«

Der Anruf löste bei Silvia die gleichen Befürchtungen wie bei ihrem Kollegen aus. Sie und Thomas waren im letzten Jahr Mitglieder einer Sonderkommission gewesen, die an der Aufklärung einer Serie von besonders grausamen Morden gearbeitet hatten. Unerklärliche Begleitumstände hatten ihre Arbeit erschwert und der Presse wochenlang Stoff für dicke Schlagzeilen geboten. Dabei hatte die Öffentlichkeit die Wahrheit nie ganz erfahren. Aber intern war es natürlich durchgesickert, dass die Hintergründe ihrer Fälle allesamt übersinnlicher Natur waren.

Das Team der Sonderkommission hatte es damals geschafft, dem Morden Einhalt zu bieten und etwas Furchtbarem, das in die reale Welt drängte, den Zutritt zu verwehren.

Seitdem wurden sie und Thomas mit Achtung, aber auch einer unterschwelligen Furcht behandelt. Sie galten als lebende Beweise für das Vorhandensein übernatürlicher Kräfte. Dass weder sie noch Thomas sich jemals dazu geäußert hatten, schien ihre Sonderstellung nur noch zu festigen.

Silvia hatte gehofft, dass der Quatsch irgendwann aufhören würde, aber nichts hielt sich hartnäckiger als unausgesprochene Wahrheiten.

Sie und Thomas hatte es irgendwie zusammengeschweißt. Obwohl sie sich vorher kaum gekannt hatten, schienen sie nun unzertrennlich.

Silvia hatte bald entdeckt, dass hinter Thomas’ Fassade des unbeholfenen Träumers ein ernsthafter und tiefsinniger Mensch steckte, der nur leider seiner eigenen Stärke nicht trauen mochte.

»Okay«, meinte sie schließlich und nahm Thomas das Handy aus der Hand. »Ich übernehme das jetzt mal. Wenn das eine neue Art von Humor ist, sollten die beiden sich warm anziehen.«

Sie tippte ein paar Tasten und hatte nach kurzem Freizeichen die Verbindung zu Peter Steinbach, genannt Pete, aufgebaut.

Bevor sie jedoch ihrem Unmut Geltung verschaffen konnte, erklärte ihr der Kollege, was er am Tatort, zu dem er vor einer knappen Stunde gerufen worden war, vorgefunden hatte.

Thomas Schmidt erkannte beunruhigt, dass Silvias Blick plötzlich hart wurde und sie außer einigen kurzen Bestätigungen nichts herausbrachte. Das bedeutete nichts Gutes.

Unterwegs, auf der Autobahn, erzählte sie ihm, was die beiden Kollegen in der Naturidylle des neuen Nationalparks Eifel nahe Schleiden vorgefunden hatten. Auf einer winzigen Insel in der Urfttalsperre hatten aufmerksame Spaziergänger vom Ufer aus eine Gestalt entdeckt, die reglos in einem Baum hing. Die Gestalt entpuppte sich als eine männliche Leiche, die kopfüber, nur wenige Zentimeter über dem Boden schwebend, aufgehängt worden war.

Jemand hatte ihr die Kehle durchgeschnitten.

Nicht zuletzt die groteske Anordnung der Arme und Beine, fixiert mit langen Kabelbindern und Lochbändern, hatte die Kollegen der Kripo Euskirchen veranlasst, Thomas und Silvia zu Hilfe zu rufen.

»Kennst du dich mit Tarotkarten aus?«, fragte Silvia, während sie den Wagen von der Abfahrt Wisskirchen auf die B 266 lenkte und weiter rechts ab in Richtung Schleiden fuhr.

»Ich hab davon gehört, aber wirklich auskennen tu ich mich da nicht. Werden die nicht verwendet, um die Zukunft vorauszusagen?«

»Unter anderem ja.«

Silvia nutzte einen der zweispurigen Abschnitte der Straße, um einen nervtötend vorschriftsmäßig fahrenden PKW, einen blauen Toyota, zu überholen. Am Steuer saß ein älterer Herr mit hellbrauner Schlägerkappe, der ihr missbilligende Blicke zuwarf.

Das war einer der störenden Begleitumstände, wenn man ein Dienstfahrzeug der Polizei fuhr, die anderen Verkehrsteilnehmer hielten sich fast panisch an die Geschwindigkeitsbeschränkungen.

Trotzdem zögerte Silvia, das Blaulicht des Wagens einzuschalten, um ihre Fahrt beschleunigen zu können. Der Tatort wurde bereits aufgenommen und zu verfolgen gab es auch niemanden, wenigstens bis jetzt noch nicht. Außerdem war sie nicht besonders erpicht auf diesen Fall, ja, sie spürte sogar einen wachsenden Widerwillen, je näher sie dem Tatort kam.

»Schon mal was von dem Gehenkten gehört?«, nahm sie den Faden wieder auf. Thomas machte ein nachdenkliches Gesicht und schüttelte langsam den Kopf.

»Nein«, sagte er schließlich.

Eine ziemlich skurrile Karte aus dem Tarot«, erklärte seine Kollegin. »Das Opfer ist in der gleichen Weise aufgehängt worden wie die Figur auf dieser Karte. Für mich riecht das verdammt nach dem Beginn einer Serie.«

»Man sollte den Teufel nicht an die Wand malen«, wandte Thomas ein. »Warte erst einmal ab, bis wir den Tatort selber in Augenschein genommen haben.«

Silvia wollte etwas erwidern, behielt ihren Kommentar dann aber für sich. Thomas hatte Recht, zurzeit waren alle Überlegungen reine Spekulation.

Ab Mechernich begannen die Felder und Wiesen neben der Landstraße Falten zu werfen. Die typische Hügellandschaft der Eifel nahm vor ihren Augen Gestalt an.

Der Himmel hatte beschlossen, dem grausigen Ereignis Rechnung zu tragen, hüllte sich in immer dickere Wolken und stumpfte das Licht der Sonne zu einem trüben Grau ab.

Plötzlich verstärkten sich Silvias Gefühle, als ob es nicht nur Wasserdampf war, der sich über ihr zusammenbraute. Irgendein ungutes Gefühl trieb sie plötzlich zu größter Eile.

Kurz hinter der Wallenthaler Höhe setzte Regen ein, anfangs spärlich, dann jedoch in prasselnden Schauern, die die Straße in eine gefährliche Wasserrutschbahn verwandelten. Silvia ignorierte Thomas’ gelegentliche Stoßseufzer und nahm den Fuß trotzdem kaum vom Gas.

Als sie später den Wagen auf dem Gelände der Burg Vogelsang abstellte, musste sie sich regelrecht dazu zwingen, nicht die Fahrertür aufzureißen und blind drauflos zu laufen.

»Was ist bloß los mit mir?«, fragte sie sich irritiert, bevor sie ausstieg.

Pete kam ihnen mit einem Regenschirm in der Hand entgegengelaufen.

»Verdammte Sauerei, dieses Wetter«, schimpfte er, Silvia entging dennoch nicht der verunsicherte Unterton in seiner Stimme.

Sie gingen an den Gebäuden der ehemaligen NS-»Ordensburg« vorbei, zu einem Fußweg, der zu den Schleifen des aufgestauten Flüsschens führte.

Wie auf ein geheimes Kommando hin setzte der Regen plötzlich aus und enthüllte ihnen einen atemberaubenden Blick auf das unter ihnen liegende Tal der Urft.

Sonnenstrahlen drangen wie Lichtfinger durch ein Loch in der Wolkendecke und zauberten glitzernde Funken auf das frisch gesprossene Grün der Bäume und Büsche. Die aufgestaute Urft schlängelte sich in engen Windungen um saftig grünende Landzungen, selbst ihr trübes Wasser gleißte im Sonnenlicht.

Silvia blieb unvermittelt stehen und schnappte überrascht nach Luft.

»Wow«, stieß sie überrascht aus. »Ich wusste nicht, dass es hier so schön ist.«

»Das ändert sich ganz schnell, wenn wir unten sind«, knurrte Pete.

Schweigend und vorsichtig darauf bedacht, auf den vom Wasser glitschigen Wegen nicht auszurutschen, kämpften sie sich den Berghang hinab. Am See erwartete sie ein Mitarbeiter der Parkverwaltung mit einem Ruderboot.

»Wenigstens müssen wir nicht schwimmen«, bemerkte Thomas und kletterte vorsichtig auf das schwankende Gefährt.

Auf der Insel half ihnen Robert Bär, der von seinen Kollegen Robi genannt wurde und Petes Gespannsmann war, aus dem Boot.

»Die Kollegen von der Spurensicherung werden nicht begeistert sein«, bemerkte er. »Dieser dämliche Regen kommt sehr ungelegen. Passt auf wo ihr hintretet, ich hab uns einen Pfad markiert, der an den Spuren vorbeiführt.«

Silvia sah schon bald, was er meinte. Die geknickten Äste im dichten Unterholz und die Schleifspuren im matschigen Boden waren trotz des Wetters noch recht deutlich zu erkennen.

»Soweit wir den Vorfall rekonstruieren können«, begann Robi mit der Beschreibung des Tatorts, »muss der Täter hier mit seinem Opfer an Land gegangen sein. Er hatte ihn dabei schon gefesselt, wie an den Schleifspuren zu erkennen ist.«

Eine unregelmäßige Linie führte vom Wasser durch das Gebüsch bis zu dem Baum, an dem das Opfer aufgehängt worden war.

Eine Plane bedeckte den Boden am Fuße des Baumes. Robi und Pete hatten damit versucht, die Spuren vor dem Regenwasser zu schützen. Jetzt packten sie die Folie an den Enden und hoben sie vorsichtig hoch.

»Sieht so aus, als ob das Opfer hier ein letztes Mal versucht hat, sich zu befreien«, bemerkte Pete und zeigte auf eine Stelle, an der die Spur unregelmäßig wurde, ein doppelter Fußabdruck war zu sehen, tief in den schlammigen Boden eingedrückt.

»Leider nicht sehr erfolgreich«, stellte Silvia fest, und blickte verstohlen zum Baum.

Zunächst vermied sie es, das Opfer selbst anzusehen und schaute sich nach den Spuren am Boden um.

Es ärgerte sie, aber plötzlich schien sie empfindlich geworden zu sein. Sie musste sich regelrecht dazu zwingen, sich schließlich doch noch der Leiche zuzuwenden.

Sie war tatsächlich wie die Figur auf der Tarotkarte mit dem unheilvollen Namen »Der Gehängte« am Baum befestigt worden.

Ein Lochband aus Blech hielt sein ausgestrecktes rechtes Bein etwa zwei Meter über dem Boden am Baumstamm fest, das linke Bein war angewinkelt und am Oberschenkel des rechten Beines mit Kabelbinder festgezurrt.

Die Arme waren ebenfalls angewinkelt und hinter dem Rücken des Opfers mit Lochband am Baumstamm festgeschraubt.

Vorsichtig darauf bedacht, keine Spuren zu verwischen, trat Silvia näher. Der Mann trug eng anliegende Fahrradbekleidung in kräftigen Farben, was auf den ersten Blick über sein Alter hinwegtäuschte. Silvia schätzte ihn auf Mitte sechzig, wenn auch in guter körperlicher Verfassung, jedenfalls bis zu seinem gewaltsamen Tod.

Eine Platzwunde am Hinterkopf und rote Striemen an Hand- und Fußgelenken zeugten von dem verzweifelten Versuch des Opfers, sich zu wehren. Die Haut war an den Handgelenken und am rechten Fußgelenk aufgeplatzt, verkrustetes Blut bedeckte das Metall des Lochbands, mit dem es am Baum fixiert war.

Die Todesursache war eindeutig, eine klaffende Wunde am Hals. Sie sah das Blut, das an den Schläfen entlang über den Kopf abwärts geflossen war und die graumelierten Haare und den Boden darunter dunkelrot gefärbt hatte.

»Hier hat jemand gearbeitet, der sein Fach beherrscht«, stellte Pete, der neben Silvia in die Hocke gegangen war, mit widerwilliger Bewunderung fest. »Ein einziger Schnitt, die Kehle war sofort durch. Schreien konnte der arme Kerl nicht mehr. Aber bis er dann tot war, hat es noch etwas gedauert.«

Silvias Blick blieb an den aufgerissenen starren Augen und dem zu einem unhörbaren Laut geöffneten blutverschmierten Mund kleben. In ihrem Kopf gellte der verzweifelte Schrei des Opfers wie ein Echo aus der Vergangenheit. Unartikulierte Laute, die dennoch etwas bedeuteten, sie konnte sie nur nicht verstehen. Ihre Gedanken begannen zu kreisen und zogen sie wie in einem mächtigen Mahlstrom immer mehr in die Tiefe.

Warme Hände legten sich beruhigend auf ihre Schultern und zogen sie sanft beiseite. Thomas war der Zustand seiner Kollegin nicht entgangen.

»Vorsichtig, Mädchen«, raunte er ihr zu. »So was sollte man sich nicht zu lange anschauen. Außerdem kommen gerade die Kollegen von der Spurensicherung an.«

Die Spezialisten stießen schon bald auf eine unerwartete Überraschung. Der Täter hatte Fingerabdrücke hinterlassen.

»Das verstehe ich nicht«, meinte Thomas, »Da hat er sich die allergrößte Mühe gegeben, sein Opfer derart aufzuhängen und auch noch bei lebendigem Leibe, dieser Schnitt durch die Kehle, absolut professionell, und dann macht er einen solchen Schnitzer! Vergisst einfach, sich Handschuhe anzuziehen. Das passt doch nicht!«

Silvia schüttelte nur stumm den Kopf. Sie war immer noch benommen von den Empfindungen, die der Anblick des Opfers in ihr ausgelöst hatte. Pete und Robi hatten Recht mit der Vermutung, dass hier besondere Kräfte am Werk waren.

Kurze Zeit später fanden die Beamten weitere Hinweise. Schleifspuren am gegenüberliegenden Ufer, die von einem Schlauchboot stammen mussten, Spuren von Autoreifen, eine weggeworfene Zigarettenkippe und Anzeichen eines Kampfes. Schließlich entdeckte man ein Fahrrad, das unweit des Radweges, der hier am Ufer vorbeiführte, im Gebüsch versteckt worden war. Es hatte offensichtlich dem Opfer gehört.

»Der Täter scheint seinem Opfer genau hier aufgelauert zu haben«, erklärte einer der Mitarbeiter der Spurensicherung und zeigte auf eine Stelle hinter einem dichten Busch.

Als man dann einen Schlüsselbund und eine Brieftasche mit Ausweispapieren fand, konnten die Ermittler endlich auch die Identität des Opfers feststellen.

»Heiner Schütt aus Schleiden«, diktierte Thomas seinem Kollegen. »Jahrgang 1942. Wer fährt hin?«

»Das machen wir schon«, meldete sich Robi, aber Silvia legte ihm die Hand auf den Arm.

»Wenn du nichts dagegen hast, würde ich das gerne übernehmen. Ich hab da so eine ungute Ahnung, die ich gerne widerlegt hätte.«

Robi wechselte einen vieldeutigen Blick mit Pete, bevor er zustimmend nickte.

Schütts Wohnung, in die sie Dank der aufgefundenen Schlüssel problemlos hineingelangten, schien auf den ersten Blick tatsächlich Silvias Befürchtungen zu widerlegen. Sie war modern und geschmackvoll eingerichtet und enthielt keine erkennbaren Hinweise auf esoterische oder okkulte Interessen. Es gab zwar eine prall gefüllte Bücherwand, aber die Bände hätten im Regal eines jeden umfassend interessierten Bürgers stehen können.

In einem kleinen Arbeitszimmer fanden sie einen PC mit Internetanschluss und einen Laptop. Silvia und Thomas überlegten, ob sie die Geräte einschalten sollte, entschieden sich aber, die Untersuchung der Daten den Spezialisten auf der Dienststelle in Bonn zu überlassen. Dort kannte man genügend Tricks und Kniffe, um eventuelle Passwörter und Sperrungen zu überwinden.

Die Unterlagen in der Wohnung und die Befragungen in der Nachbarschaft ließen ein erstes Bild von den Lebensumständen des Opfers entstehen.

Hans Schütt war ein ehemaliger Universitätsprofessor, seit zwei Jahren im Ruhestand, seine Frau war vor sieben Jahren bei einem Unfall gestorben, er hatte eine erwachsene Tochter, die in Düsseldorf lebte. Nach Auskunft der Nachbarn gab es nichts, das auf ein mögliches Mordmotiv hinwies.

»Keinen Streit, keinen Ärger, der Mann hatte praktisch keine Feinde«, fasste Silvia zusammen.

»Offensichtlich war er einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort«, vermutete Thomas, aber Silvia wollte das nicht glauben. Auch wenn der Gedanke an einen reinen Zufall angesichts ihrer Befürchtungen verführerisch klang.

»Ich weiß nicht«, antwortete sie gedehnt, »Ich hab da ein ganz blödes Gefühl bei der Sache.«

Sie standen bereits bei ihrem Wagen, als Silvia stutze und ein nachdenkliches Gesicht machte.

»Du kannst mich jetzt für verrückt erklären«, sagte sie zu Thomas, »aber ich würde mich viel wohler fühlen, wenn wir den Laptop aus der Wohnung jetzt schon mitnehmen würden.«

Thomas wandte ein, dass sie dazu eigentlich keine Berechtigung hätten, schließlich sei noch kein offizieller Durchsuchungsbefehl für Schütts Wohnung ausgestellt worden.

»Wir können ja mit der Durchsuchung der Dateien warten, bis ein Beschluss der Staatsanwaltschaft vorliegt«, beruhigte ihn Silvia und gab damit den Ausschlag.

Auf dem Weg zurück zur Dienststelle, kurz vor der Abfahrt Endenich erreichte sie ein Anruf der Zentrale. Anjas Stimme säuselte durch den Lautsprecher der Freisprechanlage. Silvia vergaß jedoch sofort, sich über ihren einschmeichelnden Ton zu ärgern, als sie hörte, dass sich jemand auf der Wache in Schleiden gemeldet und den Mord an Heiner Schütt gestanden hatte.

»Das wär’s dann wohl«, kommentierte Thomas lakonisch. »Wir bringen die Geräte besser sofort wieder zurück, bevor jemand was merkt.«

»Das kann warten«, wehrte Silvia mit Skepsis in der Stimme ab. »Ich traue dem Braten nicht.«

Sie waren noch nicht am Revier angekommen, als sich Anja erneut meldete. Der Mann, der sich als Schütts Mörder der Polizei gestellt hatte, lebte nicht mehr. Er war kurz nachdem er seine Aussage gemacht hatte tot zusammengebrochen.

Silvia und Thomas kamen gerade hinzu, als der herbeigerufene Notarzt den Totenschein ausfüllte.

»Genaueres kann ich natürlich erst nach der Obduktion sagen«, erklärte er »Aber ich vermute, dass da irgendein verzögernd wirkendes Gift im Spiel ist. Der Mann war Apotheker, da hatte er sowohl das Know- how, als auch die nötigen Toxide.«

Silvia ließ sich das Protokoll geben und las es kopfschüttelnd durch. Seine Aussage war zwar, was den Ablauf des Mordes anbelangte, stimmig, aber ein vernünftiges Motiv hatte er nicht nennen können. Er hatte lediglich von einer Macht gesprochen, die ihn besessen hatte.

»Schau mal, das dürfte dich interessieren.«

Thomas riss sie aus ihren Gedanken. Er hielt eine Karte in der Hand, die sich in einer der Innentaschen des Jacketts befunden hatte, das der mutmaßliche Täter noch vor seinem Tod ordentlich auf einer Stuhllehne aufgehängt hatte. Silvia ließ einen überraschten Pfiff hören, als sie erkannte, was sich darauf befand.

»Also doch Tarot.«

Auf der Karte war das Bild eines Mannes zu sehen, der mit dem Kopf nach unten aufgehängt war. Genau wie Schütt hatte er die Hände hinter dem Rücken gefesselt und ein Bein angewinkelt. Unter dem Bild stand in großen Lettern: Der Gehängte.

Hier war etwas oberfaul!

Schütts Laptop fiel ihr ein. Sie hatte ihn noch nicht abgegeben und hatte auch nicht vor es zu tun, jedenfalls vorerst nicht.

In Gedanken ging sie der Reihe nach ihre Bekannten durch, auf der Suche nach einem geeigneten Kandidaten, der ihr Zutritt zu Schütts Dateien verschaffen konnte, ohne dass der Staatsanwalt unnötig mit dieser Sache belästigt werden musste. Schließlich setzte sie ein zufriedenes Lächeln auf. Es gab da tatsächlich jemanden, der sich bestens auskannte und dieser Jemand schuldete ihr auch noch einen Gefallen.

3. Gerald

Wehe dir, Babylon und Asien! Wehe dir, Ägypten und Syrien! Umgürtet euch mit Säcken und härenem Tuch, beklagt eure Söhne und beweint sie, denn nahe ist eure Vertilgung.

Ausgeschickt ist gegen euch das Schwert. Wer ist da, der es abwende?

Apokryphen, »6. Buch Ezra«

Die männliche Gestalt lag zitternd am Boden. Ein weiches dunkelrotes Satintuch, lose über die Hüfte geworfen, hob die Nacktheit ihrer stattlichen Erscheinung mehr hervor, als sie zu verdecken. Lochbänder hielten Arme und Beine unbarmherzig am Untergrund fest, selbst der Kopf war mit einem solchen Band aus verzinktem Blech an die frisch gebohnerten Dielenbretter des Bodens gepresst.

Mehr als zittern war dem gefangenen Mann nicht möglich.

»Gerald, bitte, tu das nicht«, schluchzte er gequält. Der harte Ton seiner Stimme verriet seine slawische Herkunft.

Der Angesprochene, ein kleiner drahtiger Mann, Mitte 30, ging vor ihm in die Hocke und streichelte zärtlich eine der lockigen Strähnen aus dem Gesicht seines Opfers.

»Aber Nikolai, was weinst du, sei froh, du bist Teil von etwas Besonderem.«

»Bitte, Gerald, hör auf, lass mich gehen, ich werde auch bestimmt niemandem etwas verraten.«

»Natürlich wirst du das nicht«, antwortete Gerald. Der sanfte, fürsorgliche Tonfall seiner Stimme schürte Nikolais Angst bis zur Panik. Verzweifelt versuchte er seine Hände frei zu bekommen, aber die Lochbänder um seine Handgelenke waren mit stabilen Schrauben am Boden befestigt. Keine Chance, er war diesem Monster ausgeliefert. Einem Monster, das einmal der Mensch gewesen war, den er über alles liebte.

Was war bloß geschehen? Was hatte Gerald so grausam verwandelt?

Fragen, die aus dem hintersten Winkel seines gepeinigten Verstandes hervordrängten. Wenn er auf sie eine Antwort finden könnte, gäbe es vielleicht einen Weg, seinen Geliebten wieder zur Vernunft zu bringen.

Während Gerald aufstand und sich an einer kunstvoll verzierten Holztruhe zu schaffen machte, zwang sich Nikolai zur Ruhe und rekapitulierte die Ereignisse, die zu seiner misslichen Lage geführt hatten.

Nikolai hatte seine homosexuelle Neigung in den Wirren seiner Jugend entdeckt und außergewöhnlich schnell als gegeben akzeptiert. Damit befand er sich allerdings in Weißrussland, wo er bis zur Emigration in seinem achtzehnten Lebensjahr aufgewachsen war, in einer nicht ganz ungefährlichen Lage. Er musste seine Neigung verheimlichen, wollte er nicht Spott, Verachtung und Schlimmeres auf sich ziehen. Trotz der gesellschaftlichen Ächtung gab es auch hier eine Szene, in die er irgendwann Einlass fand. Ausgestattet mit einem robusten und pragmatischen Naturell versuchte Nikolai das Beste aus seiner Situation zu machen. Dass die Mehrheit seinesgleichen ablehnte, störte ihn irgendwann nicht mehr, im Gegenteil, er empfand sein Anderssein zunächst als etwas Besonderes, eine Eigenschaft, die ihn aus der grauen Masse hervorhob.

Fluch und Segen zugleich war seine äußere Erscheinung. Sein athletischer Körperbau, die schwarzen gelockten Haare, volle Lippen, eine markante Nase, die seinen sonst ebenmäßigen Gesichtszügen ihren besonderen Charakter verlieh, und dunkelbraune Augen, die in unendlichen Tiefen zu gründen schienen.

Frauen und Männer fühlten sich gleichermaßen von ihm angezogen, und Nikolai musste recht bald lernen, dass sexuelle Anziehungskraft auch ihre Schattenseiten hatte.

Eifersucht seiner jeweiligen Partner und offene Anfeindungen seiner Altersgenossen, die um ihre Freundinnen bangten, machten es schwierig, eine normale Beziehung aufzubauen. Nikolai stellte sich darauf ein und vermied es, eine tiefere Beziehung zu jemandem einzugehen, egal ob Mann oder Frau. Stattdessen verlegte er sich darauf, seine Talente in Bares zu verwandeln und stieg bald zu einem der begehrtesten Callboys seines Landes auf. Glücklich wurde er dabei nicht, zumal er seine Kunden und Kundinnen zu verachten begann. Sie sahen in ihm nur den perfekten Körper. Von seinem scharfen Verstand und seiner unterdrückten Empfindsamkeit wollten sie nichts wissen. Trotzdem schaffte er es nicht, aus seiner Situation auszubrechen, bis er die erste Erfahrung mit der russischen Mafia machte.

Nur mit knapper Not entkam er den brutalen Nachstellungen eines sadistischen Gangsters und beschloss, so schnell wie möglich das Land zu verlassen.

So kam er nach Deutschland, dem Land der Verheißung. Allerdings vermied er hier ganz bewusst den Kontakt zu seinen Landsleuten. Zum einen waren sie ihm noch viel zu sehr in alten Traditionen verhaftet, zum anderen wollte er sich im Gegensatz zu einem Großteil seiner Landsleute vorbehaltlos integrieren. Er hatte keine Angst vor der fremden Kultur, die den Neuankömmling in einen Strudel aus unerfüllbaren Versprechungen und trister Alltagsrealität hineinzog, die die Menschen aus seinem Land zu sich rief, ihre Besonderheiten und ihre Sehnsucht nach einer eigenen Identität jedoch ablehnte.

Er wollte aufgehen in diesem Land, verschmelzen mit seiner Freiheit, sich ausprobieren in seinen schier unbegrenzten Möglichkeiten.