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Walther Streffer

Heimische Singvögel

Wie, wann und wo sie singen

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Inhalt

Einleitung

Singvögel müssen ihren Gesang lernen

Musikalische Differenzierung des Reviergesangs

Die «Vogeluhr» und der große Chor am Morgen

Singvogelporträts

Zaunkönig

Amsel

Singdrossel

Buchfink

Grünfink

Mönchsgrasmücke

Gartengrasmücke

Hausrotschwanz

Gartenrotschwanz

Rotkehlchen

Nachtigall

Zilpzalp

Fitis

Kohlmeise

Blaumeise

Teichrohrsänger

Sumpfrohrsänger

Feldlerche

Baumpieper

Goldammer

Star

Nachklang

Abbildungsnachweis

Literaturverzeichnis

Anhang: Klangbeispiele

Einleitung

Diese Anregungen zum Vogelstimmen-Hören sollen kein Vogelbestimmungsbuch ersetzen, zumal es sich um eine kleine Auswahl von einundzwanzig heimischen Singvögeln handelt.* Der Schwerpunkt richtet sich auf das Gesangsleben dieser Vögel, ihre musikalischen Fähigkeiten und wann und wo die Gesänge zu hören sind.

Die Stimmen der Tiere sind für viele Menschen etwas Besonderes, seien es die Konzerte der Heuschrecken und Zikaden oder der Frösche. Auch die verschiedenen Laute der Säugetiere (Hunde, Katzen, Pferde, Kühe, Schafe, Affen u.a.) bewegen uns; die Stimmen der Wale und Delfine werden seit Jahrzehnten studiert. Vor allem aber hat der Gesang der Vögel die Menschen seit Langem beglückt und interessiert. Nichts kommt unter den Lautäußerungen im Tierreich der Schönheit und Vollkommenheit des Vogelgesangs gleich. Seinen besonderen Rang können wir in gesteigerter Form miterleben, wenn wir ihn im Zusammenhang mit der Stimmentwicklung bei Tier und Mensch betrachten.

Die im Tierreich produzierten Laute, von den Insekten bis zu den Säugetieren, sind zum weitaus größten Teil angeboren; sie werden nicht individuell erworben. Wir können sie auch als affekt- oder leibgebundene Laute bezeichnen. Sprache im eigentlichen Sinne finden wir nur beim Menschen. Auch wenn es im Tierreich erstaunliche Kommunikationsformen gibt und bei einigen Tieren sogar Verständigung zwischen Tier und Mensch mittels Gebärdensprache, also ein gewisses Sprachverständnis, nachgewiesen werden konnte, ist der freie Stimmgebrauch des Menschen einzigartig. Sprache ist weit mehr ist als nur Information.

Zwischen den affektgebundenen Lautäußerungen der meisten Tiere einerseits und der menschlichen Sprache andererseits gibt es nun Töne und Klänge, die mehr einen freiheitlichen, spielerischen Stimmgebrauch repräsentieren. Diese Art des Umgangs mit den Tönen können wir im Gesang zahlreicher Singvögel erleben.

Mit Ausnahme der mechanisch erzeugten Laute (Instrumentallaute) werden alle Töne der Singvögel mithilfe des Atemstroms hervorgebracht. Diese Lautäußerungen unterteilen wir am einfachsten in Gesänge und Rufe. Ein Gesang besteht in der Regel aus Strophen, die in Motive (wiedererkennbare Folgen) unterteilt werden. Übereinstimmend gesungene Strophen werden als Strophentyp bezeichnet. Kleinere Lauteinheiten sind Phrasen und Elemente. Je nach Sängerqualität sind einzelne Gesänge melodienreich und aus vielfältigen Motiven zusammengesetzt (etwa bei der Amsel oder der Nachtigall), andere besitzen nur einen einfachen Strophentyp (so z.B. beim Zilpzalp). Gesänge, die wir im Frühjahr hören, sind zumeist die markanten Reviergesänge. Näheres zu diesen Gesangsaspekten wird in den beiden folgenden Kapiteln beschrieben (S. 11–30).

Damit auch der Laie die typischen, prägnanten Gesänge der hier vorgestellten heimischen Singvögel zu unterscheiden lernt und der jeweiligen Vogelart zuordnen kann, ist im Folgenden bei der Beschreibung jedes Vogels ein QR-Code hinzugefügt worden, der als Klangbeispiel dient. Diese Beispiele finden sich auch auf der Website des Verlags (www.geistesleben.com/Wissenschaft-und-Lebenskunst/Naturwissenschaft/HeimischeSingvoegel.html) und in dem ausführlicheren Buch des Verfassers, Magie der Vogelstimmen. Die Sprache der Natur verstehen lernen, das mit vielen weiteren Phänomenen des Gesangslebens unserer heimischen Singvögel vertraut macht und auch noch weitere Vogelarten als die hier vorgestellten beschreibt. Was in Bezug auf die dort beigelegte CD gesagt wurde, gilt auch für dieses Buch, dass nämlich die Klangbeispiele helfen sollen, «sich die einzelnen Stimmen besser einzuprägen. Selbstverständlich kann der lebendige Eindruck eines Vogelgesangs dadurch nicht ersetzt werden». Im jeweiligen Klangbeispiel «hören wir meistens nur einen Strophentyp. Das vielfältige Gesangsrepertoire unserer Meistersänger musste auf wenige Motive reduziert werden»(Streffer 2003).

Mit den vorliegenden Vogelporträts möchte das Buch in verständlicher Form die bekanntesten und bei uns verbreiteten Singvögel mit ihren Besonderheiten vorstellen und auf die Elemente ihres Gesangs aufmerksam machen. Und zugleich mag es ein Beitrag dazu sein, dass wir die Einzigartigkeit unserer Singvögel, die in den letzten Jahrzehnten durch Urbanisierung und durch Industrialisierung unserer Landwirtschaft in ihrem Lebensraum oft immer stärker eingegrenzt und in ihrem Bestand reduziert wurden, wieder mehr wahrnehmen und schätzen lernen.

Stuttgart, im November 2018

Walther Streffer

*Zwölf Vogelporträts sind bereits im Jahre 2011 monatlich in a tempo, dem Lebensmagazin der Verlage Freies Geistesleben und Urachhaus, erschienen.

Singvögel müssen ihren Gesang lernen

Sobald wir uns intensiver mit der Stimmentwicklung im Tierreich beschäftigen, fällt auf, dass den Tieren ihr Stimmrepertoire auf sehr unterschiedliche Weise von der Natur mitgegeben wurde. Extreme wie «genetisch fixiert» oder «absolut frei» kommen im Reich der höheren Wirbeltiere kaum vor, zumindest sind derartige Bezeichnungen nicht zu eng zu sehen. Fast allen Landwirbeltieren ist die Stimme angeboren. Im Umgang mit der Stimme und dem Lernen verschiedener akustischer Signale scheint es bei Affen, Elefanten und Hunden, je nach Art, einen wesentlich größeren Spielraum als bei anderen Landsäugetieren zu geben. Auch die Lautäußerungen einiger Meeressäugetiere scheinen weit über affektgebundene Laute hinauszugehen. Die akustische Unterscheidungs- und Erinnerungsfähigkeit dieser intelligenten Tiere ist erstaunlich. Sie verfügen über ein umfangreiches Stimmrepertoire, das ständig verändert oder vermehrt werden kann. Zu den vielseitigen Kommunikationsmöglichkeiten gehören auch der Chorgesang der Wale und die Imitationsfähigkeit der Delfine.

Einem sehr großen Teil der nicht zu den Singvögeln gehörenden Vogelfamilien (Nonpasseriformes), zum Beispiel Störchen, Entenvögeln, Greifvögeln, Regenpfeifern, Möwen, Hühnervögeln, Eulen und Spechten, ist das Lautinventar angeboren. Auch Singvögel (Passeriformes) haben angeborene Lautäußerungen, zum Beispiel Warnlaute, Lockrufe, Bettellaute, Stimmfühlungslaute und Flugrufe. Die Gesänge sind jedoch häufig kompliziert aufgebaute Klanggebilde, und die meisten Singvögel müssen, um ihren arttypischen Gesang zu erwerben, von älteren Artgenossen lernen.

Es gibt zwei Formen des Gesangslernens: die Nachahmung innerhalb der eigenen Art (Tradition) und die Nachahmung über die Artgrenze hinaus (Imitation). Im Folgenden sind diese Fähigkeiten, nach zunehmenden Schwierigkeitsgraden gegliedert, kurz aufgeführt:

Die Befähigung zum arteigenen Gesang ist bei einigen Arten größtenteils angeboren und bedarf keiner großen Lernprozesse, zum Beispiel bei vielen Ammerarten.

Teile des Gesanges sind angeboren, um sie aber zu arttypischen Strophen zu gestalten, ist ein Vorbild notwendig (etwa bei der Zaunammer). Manchmal sind aggressive Gesangsteile wie auch Tonhöhe und Klangfarbe angeboren, Rhythmus und Modulationsart müssen aber erlernt werden (zum Beispiel beim Hänfling).

Ein Teil des Gesanges (häufig die Eingangsstrophe) ist angeboren, andere Teile (meistens die Schlusselemente) werden erlernt (so beispielsweise beim Buchfink und der Goldammer). Oder der Gesang ist zwar angeboren, die Gesangsstrophen lassen sich jedoch aufgrund von zum Teil erstaunlichen Lernfähigkeiten variieren beziehungsweise durch Nachahmung von Fremdmotiven vielfältig erweitern (das trifft auf die Mönchsgrasmücke und die Gartengrasmücke zu). Es können auch bestimmte Grundstrukturen des Gesanges genetisch angelegt sein, aber mit der Möglichkeit, mannigfaltig zu variieren (das können wir zum Beispiel bei der Singdrossel oder der Orpheusgrasmücke beobachten).

Die musikalisch begabtesten Singvogelarten scheinen dagegen kaum Grenzen im Umgang mit Tönen zu kennen (so die Amsel, die Nachtigall, das Rotkehlchen oder die amerikanische Spottdrossel). Eine ausgeprägte Empfänglichkeit für den arteigenen Gesang bringen aber auch sie von Natur aus mit.

Eine recht autonome Lernleistung stellt die Imitationsfähigkeit dar, die in verschiedenen Stufen von unseren besten Sängern erreicht wird.* Vertreter einiger Vogelgruppen (Kolkrabe, Rabenkrähe, Dohle, Eichelhäher, Star und Beo) können sogar die menschliche Sprache nachahmen. Wenige Vögel sind fähig, meisterhaft komplizierte Melodien beziehungsweise technische Geräusche unmittelbar, also ohne zeitlich messbaren Lernprozess, zu imitieren (die Spottdrossel und der Leierschwanz). Und die asiatische Schamadrossel, die auch über die vorgenannten Fähigkeiten verfügt, ist in Einzelfällen sogar fähig, längere Partien klassischer Musik zu erlernen und später eigenständig zu vervollkommnen.

In diesen angedeuteten Entwicklungsschritten – von der angeborenen Festlegung der Stimme bis zum vielfältigen spielerischen Stimmgebrauch – offenbaren sich im Vogelgesang verschiedene Grade von Autonomie. Es ist anzunehmen, dass sich im Verlauf der Evolution das Freiwerden von festgelegten Stimmvorgaben und das individuelle Gesangslernen wechselseitig bedingten.

Der außerordentliche Variationsreichtum im Vogelgesang hat seinen Ursprung darin, dass den jungen Männchen der meisten Singvogelarten ihre Stimme – im Vergleich zu anderen Tiergruppen – nicht angeboren ist. Fast alle Singvögel müssen ihren Gesang lernen. Das ist eine Ausnahmeregel in der Natur. Das Erlernen der stimmlichen Kommunikation kennen wir, abgesehen von einigen Land- und Meeressäugetieren, fast nur beim Menschen.

Ein gewisses Grundmuster des Gesanges scheint einigen Singvögeln angeboren zu sein; die Gesangsstrophen müssen aber erlernt werden, das heißt, ein junges Männchen muss zur vollen Entwicklung seines Gesanges eigene Artgenossen hören. In der Regel ist das der Vater, weil der Jungvogel dessen Stimme ständig in der Nähe des Nestes hört. Lieder und Motive werden entlang der männlichen Linie tradiert. Bei dem vielfältigen Vogelkonzert im Wald dringen aber unterschiedliche Gesänge und Motive an das Ohr eines jungen Vogelmännchens. Wird ein Jungvogel da nicht verwirrt? Offensichtlich nicht, denn aufgrund eines inneren Klangbildes, durch eine geheimnisvolle Lerndisposition für den arteigenen Gesang, bevorzugt der Jungvogel den Gesang seiner Art (siehe das Porträt des Buchfinks, S. 50 f.).

So wie man früher dachte, dass nur gute Sänger ihre Gesänge erlernen und weniger begabten ihre Strophen angeboren sind, so möchte man auch denken, dass die Länge der Lernphasen mit der Gesangsbegabung der einzelnen Arten korrespondiert. Das trifft teilweise zu, wenn wir an die lange Lernphase bei der Amsel oder an die kurze beim Zebrafinken denken. Eine Regel ist es aber nicht, denn vorzüglichen Sängern wie den Grasmücken ist der Gesang zum Teil angeboren. Bei Hänflingen, die im Vergleich mit Drosseln und Grasmücken eher bescheidene Musikanten sind, ist die Lernphase nicht auf das erste Lebensjahr beschränkt; sie bleiben lebenslang lernfähig. Hänflingmännchen können ebenso wie Grünfink, Stieglitz und Erlenzeisig «ihren Gesang von Jahr zu Jahr durch Hinzulernen neuer Gesangselemente erweitern und verändern beziehungsweise ihr Repertoire jenem der Nachbarn angleichen» (Glutz 14/II).

Das Lernvermögen ist von Art zu Art verschieden, und die sensiblen Phasen für das Gesangslernen der Nestlinge und Jungvögel sind unterschiedlich lang. Zahlreiche Vogelarten haben nur eine kurze, meist frühe Prägungsphase, etwa unmittelbar nach dem Ausschlüpfen bis kurz nach dem Ausfliegen der Jungen. Bei Goldhähnchen beginnt die Lernphase ab dem achten Tag. Bei der Sumpfmeise ist die Zeit des Gesangslernens ab dem Ausfliegen gut drei Wochen lang. Bei anderen erstreckt sich die sensible Phase vom zehnten bis zum siebzigsten Tag. Bei Sumpfrohrsängern ist es die sechste Lebenswoche; die Lernperiode endet mit etwa elf Monaten. Zahlreiche Spottsänger wie auch Amseln und Singdrosseln sind vermutlich langjährig oder lebenslang lernfähig; das gilt auch für Kanarengirlitze.

Auch der Grünfink ist, im Gegensatz zum Buchfink, nach Erreichen des dreizehnten Lebensmonats noch lernfähig. «Bei vielen Singvögeln prägen sich Nestlinge den Gesang ihres Vaters schon kurze Zeit nach dem Schlüpfen ein, produzieren ihn aber erst viel später, vorbildgetreu, auch wenn sie ihn zwischendurch nicht mehr gehört haben. Ebenso lernen nestjunge Singvogelweibchen den Gesang des Vaters kennen und wählen danach ihren späteren Partner, ohne dass sie selbst je singen» (Wickler 1986). Wenn aber einem Buchfink zur prägsamen Zeit ein Vorsänger fehlt und der Jungvogel stattdessen zum Beispiel einen Baumpieper hört, so lernt er dessen Strophe.

Ebenso wie die Lernphasen der Singvogelmännchen verschieden lang sind, so ist auch die jeweilige Gesangsaktivität der Vögel von unterschiedlicher Dauer. Das sollten wir im Frühjahr bei unseren Vogelstimmenwanderungen beachten: