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Zuerst wurde viel geredet, aber plötzlich antwortet niemand mehr gerne auf Fragen. Ein Fotograf schlägt mit einer kleinen Edelstahlpfanne Stahlnägel in die Wand, während andernorts eine Putzfrau beschließt, das Quietschen ihres Putz-Wägelchens zu mögen. Draußen schneit es ohne Ende. Um seinen Standpunkt zu unterstreichen, beißt ein Warboy einem andern ins Gesicht. Für manch eine ist nett das Gegenteil von sympathisch, ein anderer fragt sich wiederum, wieso er Schimmel neuerdings persönlich nimmt. Vielleicht ist es doch eine Überlegung wert, den Gebrauch wahrer Sätze zu rationieren?

2014 hat Christoph Strolz mit seinem Text Meine Schwester den FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb Wortlaut gewonnen, jetzt legt er – der Textgattung treu geblieben – mit Wenn ich blinzle wird es besser nach. Zwar erzählt Strolz immer aus der Ich-Perspektive, aber seine Held*innen sind ebenso unterschiedlich wie die gewählten Settings und der jeweilige Tonfall der Geschichten: Strolz erweist sich in seinem Debüt als wahrlich vielseitiger Erzähler.

CHRISTOPH STROLZ, * 1979 in Zams/ Tirol, studierte Philosophie in Innsbruck und Wien. Er lebt, arbeitet und schreibt in Wien und Anstruther/ Schottland.

Wenn ich blinzle wird es besser ist sein Debüt.

Christoph Strolz

Wenn ich blinzle
wird es besser

Erzählungen

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© Luftschacht Verlag – Wien

luftschacht.com

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Umschlaggestaltung: Matthias Kronfuss studio – matthiaskronfuss.at

Satz: Luftschacht; gesetzt aus der Metric und der Noe

Druck und Herstellung: Christian Theiss GmbH

Papier: EOS blw 100 g/m2, Imitlin E/R65 Finadra 125 g/m2

Gefördert von der Kulturabteilung der Stadt Wien, Literatur

ISBN: 978-3-903081-33-8

ISBN E-Book: 978-3-903081-71-0

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für Brigitte und Katharina

INHALT

Die Wahrheit

Sisyphos

Schnee

Die Grundlagen der Harmonik nach Cornelius Berkowitz

Terrarium

Die Tour

Maras Auge

Die Wahrheit

Thomas Tronsky hatte einen flüssigen Dotter erwartet. Doch als Vertreter einer stets geschmeidig bleibenden Bedeutungstheorie hätte er womöglich auch ein Eigelb mit an handwarmes Wachs erinnernder Konsistenz akzeptiert. Er saß draußen, im harten Schatten einer Markise. Und nachdem er ein Weilchen lang das eben aufgestochene Ei betrachtet hatte, winkte er merkbar verstimmt den Kellner herbei. Tronsky wollte ihm sagen, dass das Ei vollkommen hart sei, dass das so einfach kein Frühstücksei sei, aber aus unerfindlichen Gründen gelang es ihm nicht. Er stammelte, suchte händeringend nach Worten. Schließlich, so zumindest die gängige Erzählung, zeigte der berühmte Linguist nur auf den hellgelben und bröseligen Dotter und fragte: „Warum?“

Es hätte ein krönender Abschluss werden sollen, sowohl für den größten Neurologen-Kongress des Jahres als auch für Marita Manolis gut zwanzigjährige, mit Irrwegen und Rückschlägen gespickte Forschungstätigkeit. Manolis Vortrag wirkte sehr gut vorbereitet. Deshalb schien es wahrscheinlich, dass sie die ihr zugedachte Redezeit nicht aus Versehen, sondern durchaus um den Moment ein wenig auszukosten, überschritt. Nur wer hätte es gewagt, sie zu unterbrechen? Und sie gelangte nun ohnehin an den Punkt, das Offensichtliche nur noch aussprechen zu müssen, nämlich, dass angesichts der eben präsentierten Ergebnisse Alzheimer nunmehr als heilbar eingestuft werden könne. Doch Manoli kam plötzlich ins Stocken. Ausgerechnet dieser abschließende Satz wollte ihr einfach nicht über die Lippen gehen. Erst herrschte ratlose Stille im Saal, dann begann ein Gehuste und Getuschel. Man sieht in den Konferenzmitschnitten deutlich, wie Manoli ihren Hänger zunächst noch charmant weglächelt, bis ihr dieses Lächeln allmählich immer mehr gefriert. Schließlich scheint fast so etwas wie Verzweiflung in ihren Augen aufzublitzen, ehe das Publikum auch ohne Schlusswort in frenetischen Applaus ausbricht und Manoli so von der Bühne holt.

Es gibt gute und es gibt schlechte Staatsanwälte. Akim Aram galt gemeinhin als brillant. Er verfügte über ein immenses Fachwissen, das ein fotografisches Gedächtnis nahelegte, gepaart mit geschliffener Rhetorik und einem messerscharfen analytischen Verstand. Es war also wenig überraschend, dass man ihm diesen Korruptionsfall anvertraute, der gerade halb Europa erschütterte, allein schon wegen des immensen medialen Interesses, das zu erwarten gewesen war. Um es kurz zu machen: Es war ein Desaster. Dem Justizsystem wurde nachhaltig geschadet und der Rechtsstaat bis auf die Knochen blamiert. Denn Akim Aram wirkte unfähig oder gar bestochen. Im Grunde beschränkte sich seine gesamte Beweisführung darauf, in immer neuen Iterationen festzustellen, dass sich die drei Hauptangeklagten entweder schmieren hätten lassen, oder eben auch nicht.

Diese drei Fälle galten lange als die ersten. Vieles spricht allerdings dafür, dass sie nur zufällig als solche wahrgenommen wurden. Bei Manoli und Aram, weil sie entsprechend gut dokumentiert waren. Bei Tronsky womöglich nur deshalb, weil der Kellner sich wichtigmachen wollte, nach Tronskys tiefem, selbst vom Boulevard beachtetem gesellschaftlichem Fall. Bei allen dreien war vorerst keinerlei Entwicklung zu erkennen. Weder waren irgendwelche Auffälligkeiten vor den beschriebenen Vorfällen dokumentiert worden, noch vollzog sich danach eine auch nur irgendwie als Prozess beschreibbare Veränderung. Es schien, als wäre gleichsam ein Schalter umgelegt worden. Tronsky kommunizierte fortan ausschließlich mit Fragen. Aram sprach nur noch Inhaltsloses. Manoli blieb stumm.

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Von einer Krankheit auszugehen, war per se nicht allzu naheliegend. Bloß, was gab es sonst für Erklärungen? Von allen angedachten Ursachen für das gezeigte Verhalten war die Annahme einer mysteriösen Krankheit noch die plausibelste. Trotzdem gab es anfangs massive Bedenken bezüglich des Forschungsprojekts rund um die sogenannte Alphagruppe. Kritiker brachten im Wesentlichen zwei Einwände in Stellung: Zum einen hielten manche die Zahl der Probanden für viel zu klein, zumindest für die angedachte Herangehensweise; zum anderen war für viele die implizite Hypothese, dass es sich in allen bekannten Fällen um exakt dieselbe Krankheit handeln sollte, nicht hinreichend gesichert oder gar verfehlt. Und ich muss zugeben, dass ich die Bedenken nachvollziehen konnte. Mehr noch, wäre ich ein unbeteiligter Beobachter gewesen, ich hätte sie vermutlich geteilt, denn unser Forschungsauftrag hätte wirklich nicht schwammiger sein können. Und die Alphagruppe war tatsächlich winzig: Tronsky, Manoli und Aram als die drei bekanntesten Fälle, sowie ein gutes Dutzend weiterer Probanden, deren Namen ich nicht in die Öffentlichkeit zerren will. Dass das Projekt dennoch zu Stande kam, lag an einem günstigen Gemisch an Interessen. Diverse Forschungsgesellschaften hatten ein vitales Interesse am Schicksal Manolis. Tronsky war so etwas wie ein intellektueller Celebrity, was ein Investment in die Erforschung seines Zustands leicht rechtfertigbar machte. Staatlichen Stellen wiederum lag viel daran, Arams Versagen aufzuklären. Und für alle beteiligten Seiten schien es vorteilhaft, die entsprechenden Vorfälle genauer zu untersuchen und wenn möglich zu pathologisieren.

Ich hatte mich beworben, ohne mir allzu große Chancen auszurechnen. Zudem stand das ganze Projekt auf tönernen Füßen. In der irritierend vage bleibenden Ausschreibung wurde deutlich darauf hingewiesen, dass das Zustandekommen des Projekts zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht als gesichert gelten konnte. Ich bekam schließlich eine bedingte Zusage. Doch während auf die Freigabe der Fördergelder gewartet werden musste, beschlichen mich Zweifel, ob ich nicht etwas anderes mit meinem Leben anfangen sollte; Bedenken, ob ich tatsächlich bereit war, je nach aktueller Lage der Standortverhandlungen nach Dublin, Bielefeld oder Edinburgh zu ziehen. Als aber Marc dann die Postdoc-Stelle in Lund annahm, blieb wenig übrig, was mich noch an meine Heimatstadt fesselte. Ein paar liebgewordene Gewohnheiten, die man auch leicht als Neurosen deuten konnte, und eine Handvoll schwammiger Sentimentalitäten, an denen man den eigenen Lebensmittelpunkt schwerlich festmachen will. Meine Zweifel schwanden dann ohnehin oder begannen wieder unter meiner hohen Wahrnehmungsschwelle abzutauchen, als das Projekt endlich gestartet werden konnte, als die verbliebenen offenen Fragen beantwortet waren und der Standortstreit endgültig geklärt.

Tronsky war leicht auffindbar gewesen. Seine Frau hatte ihn einweisen lassen, in der bald enttäuschten Hoffnung, dass ihm in einer der besten psychiatrischen Kliniken weltweit bestimmt geholfen werden würde. Es gelang auch schnell, Manoli aufzuspüren. Sie hatte sich in ihr Ferienhaus zurückgezogen, einen Strandbungalow mit auf Stelzen steh ender Veranda, der aussah, als habe ihn Edward Hopper in die weitgehend menschenleere Landschaft gemalt. Bis auch Aram gefunden war, vergingen hingegen fast zwölf Wochen. Seine Spur verlor sich mehrmals in zwielichtigen Spelunken und diversen Ausnüchterungszellen. Man fand ihn schließlich tonlos vor sich hinmurmelnd in einer Notschlafstelle. Mit Zustimmung seines Sohnes wurde er als Letzter der Probandengruppe an uns überstellt.

Die Einrichtung war zwar klein, aber hervorragend ausgestattet. Es gab geräumige Patientenzimmer mit schlichten, hochwertigen Möbeln. Ihre Sterilität erinnerte kaum an jene von Krankenhäusern, sondern mehr an den Purismus einer Kunstgalerie. Die zwei Befragungszimmer hatten große, nach Norden ausgerichtete Glasfronten. Das Labor entsprach den modernsten Standards und als der MRT-, PET-, und CT-Scanner geliefert wurde, freuten sich die Neurologen innerlich wie kleine Kinder. Jedenfalls nahm ich ihnen die zur Schau getragene Gelassenheit, mit der sie die Installation überwachten, nicht ab. Die ersten Scans glichen dann auch mehr einer enthusiastischen Spritztour; einem lustvollen Austesten des neuen Spielzeugs, ohne Erkenntnisgewinn, ohne wirklichem, diagnostischem Zweck. Weshalb auch niemand enttäuscht war, als keinerlei Auffälligkeiten entdeckt werden konnten. Erst nachdem sich eine gewisse Euphorie des Beginnens verflüchtig hatte, und erst recht, als sich erste, ganz konkrete Theorien nicht bestätigen ließen, machte sich Ernüchterung breit und es etablierte sich ein der erwartbaren Länge des zurückzulegenden Marsches angemessenerer Trott.

Ich mochte die karge, hügelige Landschaft, wenn ich aus dem Fenster blickte. Ich kam auch erstaunlich gut mit dem wechselhaften schottischen Wetter zurecht. Wenn ich abends mit Marc skypte, überbrückte die Verbindung spielend mehr als 1000 Kilometer. Und dass sich Lund und Edinburgh fast auf den Meter genau auf demselben Breitengrad befänden, war zwar eine glatte Lüge, entwickelte sich aber in unseren erstaunlich unsentimentalen Gesprächen gerade deshalb zu einem brauchbaren Running-Gag. Es gab genug zu tun, was die Sache mit Marc erleichterte. Wir analysierten das Verhalten der Probanden. Wir suchten in den feinen, fast wie ziseliert wirkenden Strukturen, die der Kernspintomograph lieferte, nach Auffälligkeiten und Mustern. Und wir studierten die sich in einem ständigen Fluss befindenden gelben, orangen und roten Areale auf den PET-Scans dahingehend, ob sie womöglich einen gestörten Prozess sichtbar machten, etwa indem bestimmte Bereiche neutral grau blieben, die eigentlich aufleuchten müssten, oder indem sich Aktivitäten in Hirnarealen zeigten, deren Beteiligung nicht zweckdienlich ist. Doch unter allen ersonnenen Gesichtspunkten und entgegen sämtlicher angedachter Hypothesen erwiesen sich die untersuchten Gehirne als nach wie vor überdurchschnittlich leistungsfähig und zumindest auf neuronaler Ebene als scheinbar vollkommen intakt. Fortschritte gab es nur bezüglich unseres Verständnisses der Symptome. Die Patientengespräche und kognitiven Tests, die meist ich durchführte, zeichneten allmählich ein deutlicheres Bild davon, was die Patienten noch beherrschten und woran sie unentwegt scheiterten. In einem recht typischen Testsetting saß ich ihnen beispielsweise gegenüber und legte fünf Karten vor sie auf den Tisch. Die Karten zeigten verschiedene Matrizen. Im Grunde also ein Setting, wie man es aus gängigen IQ-Tests kennt. Es gelang allen mühelos, auf die aus dem Rahmen fallende Matrize zu zeigen, wenn ich sie dazu aufforderte. Freilich auch auszusprechen, dass diese Matrize nicht in die Reihe passte, gelang ihnen nicht. So rückte bald das Sprachzentrum in den Fokus unserer Untersuchungen und wir forcierten die Befragungen und andere sprachzentrierte Tests. Sie durchzuführen war anspruchslos, aber keineswegs unspannend. Ich fand es interessant, mich mit den Probanden zu unterhalten, selbst wenn dies weitgehend nach klar definierten Regeln und mit standardisierten Fragemustern geschah. Denn es entstanden Gespräche mit oft vollkommen obskuren Verläufen und Situationen, die einen derart skurrilen Wahnwitz entwickelten, dass es mir schwerfiel, nicht in Gelächter auszubrechen, was freilich nicht nur unprofessionell gewesen wäre, sondern auch unmenschlich, war doch stets spürbar, wie sehr die Probanden unter ihrem Zustand litten. Und vielleicht war mein Drang zu lachen auch nur der Versuch, eine Art von Schutzwall zu errichten, weil es schlicht traurig war, ehemals brillante Köpfe bei derart simplen Fragen straucheln zu sehen. Tronsky variierte seine Gegenfragen in komplexer, vokabelreicher Weise. Es schien, dass ihm seine Schlagfertigkeit keineswegs abhandengekommen war. In gewisser Weise glich er einem erblindeten Boxer, der mit ungebrochener Kraft nur mehr ins Leere schlug. Erst wenn er müde wurde, gerieten ihm die Antworten zusehends einsilbiger und monotoner. Ab einem gewissen Punkt musste die Befragung dann beendet werden, denn er reagierte abgekämpft auf jede erdenkliche Frage nur noch mit einer Trias aus „wieso“, „weshalb“ und „warum“. Aram hingegen erging sich in ausladenden und mäandernden Erörterungen, die stets in sehr unbefriedigenden Antworten mündeten; Antworten, die immer sehr ähnliche logische Strukturen aufwiesen: „p oder nicht-p“ beispielsweise oder „Wenn aus nicht-p (q und nicht-q) folgt, dann p“. Manchmal musste er sogar zu einem noch simpleren Antwortschema greifen. Kleinlaut gab Aram dann Sätze von sich, die auf dem Muster „Wenn p dann p“ beruhten, was – darüber schien er sich im Klaren – einer intellektuellen Bankrotterklärung glich. Da vergrub er dann sein Gesicht in seinen erstaunlich grobschlächtigen Händen, oder er fegte wütend mit einer erschreckend schnellen Bewegung meine Unterlagen vom Tisch. Manoli wiederum hatte sehr kleine und zerbrechlich wirkende Hände, die sie manchmal zu Hilfe nahm, um zu schweigen und die Frage dennoch nicht zu ignorieren, weil sie das – so schien es zumindest – als beschämend unhöflich empfand. Einmal sah sie an mir vorbei, hin zur Fensterfront in meinem Rücken. Es war grau draußen und man hörte den Regen an die Scheiben prasseln. Als ich sie fragte, was sie denn sehe, wenn sie zum Fenster hinausschaue, streckte sie mir die Finger entgegen und begann sie zu bewegen, als würden sie auf einer ihr vorschwebenden Klaviatur einen Triller spielen.

Die Probanden verhielten sich also sehr unterschiedlich. Es schien sich zwar zu erhärten, dass sie mit demselben Defizit zu kämpfen hatten, aber wie sie diesen Kampf bestritten, war sehr inhomogen. Dies änderte sich erst, als wir sie nicht mehr voneinander getrennt hielten. Es war schließlich ein Punkt erreicht worden, an dem wir ihre Isolation nicht mehr rechtfertigen konnten, weder vor unseren eigenen Gewissen, noch vor der von besorgten Verwandten eingeschalteten Ethikkommission. Als die Probanden nun miteinander in Kontakt kamen, begannen sie, die Verhaltensweisen der anderen zu übernehmen. Sie adaptierten nach und nach gegenseitig die ihnen verbliebenen Kommunikationsstrategien, liehen sich voneinander ihre diversen Prothesen, Gehilfen und Krücken aus. Dies markierte grob auch das Ende der ersten Forschungsphase, die mir als die mit Abstand angenehmste in Erinnerung geblieben ist. Wir arbeiteten sachlich und doch nicht unterkühlt zusammen. Der Druck war noch nicht riesig und das Arbeitspensum gut bewältigbar. Wenn man sich Wissenschaft als eine Art Stromnetz vorstellen will, waren wir ein kleines, durchaus effizientes Kraftwerk. Freilich ohne nennenswerten Input ins Netz und weit abseits gelegen irgendwo an dessen vergleichsweise idyllischer Peripherie.

Unser damaliger Wissensstand ließ sich in etwa so zusammenfassen:

(1)Die Krankheit war sehr selten.

(2)Betroffen schien primär die Sprachfähigkeit, und die Krankheit war offenbar nicht degenerativ.

(3)Die Hypothese, dass es sich um ein und dieselbe Krankheit handelte, war nun deutlich leichter zu vertreten. Schließlich hatten die Patienten partiell die Symptome der anderen übernommen, wodurch ein deutlich homogeneres Krankheitsbild entstanden war.

(4)Es war gelungen die Symptome einzugrenzen und exakter zu beschreiben. Doch waren wir bislang kläglich daran gescheitert, auch nur Indizien für eine mögliche Ursache dingfest zu machen. Genau genommen hatte man zum Verhalten der Patienten noch kein einziges physiognomisches Korrelat entdeckt.

Der letzte Punkt verursachte allmählich eine gewisse Spannung innerhalb der Gruppe, die sich bei einer Weihnachtsfeier in einem kleinen und ziemlich armseligen Eklat entlud. Zu viel Punsch hatte Hemmschwellen sinken und Zungen sich lockern lassen. Die beteiligten Psychologen konnten ihre Schadenfreude nicht mehr ganz verbergen, die sich mit der zunehmenden Frustration der Neurologen naturgemäß nicht allzu gut vertrug. Es kam zu Beschimpfungen, sogar zu einem Handgemenge. Ob es dabei tatsächlich zu einem versuchten Faustschlag gekommen war, wie einer der Psychologen anschließend behauptete, kann ich aber weder ausschließen noch bestätigen.

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