Aus dem Englischen von Christian Jentzsch

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Storm (Trackers #3)

erschien 2017 im Verlag CreateSpace Independent Publishing.

Copyright © 2017 by Nicholas Sansbury Smith

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Lektorat: Katrin Holle

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-746-2

www.Festa-Verlag.de

Für meinen Großvater Angelo »Jake« Angaran, meinen Großvater Marvin Smith und alle anderen Veteranen des Zweiten Weltkriegs, die im Kampf gegen die Nazis ihr Leben riskiert haben. Wir werden eure Tapferkeit und Opferbereitschaft nie vergessen.

Die überlegene Kunst des Krieges besteht darin,

den Feind ohne Kampf zu unterwerfen.

Sun Tzu

PROLOG

Verteidigungsministerin Charlize Montgomery marschierte mit einem Gefolge schwer bewaffneter Soldaten einen gut beleuchteten Betonkorridor entlang. Sowohl Charlize als auch Albert Randall, ihr persönlicher Leibwächter und engster Vertrauter, waren mit einem M4 des Militärs bestückt und trugen eine Schutzweste. Die hautenge Weste schien ihr pochendes Herz zusammenzuquetschen und mit jedem Schritt wurde sie enger.

»Ausführen«, befahl einer der Soldaten.

Zwei Männer hängten sich das Gewehr über die Schulter, gaben mithilfe des Tastenfelds Zugangscodes ein und traten dann von der Tür weg. Das Klicken der Hydraulik hallte durch den schmalen Korridor.

Albert stellte sich vor Charlize und hob sein M4. Charlize macht einen Schritt nach links, um nachzusehen, ob der Hubschrauber bereits auf der Insel gelandet war. Albert folgte jedem ihrer Schritte. Er war nicht mehr ihr Schatten, sondern an ihrer Seite, wohin sie auch ging. Die Soldaten signalisierten, dass alles in Ordnung war, und Albert bedeutete Charlize, ihm nach draußen auf das Gras zu folgen.

Eine dunkle, mit Sternen gesprenkelte Kuppel hing über Cape Canaveral. Charlize hielt in der Dunkelheit nach dem Sikorsky SH-60 Seahawk Ausschau. Die Spitzen der Palmen auf den Böschungen, welche die Insel tarnten, wiegten sich im immer noch feuchten Septemberwind. In der Ferne war keine Spur von Zivilisation zu sehen, weshalb es kein Problem war, den einzelnen rot blinkenden Punkt am Horizont auszumachen.

Charlize trat vor, um zu sehen, ob es der Seahawk war. Obwohl sie von einem Dutzend Soldaten umringt war, fühlte sie sich unbehaglich. Nur ein paar Kilometer entfernt brachten sich amerikanische Bürger für eine Dose Ravioli gegenseitig um. Außerdem häuften sich die Berichte, dass im ganzen Land Militärhubschrauber von Zivilisten beschossen wurden.

»Echo 1 im Anflug«, verkündete ein muskulöser Sergeant namens Collins.

Charlize beobachtete die sich nähernde Maschine mit angehaltenem Atem. Die Brise strich über ihre kurzen Haarstoppeln und stach auf ihrer verbrannten Haut, doch ihre Augen waren klar. In den letzten 24 Stunden hatte sie geweint und geweint, bis ihr die Tränen ausgegangen waren. Es war so lange her, seit sie ihren Sohn Ty zuletzt in den Armen gehalten hatte, aber in ein paar Minuten würde er hier bei ihr sein.

Ihre Freude war von Schuldgefühlen überschattet. Diese Wiedervereinigung hatte einen niederschmetternden Preis gehabt. Dutzende Soldaten waren gestorben, um ihren Sohn zu retten, darunter auch ihr eigener Bruder.

»Platz machen!«, rief Collins. Er winkte die anderen Männer zurück. Auf der Insel, gerade mal so groß wie zwei Fußballfelder, gab es keinen asphaltierten Landeplatz. Vor ein paar Tagen war Charlize mit einem Team Navy SEALs per Boot vom Festland in Florida hierhergekommen, aber diese Route war mittlerweile zu gefährlich. Wer den Vogel sah, konnte ihm zur Insel folgen und die Lage Constellations kompromittieren. Es war unbedingt erforderlich, dass der Standort des neuen Zentrums für den Wiederaufbau in den Vereinigten Staaten und Sitz des Central Command streng geheim blieb.

Die Navy-Piloten setzten im Gras auf. Mehrere Marines sprangen aus der Maschine und drehten sich mit ausgebreiteten Armen um. Taschenlampen der Soldaten rings um Charlize blitzten auf und die Strahlen wanderten zur Truppenkabine.

Beim Anblick von Ty schluckte Charlize ein Schluchzen herunter. Er sah so klein aus, so zerbrechlich.

»Los, los, los!«, rief Collins. Sein Team rannte zu den Neuankömmlingen. Charlize trat vor, doch Albert hielt sie zurück.

»Warten Sie einfach, Ma’am«, erklärte er ruhig. »Sie bringen ihn zu Ihnen.«

Ein großer Marine sprang mit Ty in den Armen auf den Boden. Ein zweiter folgte mit Tys Rollstuhl.

»Ty!«, rief Charlize. Diesmal versuchte Albert nicht, sie zurückzuhalten. Sie hinkte vorwärts in den Rotor-Fallwind.

»Mom!«, rief Ty.

Trotz der Schmerzen, die ihr ihre Verletzungen bereiteten, rannte sie ihrem Sohn entgegen. Charlize wäre beinahe gefallen, doch Albert war neben ihr und stützte sie.

Ty streckte Charlize die Arme entgegen, als ihn die beiden Marines sanft in den Rollstuhl setzten, den einer von ihnen auseinandergeklappt hatte. Sie bückte sich und schloss ihren Sohn in die Arme, drückte ihn so fest, wie sie es gerade noch wagte.

»Mom«, hauchte er ihr ins Ohr. »Ich habe nicht geglaubt, dass ich dich je wiedersehe.«

Sie ließ ihn los, ging vor ihm in die Hocke und suchte ihn im Schein der Taschenlampen nach Verletzungen ab.

»Es geht mir gut«, verkündete Ty mit stetiger, ruhiger Stimme. Seine Augen weiteten sich, als er Charlize zum ersten Mal richtig sah. »Du hast dir die Haare abgeschnitten und … dir ist irgendwas passiert.«

»Ich bin okay und die Haare wachsen wieder nach.« Charlize lächelte, um ihren Sohn zu beruhigen. Über Tys Kopf hinweg bemerkte sie, dass die Marines noch etwas aus der Truppenkabine holten. Es war ein in die amerikanische Flagge gehüllter Sarg. Ty warf einen Blick über die Schulter, als ihn die Marines über das Gras trugen.

»Mir fehlt Onkel Nathan«, gestand er. Er schniefte laut und fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen.

Charlize mochte sich nicht ausmalen, was ihr Junge in Colorado gesehen und erlebt hatte. Der Mann, der sich General Dan Fenix nannte, hatte ihren Bruder direkt vor Ty exekutiert. Der Gedanke erfüllte sie mit einer so heftigen Mischung aus Wut und Verzweiflung, dass sie weiche Knie bekam.

Albert war bei den Soldaten geblieben und hatte Charlize einen Augenblick mit Ty allein gelassen, jetzt näherte er sich ihnen.

»Hi, Mr. Albert«, begrüßte ihn Ty.

»Hallo, kleiner Mann.« Albert ließ kurz seine weißen Zähne aufblitzen. Er machte Anstalten, hinter den Rollstuhl zu treten, um das Schieben zu übernehmen, doch Charlize kam ihm zuvor.

»Ich mache das.« Ihr Freund und Leibwächter nickte, klopfte Ty mit einer seiner riesigen Pranken auf die Schulter und ging dann neben ihnen her.

»Wir rücken ab!«, rief Collins.

Der Seahawk erhob sich wieder in den Himmel und die Soldaten trabten zurück zu der Brandschutztür. Während Charlize Ty über die Wiese schob, trugen vier Marines den Sarg mit den sterblichen Überresten ihres Bruders.

Ich mache diesen Nazi-Hurensohn Fenix kalt, dachte Charlize. Keine Gnade, kein Pardon. Jedes einzelne Mitglied der Sons of Liberty wird sterben.

Seitdem Verteidigungsministerin Charlize Montgomery Estes Park verlassen hatte, konnte Sam »Raven« Spears nur noch an zehn Millionen Dollar in Goldbarren und Rache denken. Es war eine wahnsinnige Belohnung dafür, General Dan Fenix zu schnappen. Raven hatte vor, sich das Geld zu holen, sobald er seinen Jeep Cherokee repariert und das Versprechen, das er Lieutenant Jeff Dupree und den anderen toten Marines gab, erfüllt hatte. Tage zuvor war Raven gezwungen gewesen, seinen liebsten Besitz etwa 80 Kilometer südlich der Stadt auf dem Highway 7 zurückzulassen. Dorthin war er jetzt auf einer 1970er Harley Davidson FLH unterwegs.

Marcus Colton, der Polizeichef von Estes Park, hatte versucht, ihn aufzuhalten. Banditen hatten den Überlebenden schwer zugesetzt und östlich der Berge mitten am Tag zugeschlagen. Aber Raven war entschlossen, sich seinen Jeep zurückzuholen. Letzten Endes war es die Aussicht gewesen, den Jeep dem Fuhrpark des Reviers hinzufügen zu können, die Colton hatte nachgeben lassen. Es gab nicht mehr viele funktionierende Fahrzeuge, und der Fuhrpark des Reviers bestand aktuell aus ein paar verrosteten Enduros, einem 1952er-Chevy Pick-up und einem VW-Bus.

Sollte Raven auf Schwierigkeiten stoßen, wäre Hilfe nur ein paar Minuten entfernt. Automechaniker Nelson Purdue, der sich schnell zu einem der wertvollsten Einwohner der Stadt gemausert hatte, und Detective Lindsey Plymouth, die resolute Rothaarige, die irgendwie immun gegen Ravens Charme zu sein schien, waren nur drei Kilometer hinter ihm. Creek, sein vierbeiniger bester Freund, fuhr bei ihnen im Bus mit, zweifellos streckte er den Kopf aus dem Fenster, um sich den Fahrtwind um die Ohren wehen zu lassen.

Er gab etwas mehr Gas und die Tachonadel kletterte noch ein wenig hinauf, bei 75 Stundenkilometern war allerdings das Ende der Fahnenstange erreicht. Die 50 Jahre alte Harley mühte sich knatternd und hustend die nächste Steigung hinauf.

Auf der Hügelkuppe angelangt, sah er seinen Jeep mitten auf der Straße stehen, noch genau da, wo er ihn verlassen hatte – und das galt auch für die Leichen der Sons of Liberty. Dunkle Flecken markierten die Stellen, wo die Soldaten gestorben waren. Raven war für mehrere der Leichen verantwortlich, empfand aber keinerlei Bedauern. Was die Begegnung mit den SOL betraf, bedauerte er lediglich, dass es ihm nicht gelungen war, Major Nathan Sardettis Leben zu retten.

Seine Hand legte sich fest um den Gasgriff, als er sich wieder daran erinnerte, wie General Dan Fenix dem Piloten aus nächster Nähe eine Kugel in den Kopf geschossen hatte. Er knirschte mit den Zähnen und gab noch mehr Gas. Das Motorrad vibrierte heftig, doch Raven drosselte das Tempo nicht. Nathan war nicht der erste Soldat, den Raven nicht hatte retten können. In Nordkorea, im Verlauf des fatalen Einsatzes, der ein Katalysator für die ganze Katastrophe war, hatte er zusehen müssen, wie sein Freund Billy Franks vom Feindfeuer zerfetzt wurde.

Er hielt die Augen geschlossen, seine Muskeln verkrampften sich, Adrenalin schoss durch ihn hindurch, während er noch mehr Gas gab. Raven wusste, wie leichtsinnig das war. Blind auf einer Straße mit abgestellten Autos zu fahren unterschied sich nicht sonderlich davon, sich zu betrinken und russisches Roulette zu spielen.

Viele Monate lang hatte Raven sich Mühe gegeben, die Vergangenheit zu begraben und ein besserer Mensch zu werden. Doch was er auch tat, es endete immer damit, dass er alles nur noch schlimmer machte. Wäre er etwas schneller gewesen, hätte er Nathan vielleicht retten können. Und wäre er etwas schlauer gewesen, hätte er sich gar nicht erst mit dieser Schlange Mr. Redford eingelassen. Nile Redfords Gorillas hatten Estes Parks Vorräte geplündert, das Stanley niedergebrannt und dadurch Hunderte obdachlos und hungrig zurückgelassen. Secretary Montgomery hatte die Vorräte ersetzt, aber nichts würde das historische Hotel zurückbringen.

Ich mache es wieder gut, gelobte er. Keine dämlichen Fehler mehr. Kein Auslassen von Gelegenheiten mehr. Und auch kein Blindfahren mehr.

Raven schlug die Augen in dem Augenblick auf, als der Vorderreifen kurz davor war, auf den Seitenstreifen zu rollen. Er ging vom Gas und lenkte behutsam und darauf bedacht, nicht zu stark zu korrigieren und nicht zu stürzen, in die Mitte der Fahrbahn zurück. Sein Herzschlag verlangsamte sich mit der Geschwindigkeit des Motorrads, aber er spürte immer noch das Blut im Hals pulsieren.

Er hielt auf dem Seitenstreifen und bockte die Maschine auf. Ein schwarzes Meer aus verbrannten Wäldern umgab ihn in allen Richtungen, abgesehen von der grünen Insel, auf der ein rotes Zelt aufgeschlagen war, dessen Klappen im Wind flatterten.

Raven setzte den Helm ab und schüttelte seine langen Haare aus. Dann löste er sein Bushmaster AR-15 von der Halterung am Motorrad, legte die Waffe an und überprüfte die Umgebung durch das Zielfernrohr. Im Süden säumten ausgebrannte Fahrzeuge den Highway, er konnte keine Anzeichen für Aktivität erkennen.

Bewegung gab es nur am Himmel, wo ein Weißkopfseeadler über den Ruinen der schwarzen Bäume kreiste. Er war das erste Lebewesen, das er sah, seit er in die tote Zone außerhalb von Estes Park gefahren war. Die Atombombenexplosion hatte Brände entfacht, die einen Großteil der Gegend verwüstet und eine breite Schneise der Zerstörung hinterlassen hatten.

Der Adler stieß herab, um irgendetwas von dem Pinienfriedhof aufzuklauben. Als er sich wieder in die Höhe schwang, sah Raven, dass er eine Schlange in den Klauen hielt. Das Reptil zappelte und wand sich in seinem Kampf ums Überleben. Nach ein paar Sekunden ließ er die Schlange fallen und flog nach Osten, um sich eine weniger widerspenstige Mahlzeit zu suchen.

Raven versuchte immer die Bedeutung in Mutter Natur zu finden und diesmal schien die Geschichte kristallklar zu sein. Der Adler war Redford, und Raven war die Schlange. Er würde zurückbeißen, wenn die Zeit reif war.

Aber jetzt bleib erst mal cool, Sam.

Er ging zu seinem Jeep. Die meisten Fenster waren zerschossen, die Beifahrerseite des Armaturenbretts und die Motorhaube waren mit Einschusslöchern gespickt. Er ließ den Angriff noch einmal vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Anders als viele andere Männer, die sich offenbar später nicht mehr an die Ereignisse erinnern konnten, nachdem die erste Kugel geflogen war, stand Raven der Kampf so lebhaft vor Augen, als sähe er einen Film.

Raven war aus dem Graben gekrochen, nachdem sich einer der Sons of Liberty seine Armbrust geschnappt hatte. Nathan war förmlich Amok gelaufen, kaum dass sie im Freien waren, und hätte sie damit beinahe beide umgebracht. Raven hatte einen der Soldaten, der Nathan gerade erschießen wollte, mit einem Beilwurf in die Brust kampfunfähig gemacht und dem Piloten so das Leben gerettet. Das Knirschen des Metalls im Knochen konnte er immer noch hören. Diese Klinge steckte jetzt in der Scheide auf Ravens Rücken, die andere hingegen noch in Brown Feathers Schädel auf dem Prospect Mountain. Zwischen den Katastrophen war nicht genug Zeit gewesen, sein Beil wiederzuholen.

Er schlang sich das Gewehr über die Schulter und ging zu seinem Jeep. Raven brauchte ein zuverlässiges Fahrzeug, um erst Redford und dann Fenix aufzuspüren, und sein Jeep war der einzige, dem er vertraute.

Raven zückte sein Walkie-Talkie. »Alles klar«, meldete er.

»Sind unterwegs«, erwiderte Lindsey. Durch das Knistern und Rauschen war es schwer zu sagen, aber ihre Stimme klang irgendwie unruhig. »Halten Sie die Position, Spears.«

Das Tuckern eines Motors ertönte in der Ferne, während sich Raven weiter die Gegend ansah. Er stieg über den Leichnam eines auf dem Rücken liegenden Soldaten hinweg. Etwas hatte ihm bereits die Augen ausgepickt.

Raven ging weiter zur Vorderseite des Jeeps, wo die Motorhaube von drei Kugeln und die Windschutzscheibe von zweien durchbohrt worden waren. Zumindest sie war so weit noch intakt. Er öffnete die Haube, um sich den Schaden anzusehen, obwohl er bereits wusste, dass der Kühler etwas abbekommen hatte.

Der VW-Bus tauchte auf der Hügelkuppe im Norden auf. Die Bullen in der Gegend nannten ihn das Schaukelmobil und Raven wollte gar nicht darüber nachdenken, wie oft der Wagen im Laufe der Jahre wohl seinem Namen alle Ehre gemacht hatte. Mit dem olivgrünen Lack und dem mit ausgelegten Flokatis und gebatikten Vorhängen geschmückten Innenraum sah der Wagen aus, als wäre er direkt aus einer Zeitschleife im Colorado der Gegenwart gelandet. Das Röcheln des antiken Motors war schlimmer als das der Harley. Banditen würden ihn schon aus zehn oder 15 Kilometern Entfernung hören. Er sah sich noch einmal die Straße im Süden an, um sicherzugehen, dass sich niemand anschlich. Sie schien frei zu sein und er kehrte wieder zur Begutachtung des Motorraums seines Jeeps zurück.

Je schneller sie sein Baby reparierten, desto eher konnte er seine Angelegenheiten regeln. Außerdem hatte er Sandra und Allie versprochen, zum Abendessen wieder zu Hause zu sein.

Lindsey parkte den Bus hinter dem Jeep und stieg mit einer Schrotflinte in der Hand aus. Auf der Beifahrerseite tauchte ein kleiner Mann mit einem grauen Schnurrbart auf. Nelson Purdue krempelte die Ärmel seines Overalls hoch, und die Navy-Tätowierungen auf seinen kräftigen Unterarmen wurden sichtbar.

Raven öffnete Creek die große Seitentür und ließ den Akita aussteigen. Der Hund leckte ihm die Hand und bellte, seine Art, Raven zu schelten, weil er ihn zurückgelassen hatte. Dann trottete er an den Straßenrand und markierte den Seitenstreifen.

»Was ist denn hier los? Sie haben nichts davon gesagt, dass es hier draußen Tote gibt.« Nelson klang ein wenig benommen. Er starrte auf den Leichnam, der links neben dem Jeep lag. Creek gesellte sich zu ihnen und beschnüffelte ihn.

»Zurück«, befahl Raven. Der Hund kam zu ihm und setzte sich auf die Hinterbeine.

Nelson wandte sich an Lindsey. »Ist es auch sicher hier draußen?«

»Konzentrieren Sie sich nur auf den Jeep«, erklärte sie ihm. »Überlassen Sie die Sicherheit uns.«

Er spuckte auf den Boden. »Ich bin kein Feigling. Ich hab in Korea gedient und will mich nicht noch mal zusammenschießen lassen.«

Raven grinste in Lindseys Richtung, als sie ihre Schrotflinte durchlud.

»Niemand wird auf Sie schießen«, versprach sie.

Nelson vermied es, die Leichen anzusehen, als er seinen Werkzeugkoffer aus dem Bus holte. Für die Einwohner von Estes Park war der Tod eine neue Erfahrung. Die meisten von ihnen hatten ein ruhiges, friedliches und behütetes Leben abseits der Welt geführt. Sogar Veteranen wie Nelson hatte die Nachwirkung des nordkoreanischen Angriffs erschüttert.

»Sie haben gesagt, es ist der Kühler?«, fragte Nelson Raven.

»Ja, sehen Sie selbst.« Raven trat von der hochgeklappten Motorhaube zurück und gesellte sich zu Lindsey, die am Straßenrand stand. Creek schnupperte, spitzte wachsam die Ohren und rieb sich dann an Raven.

»Ich kann nicht glauben, dass Colton mich hergeschickt hat, um den Babysitter für Sie zu spielen«, murmelte Lindsey.

»Hatten Sie denn was Besseres zu tun?«

Sie verzog einen Mundwinkel. »Nur so um die hundert Dinge. Und mit Ihnen was zu trinken steht nicht auf der Liste, falls Sie sich das gefragt haben sollten.«

»Ist es dann die Nummer 101 auf der Liste? Weil das gar nicht so schlecht wäre. Ich kann warten.«

Sie zog eine Wasserflasche aus der Oberschenkeltasche ihrer Hose, trank einen Schluck und bot Raven die Flasche an. »Mehr als das werden Sie nie mit mir trinken.«

»Ich verspreche, Sie nicht allzu sehr damit aufzuziehen, dass Sie damit falschliegen«, sagte er schmunzelnd.

»Sie geben nicht auf, Sam, was?«

»Niemals.«

Lindsey verdrehte die Augen, allerdings war nicht zu übersehen, dass sie sich anstrengen musste, nicht zu lächeln. Er fragte sich, ob sie da draußen wohl jemanden hatte. Sie redete nie über ihre Familie oder Freunde. Sie machte nur ihre Arbeit und blieb für sich. Vielleicht würde sie sich ihm irgendwann öffnen. Raven gefiel die Herausforderung und es blieb reichlich Zeit, sie so lange zu bearbeiten, bis sie sein Angebot annehmen würde.

Einen Moment später bewachten sie Nelson schweigend und ohne weitere Witze oder halb gare Versuche, zu flirten. Raven und Lindsey wussten beide, wie gefährlich es auf offener Straße war.

»Sieht aus, als hätten Sie recht, Raven. Der Kühler wurde getroffen und der Keilriemen ist gerissen«, berichtete Nelson, als er sich aufrichtete. »Das kann ich hier draußen nicht reparieren. Wir brauchen einen Abschleppwagen.«

»Tja, wir haben aber keinen, also tun Sie, was Sie können, und beeilen Sie sich«, erwiderte Lindsey. »Ich will nicht den ganzen Tag hier draußen verbringen.«

Mit der Schrotflinte in der Armbeuge spazierte sie langsam davon und Raven und Nelson sahen einander an.

»Ist sie immer so?«, flüsterte der Mechaniker.

Raven grinste. »Manchmal ist sie noch schlimmer.«

Nelson ging zum Bus zurück, um sich Material zu holen, und Raven folgte Lindsey ein Stück weiter den Straßenrand entlang, wo sie stand und das rote Zelt anstarrte.

»Nathan und ich haben das auch gesehen. Man fragt sich, wer da draußen gezeltet hat und was mit ihnen passiert ist.«

»Sie sind tot wie alle anderen«, erwiderte sie kalt.

Raven gab keine Antwort, sie hatte vermutlich recht. Er schulterte sein AR-15 und hockte sich vor Creek. »Bleib hier, Kumpel, ich bin gleich wieder da.«

Lindsey musterte ihn über die Schulter hinweg mit hochgezogenen Brauen. »Wohin wollen Sie?«

»Mein Motorrad holen.«

»Sie hätten es gar nicht erst so weit entfernt abstellen sollen.«

Raven schüttelte den Kopf. Verdammt. Eine gewisse Kratzbürstigkeit war er von ihr gewöhnt, aber heute hatte Lindsey wirklich schlechte Laune.

Er verbrannte etwas Energie mit dem kurzen Trab zu seinem Motorrad. Die Prellungen und Schnitte verheilten langsam, doch ihm tat immer noch alles weh, als wäre er ein alter Mann. Immerhin hätte es schlimmer sein können. Ohne seine Schwester hätten sich die Wunden vermutlich entzündet. Sie hatte darauf geachtet, sie jeden Tag zu säubern, und im Krankenhaus einige Strippen gezogen, um eine antibiotische Salbe und saubere Verbände für ihn zu besorgen.

Creeks Bellen ließ Raven ein paar Schritte vor seinem Motorrad innehalten. Er drehte sich um und schirmte mit der Hand die Augen vor der Sonne ab. Lindsey hatte ihre Schrotflinte auf zwei Gestalten gerichtet, die zu Fuß auf dem Highway unterwegs waren.

Raven sprang auf das Motorrad und ließ den Motor an. Dies waren die ersten Leute, die er seit Tagen hier draußen sah, und sein Bauchgefühl sagte ihm gleich, dass sie gefährlich waren. Lindsey musste eine ähnliche Vorahnung hegen. Sie wies Nelson an, hinter dem Jeep zu bleiben. Creek blieb, wo er war, und knurrte.

»Bleiben Sie zurück!«, rief Raven, während er den Neuankömmlingen entgegenfuhr.

»Seien Sie vorsichtig, Raven!«, rief Lindsey ihm hinterher.

Er verkniff sich ein Grinsen – vielleicht machte sie sich doch etwas aus ihm. Er konzentrierte sich auf die beiden Gestalten, die auf dem Highway unterwegs waren, ein Mann und eine Frau, soweit er erkennen konnte, ohne sichtbare Waffen. Das bedeutete nicht, dass unter ihren Jacken keine versteckt waren. 100 Meter entfernt bremste er und hielt an.

»Bleiben Sie, wo Sie sind!«, rief er erneut, während er das Gewehr von der Schulter nahm.

Die Leute blieben stehen und hoben die Hände. Er stieg von der Harley, bockte sie auf und ging dann langsam auf die Leute zu. Sie sahen aus wie Mittvierziger, obwohl ihre Gesichter so dreckverschmiert waren, dass er sich nicht sicher sein konnte. Beide trugen große Rucksäcke über einer schmutzigen Jacke und einer braunen Cargohose.

»Wer sind Sie und wohin wollen Sie?«, wollte Raven von ihnen wissen.

Der Mann blieb, wo er war, und ließ die Hände oben. Raven hatte das Gefühl, dass sie nicht zum ersten Mal in Waffenmündungen starrten.

»Estes Park«, antwortete der Mann. »Wir haben gehört, dass die Leute da vor ein paar Tagen aus der Luft versorgt wurden und Lebensmittel und Medikamente haben. Meine Frau braucht Insulin.«

Raven betrachtete sie von oben bis unten. Der Mann hatte einen dichten Vollbart, rissige Lippen und Dreck über die gesamte runzlige Stirn verschmiert. Aber seine braunen Augen hatten einen freundlichen Ausdruck und nicht den harten, abgebrühten Blick eines Mörders.

»Woher wissen Sie das mit Estes Park?«, fragte Raven.

Die Frau wechselte einen Blick mit ihrem Mann. Er nickte, und sie antwortete: »Jemand hat es über Funk gemeldet. Ist es wahr?«

Raven verbiss sich einen saftigen Fluch. Wenn es stimmte, was sie sagte – und er hatte keinen Grund, daran zu zweifeln –, konnte Estes Park sehr bald mit einem Zustrom von Flüchtlingen rechnen. Er musste schleunigst in die Stadt zurückkehren.

»Würden Sie uns bitte passieren lassen?«, fragte der Mann.

Raven seufzte tief. »Ich bin aus Estes Park. Wenn Sie eine nützliche Fähigkeit besitzen, zum Beispiel irgendwas, das mit Medizin oder Ingenieurswesen zu tun hat, kommen Sie vielleicht an den Straßensperren vorbei.«

»Ich bin Elektroingenieur«, erklärte der Mann. Er trat einen Schritt vor und Raven wich einen Schritt zurück. Wie standen die Chancen, dass der Typ tatsächlich Ingenieur war?

In den Augen des Mannes stand jetzt Furcht und noch etwas anderes – womöglich Verzweiflung. Beides war gefährlich.

»Was ist mit Ihnen, Ma’am?«, fragte Raven.

»Ich bin … bin Krankenschwester.«

Raven hörte Schritte hinter sich, fixierte aber weiterhin das Paar. Lindsey tauchte neben ihm auf, die Schrotflinte im Anschlag. Creek folgte ihr auf dem Fuß. Er trottete zu ihm, ohne Ravens Blick zu begegnen, weil er verdammt genau wusste, dass er einen Befehl missachtet hatte.

»Sitz«, zischte Raven. Der Hund setzte sich auf die Hinterbeine.

»Woher kommt ihr Leute?«, fragte Lindsey.

»Laramie«, erwiderte der Mann.

Raven lächelte dünn. »Ja, klar. Ihr kommt aus Wyoming?«

»Ja«, bestätigte der Mann, die Augen zu Schlitzen verengt. »Wir haben Laramie ein paar Tage nach den Bombenexplosionen verlassen.«

Ravens Miene wurde ernst. Es ergab keinen Sinn. Wyoming lag im Norden. »Warum kommen Sie dann von Süden?«

»Zuerst haben wir die 34 genommen, mussten aber zurück, weil sich da Banditen herumtreiben«, antwortete der Mann.

Seine Frau nickte bei seinen Worten und übernahm die Fortsetzung der Geschichte. »Wir haben nicht geglaubt, dass wir es schaffen. Wir sind als Einzige noch übrig. Die anderen …«

Raven richtete den Blick auf sie. »Die anderen?«

»Sind gestern bei einem Hinterhalt getötet worden. Wir haben unseren Hund und meinen Cousin verloren.«

»Das tut mir wirklich leid«, bekundete Raven und tätschelte dabei unwillkürlich Creek. »Wir haben seit den Bomben auch eine Menge Freunde verloren.«

Die Frau zeigte auf die Straße. »Was ist mit diesen Männern passiert?«

»Sie gehörten zu einer Bande der Aryan Nation, die sich Sons of Liberty nennt.« Raven beobachtete beide aufmerksam hinsichtlich einer Reaktion, doch der Name schien keinem der beiden etwas zu sagen. Er wandte sich an Lindsey. »Wie lange braucht Nelson noch?«

»Er weiß es nicht genau.«

Raven warf einen Blick auf den Jeep, dann auf Lindsey. »Bringen Sie diese Leute in die Stadt, Detective, und erzählen Sie Colton von der Funknachricht, die sie gehört haben. Er muss wissen, dass wir mit Gesellschaft rechnen müssen.«

»Danke, bei Gott, danke, Ihnen beiden!«, rief der Mann. Die Frau strahlte und fiel ihrem Mann um den Hals.

»Der Chief wird nicht glücklich sein«, kommentierte Lindsey.

Raven setzte seinen Helm auf und schwang sich auf sein Motorrad. Creek kam zu ihm gelaufen, doch Raven hob eine Hand und ignorierte das Winseln des Akitas.

»Ich werde so etwa eine Stunde hinter Ihnen sein, Lindsey. Passen Sie für mich auf Creek auf. Ich habe noch etwas zu erledigen.«

»Was? Wohin zum Teufel wollen Sie?«, rief Lindsey ihm hinterher.

Raven kuppelte ein. Er hatte im Moment nicht die Geduld, Lindsey alles zu erklären, und sie würde ohnehin nicht verstehen, was er zu tun beabsichtigte. Er hatte noch einen weiteren Auftrag zu erledigen – er musste ein Versprechen erfüllen, das er Lieutenant Jeff Dupree und seinen Männern gegeben hatte, nachdem sie dem Hinterhalt der SOL-Soldaten zum Opfer gefallen waren. Die Marines würden ein anständiges Begräbnis erhalten, auch wenn Raven sich dabei wieder in Gefahr begab.

1

Drei Wochen waren seit dem nordkoreanischen Angriff vergangen und der Winter stand vor der Tür. Schneeflocken rieselten nieder. Polizeichef Marcus Colton zog am Zügel seines Hengsts Obsidian und dirigierte ihn nach rechts einen windumtosten Weg zum Gipfel des Prospect Mountain hinauf.

Eine Flocke fiel auf seinen Handschuh und er beobachtete, wie sie schmolz. Es war Mitte Oktober, spät für den ersten richtigen Schnee, aber er beklagte sich nicht. Das warme Herbstwetter hatte dazu beigetragen, die Moral der Bewohner der malerischen Touristenstadt hochzuhalten.

Seit dem Angriff hatten sie über 100 Menschen verloren. Die meisten waren an Krankheiten gestorben, ein paar auch gewaltsam, darunter zwei von Coltons Polizeibeamten.

Er konnte es immer noch nicht fassen, dass sein bester Freund, Captain Jake Englewood, nicht mehr da war. Die Tage direkt nach dem Angriff waren eine Katastrophe gewesen und die von Secretary Montgomery gelieferten Vorräte gingen bereits zur Neige.

»Sieht so aus, als würden ein paar Zentimeter fallen.« Raven ritt eine wunderschöne elfenbeinfarbene Stute mit einer sandfarbenen Mähne namens Willow. Ihre Hufe knirschten auf dem verschneiten Weg. Creek trottete zwischen den beiden Pferden und sein Blick flog beständig zwischen Colton und seinem Herrchen hin und her.

»Guter Junge«, lobte ihn Raven. Er tätschelte den Hals der Stute und fügte hinzu: »Und du bist ein gutes Mädchen, Willow Lady.«

Coltons Blick folgte dem gewundenen Pfad nach oben. Auf dem Gipfel des Berges stand der frisch vereidigte Police Officer von Estes Park, Dale Jackson, und wachte im Krähennest über die Stadt. Raven würde ihn ablösen und Colton begleitete ihn, um dafür zu sorgen, dass es zwischen den beiden Männern zu keinem weiteren Streit kam. Allerdings war das nicht der einzige Grund, warum der Polizeichef den Weg machte.

»Bleiben Sie cool hier oben, Raven. Ich kann heute nicht noch mehr Probleme brauchen«, erklärte ihm Colton.

»Sie vertrauen mir nicht?« Raven runzelte die Stirn und warf einen Blick über die Schulter. »Dale ist ein Arschloch ohne Klasse, aber dieser Tage habe ich Wichtigeres zu tun.«

Colton grinste und blickte zum Krähennest hoch. Der Metallzaun, der die Seilbahnstation umgab, lag direkt über ihm. Dale stand mit einem Bushmaster AR-15 hinter der Barriere. Sie hatten hier ständig jemanden postiert, um Flüchtlinge und Banditen zu entdecken, die sich in die Stadt schleichen wollten. Der Abschuss einer Leuchtkugel vom Krähennest bedeutete Ärger, zwei Leuchtkugeln warnten vor einem bevorstehenden Scharmützel oder schlimmer – Krieg.

Der Gestank des Todes drang Colton in die Nase, als sie sich den Felsvorsprüngen näherten, wo Mike Tankala, auch unter dem Namen Brown Feather bekannt, immer noch lag und verrottete.

»Ruhig, Mädchen«, besänftigte Raven sein nervöses Pferd. Er stieg aus dem Sattel und hob eine Hand, um Colton zu beruhigen. »Ich bin sofort wieder zurück, Chief. Ich muss mir nur etwas holen.«

Raven bewegte sich durch die Felsen und Bäume unterhalb der Seilbahnstation. Die roten Kabinen hingen über ihm und Colton erinnerte sich noch allzu deutlich an den Kampf, um Ravens Schwester und Nichte vor dem wahnsinnigen Entführer zu retten. Dieser Kampf hatte Jake das Leben gekostet.

»Scheiß drauf.« Colton stieg vom Pferd. Seine Stiefel knirschten im kompakten Schnee. Er fiel jetzt in dichten Flocken und an seiner warmen, wasserdichten Jacke liefen Wassertropfen hinunter. Vorsichtig, um nicht auszurutschen, folgte er Raven durch das Gewirr der Felsen. Der Leichnam des Dämons, der Estes Park terrorisiert hatte, lag immer noch da, wo er nach seinem Sturz von der Station gelandet war.

»Vielleicht hätten wir ihn doch begraben sollen«, sann Raven. Er hockte sich auf einen Felsen neben Brown Feather und griff nach dem Beil, das immer noch im Schädel des Leichnams steckte.

Colton zog sich sein Halstuch über die Nase. Der Gestank war entsetzlich. Raven hatte recht – sie hätten den Leichnam begraben oder verbrennen sollen. Raven ruckelte an dem Beil, bis es sich lockerte und er es aus Brown Feathers Schädel ziehen konnte. Das klaffende Loch, das sich daraufhin öffnete, war so breit, dass Colton die Maden sehen konnte, die sich an den Überresten des Gehirns der Leiche gütlich taten.

»Jetzt ist der Boden zu hart. Ich würde das Schwein ja verbrennen, wenn es nicht schneien würde«, entgegnete Colton.

Raven wischte das Beil im schneebedeckten Gras sauber. Er verstaute die Klinge in ihrer Scheide auf seinem Rücken und machte sich auf den Rückweg zu den Pferden. Sie gingen schweigend das Geröllfeld empor – nur die entfernten Geräusche von Vögeln in der Ferne und das Schnauben der Pferde im kalten Wind waren zu hören.

Schnell legten sie das letzte Stück des Weges zurück, der sich um die Rückseite des Krähennests schlängelte. Dale erwartete sie auf der Betonplattform, den Rücken an die Felskante gelehnt.

»Wie sieht es heute hier oben aus?«, fragte Colton.

»Ziemlich ruhig, Chief«, erwiderte Dale. Er nahm seinen Cowboyhut ab und sah Raven an, sagte aber kein Wort. Raven hielt ebenfalls den Mund – wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben, überlegte Colton.

»Hoffen wir, dass es so bleibt«, fuhr Colton fort. »Ich war ziemlich besorgt, dass nach dieser Funkmeldung die Flüchtlinge vor Estes Park Schlange stehen würden, aber vielleicht hat sich die Nachricht ja gar nicht so weit verbreitet.«

»Oder vielleicht hören auch einfach nicht besonders viele Leute zu«, ergänzte Dale schulterzuckend.

Raven grinste freudlos. »Ihr Leute solltet schon etwas paranoider sein, so wie ich.«

Colton wartete darauf, dass Raven seine Überlegungen äußerte, aber der Fährtensucher war wieder ganz der Alte und wartete darauf, dass ihn jemand nach seiner Theorie fragte. Der Mann liebte Publikum.

»Siehst du ein Problem, Sam?«, fragte Dale. Er war ein großer Mann mit einem Bierbauch und einer Fettschicht über den alten Arm- und Brustmuskeln. Bartstoppeln verdunkelten ein Kinn, das langsam den Kampf gegen die Schwerkraft verlor.

Raven trat näher ans Geländer. »Die Banditen da draußen wissen, dass es uns gibt. Wenn sie mit den Städten im Osten fertig sind, kommen sie zu uns. Zuerst werden sie unsere Schutzmaßnahmen testen. Wahrscheinlich mehrfach, um herauszufinden, welcher Weg in die Stadt der leichteste ist. Wir brauchen mehr Leute auf Ausgucks und müssen Späher aussenden, die alle Straßen beobachten.«

Colton folgte Ravens Blick über die Rocky Mountains. Die zerklüfteten Gipfel erstreckten sich über den Horizont wie das Maul eines Hais. Sie waren eine natürliche Barriere, dennoch brauchte die Stadt mehr Sicherheit.

»Ich habe darüber nachgedacht«, erwiderte Colton nach einer kurzen Pause. »Aber ich habe bereits so viele Männer an jeder Straßensperre stationiert, wie wir uns leisten können …«

»Sie haben keine Chance, wenn Redfords Bande wiederkommt. Oder Fenix. Er ist mit einer kleinen Armee entkommen. Er würde einfach alles niederwalzen und jeden umbringen, der ihm in die Quere kommt. Wir können nur überleben, wenn wir früh genug gewarnt werden.«

Colton griff in seine Jacke, holte einen Zahnstocher heraus und klemmte ihn sich in den Mundwinkel. Es war der beste Ersatz für eine Zigarette, den er finden konnte, jetzt, wo es keine mehr gab. Zumindest seine Frau war glücklich, dass er endlich aufgehört hatte.

Raven hatte wieder recht. Estes Park war in Gefahr, und diesmal würde keine Kavallerie angeflogen kommen, um ihnen zu helfen. Nathan war tot und seine Schwester musste sich mit dringenderen Problemen herumschlagen als ihrer kleinen Bergstadt. Ein paar Straßensperren würden den aufziehenden Sturm nicht aufhalten. Sein Blick wanderte zum Rocky-Mountains-Nationalpark. Vor 25 Jahren war der Damm am Lawn Lake geborsten und hatte einen Teil des Tals überflutet. Die Naturkatastrophe hatte ihn letzte Nacht, als er wach im Bett lag, auf eine Idee gebracht.

»Ich habe das noch nicht mit Bürgermeisterin Andrews besprochen, also bleibt das vorerst unter uns«, begann Colton. »Weil es jetzt schneit, mache ich mir wegen der Trail Ridge Road keine ganz so großen Sorgen mehr und ich glaube, dass wir die Stadt auf der Südseite verteidigen können. Die Highways 34 und 36 bereiten mir mehr Kopfzerbrechen.«

Raven schüttelte sofort den Kopf. »Erzählen Sie mir nicht, Sie denken daran, den Damm am Lake Estes zu sprengen.«

»Vielleicht haben wir keine andere Wahl.«

»Bevor wir etwas so Drastisches unternehmen, sollten wir erst mal Späher aussenden, finde ich«, erklärte Raven. »Die Banditen werden kommen, Chief, und das wissen Sie auch.«

»Sehe ich auch so«, mischte sich Dale ein. Er setzte seinen Hut wieder auf und bog die Krempe herunter. »Obwohl du mich in der Nacht des Angriffs auf der Straße hast stehen lassen …«

Raven lachte. »Bruder, das hattest du verdient.«

Colton biss auf seinen Zahnstocher. »Seit dieser Nacht hat sich viel verändert. Wir sitzen jetzt alle im selben Boot. Richtig?«

»Ich hab nichts gegen dich, Sam«, verkündete Dale. »Und es tut mir leid, dass ich deiner Schwester in der Nacht so blöd gekommen bin. Ich konnte nicht klar denken.«

Colton konnte sich gerade noch einen Seufzer der Erleichterung verkneifen. Raven wirkte einen Moment wie vom Donner gerührt und starrte Dale nur an. Dann streckte er ihm die Hand entgegen. »Schnee von gestern, Mann.«

Dale nahm Ravens Hand und schüttelte sie. »Sehe ich auch so.«

»Schön. Nachdem das erledigt ist, warum kehren Sie nicht in die Stadt zurück und ruhen sich aus, Dale?«, schlug Colton vor.

»Ich lege mich ein paar Stunden aufs Ohr und fahre dann zu der Straßensperre, die mir Don zugeteilt hat.«

Colton lächelte dem Veteranen zu, als er auf sein Pferd stieg. Dale schien Spaß an seinen neuen Aufgaben beim Estes Park Police Department zu haben.

»Ich begreife immer noch nicht, warum nicht mehr Flüchtlinge eintreffen«, dachte Raven laut.

Colton drehte sich wieder zum Geländer um und betrachtete ausgiebig das Tal. Seit dem Angriff vor einem Monat hatten sie nur ein paar Dutzend Flüchtlinge zu Gesicht bekommen. Etwas – oder jemand – hinderte sie daran, zu dem isolierten Ort in den Bergen zu gelangen.

Er wusste, dass es nicht an der Strahlung lag. Der größte Teil des Südens war sicher. In den Tagen direkt nach dem Angriff war es gefährlich gewesen, aber da es keinen radioaktiven Niederschlag gab – nur etwas, das sich Spaltprodukte nannte und er immer noch nicht richtig verstand –, hatte sich die Gefahr rasch gelegt. Die einzige andere Erklärung lautete, dass jemand die Flüchtlinge tötete, bevor sie es nach Estes Park schafften.

Die Vorstellung hätte Colton wütend machen müssen, doch stattdessen empfand er nur Müdigkeit. Die Spuren der Gewalt waren in der Betonplattform verewigt, wo Boden und Wände drei Wochen zuvor von Kugeln zerfurcht worden waren. Nur ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo Colton jetzt stand, war Jake ums Leben gekommen.

Ihm ging auf, dass sich Raven und er nach dem Duell mit Brown Feather genau an dieser Stelle die Hände geschüttelt hatten. Seitdem war viel passiert, nur eines war sicher: Colton war stolz darauf, Raven in seinem Team zu haben.

Raven hob seine Armbrust und begutachtete das Tal im Westen durch das Zielfernrohr, während Colton den Ort betrachtete, der unter ihm wie ein Weihnachtspostkartendorf aussah.

Er zog das Halstuch höher, um den Wind von seinem Nacken abzuhalten. Es roch nach Zedern und verbranntem Kaminholz. Rauchfähnchen stiegen aus Hunderten Schornsteinen auf.

»Ich kann ein Team von Spähern zusammenstellen«, erbot sich Raven. »Ich würde vorschlagen, auch die Trail Ridge Road erkunden zu lassen. Wir können die Seite der Stadt nicht einfach abschreiben, nur weil die Straße verschneit ist. Sollte sich Redford zu einer Rückkehr entschließen, würde ich darauf wetten, dass er diesen Weg nimmt, wahrscheinlich mit ein paar alten Lastern mit Schneepflügen.«

Creek kam zu ihnen getrottet. Er ließ sich zum ersten Mal wieder blicken, seit sie auf den Berg gekommen waren, und hatte ein totes Streifenhörnchen im Maul.

»Findiger kleiner Kerl«, kommentierte Colton.

Raven grinste. »Er weiß, dass er nur dann ein Leckerchen kriegt, wenn er selbst eins jagt. Ein paar Leute da unten könnten sich die eine oder andere Scheibe von ihm abschneiden.«

»Kann man wohl sagen.« Colton musste an einen ihrer Stadträte denken, Tom Feagen. Der arrogante Dreckskerl schien weder die Rationierung zu verstehen noch die Tatsache, dass Lebensmittel lagerfähig waren. Das war ein weiterer Punkt auf Coltons Liste zu erledigender Aufgaben, er freute sich nicht gerade darauf, mit Bürgermeisterin Andrews und Stadtrat Feagen Tacheles zu reden.

»Wo wir gerade von Redford reden, haben Sie die Idee endlich ad acta …?«

Raven schnitt Colton das Wort ab. »Nein, ich knöpfe ihn mir vor, wenn die Zeit reif ist. Und danach suche ich Fenix.«

»Wir haben das doch alles schon durchgekaut, Raven. Sie müssen Fenix dem Militär überlassen.«

Raven funkelte Colton an, seine Nasenflügel bebten vor Wut. »Dieses Nazi-Schwein läuft immer noch frei da draußen herum, Chief. Er hat Nathan ermordet, amerikanische Soldaten erschossen und kaltblütig Flüchtlinge getötet.«

»Ich weiß.«

»Dann wissen Sie auch, dass wir ihn zur Strecke bringen müssen.«

»Ich weiß vor allem, dass wir Estes Park schützen müssen«, entgegnete Colton. »Sollte sich Fenix hier blicken lassen, lege ich ihn persönlich um, aber ich will ihn nicht aufspüren. Das ist Secretary Montgomerys Aufgabe, nicht meine – und auch nicht Ihre.«

Raven hob beide Augenbrauen. »Haben wir irgendwas von ihr gehört?«

»Seit einer Woche nicht mehr.«

Raven schnaubte und drehte sich so, dass er die Stadt überblicken konnte. »Sie haben nicht miterlebt, wozu Fenix in der Lage ist.«

»Tut mir leid.«

Raven umklammerte das kalte Geländer und biss die Zähne zusammen, während er die Augen in dem eindeutigen Bemühen schloss, die Erinnerungen an die Dinge zu begraben, die er im Lager der Sons of Liberty erlebt hatte. Raven hatte nicht viel darüber erzählt, also wusste Colton nicht im Detail, was in jener Nacht passiert war. Er war der Ansicht, dass Raven es ihm erzählen würde, wenn die Zeit reif war.

Raven ließ das Geländer los, warf sich die Armbrust über die Schulter und marschierte mit Creek bei Fuß los. Das war das Stichwort für Colton, ihn in Ruhe zu lassen.

»Brauchen Sie irgendwas?«, rief Colton ihm hinterher.

»Machen Sie sich keine Sorgen um mich, Chief. Ich habe alles, was ich für die Nacht brauche.«

»Geben Sie gut auf sich acht.«

»Das tue ich immer.« Raven blieb stehen und drehte sich noch einmal zu Colton um. »Vielleicht sollte ich Estes Park anstelle der Straßen im Auge behalten. Die halbe Stadt will für das, was Redford getan hat, immer noch meinen Kopf auf einem Pfahl sehen.«

»Nach einer Katastrophe neigen die Leute zu einem kurzen Gedächtnis. Sicher, Sie sind der Sündenbock, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihnen tatsächlich jemand ans Leder will. Sehen Sie sich Dale an. Zwischen Ihnen beiden ist auch alles wieder gut.«

»Ja, was ist mit Don? Mir ist schon aufgefallen, wie er mich ansieht.«

Colton spuckte seinen Zahnstocher aus. »Don habe ich unter Kontrolle. Er ist nur noch aus dem Grund in der Truppe, weil wir jeden Mann brauchen. Kein Mensch wird auf ihn hören, wenn er wieder etwas versucht.«

»Und was ist mit Sandra und Allie? Mir ist auch aufgefallen, wie die Leute die beiden ansehen.«

»Ich lasse nicht zu, dass ihnen etwas zustößt«, versprach Colton. »Ich muss wieder zurück. Sind Sie sicher, dass Sie hier oben zurechtkommen?«

»Ja.«

»Na gut. Dann sehen wir uns in ein paar Tagen.«

»In ein paar Tagen?« Ravens schwarze Brauen zogen sich zusammen. »Wollen Sie verreisen?«

»Ganz genau, Raven. Einen größeren Angriff können wir nicht abwehren. Späher können uns frühzeitig warnen, aber wir brauchen Verbündete.«

»Wer schwebt Ihnen vor?«

»Bei Loveland gibt es ein Lager der Bundesagentur für Katastrophenschutz. Ich nehme Detective Plymouth mit und sehe mal, ob wir da Hilfe kriegen, vielleicht kann ich den Sheriff kontaktieren oder sonst jemanden, der noch da draußen ist. Wenn wir zusammenarbeiten, glaube ich, dass Estes Park und die umliegenden Gemeinden die Banditen aufhalten können, bevor es zu spät ist.«

Raven lehnte seine Armbrust an das Geländer. »Ich dachte, Sie hätten nichts für Politik übrig?«

»Habe ich auch nicht.«

»Tja, vermutlich sollten Sie dann ja Lindsey das Reden überlassen.«

Colton grinste kurz. »Möglich. Ich überlege auch, jemanden zum Storm Mountain zu schicken und zu versuchen, mit John Kirkus und seinen Männern zu einer Übereinkunft zu gelangen.«

Raven sah zu Boden und versuchte, seine finstere Miene zu verbergen.

»Ich weiß, dass Sie für diese Leute nichts übrighaben, aber wir könnten ihre Hilfe brauchen«, fügte Colton hinzu.

»Sind Sie verrückt, Chief? Diese Prepper werden nicht aus ihren Bunkern kommen, um uns zu helfen. Wahrscheinlich liegen sie da oben alle mit dem Gewehr im Anschlag auf der Lauer. Ich werde jedenfalls ganz sicher nicht da raufgehen und diesen Cowboy um Hilfe bitten. Viel zu gefährlich.«

Colton schnaubte. »Seit wann scheuen Sie vor der Gefahr zurück, Sam? Außerdem ist John Kirkus ein guter Mann, und das gilt auch für die meisten Leute, die da oben leben. Sie wollen nur in Ruhe gelassen werden und ihr Leben.«

»Ganz genau«, bestätigte Raven mit großen Augen. »Sie wollen in Ruhe gelassen werden.«

Colton zuckte mit den Schultern. »Vermutlich haben Sie recht damit, dass Kirkus gefährlich ist, aber es sind auch gefährliche Zeiten. Ich glaube, wir können gegen einen gemeinsamen Feind zusammenarbeiten.«

Raven kopierte Coltons Schulterzucken.

»Wachen Sie über Estes Park, während ich weg bin, okay?«

»Geht klar, Chief.«

Sie verabschiedeten sich mit einem festen Händedruck und sahen einander in die Augen, bevor Colton zu seinem Pferd zurückkehrte. Er strich dem Hengst über die schwarze Mähne und stieg dann in den Sattel. Obsidian schnaubte und folgte dem Weg zurück in die Stadt. Der Rückweg zum Revier würde beinahe eine Stunde dauern. Colton atmete die klare Luft tief ein und versuchte, den ruhigen Nachmittag zu genießen. Für ihn bestand kein Zweifel, dass die Ruhe nicht lange anhalten würde.

Er ließ den Blick über den Prospect Mountain schweifen und fragte sich, was wohl hinter den Bergen vorging. Die analogen Funkmeldungen zeichneten ein düsteres Bild. In vielen der umliegenden Städte, darunter auch Loveland und Fort Collins, herrschte Anarchie. Die Bundesagentur für Katastrophenschutz – FEMA – und die Nationalgarde hatten ein Lager errichtet und Colton hatte so eine Ahnung, dass die Flüchtlinge dorthin unterwegs waren anstatt nach Estes Park. Das erklärte trotzdem nicht, warum nur so wenige bei ihnen aufgetaucht waren. Selbst wenn der Löwenanteil in Loveland endete, hätten bei ihnen doch mehr als die Handvoll eintreffen müssen, die es geschafft hatte.

Auf halbem Weg zurück spitzte Obsidian plötzlich die Ohren und blieb stehen. Colton griff nach seinem Colt Single Action Army Revolver, als eine Leuchtkugel in die Höhe schoss. Das rote Licht raste durch die fallenden Schneeflocken und ihre Explosion warf einen rötlichen Schein auf den Estes Park Lake.

Mit klopfendem Herzen wandte sich Colton im Sattel zur Seilbahn um. Er stieß einen Seufzer eisiger Luft aus und wartete gespannt. Eine Leuchtkugel war schlimm genug, aber zwei …

Die zweite kam nicht und Colton entspannte sich im Sattel. Was Raven da oben auch gesehen hatte, es rechtfertigte nur einen Warnschuss.

»Vorwärts, mein Junge.« Colton versetzte Obsidian einen leichten Klaps. Der ruhige Nachmittag hatte sich schneller in Wohlgefallen aufgelöst, als er erwartet hatte. Seine Stadt mochte es noch nicht mit einem Großangriff zu tun bekommen, aber er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie der Sturm erreichen würde.