Manfred Liedtke

Götterdämmerung auf Cayo Coco

Roman

„Geschehen hat keine Umkehr.“

Prolog

Die Hitze im August 1995 war unerträglich. In jenen heißen Tagen – ich nenne sie die Tage der Heuchelei – war ich Leiter der Mordkommission in einer kleinen Stadt in Sachsen. Mein Name: Markus Berger.

Es waren die Tage nach dem 13. August 1995. Die Tage nach dem todbringenden Anschlag auf Eddys Theaterbar. Sie nannten es eine Gasexplosion! Sie sagten, das Anzünden einer Zigarette im Keller der Bar hätte die Explosion ausgelöst.

Sie haben euch belogen! Es gab kein Gas in diesem Haus. Der Versorger hatte die Gasleitung schon vor Jahren außer Betrieb genommen.

***

Die Vorstandswahlen des einflussreichen Heimatvereins sorgten im Sommer 1995 für reichlich Wirbel. Die Stimmung in der Stadt war aufgeheizt, so aufgeheizt wie die Tage und Nächte in diesem August. Die rechte Szene hatte Hochkonjunktur, und die kleine Bar mit integriertem Theater, in der eine nicht alltägliche Gesellschaft ihr Anderssein leben konnte, war immer wieder das Ziel rechtsextremistischer Übergriffe. Ohne die Folgen zu ermessen, hatte sich der transsexuelle Pianospieler und Freund des Barbesitzers dazu entschlossen, den Übergriffen ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Er kreierte ein Szenario, das zwangsläufig eskalieren musste …

Die zunehmende Gereiztheit der gesamten Bevölkerung in unserer kleinen Stadt machte uns Sorgen. Ein Streit um die Schließung des Truppenübungsplatzes und die nächtlichen Ruhestörungen, verursacht durch Panzer, die nachts durch die Stadt fuhren, hatten den politisch einflussreichen Heimatverein fraktioniert. Eine Vielzahl von Vereinsmitgliedern protestierte seit Anfang des Sommers für ein neues Umweltkonzept. Sie forderten, dass der Truppenübungsplatz – schon zu DDR-Zeiten ein Ärgernis – geschlossen würde und die Panzer nachts in den Kasernen zu verbleiben hätten. Eine flapsige Androhung des Ministers für Verteidigung war die Folge. »Panzer ohne Truppenübungsplatz gehe gar nicht! Sollte dieser Umweltblödsinn durchkommen, machen wir die Garnison dicht!« Das erhöhte die Gereiztheit in der Bevölkerung nur noch mehr. Diese nicht den gängigen Regeln der Höflichkeit adäquate Einlassung des Ministers schreckte nicht nur die Geschäftswelt auf, die von den Soldaten und deren Familien lebte, sondern auch die Zivilangestellten beider Kasernen. Ihnen drohte die Arbeitslosigkeit.

Dr. Martin Reinhardt, Parteivorsitzender des FNB, der rechtsautoritären Partei mit der Sehnsucht nach einem großen Führer, war zudem Vorstandsmitglied des Heimatvereins und sorgte in dem Streit für weitere Aufregung. Seine Kolumne in der Regionalausgabe einer Boulevardzeitung veranlasste den Vorstand des Vereins, sich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aufzulösen. Reinhardt hatte behauptet, im Verein finde eine Entseelung des deutschen Volkes statt. Der Verein gerate unter artfremden Einfluss. Denn eines der Vorstandsmitglieder sei ein in der Stadt ansässiger Geschäftsmann, der die Religion, die Traditionen und Lebensweise eines gläubigen Juden pflegte. Die erbitterte Debatte, die Reinhardt mit seinem Meinungsbeitrag auslöste, wurde auf die Straße getragen. Die Folgen waren Demonstrationen und Krawalle, die bis zu der Wahl eines neuen Vorstands, am 13. August 1995, anhielten.

***

Ja, wir hatten die Gegebenheiten am Vormittag des 12. August 1995 völlig falsch eingeschätzt. Unsere ganze Aufmerksamkeit galt der Sicherheit bei der Vorstandswahl, die am nächsten Tag stattfinden sollte. Den Übergriff auf den Pianospieler Fred Krauss und die Nazischmiererei auf der Giebelwand der Bar hatten wir als einen der üblichen nazistischen Anschläge eingestuft. Erst nach Feststellung des Einbruchdiebstahls, der im Tohuwabohu der Aufregungen um den verletzten Pianospieler viel zu spät bemerkt wurde, war erkennbar, dass der gegenwärtige Anschlag eine andere Qualität aufzeigte als die Übergriffe in jüngster Zeit. Der Datenklau, eine neue Form des Diebstahls, machte uns die Folgen unmissverständlich klar. Mit den gestohlenen externen Festplatten, auf denen sich unverschlüsselt sensible Daten befanden, sollte Eddy Schön, der Eigentümer der Theaterbar, erpresst werden. Würde er die Bar nicht schließen, so ließen die Erpresser verlauten, würden sie die Daten der Gäste veröffentlichen.

Polizeidirektor Matthias Hansen und ich waren uns ziemlich schnell darüber einig: Egal wie sich Eddy Schön auch entscheiden würde, wenn wir die Festplatten nicht so schnell als möglich fanden, wäre dieser Übergriff der Schlussakt für die Theaterbar.

Reinhard war der Initiator dieses Einbruchdiebstahls, davon gingen wir aus. Es passte alles. Gebetsmühlenartig forderte Reinhardt auf den Veranstaltungen des FNB die Wiedereinsetzung des § 175 StGB, der 1994 ersatzlos gestrichen worden war. Für ihn aber wäre Homosexualität wider die Natur und sollte geahndet werden. Die Schließung der Bar, dieser widernatürlichen Einrichtung, war ihm eine Herzensangelegenheit.

Reinhardt mit unserem Verdacht zu konfrontieren, er sei der Mann hinter dieser politisch motivierten Straftat, war von Rechts wegen nicht möglich. Er genoss als Volksvertreter Schutz vor Strafverfolgung und nutzte dies aus. Um die politische Immunität, die er als Landtagsabgeordneter besaß, aufheben zu lassen, mussten dem Immunitätsausschuss des sächsischen Landtages konkrete Beweise vorliegen. Und die hatten wir nicht. Zudem hätte ein Aufhebungsverfahren Wochen gedauert. Genau das war unser Dilemma. Wir mussten unverzüglich handeln, aber wir durften es nicht! Uns waren gänzlich die Hände gebunden. Hinzu kam, dass Fred Krauss, Eddy Schöns transsexueller Pianospieler und unser Freund, seit dem Vormittag vermisst wurde. Wir wussten von Emmi, meiner Frau und Sekretärin bei Eddy Schön, dass Fred, aufgetakelt wie eine Fregatte, in eine Taxe gestiegen war. Und von Erna, Inhaberin der Imbissstube Suppenterrine, wussten wir, dass sie offenbar als Letzte noch mit Fred gesprochen hatte. Ja, hatte sie bestätigt, eine Taxe hätte laut bremsend vor ihrem Imbiss gehalten. Aufgeputzt wie eine Gräfin sei ihr Freund ausgestiegen und auf sie zugestürmt. Aufgewühlt habe er ihr erzählt, was bei Eddy vorgefallen war. Dann habe er einen Brief aus seiner Handtasche gekramt und gedroht, mit diesem werde er ein für alle Mal Schluss mit dem Naziterror machen. Er sei dann wieder in das Taxi gestiegen und davongefahren. So aufgebracht habe sie ihn noch nicht erlebt.

Bis in den späten Nachmittag des 12. August hatten Matthias und ich herauszufinden versucht, wo Fred sich aufhalten könnte. Außerdem haben wir uns über diesen mysteriösen Brief den Kopf zerbrochen. Was stand darin, was hatte Fred da in der Hand und wem wollte er damit drohen? Obwohl es greifbar vor uns lag, auf Reinhardt wären wir nicht gekommen. Fred und Reinhardt waren sich nie begegnet, sie kannten sich nicht und hatten sich folglich auch keine Briefe geschrieben – glaubten wir.

***

Wir waren in Eddys Bar zusammengekommen. Vier, die auf ein Lebenszeichen ihres Freundes warteten. Wir sprachen kaum. Jeder von uns war in Sorge um Fred und versuchte, sich irgendwie zu beschäftigen. Eddy polierte Gläser, Emmi kramte in irgendwelchen Papieren. Matthias telefonierte mit Anne, seiner Sekretärin. Ich las desinteressiert in einem dieser bunten Blätter für hirnlose Frauen irgendetwas über Filmstars. Dr. Eva Wohlert-Neuss, Psychologin und enge Freundin von uns, war aus ihrer Praxis zu uns rüber in die Bar gekommen. Sie hatte sich nur kurz über den Stand der Dinge informiert und wollte wieder gehen. Die Türklinke schon in der Hand rief Eddy sie zurück. »Halt, Eva, bitte!« Erstaunt drehte sie sich zu ihm um. Was jetzt kam, bezeichnete Emmi später einmal als den Moment, in dem die Bombe platzte. Ohne Evas Erstaunen zu beachten, bemerkte Eddy relativ unbeteiligt und wie aus heiterem Himmel: »Dieser Brief, den Fred Erna gezeigt hat, wurde vor ungefähr fünfunddreißig Jahren geschrieben …« Er bückte sich hinter den Tresen und tauchte stöhnend mit einem neuen Geschirrtuch wieder auf. »… vom jungen Reinhardt.« Allein das war schon hochexplosiv. Doch was dann kam, war die Detonation: »Reinhardt ist bisexuell. Fred war einmal Reinhardts große Liebe!«