Inhalte

  1. Titelei
  2. Kapitel 1
  3. Kapitel 2
  4. Kapitel 3
  5. Kapitel 4
  6. Kapitel 5
  7. Kapitel 6
  8. Kapitel 7
  9. Kapitel 8
  10. Kapitel 9
  11. Kapitel 10
  12. Kapitel 11
  13. Kapitel 12
  14. Kapitel 13
  15. Kapitel 14
  16. Kapitel 15
  17. Kapitel 16
  18. Kapitel 17
  19. Kapitel 18
  20. Kapitel 19
  21. Kapitel 20
  22. Kapitel 21
  23. Kapitel 22
  24. Kapitel 23
  25. Kapitel 24
  26. Kapitel 25
  27. Kapitel 26
  28. Kapitel 27
  29. Kapitel 28
  30. Kapitel 29
  31. Kapitel 30
  32. Kapitel 31
  33. Kapitel 32
  34. Kapitel 33
  35. Kapitel 34
  36. Kapitel 35
  37. Kapitel 36
  38. Kapitel 37
  39. Kapitel 38
  40. Kapitel 39
  41. Kapitel 40
  42. Abspann
Hitze
Ein Wyatt-Roman
Garry Disher
1

Es lief jetzt schon nicht rund.
Wyatt beobachtete Vidovic, der das Gespräch beendete. Das Telefon in die Tasche seines Hemds steckte. An einer Miene der Entschuldigung arbeitete.
»Das war Jack.«
Wyatt wartete. Leute drucksten herum, wenn es um schlechte Nachrichten und Rückschläge ging. Vertane Zeit, aber was sollte man machen? Vidovic würde in den nächsten paar Sekunden zur Sache kommen. Oder nach Jahren.
»Jack Pepper«, erklärte Vidovic. Als er keine Veränderung in Wyatts granitenen Gesichtszügen wahrnahm, fuhr er fort: »Er fragt an, ob wir uns stattdessen in einem Motel treffen können.«
»Hat er gesagt, warum?«
»Nein.«
Sie standen mit einem gemieteten Lieferwagen in einem trostlosen Caravan Park in den Hügeln außerhalb Melbournes. Wyatts Entscheidung. In Caravan Parks herrscht Kommen und Gehen. Man bleibt eine Weile und zieht weiter; man wählt einen Caravan Park, weil er billiger ist als ein Motel. Um dich herum sehen alle die Dinge wie du, also nimmt niemand Notiz von dir.
Und dieser Caravan Park lag hinreichend weit von der City entfernt und nicht in der Nähe irgendeiner Flotte gepanzerter Fahrzeuge oder eines Standortes für Übergaben.
Wyatt sah auf seine Armbanduhr: acht Uhr abends. »Hat er dir eine Adresse gegeben?«
Vidovic nannte ein Budget Motel in Highett. Am Strand; fünfundvierzig Minuten entfernt. Fast hätte Wyatt nein gesagt, aber er war mit nahezu nichts aus Frankreich zurückgekommen. Nur mit Genugtuung – Genugtuung darüber, einen Mann getötet zu haben.
Kein Job, der sich ausgezahlt hatte.
»Okay, fahren wir.«
Während der Fahrt hinunter zu den ebenen Straßen und Ziegeldächern, die typisch waren für den an der Bay gelegenen Teil Melbournes, redete Vidovic. Wyatt ließ ihn. Er hörte auch nicht richtig zu, nur so viel, um mitzubekommen, dass sein Freund völlig abgebrannt war und diesen Job wirklich brauchte.
Genau wie Wyatt. Der Unterschied war nur, dass Wyatt kein Bedürfnis hatte, das auszusprechen. Er unterhielt sich nicht. Er offenbarte seine Bedürfnisse nicht. Er gestand sich nicht einmal ein, dass er welche hatte.
Aber er dachte nach.
Die Pepper-Brüder, Jack und Leon, hatten Vidovic eines Jobs wegen kontaktiert. Vidovic, dem die Sache gefiel, hatte Wyatt kontaktiert. Vidovic hatte bereits mit den Pepper-Brüdern zusammengearbeitet, so, wie er auch mit Wyatt zusammengearbeitet hatte. So hatte es sich ergeben. Weder misstraute Wyatt den Pepper-Brüdern, noch traute er ihnen. Er kannte sie nicht.
Wyatt wusste auch nicht, wer der fünfte Mann war. Aber fünf war die richtige Anzahl für einen Überfall auf einen Geldtransporter. Ein sauberer Hinterhalt, eine Behinderung oder Umleitung des Verkehrs, Abfangen der Boten vor der Bank – was auch immer. Man benötigte einen Fahrer, einen, der den Funk abhörte und die Straße im Auge behielt, zwei Mann mit Waffen und einen Spezialisten: einen Typ, der sich mit Schneidewerkzeug auskannte, mit Elektronik oder Semtex. Bislang wussten Vidovic und Wyatt nur, dass die Pepper-Brüder behaupteten, an einem todsicheren Ding dran zu sein.  

Den Nepean Highway hinunter, wo der leicht salzige Seegeruch schwach über den Industrietoxinen hing. Das Motel lag mit seinem verblassten Erscheinungsbild einen Block vom Strand entfernt. Jahre voller Sonnenlicht und Salz hatten es mürbe werden lassen. In früheren Zeiten waren Familien im Januar für eine Woche dringlich benötigten Urlaubs hier abgestiegen, mehr gab es dazu nicht zu sagen. Nicht, dass Wyatt irgendetwas dazu zu sagen gehabt hätte. Er parkte zwei Blocks entfernt und stellte den Motor ab.
Vidovic warf ihm einen Blick zu. »Du könntest direkt vorfahren, Kumpel.«
Wyatt antwortete mit einem ruhigen, aber bedeutungsschwangeren Blick. Vidovic hob beide Hände in einer Geste der Kapitulation. »Okay, okay, immer auf der Hut.« Ein nervöses Kichern. »Eines Tages werde ich den entspannten Wyatt erleben.«
Eines Tages werde ich tot sein, dachte Wyatt.
Er zog sich eine Baseballkappe tief ins Gesicht, schlüpf­te in eine Wolljacke mit Reißverschluss und schlug den Kragen hoch. Die Kameras würden nur die Andeutung einer prägnanten Nase und prägnanter Wangenknochen zeigen, kein zu identifizierendes Gesicht.
Vidovic folgte dem Beispiel unter Murren und sie machten sich auf den Weg. Vorbei an einem Nudelshop, einem Waschsalon und einem 7-Eleven. Sie blieben unauffällig; es gab noch andere in Jacken mit hochgeschlagenen Kragen an diesem kühlen Abend Mitte September.
Das Motel war L-förmig angeordnet, die Anmeldung an einem Ende in der Nähe der Einfahrt von der Straße. Eine einsame Kamera deckte den Bereich der Anmeldung ab, eine symbolische Maßnahme. Als glaubte das Management, es werde sich in den Motelzimmern nie etwas ereignen. Keine Überdosis, keine Vergewaltigungen, Morde oder tätlichen Übergriffe. Oder die Planung für einen Raubüberfall.
Wyatt und Vidovic schlichen sich auf das Gelände, dort, wo die Dunkelheit am intensivsten war, gingen dann um einen Zyklonzaun herum, der das Motel von einem Apartmentblock trennte. Das Licht war schwach, beleuchtete kaum den von der See heraufziehenden Dunst. Es tröpfelte. Von ein paar verkümmerten Sträuchern fielen kleine Tropfen auf Wyatts Ärmel.
Zimmer 18, davor parkte ein weißer Camry, den Kühler voran. Wyatt schritt das Heck des Wagens zur Hälfte ab und, tatsächlich, am Fenster pappte der Aufkleber eines Autoverleihs.
Er starrte auf das Motelzimmer, nicht bereit, es zu betreten. Das Ganze war von Anfang an heikel gewesen. Dennoch, vielleicht hatten die Pepper-Brüder genügend Verstand, um falsche Namen zu benutzen?
Vidovic, der Wyatts Gedanken erriet, sagte: »Junge, die wissen, was sie tun.« Er ging zur Tür und klopfte.
Also ließ Wyatt die Hand in seine Jackentasche gleiten, wo seine kleine .32er durch seine Körperwärme beinahe warm geworden war. Ein gutes Gefühl. Er verharrte in der Dunkelheit, wo er das gute Gefühl zu steigern suchte. Instinkt. Wyatt hätte es vielleicht als gesunden Menschenverstand bezeichnet, wäre er genötigt ge­wesen, sich zu erklären.
Er beobachtete Vidovic. Beobachtete, wie die Tür sich öffnete und Licht nach draußen fiel. Beobachtete Vidovic, der sich umdrehte und ihm mit einer Geste zu verstehen gab: Alles in Ordnung, Kumpel, geh rein.

Vidovic und Wyatt waren aus dem gleichen Holz ge­schnitzt – groß, hager und vorsichtig –, nur war Vidovic dieser Tage ein Anflug von Verzweiflung eigen. Die Pepper-Brüder waren aus weicherem Stoff. Knapp dreißig, mit Ohrringen und Dreitagebart in rosigen unbedarften Gesichtern. Schicke Anzüge über offenen Hemden. Junge Masters of the Universe.
Jack Pepper stand mitten im Zimmer, sein jüngerer Bruder lümmelte auf dem Bett. Sie seien Berater, wenn sie nicht gerade Überfälle planten, hatte Vidovic auf der Fahrt von den Hügeln hierher erzählt. Er hatte mit den Achseln gezuckt, eine Grimasse geschnitten, als Wyatt gefragt hatte: »Berater auf welchem Gebiet?«
Es kam zu keinem Händeschütteln. Jeder der Brüder grüßte mit einem lässigen Winken, dann goss Jack Pepper Scotch in vier Gläser – auch für Wyatt, selbst als der nein sagte. Der Mann war aufgedreht, die kleinen Augen in seinem runden Gesicht sprühten vor Übermut.
»Cheers«, er prostete Wyatt zu. »Du bist uns empfohlen worden.«
Wyatt verzog keine Miene.
»Von Stefan hier«, fuhr Pepper fort und deutete auf Vidovic, als wäre Wyatt etwas schwer von Begriff.
Wyatt nickte. Er begutachtete das Zimmer: Doppelbett, zu beiden Seiten des Kopfteils ein Nachttisch, eine Bank mit einem Klotz von Fernseher darauf. Ein winziger Tisch und zwei Sessel, angrenzend das Bad. Von einem Fetzen Kunst an der Wand über dem Bett abgesehen, war es das. Er nahm einen der Stühle, stellte ihn zwischen Tür und Fenster, das einzige im Raum, und setzte sich. Probleme vor Augen, einen Fluchtweg im Rücken. Zu beiden Seiten. Er wartete, ruhig und schweig­sam.
Ein Prusten kam von dem Mann, der auf dem Bett lümmelte. »Nimm den Jungen.«
Leon Pepper war feister im Gesicht als sein Bruder und nicht gerade der Schlaueste.
»Einer fehlt uns noch«, sagte Wyatt.
Jack Pepper blickte auf seine Armbanduhr.
»Ja, nun, Syed hat manchmal Probleme mit seinem Zeitgefühl, nicht wahr, Lee?«
Leon kicherte. Er wand sich, bis er mit dem Rücken gegen das Kopfteil gestützt dasaß, wobei seine dicken Schenkel den feinen Wollstoff verzogen, der sie um­schloss. Seine Schuhe hatten Spuren auf der Bettdecke hinterlassen.
»Syed?«, fragte Wyatt.
»Syed Ijaz«, sagte Jack Pepper. »Kennt sich mit Autos aus und so. Weiß, wie man sie knackt, weiß, wie man sie fährt.«
Und wie man ein Taxi zu einer Lagebesprechung nimmt: Hinter dem Fenster nahm Wyatt das Rumpeln von Reifen wahr, dann das Zuschlagen einer Autotür. Er linste rechtzeitig durch die Scheibe, um zu sehen, dass sich das Taxi von Nummer 18 entfernte und der Fahrer die Frei-Anzeige aktiviert hatte.
Ein Skinhead schleppte sich an dem Avis-Camry vorbei. Wyatt ging sofort zur Tür und riss sie auf, bevor der Mann namens Ijaz klopfen konnte.
»Komm rein.«
»Scheiße, wer bist du?«
Wyatt ließ seinen Blick über den trostlosen Parkplatz wandern, über die Straße am anderen Ende, die verschwommenen Autos, die durchs Dunkel fuhren. Ein trüber, nasskalter, friedlicher, ein aussichtsloser Abend. Er schloss die Tür und kehrte zu seinem Stuhl zurück.
Verfolgte, wie der Neue und die Pepper-Brüder die Fäuste aneinanderstießen. Bemerkte, dass ein wenig mehr Dynamik in seine Bewegungen kam. Ijaz begrüßte Stefan Vidovic, der nervös zu Wyatt sah, mit einem verhaltenen Nicken.
Jack Pepper sagte: »Wyatt, das ist Syed.«
Wyatt sagte: »Wo hast du das Taxi rangewinkt?«
Ijaz blinzelte heftig. »Rangewinkt? Ich hab’s nicht rangewinkt. Ich habe es übers Telefon bestellt.«
»Sag mir, dass du eine öffentliche Telefonzelle benutzt hast.«
Ein Grinsen. »Gibt’s die noch? Vom Telefon meiner Mum.«
Wyatt atmete tief durch. »Wie hast du gezahlt?«
»Bar.«
Wenigstens etwas.
»Das Taxi hat vor der Tür deiner Mutter gehalten?«
Ijaz schüttelte den Kopf. »Am Ende der Straße, wir wohnen in einer Art Sackgasse, ist einfacher, wenn man denen sagt, sie sollen an der Ecke warten. Also«, er rieb die Hände aneinander, »wie weit sind wir?«
»Haben gerade angefangen«, sagte der Bruder auf dem Bett aufgeräumt.
»Nun, Jungs, ich brauch das dringend«, sagte Ijaz.
Wyatts wegen erklärte Leon Pepper mit einem Lä­cheln in der Stimme: »Der gute Syed hier schuldet je­mandem ein bisschen Geld.«
»Zehn Riesen.« Ijaz grinste. »Opferentschädigung.«
Er war etwa neunzehn, dunkel, ausgezehrt, mit wunden Nasenflügeln und einem Teint, der von Juckreiz zeugte. Er lebte die Party seines Lebens, und das würde kurz sein.
Wyatt deutete mit dem Kinn in Vidovics Richtung. »Kommst du?«
Vidovic nickte matt. Er wusste so gut wie Wyatt, dass es sich erledigt hatte. Zu viele Fehler. Von Anfang an ein Rohrkrepierer. Er gesellte sich zu Wyatt an die Tür.
»Was zur Hölle? Kommt schon, Jungs«, sagte Jack Pepper entrüstet.
Wyatt sah keinen Anlass, es durchzubuchstabieren: das Motel, der Mietwagen, das Taxi. Der Schwachkopf von Speedfreak, der gerade eingetroffen war. Er sagte: »Verrat mir eins: Was für ein gepanzertes Fahrzeug und welche Route?«
Jack Pepper fühlte sich durch Wyatts Frage ermutigt. Er gestikulierte in Richtung der Welt kurz hinter dem Motel. »Ein Van von SecureCor, und der fährt zweimal die Woche morgens hier vorbei, holt freitags die Einnahmen von Montag bis Donnerstag ab und die vom Wo­chenende am Montagmorgen. Von jedem Supermarkt zwischen Sandringham und Chelsea.«
Er wartete auf ein Zeichen der Überraschung oder der Gier oder wenigstens auf einen Funken Interesse.
»Idiot«, war alles, was er von dem unnachgiebigen Mann präsentiert bekam, der gerade den Raum verließ.

10

Trask stiefelte in Leahs Haus und stieß in der Küche auf sie – eine Schürze über ihrem T-Shirt, nackte schlanke Beine, schimmernd unter dem Saum des Shirts. Sie begrüßte ihn nicht, drehte sich nicht vom Herd weg. Was nicht anders zu erwarten gewesen war. Und als er seine Lippen auf ihren langen, feuchten Nacken drückte, wand sie sich mit ihren schmalen Schultern. Was entweder Lass das bedeutete oder Nachher, vielleicht. Es bedeutete nicht Mach das noch mal.
»Schon gehört? Die Lions sind im Finale.«
Leah beachtete ihn nicht. Sie kochte, etwas, was sie selten tat und schlecht dazu. Sauce bolognese, wie’s aussah. Rinderhackfleisch, Zwiebeln, Knoblauch, Dosentomaten und Tomatenmark. Keine Kräuter, kein Schuss Rotwein, weder Salz noch Pfeffer, noch ein Suppenwürfel oder eine Prise Zucker, um dem ganzen Tomatenzeug die Säure zu nehmen. Aber sie hatte gemeint, man müsse sich unterhalten, wo es keine Zuhörer gebe, also würden sie bei ihr essen.
Trask beugte seine große Gestalt in den Kühlschrank, peilte pessimistisch die Lage, aber da war eine Dose Bier, Cascade Light. Er ließ die Kühlschranktür los, verfolgte, wie sie zuschwang, wie Magnetdichtung und Rahmen einander lautlos küssten, und zog dabei am Verschluss der Dose. Leah trank Gin Tonic, das Glas abgestellt auf dem Fenstersims über der Spüle. Dieses eine Glas würde ihr für den ganzen Abend genügen. Sie erwiderte nichts, als er mit seiner Dose gegen ihr Glas stieß und »Cheers« sagte, sondern zuckte nur wieder mit ihren schmalen Schultern. Was für ein Paar, dachte er: der Schmetterling und der Kleiderschrank.
Eine Zeit lang geschah nichts. Trask trank sein Bier und Leah kochte. Sie fragte nicht, wie es mit Wurlitzer gelaufen sei.
Angeödet zog er sich ins Badezimmer zurück. Badezimmer hatten eine beruhigende Wirkung auf ihn. Er saß da und träumte und schaute und las die Etiketten auf Tuben und Flaschen.
Leahs Badezimmer war voller teurer Shampoos und Lotionen mit obskuren Namen, festgehalten in Schriftbildern, die nur so wimmelten von Umlauten und Zirkumflexen. Entworfen, um exotische Bestandteile zu suggerieren, seltene, kostspielige, entwickelt mithilfe der Weisheit von Jahrhunderten. Alles Schwindel, natürlich. Laut Etikett stammte Leahs Shampoo aus der Fabrik 4, Technology Road, Newcastle North Industrial Estate.
Er ging zurück in die Küche. Offensichtlich mit dem Rühren fertig, schien Leah geneigt, ihm einen Moment ihrer kostbaren Zeit zu gewähren. Am Ende eines langen Arbeitstages zeigte sie keine Spur von Ermüdung. Hinterlist und Tod garantierten ihr eine glänzende Verfassung. Er beugte sich vor, um sie zu küssen, aber sie legte ihm die Hand auf die Brust. »Nein, lass das. Wir gehen dahin, wo’s behaglicher ist.«
Ins Bett? Wohl kaum. Trask folgte ihr zum Sofa im Wohnzimmer, den Schwung ihrer Hüften im Blick. Sie ließ sich aufs Sofa fallen, klopfte mit der Hand auf die Stelle neben ihrem Oberschenkel und schwang ihre Beine über seinen Schoß, sobald Trask sich gesetzt hatte. Ihre Haut schimmerte, war glatt, straff, gebräunt. Unterhalb des Saums von Leahs T-Shirt die Andeutung eines schwarzen Höschens.
Er streichelte eins der zarten Beine vom Knöchel bis zum Knie und auch ein Stück darüber. »Wurlitzer lief glatt, nebenbei bemerkt.«
»Natürlich. Davon war ich absolut überzeugt«, sagte sie.
Er streichelte weiter. Wollte ihr ein anständiges Lob entlocken, unfähig, die richtigen Worte zu finden.
Sie packte seine Hand. »Konzentrier dich.«
»Oh, ich bin konzentriert.«
»Konzentrier dich, hab ich gesagt.«
Wenn man sie verärgerte, straffte sich ihr Gesicht und ein Killerblick trat in ihre Augen.
»Tut mir leid«, murmelte er.
Sie rang sich ein Lächeln ab. Eines wie ein Schlitz, der ihre Lippen verschluckte. »Ich habe nachgedacht«, sagte sie.
»Das hast du drauf.«
»Hattest du schon mal das Gefühl, man betrachte uns als selbstverständlich?«
Ständig, dachte Trask. Er sagte: »Du meinst deinen Onkel?«
Sie nickte. »Ich meine, im Endeffekt hast du uns die Kundin beschafft. Gäb’s dich nicht, gäb’s keinen Ormerod-Job.«
»Genau.«
»Und welchen Dank bekommst du dafür?«
»Einen Scheiß bekomm ich«, sagte Trask, der sauer wurde.
»Und ich?«, wollte Leah wissen. »Immer heißt es: ›Tu dies, Leah, tu das, Leah.‹ Nein, danke.«
»Hm.«
»Onkel David lebt da so in seinem großen Haus, hat Geld wie Heu.«
»Yep.«
»Ich war erst sechs, als Mum und Dad getötet wurden.«
Wie Trask es verstanden hatte, waren sie voll auf Speed in einen entgegenkommenden Betonmischer ge­rauscht. »Das muss heftig gewesen sein«, sagte er.
»Heftig? In einem Kinderheim wär ich besser aufgehoben gewesen. Ich meine, ich habe immer gewusst, dass er nicht ganz sauber ist. Ich war dreizehn, als er angefangen hat, mich aufzubrezeln. Nicht oft und meistens für Erpresserfotos. Aber immerhin.«
»Hat er ... «
Sie schüttelte den Kopf. »Nee. Hat mich nie an­ge­rührt.«
»Und deine Tante?«
»Ist durchgedreht. Sie ist in der Psychiatrischen.«
Trask fragte sich, wohin das alles führen würde.
»Es ist so, dass Onkel David immer gesagt hat, was ihm gehört, würde eines Tages mir gehören. Er würde mich in alles einweisen und wenn er sich zurückzieht, soll ich das Ganze übernehmen.«
»Er macht aber keinesfalls den Eindruck, als würde er sich zurückziehen wollen«, gab Trask zu bedenken.
Leah war Trasks Hand überdrüssig geworden und spannte sich wie eine Feder. »So ist es. Ich werde alt und grau sein, wenn ich so was wie Verantwortung übernehme. Und was, wenn sein kleines Reich zwischenzeitlich um ihn herum zusammenbricht? Was wird dann aus mir?«
Trask wischte sich ein wenig Spucke von der Wange, Leahs Spucke, und streichelte ihr Knie. »Im Fall der Fälle gehen wir alle unter.«
»Er vertraut mir nicht, lässt mich nichts in Eigenregie erledigen«, sagte Leah, von einem Zittern erfasst. »Dieses Gemälde, zum Beispiel – wir beraten uns nicht, er schleppt lieber einen Fremden an.«
Trask linste auf das V ihres Höschens unterhalb des T-Shirtsaums.
»Was zahlt er dem Kerl?«
Leah schwang ihre braunen Beine geschmeidig auf den Boden und das schwarze V verschwand. »Sicherlich kein Trinkgeld.«
Trask sah sich im Zimmer um. Von außen verfiel das Haus, aber das Wohnzimmer war wie aus einem Lifestylemagazin: minimalistisch, mit schimmerndem Holzboden, einem Teppich in Jadegrün, Ledersesseln und nüchternen weißen Wänden und Regalen. Hier und da rote, gelbe und blaue Tupfen, die das kalte Licht aufbrachen: Vasen, Buchrücken, Kissen. Kleine, wie hastig hingeworfene Drucke an den Wänden.
Er fragte sich, ob er heute das Schlafzimmer noch sehen werde, so wie Leah dasaß, steif und stinkig. Vielleicht Massage ihres Egos ...
Trask legte ihr einen Arm um die Schultern und sagte: »Leah, du könntest diese Sache erfolgreich durchziehen, wenn Minto dir die Möglichkeit geben würde.«
Es war, als hätte sie genau diese Worte hören wollen. Da waren sie wieder, ihre Beine, ihre Waden in seinem Schoß, auch ihr Arsch rückte ein Stückchen näher.
»Witzig, dass du das sagst, weil mir genau das eben durch den Kopf ging.«
Einer gewissen Hitze auf der Spur, berührte Trasks Hand Leahs Knie mit kreisenden Bewegungen, wanderte höher.
»Du hast es eben drauf.«
»Wir ziehen den Job selbst durch.«
Trask hielt inne. »Du meinst, Wyatt sagen, dass er unerwünscht ist?«
»Nein, Alan, das meine ich nicht«, erwiderte sie in ihrem Gouvernantenton.
»Was dann?«
»Wir klauen das Gemälde, verkaufen es, sacken das Geld ein.«
»Ich geh davon aus, dass wir deinem Onkel nichts erzählen.«
»So viel steht schon mal fest.« Sie schlängelte sich näher. Trask war klar, dass sie ihn einwickeln wollte, verdrängte es aber. Er dachte an gebräunte Haut, die heiß war und weich.
»Wie also?«
»Wir überlassen Wyatt den stressigen Teil und dann knöpfen wir uns Wyatt vor.«
Trask strich sich übers Kinn. »Möglich wär’s. Wenn auch nicht leicht. Und ... willst du wirklich, dass er dir im Nacken sitzt?«
Leahs Hand auf seinem Unterarm strahlte Hitze aus. »Wenn ich sage, wir knöpfen uns Wyatt vor, meine ich damit etwas Endgültiges. Du hast mir gezeigt, dass du zu so was in der Lage bist.«
Trask schwoll bei diesen Worten ein wenig die Brust, aber er sagte: »Okay, aber dann sitzt uns Minto im Nacken.«
»Nicht, wenn wir Wyatts Leiche so entsorgen, dass sie nie gefunden wird. Onkel David wird glauben, dass er mit dem Gemälde abgehauen ist. Ich meine, der Typ ist ein Ganove. In der Zwischenzeit geben wir uns beide überrascht und empört.«
»Und ... wie? Ihn schnappen, wenn er das Haus verlässt? In seinem Wagen? Wir wissen ja nicht mal, wann er es durchziehen will.«
»Das überlass mir. Ich werde ihn von einem konkreten Zeitpunkt überzeugen.«
Trask, Leah und diesen Draufgänger vor dem inneren Auge, räusperte sich. Mit heiserer Stimme fragte er: »Wie ist er so?«
Sie zuckte zusammen, als steige eine unangenehme Erinnerung in ihr auf. »Sagen wir mal so, er hat flinke Finger.«
Trask spürte, wie sich seine Fäuste ballten. Plötzlich bot ihm die Aussicht, Wyatt plattzumachen, ein gewisses Maß an Befriedigung.
Sie gestattete seiner Hand, unter den Saum ihres T-Shirts zu gleiten, dort ihrer Erregung nachzuspüren. »Wir nehmen deinen Jeep, um die Leiche wegzuschaffen.«
»Was? Nein. Ich will da keine Spuren.«
»Wir werden was brauchen. Mein VW geht nicht.«
»Es ist nicht in unserm Interesse, dass dein Wagen in der Gegend auftaucht. Ich organisiere einen Van«, sagte Trask, Cherub dabei im Blick. Cherub konnte alles be­sorgen. Sofern der Preis stimmte. »Leah, ich brauch etwas Geld für die Kosten.«
Leah setzte eine mürrische Miene auf, ihre Standard­reaktion bei den meisten alltäglichen Angelegenheiten, vor allem wenn es darum ging, Geld rüberzuschieben. »Ich bin kein Geldautomat.«
Trask lenkte weg davon. »Wir werden das Gemälde irgendwo verstecken müssen.«
»In einem Lagerraum in der Nähe vom Flughafen.«
»Dein Onkel wird das nicht einfach so schlucken«, sagte Trask. »Er wird dich genau ins Visier nehmen und mich erst recht.«
»Soll er.«
»Was, wenn die Klientin sich auf uns versteift?«
»Es gibt keinen Grund, warum sie zuerst auf uns kommen sollte statt auf Wyatt oder meinen Onkel. Sie wird auf Rückzahlung pochen. Könnte streuen, Onkel David könne man nicht vertrauen.«
Und dir einen Einstieg ermöglichen, dachte Trask. »Viel Arbeit, Leah. Und was wissen wir über den Kunstmarkt? So ein altes Gemälde zu haben ist nicht das Gleiche wie Bargeld in der Hand. Kennst du jemanden, der willens und in der Lage ist, es zu verschieben?«
Was Trask über Kunst wusste, erschöpfte sich in dem Poster der Lions an seiner Küchenwand.
»Wir können wohl schlecht Wurlitzer einspannen.« Leah grinste.
Trask lachte und streichelte sie durch die Baumwolle. Erregt von Raub und Mord, fing Leah an zu schnurren, wurde träge, ihr Blick schläfrig, dabei bewegte sie ihr Becken gegen seinen Daumen. Das Spiel ihrer Knochen und Sehnen. Jeder Zoll ihres Körpers war aufreizend und vollkommen.
Dann schob sie seine Hand weg und sagte mit rauer Stimme: »Ich muss dich warnen, Wyatt könnte bewaffnet sein.«
»Dann drücke ich zuerst ab«, sagte Trask.
»Hoffentlich nicht mit der Waffe, die du bei Wurlitzer eingesetzt hast.«
»Natürlich nicht«, log er.
»Okay.«
»Dieses Gemälde ist es hoffentlich wert.«
»Es könnte bis zu einer Million Dollar bringen.«
»Wir machen halbe-halbe?«
»Halbe-halbe«, bestätigte Leah und drängte sich mit ihrem kleinen Hintern an ihn. Trask glaubte, dass dieser Deal etwas für ihn abwerfen würde, aber nicht die Hälfte. Leah machte nie halbe-halbe.
11

Leah Quarrells Gast kam gegen elf Uhr nachts wieder heraus. Wyatt verfolgte ihn bis zu einem schäbigen zweistöckigen Apartmentgebäude nahe Noosa Junction, wo die Kawasaki mit einem Gurgeln zum Mieterparkplatz an der Rückseite fuhr. Danach trat Stille ein. Wyatt harr­te eine Weile aus, beobachtete und sah, wie das Licht in einer im oberen Stockwerk gelegenen Wohnung anging und kurz darauf wieder erlosch. Er fuhr zurück in sein Apartment und ging zu Bett.

Am Sonntagmorgen begab er sich auf Erkundung. In Shorts und T-Shirt spazierte er den Bogen entlang und weiter zur Noosa Parade, wo er rechts nach Noosaville abbog. Der Himmel war wolkenlos, aber nicht vollkommen klar. Ein Dunstschleier im Westen. Rauch? Er ging flussabwärts, Richtung Tewantin, entlang der Fuß- und Fahrradwege, die im Schatten von Myrtenheiden, Mangroven, Palmen und Großblättriger Feigen lagen.
Das Wasser in seiner Ruhe zeigte sich als breiter, schimmernder Streifen zu seiner Rechten. Die Geräusche des Morgens waren sowohl tierischer als auch menschlicher Natur: zankende Vögel, hechelnde Hunde, ein Radio an einem Küchenfenster, ein Außenborder, der den Fluss entlangtuckerte, Laufschuhe, die auf dem Boden auftrafen, gelegentlich ein Auto, das über Bremsschwellen holperte.
Es waren jede Menge Leute unterwegs. Schon bald meinte Wyatt, er könne Alteingesessene, Urlauber und Pensionäre voneinander unterscheiden. Ergraut, schwerfällig, in sich gekehrt, bedrückt, sowohl im Verhalten als auch im Mienenspiel, saßen die Alteingesessenen auf ihren Veranden, führten ihre Hunde aus, wässerten ihre Süßgräserflecken. Versenkten Angelhaken im Wasser, ohne große Hoffnung oder Erwartung. Demgegenüber waren die Urlauber jung, großartig ausstaffiert in ihrer Montur der Läufer, Radfahrer oder des dynamischen jungen Elternteils. Kinderwagen und Fahrräder sprengten ein paar Fußgängergruppen auseinander. Bekleidet mit Shorts, Trikothemden und in Laufschuhen keuchten Pensionäre an Wyatt vorbei, rotgesichtige Männer mit schlaffen, von Adern durchzogenen Wangen. Verzweifelt um Luft bemüht, mit verzweifeltem Schnaufen und mit Verzweiflung in den Augen, begleitet von ihren Frauen, die sie zwanzig Jahre überleben würden.
Er wandte seinen Blick nach rechts, zum Fluss, wo ein Junge den Steg einer Bootsvermietung mit einem Schlauch abspritzte. Links die Läden, Cafés und Blocks mit Ferienapartments an der Gympie Terrace. Er prägte sich die Lage von Gassen und Seitenstraßen ein, von abgestellten Autos, die Position zu erklimmender Zäune, von Bushaltestellen und Taxiständen, behielt Flucht­wege, Verstecke und Sackgassen im Gedächtnis. Der Fluss hatte vertäute Boote abseits des Ufers zu bieten, Mietboote direkt am Ufer.
Dann ging er landeinwärts, ein paar Blocks zur Mary Street. Supermarkt, Schnapsladen, Bäckerei und Drogerie lagen eigenartigerweise eingebettet zwischen den Schönheitskliniken für die Wohlhabenden.
Er sah keine Polizei. Sein inneres Warnsystem schlug nicht an. Die Sonne stieg höher und er wusste aus den Nachrichten, dass die Temperatur heute siebenundzwanzig Grad erreichen würde. Im Großen und Ganzen war die Welt in Ordnung: Er wappnete sich weiterhin für alles, was sich im Nachhinein als Irrtum erweisen könn­te.
Mit einer Salatrolle und einer Flasche Wasser kehrte Wyatt zurück in sein Apartment und studierte die Aufnahmen von Thomas Ormerods Haus, bemüht, sich einen Zugang zu überlegen.
Nach dem Mittagessen zog er erneut los, wählte diesmal einen Weg die Noosa Parade entlang zur Hastings Street. Die Parade war ein belebter Streifen mit Häusern und Apartmentblocks entlang des Flussufers, eine Straße, die niemals menschenleer war. So begegneten ihm andere Fußgänger, aber zumeist bewegten sich die Leute in Autos, mit Fahrrädern oder in den kleinen Bussen durch die Gegend. Schwer hingen die Abgase in diesem ruhigen Septembernachmittag. Wyatt musste hus­ten.
Beim Gehen schätzte er die Häuser automatisch hinsichtlich ihrer Schwachstellen ein. Große Häuser, Festungen aus Beton und Glas, die hier und da die Bauweise einer toskanischen oder spanischen Gesandtschaft aufwiesen, erdfarben, indessen die anderen in Weiß gehalten waren, und kaum eines von ihnen für die brutalen Sommermonate in dieser Ecke der Welt ausgelegt. Keine Rollläden oder Fensterläden, keine Dachvorsprünge oder Veranden. Keine Sonnenkollektoren. Klimaanlagen brummten, notgedrungen: Es gab keine andere Möglichkeit, der Hitze beizukommen.
Wyatt war an der Hastings Street angelangt und schlen­derte umher, ein Mann, gekleidet wie ein Tourist, aber mit den Überlegungen eines Diebes. Er war auf der Suche nach Wegen, die hinein- und wieder hinausführten, nicht nach Dingen, die man kaufen konnte. Doch schon bald bescherten ihm die Läden für Strandbekleidung, die Boutiquen, Cafés, die Maklerbüros und die dahintrottenden Urlauber Platzangst. Er wich zum Haupt­­strand aus, einer langen Auslage mit in der Sonne schmorenden Körpern, von denen nicht einer sein Interesse weckte. Und so viele Kinder. Schulferien, fiel ihm ein.
Zwanzig Minuten später erklomm er einen Wanderpfad, der durch den Nationalpark führte. Weiter vor der Küste blitzte die See wie Glasscherben, in Küstennähe jedoch kroch sie in eine Ansammlung kleiner Buchten, wo Leute auf Badetüchern lagen, benommen von der Sonne. Die Bäume über ihm waren still, doch um ihn herum bildeten die Geräusche der Laufschuhe, das unschöne Keuchen der Jogger die Geräuschkulisse des Parks. Wyatt drehte sich um und ging denselben Weg wieder zurück. Zwei Jogger drängelten sich an ihm vorbei, scheinbar ungehalten, dass er sich auf dem Wanderweg aufhielt.
12

Um zehn Uhr am Montagvormittag ging Wyatt mit Leah Quarrell zu einem kleinen Anlegesteg hundert Meter flussabwärts von ihrem Büro. »Ist das Rauch?«
Ein Klecks am Himmel über dem Ufer auf der anderen Seite. Quarrell sah hinüber. »Dort wird Zuckerrohr verbrannt.« Das klang pikiert, so, als gehöre weder das Herumführen Wyatts noch das Beantworten dummer Fragen zu ihrer Aufgabenbeschreibung. Sie trug ein ärmelloses Top, einen engen Rock und Schuhe, die die Zehen frei ließen, und sie sah mürrisch aus, als sie auf halbem Wege den Steg hinunter einen Schlüssel in ein Schloss steckte.
Wyatt folgte ihr durch das Tor zu einer Stelle, wo vier kleine Boote vertäut lagen. Er hatte wieder seinen leichten Anzug angezogen. An der gesamten sonnenhungrigen Küste gab es an diesem Tag wohl kaum einen Mann, der in einem Anzug steckte: Den Leuten würde der Anzug auffallen, nicht hingegen das Gesicht, und den meisten würde er berufliche Eintönigkeit signalisieren. Hier war ein Mann, der Papierkram hin und her schob und unterschrieb; ein Buchhalter, vielleicht ein Anwalt. Ein Mann aus der City im Auftrag eines anderen, reicheren Mannes. Kein Anlass für weitere Überlegungen.
Quarrell machte halt bei einem Aluminiumflitzer mit weißem Baumwollverdeck und vier roten Plastiksitzen. RiverRun Realty stand in riesigem Kursivdruck auf beiden Seiten und auf dem Verdeck. Die gleichen Worte standen erhaben auf dem kleinen Pappschuber unter Quarrells Arm.
Sie stiegen ein und das kleine Boot schaukelte hin und her. »Sie werden doch nicht seekrank, oder?«, fragte Quarrell mit bissigem Unterton.
Wyatt überging es. Ein anderer Mann hätte vielleicht witzige Bemerkungen mit ihr ausgetauscht oder freundlich Boshaftes, aber er hatte von dergleichen keinerlei Ahnung. Abgesehen davon zählte das als Smalltalk, und er spürte eine gewisse Engherzigkeit an ihr, als lege sie es darauf an, ihn aus der Reserve zu locken. Er setzte sich auf einen der Plastiksitze und breitete die Arme aus, gab den Kunden. »Auf geht’s.«
Quarrell kniff die Augen zusammen, aber ließ den Motor an.
Wyatt sah hinaus auf den Fluss. Sie hatten einen Auftrag zu erledigen. Sie waren weder Freunde noch ein Liebespaar; nach diesem Job würden sie sich nie wieder über den Weg laufen. Sie mussten auf keiner anderen Ebene als der professionellen miteinander umgehen.
Das Boot legte vom Steg ab, hielt sich zwischen den Markierungen, als sie flussaufwärts Richtung Noosa Sound fuhren. Nach einer Weile fiel die Anspannung von Quarrells kleiner Erscheinung, als täten ihr die Luft und das Wasser und das Licht gut. Sie öffnete den Pappschuber, zog eine Seekarte heraus und winkte Wyatt heran.
Er trat zu ihr ans Steuer, studierte die Karte, be­schwerte sie wegen des Fahrtwindes mit der flachen Hand. Eine präzise Darstellung des Flusses und seiner Sandbanken, der Brücken und Fahrwege. Unterdessen lenkte Quarrell mit einer Hand und ihr Blick sprang zwischen der Karte, den Markierungen und den sich leichtsinnig nähernden Mietbooten und Kajaks hin und her. Während sie weniger befahrene Gewässer ansteuerte, deutete sie mit dem Finger auf die Karte. »Hier fahren wir rein, einmal rauf und runter und fahren hier wieder raus.«
Rein bei Munna Point – einer Station der Küstenwache, wie Wyatt feststellte –, dann vorbei an Iluka Islet und in das Geflecht der Buchten und am Ende wieder Richtung Norden, um am Witta Circle und der Brücke am Lions Park herauszukommen.
»In den Wohngebieten haben wir fünf Objekte zum Verkauf«, fuhr sie fort, »Grund genug, hier zu sein.«
»Eins davon befindet sich zwei Türen weiter von Ormerods Haus.«
»Ja.«
Quarrell drosselte plötzlich den Motor, ihre Finger umklammerten das Steuer fester. Ein kleines Mietboot befand sich auf Kollisionskurs mit ihnen. An Bord ein Mann mit seinen Kindern, der, sich der Situation zuerst nicht bewusst, plötzlich nach Luft schnappte, in Panik geriet. Leah riss das Steuer herum, drosselte den Motor ein weiteres Mal, riss das Steuer wieder zurück und schon wa­ren sie vorbei an dem Mietboot und an dem Mann, der ihnen gequält zulächelte, fädelten sich dahinter ein.
»Idiot«, sagte Quarrell messerscharf.
Es wäre gut, sie nicht zu unterschätzen.
Unter der Hauptbrücke hindurch fuhren sie in ge­schütz­te Gewässer. Hier schien das Leben beinahe stillzustehen. Wyatt sah Spiegelungen von Windschutzscheiben in der Ferne und ein leichtes Flugzeug, das am Horizont im Osten kreuzte, doch die meisten Freizeitboote waren verschwunden. Ein oder zwei Kinder paddelten auf Brettern in flachem Gewässer, ein anderes ließ auf einer kleinen Wiese einen Drachen steigen, das war alles.
In der nächsten Stunde fuhr Quarrell ihn in die Buchten und Kanäle, hielt auf Süden zu, bis das Wasser wenig verheißungsvoll aussah, seicht und voller Algen, woraufhin sie wendete und wieder Richtung Norden fuhr, bis zum Lions Park, mehrminütige Pausen einlegte vor je­dem der fünf RiverRun-Objekte, so auch vor dem in der Nähe von Thomas Ormerods Grundstück gelegenen. Wyatt stand, sie verharrte bei blubberndem Motor am Steuer. Er beschattete seine Augen mit der Hand, sah sich alles genau an, dieser aus dem Süden kommende Geschäftsmann im Anzug.
Bis auf ein oder zwei ältere Häuser waren alle zweigeschossig, zusammengepfercht, um das Recht kämpfend, einen schmalen Streifen Rasen, Wasser oder einen Schwimm­steg für sich beanspruchen zu können. Ein oder zwei stellten mit ihren Unmengen an Säulen einen architektonischen Albtraum dar. Hin und wieder beeindruckte ihn eine ansprechende Anordnung aus Glas, mit Fensterläden aus Holz und grüner Vegetation. Jedes Haus verfügte dank schattiger Terrasse über einen wohnlichen Außenbereich. Hinter abschirmendem Bam­bus, hinter Sträuchern und Palmen waren Stühle und Tische mit Glasplatten zu erkennen. Terrakottakübel beherbergten Sukkulenten, Pandanen und Japanischen Schlangenbart, sodass man überall eine Fülle von Grünschattierungen sah und Blätter, die wie ein Arsenal von Klingen und Schilden daherkamen: scharf, stumpf, breit, schmal, gerade, geschwungen.
Die Leute hier wollen Privatsphäre, dachte Wyatt. Sie wollen aber auch beachtet werden. Sie scheuen den Kontakt mit denen, die sich kein Haus am Wasser leisten können, wollen jedoch von ihnen gesehen werden.
Oder von der Familie nebenan oder von der nächsten Bucht aus oder vom gegenüberliegenden Ufer, sagte er sich. Vielleicht sehen sie mich ja nicht, auch nicht Leah Quarrell oder diese Teenager in ihrem Tretboot oder diesen Vater mit seinen Kindern, der eine Woche Urlaub hatte rausschlagen können, in einem Apartment weit weg vom Wasser.
Nach Auskunft von Minto würde Ormerods Haus am nächsten Wochenende unbeaufsichtigt sein. Ormerod würde zweitausend Kilometer südlich das große Footballfinale verfolgen. Aber hatte er Familie, eine Hausangestellte, einen Gärtner? Einen Nachbarn, der die Topfpflanzen wässerte?
»Ormerod lebt allein?«
»Exakt.«
»Kein Hinweis auf eine Haushälterin? Eine Freundin?«
»Nein.«
»Seine Söhne besuchen ihn nie?«
»Die können ihn nicht ausstehen.«
Wyatt starrte aufs Wasser, in den Himmel, auf die Häuser. Würde sich die Stimmung in der Stadt am Samstag ändern? Abgelenkt durch das große Spiel? Käme der Deckung entgegen.
Als hätte Leah Quarrell seine Gedanken gelesen, sagte sie: »Wenn ich Sie wäre, würde ich es Samstagnachmittag durchziehen.«  
Nicht direkt eine Anweisung. »Warum?«
»Weil’s einleuchtet. Wegen der Übertragung des Endspiels wird alles dichtgemacht. Die Straßen werden wie  leergefegt sein und man hört nur das Plärren der Fernsehgeräte und Radios. Selbst hier ist das ein Riesenereignis, erst recht in diesem Jahr. Da könnte eine Bombe hochgehen und niemand würde es mitkriegen.«
Wyatt ließ das sacken. »Oder ich gehe nachts rein. Freitag, Samstag oder Sonntag. Im Schutz der Dunkelheit. Oder Sonntagmorgen, während die ganze Stadt ihren Rausch ausschläft.«
Quarrell machte eine verärgerte Geste, zerrte am Steuer, gab Gas und fuhr zurück nach Iluka Islet, für Wyatts zweiten, genaueren Blick auf Ormerods Haus. Beim ersten Mal hatte er einen weißen Würfel ausgemacht. Zwei kleinere Mansardenfenster, Säulen, Palmen, einen Steg und einen Gärtner beim Stutzen einer Hecke. Jetzt, da Quarrell den Motor drosselte und fünfzig Meter in den Kanal hinein Position bezog, direkt vor dem zwei Türen von Ormerods Haus entfernten Grundstück – in dessen Rasen ein Zu-verkaufen-Schild steckte –, sah Wyatt sehr konzentriert hin. Durch einen Feldstecher diesmal, peinlich darauf bedacht, kein allzu großes Interesse an Ormerods Haus zu offenbaren.
Unterhalb des Dachvorsprungs war eine Sicherheitsanlage montiert, dazu dezente Warnaufkleber an den Fenstern. Dann entdeckte er eine Katze, die neben einem Liegestuhl auf einer Matte schlief. Sollte es eine Katzenklappe geben, müsste die sich in einer Seitentür befinden. Wer kümmerte sich in Ormerods Abwesenheit um die Katze? Nachbarn? Kinder aus der Straße? Katzenpension? Bliebe die Katze zu Hause, würden voraussichtlich alle Bewegungsmelder deaktiviert.
Wyatt sah hoch zur Dachrinne und zu den beiden Mansardenfenstern. Eines stand halb offen. Sollte es auch zu anderen Zeiten unter der Woche offen stehen, würde das auf ein Fenster hindeuten, das man übersehen oder vergessen hatte.
Eine plötzliche Bewegung an dem Haus, das sich zwischen Ormerods befand und dem, das Leah Quarrells Unternehmen im Portfolio hatte. Wyatt schwang den Feldstecher herum, stellte ihn scharf. Ein Mann mit einer Bohle, in einer Höhe von etwa fünf Metern. Ein Gerüst? Schwer zu beurteilen angesichts des Gewirrs aus Bambus und Palmen.
Das könnte ein Zugang sein. Rauf auf das Gerüst, rüber zu Ormerods Dach, rein durchs Mansardenfenster.
Sofern es nicht geschlossen oder alarmgesichert war.
Nichts davon erwähnte er gegenüber Quarrell. Stattdessen erklärte er, er habe genug gesehen.
»Und ... wann wollen Sie loslegen?«
»Ich gebe Ihnen Bescheid.«
Falsche Antwort, sofern die Anspannung in ihren zarten Gliedern und die Heftigkeit, mit der Leahs Handgelenke das Steuer herumrissen, eine entsprechende Orientierung gaben.
»Wer schmeißt hier den Laden?«
Wyatt sagte milde: »Ich bin doch eben erst hergekommen, Leah.«
»Ich könnte Ihnen wirklich eine Hilfe sein. Mich für Sie auf die Lauer legen, zum Beispiel.«
Sie fühlt sich nicht hinreichend geschätzt, dachte Wyatt. Vielleicht speist ihr Onkel sie mit ein paar Krümeln ab. Wollte er, Wyatt, wirklich, dass eine Amateurin für ihn Schmiere stand?
Damit sie sich nicht überflüssig vorkam, sagte er: »Es wäre hilfreich, wenn ich etwas über die Größe des Gemäldes wüsste ... «
»Oh ... «, sagte sie und dachte darüber nach. »Ich könnte das anhand der Fotos herausfinden.«
»Danke.«
»Warum?«
»Ich werde es wohl irgendwie einwickeln müssen, bevor ich es aus dem Haus schaffe.«
»Ah ja«, sagte sie, gedanklich bereits am Rotieren.