Für meinen Großvater Brooke Reynolds
und meinen lieben Freund Brook Stephenson.
Ihr habt die Welt so hell erleuchtet.

Über Jason Reynolds

Jason Reynolds studierte Literaturwissenschaften an der University of Maryland. Seine Bücher sind nicht nur Bestseller, sondern wurden von der Presse hochgelobt und mehrfach ausgezeichnet. In den USA gehört er zu den neuen Stars der Jugendbuchszene. Sein Buch »Ghost« wurde mit dem Luchs des Jahres der ZEIT und Radio Bremen ausgezeichnet. Jason Reynolds lebt in Washington, D. C.

 

 

 

 

#437: Der dümmste Name für einen Sport ist Football. Warum nennt man American Football nicht einfach Rempelball? Echter Fußball heißt bei uns Soccer. Soccer ist der zweitdümmste Name für einen Sport, das könnte eigentlich der Name für Frauenboxen sein, aber Frauenboxen heißt schon Boxen, obwohl Boxen der Sport sein sollte, bei dem es darum geht, wer irgendwelche Sachen, Klamotten zum Beispiel, am schnellsten einpacken kann. Warum ist das kein Sport? Wenn es ein Sport wäre, dann wäre Ma die Weltmeisterin.

#438: Auch so ein komisches Wort ist »Bank«. Im Park gibt es viele davon, und ich kann sagen, ich gehe zur Bank, und ich kann mich auf eine Bank setzen. Aber ich kann nicht sagen: Es gibt so viele Banken hier im Park. Banken gibt es draußen vor dem Park, da holt Dad Geld. Aber wenn er mit dem Auto kommt, kann er im Park nicht parken.

EINS

#460: Kacke. Kack ist doof. Doofe Kacke. Doof. Kacka. Kackadu. Gibt es das Wort Kackedikack?

Genie stand ein paar Meter von Samanthas schäbiger alter Hundehütte entfernt auf dem Hof und kritzelte wild in sein Notizbuch, während sein älterer Bruder Ernie die Hündin mit einem Topf Hühnchen, Schinken, Grütze, Grünzeugs und sonstigen Resten zu einem saubereren Fleck Erde lockte.

»Okay, jetzt ist sie eine Weile beschäftigt«, sagte Ernie zufrieden. Er ging hinüber zu Großmutters und Großvaters Haus, packte eine rostige Schaufel, die an der Hauswand stand, kam zu Genie zurück und fing an, sie mit eingetrockneter Hundekacke zu beladen.

»Würd schon gern wissen, was du damit anfangen willst«, sagte Genie und zupfte und zerrte an seinen Shorts, die ihn am Hintern kniff. Dass er seit letztem Jahr ganz ordentlich gewachsen war, hatte Ma wohl nicht bedacht, als sie ihm seine alten Sommerklamotten eingepackt hatte.

»Wenn du das Geschreibsel mal sein lässt, siehst du es«, sagte Ernie, hob die Schaufel und ging zur Rückseite des Hauses, wo Bäume standen. Als er nah genug am Waldrand war, blickte er über die Schulter. Genie schob das kleine Heft in seine Gesäßtasche. »Guckst du?«, rief Ernie, um sicherzugehen, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren.

Genie rannte zu ihm. »Jep.« Ernie ließ ein verschlagenes Grinsen aufblitzen, das perfekt zu seiner dunklen Sonnenbrille passte. Dann, ganz ohne Vorwarnung, schwang er mit der Schaufel aus und schleuderte die Kacke in hohem Bogen rüber in den Wald, wo sie gegen die Bäume klatschte und zerstieb.

»Jach-aah«, juchzte Ernie und stieß die Schaufel in die Höhe, als ob ihm gerade ein Touchdown gelungen wäre.

Als Ernie die Schaufel wieder mit Kacke belud, schaute ihn Genie mit großen Augen und offenem Mund an. »Willst du hier einfach nur rumstehen, oder willst du mitmachen?«, fragte Ernie und deutete mit dem Kinn zu einer Schaufel, die an der Hauswand lehnte.

Genie wollte das Kackeschleudern auf keinen Fall verpassen. Das Kackedikack. Auf. Keinen. Fall. Wie oft kriegst du die Chance, Kacke in einen Wald zu katapultieren? Nie. Genie rannte los und nahm sich die andere Schaufel.

»Nimm den da«, sagte Ernie und stupfte gegen einen ekligen Haufen, der immer noch stank.

Genie verzog das Gesicht, aber er stieß die Schaufel unter die Kacke, verzog erneut das Gesicht beim Kratzen von Metall auf Erde, dann hob er die Kacke hoch und folgte Ernie zum Waldrand.

»Jetzt zeig mal was«, sagte Ernie nickend.

Genie trat mit einem Fuß vor, hielt die Schaufel, als wäre sie ein Baseballschläger, mit dem er gleich den schlechtesten Schlag aller Zeiten versuchen würde. Er riss die Schaufel nach vorn, aber nicht annähernd kraftvoll genug, und die Kacke klatschte praktisch nur einen halben Meter von ihm entfernt zu Boden. Es war ein ziemlich kläglicher Wurf, und um Haaresbreite hätte er sich die Kacke über seine eigenen Converse gespritzt. Gut, die waren schon voller Staub, aber Staub ist das eine, selbst mit Matsch konnte er leben, aber Hundekacke? Davon erholst du dich nicht mehr.

»Du musst sie schleudern, Genie. Schleudern.« Ernie führte es mit ein paar pantomimischen Schwüngen vor. »Siehst du diesen Baum dort drüben?«

Genie sah die vielen Bäume an und fragte sich, welchen genau Ernie meinte. Das war doch eigentlich … ein Wald. Überall Bäume. In der ganzen Gegend. Und Ernie deutete doch eigentlich nicht auf einen bestimmten. Er sagte nur dieser Baum dort drüben, als ob einer der Bäume mit einem Schild markiert wäre, auf dem DIESER BAUM, DU BLÖDMANN stand. Aber Ernie war ständig genervt von Genie, weil der so viele Fragen stellte, also nickte er nur.

»Pass mal auf, wie ich das mache, du Anfänger.« Ernie ließ die Schaufel tief hinter sich hängen, ehe er die Kacke schwungvoll wegschleuderte. Sie klatschte gegen einen Baum. Perfekter Schuss. Das musste genau der Baum gewesen sein, auf den Ernie gezielt hatte, weil er schon wieder triumphierend die Hände hochriss. »Peng, peng! Hab ihn«, brüllte er. »Und jetzt versuch’s noch mal.«

Genie lud einen weiteren Klumpen auf die Schaufel, während ihm Fragen durch den Kopf schwirrten wie diese Fliegen auf dem … Kackedikack. Warum gab es hier eigentlich so viel Kacke? War allen anderen egal, dass der Hof so dreckig war? Wann hatten sie den Hof das letzte Mal von Kacke gereinigt? Genie versuchte Ernies Bewegungen genau nachzumachen. Er hielt die Schaufel tief unten und ein wenig seitlich, damit er gut Schwung holen konnte. Wir reden hier von Technik. Komplizierte Sache.

»Ziel auf das alte Haus dort drüben«, sagte Ernie und deutete in den Wald. Genie konzentrierte sich und zählte. Eins, zwei, und bei drei schwang er seinen ganzen Körper herum. Es wurde eine Art misslungener Golfschlag, der Dreck flog von der Schaufelspitze und hatte diesmal definitiv Schwung drauf! Aber wie man ein Ziel anpeilte, hatte Genie noch nicht raus – den Teil hatte Ernie ausgelassen. Die Kacke flog hinter ihm weg und klatschte gegen ein Fenster. Am falschen Haus. Am Haus seiner Großeltern.

»Genie«, schrie Ernie mit hervortretenden Augen. Und in diesem Moment kam Oma.

»Genie!«, rief sie. »Ernie! Was zum Sam Hill treibt ihr beide denn da?«

Überhaupt war es doch Großmutter, die Ernie und Genie auf Hundekackepatrouille geschickt hatte. Keiner von den beiden hatte je Kacke von irgendeinem Hof schaufeln müssen, denn erstens haben in Brooklyn die meisten Leute gar keine Höfe. Und zweitens heben die meisten Leute in Brooklyn die Kacke mit Plastiktüten auf, wenn ihr Hund sein Geschäft auf dem Gehweg macht. Nicht alle, aber die meisten. Aber in North Hill, Virginia, gibt es keine Gehwege. Keine Brownstones mit den zementenen Vortreppen, von denen aus du Busse, Eiskremkarren und Taxis vorbeifahren siehst. Nada. North Hill, Virginia, ist auf dem Land. Und zwar richtig auf dem Land. Und Genie und Ernie wohnten in einem kleinen weißen Haus auf einer Anhöhe. Im Haus von Großmutter und Großvater. Einen Monat lang. Das heißt ganze dreißig Tage.

Die Jungs waren zwei Abende zuvor nach einer langen, unbequemen Fahrt im alten Honda ihres Vaters angekommen. Unbequem zumindest für Genie, denn Ernie hatte sich auf dem Rücksitz breitgemacht, als würde es sich um sein Privatsofa handeln, todmüde von einem Haufen Cheeseburgern, und hatte Genie die längste Zeit der Reise ans Fenster gequetscht. Genie hatte überlegt, ob er Ernie ärgern sollte, indem er seine üblen Schnarcher nachäffte, aber dann wurde ihm klar, dass es witzlos war, denn Ernie war nicht wach zu kriegen und hätte sich ebendeshalb nicht geärgert. Derart unter Ernies Bein eingeklemmt, in der eisigen Stille, die zwischen seinen Eltern herrschte, blätterte Genie zur Ablenkung durch sein Notizbuch – in das er seine besten Fragen hineingeschrieben hatte. Manche waren schon beantwortet, und manche waren immer noch Rätsel. Er stieß auf eine, die er schon völlig vergessen hatte – #389: Fressen Honigdachse Honig? –, dann versuchte er seinen Eltern zu erklären, dass er im Internet gelesen habe, dass Honigdachse wirklich Honig fressen, und wie viele von ihnen von Bienen totgestochen würden, weil sie so scharf auf Honig aus dem Bienenstock seien. Das tapferste, verrückteste Tier überhaupt.

»Die sind so ungefähr wie Wiesel. Aber tapferer, wisst ihr, was ich meine? Also, die sind klein, aber die haben keine Angst, sich zu schlagen, sogar mit Löwen«, hatte Genie vor sich hin gebrummelt.

Dass seine Eltern ihn weder nach den Honigdachsen gefragt hatten noch wussten, warum er sich dafür interessierte, hielt ihn nicht davon ab, frei von der Leber weg weitere Neuigkeiten mitzuteilen. Das war gewissermaßen sein Ding. Da war er anders als Ernie. Genie war die Sorte Kind, die ein zerknittertes Notizbüchlein und einen Stift in der Tasche trugen, um sich interessante Dinge zu notieren, wann immer sie ihnen unterkamen. Das Entscheidende war, eine Liste zu führen – eine nummerierte Liste – von all den Dingen, die er googeln musste, denn für Genie galt, je mehr Fragen du hattest, desto mehr Antworten konntest du finden. Und je mehr Antworten du fandest, desto mehr wusstest du. Und je mehr du wusstest, desto weniger Fehler würdest du machen. Fehler waren Genies Sache nicht.

Ernie dagegen gehörte zu der Sorte von Jungen, die tagein, tagaus eine Sonnenbrille trugen, nur um sicherzugehen, dass alle wussten, dass sie cool waren, und für ihn war es der größte Fehler, den jemand machen konnte, eben nicht cool zu sein. Und sich nicht verteidigen zu können. Tatsächlich kam es nur selten vor, dass Ernie keine Sonnenbrille trug, etwa wenn er Karate übte, was er schon machte, seit er sieben war. Er hatte den braunen Gürtel oder, wie er es ausdrückte, den »schwarzen Gürtel für die Jungen«. Genie sah sich Ernies Wettkämpfe gern an, aber nicht so gern, wie er Quizsendungen oder Glücksrad guckte. Ernie wiederum guckte gerne Mädchen an. Genie baute gern Modellautos. Ernie … schaute gern Mädchen an.

»Junge, wenn du jetzt nicht schläfst, mach ich dir den Dachs«, hatte Ma vom Vordersitz her geschimpft, nachdem Genie ihr von dem Video erzählt hatte, in dem ein Honigdachs sich tatsächlich mit einem Löwen angelegt hatte. Sie starrte aus dem Fenster, und das schon, seit sie losgefahren waren. Genie schnalzte mit der Zunge. Da verdrehte Dad den Rückspiegel so, dass er Genie sehen konnte.

»Sag mal, mein Junge.« Sein erschöpft wirkender Blick zuckte vom Rückspiegel rasch wieder auf die Straße. »Was weißt du über Faultiere?«

»Faultiere?« Genie dachte einen Moment nach. »Also, ich weiß, dass sie faul sind und dass sie die ganze Zeit schlafen«, antwortete er widerstrebend, weil er eine Falle ahnte.

»Hmm-hm«, sagte Dad tonlos. Er blickte wieder in den Spiegel. »Du weißt, worauf ich hinauswill?«

Genie schnalzte wieder mit der Zunge. Er wusste genau, worauf Dad hinauswollte. Nämlich geradewegs auf Genie, sei jetzt bitte still und schlaf endlich mal.

Aber Genie konnte nicht einfach einschlafen, auch wenn seine Eltern das wollten. Stattdessen starrte er aus dem Fenster wie Ma, etwa eine halbe Stunde lang, spähte in die Dunkelheit, dachte an seine Freundin Shelly und an seinen besten Freund Aaron. Er fragte sich, ob sie all die Sachen machen würden, die sie im Sommer immer machten, zum Beispiel am Hydranten spielen oder Raketeneis am Eiskremwagen kaufen, und alles ohne ihn. Ob sie seine Vorträge und sein ganzes Wissen über irgendwelche Tiere und Insekten vermissen würden und ob Shelly in der Lage wäre, eine Wanze zu erkennen, wie er es ihr beigebracht hatte. Er fragte sich, ob Aaron versuchen würde, Shelly mit einem Rückwärtssalto zu beeindrucken (Mädchen mochten Typen, die einen Salto rückwärts konnten), und ob sie dem Reiz dieses flippigen Typen erliegen und ihn küssen würde. Wenn sie das tun würde, dann wäre das natürlich ein Ersatzkuss, befand Genie. Ein Kuss dafür, dass er nicht da war. Nichts Echtes. Genie saß da und dachte über all diese Dinge nach, genervt vom Schnarchen seines Bruders, und hörte seinen Eltern dabei zu, wie sie kein Wort sagten, unsicher, was passieren würde, wenn sie endlich in Virginia ankamen. Er wusste nur eins, nämlich warum sie aufs Land fuhren, warum er und Ernie einen ganzen Monat lang aus Brooklyn weg sein mussten, zum ersten Mal in ihrem Leben.

Das alles hatte mit Jamaika zu tun. Also, eigentlich hatte es damit zu tun, dass seine Eltern »kein Wort sagten«. Sie hatten »Probleme«, was, wie Genie wusste, nur Elternsprech war für vielleicht/möglicherweise/wahrscheinlich lassen wir uns scheiden. Sie sagten, sie bräuchten Zeit, um sich neu zu sortieren. Als seine Mutter ihm zum ersten Mal von den »Problemen« erzählte, fiel Genie unwillkürlich ein, was seine Freundin Marshé Brown ihm erzählt hatte, als ihre Eltern sich trennten. Sie hatte nämlich ihren Vater nicht wiedergesehen. Als er seine Mutter fragte, ob er sich zu entscheiden hätte, bei wem er leben wollte, oder ob er und Ernie sich auch trennen müssten, sagte sie nur: »Wie auch immer, dein Daddy und ich lieben euch beide. Dabei bleibt es.« Aber das beantwortete die Frage nicht richtig, und damit war für Genie klar, dass dieses »sich neu sortieren« – das übrigens in Jamaika passieren sollte, wo seine Eltern erstmals ohne ihn und Ernie Urlaub machen würden –, dass dies »sich neu sortieren« eigentlich bedeutete, dass sie sortieren würden, wer welches Kind bekommen würde. Und das bedeutete natürlich auch, dass dies der letzte Urlaub sein würde, den seine Eltern gemeinsam verbringen würden. Und es veranlasste Genie, darüber nachzudenken, bei wem er leben wollte, bei Ma oder Dad, was ihn dazu brachte, im Dunkeln eine Liste hinzukritzeln. Eigentlich zwei Listen.

#439

Mit Dad leben

Pro: Ich wäre sicher vor Feuer und Dieben.

Contra: Dad arbeitet die ganze Zeit und ist nie zu Hause.

Contra: Also wäre ich wahrscheinlich gar nicht sicher vor
Feuer und Dieben.

Pro: Ich könnte gruslige Filme angucken.

Contra: Dad kann nicht kochen.

Contra: Dad riecht fast die ganze Zeit, wegen der Arbeit.

Mit Ma leben

Pro: Sie kann kochen, richtig gut.

Pro: Sie riecht immer gut.

Contra: Sie wird mich keine grusligen Filme angucken lassen.

Contra: Ich weiß nicht, ob sie mich vor Feuer und Dieben
beschützen kann.

Contra: Was heißt, ich müsste sie beschützen, und ich kann
kein Karate!

Schließlich, nachdem er minutenlang hin- und hergeschwankt war, mit wem er leben wollte, und seine Gedanken wirr ins Notizbuch gekritzelt hatte, hypnotisierte ihn die dunkle gerade Straße und lullte ihn in den Schlaf. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass er wegdämmerte, bis ihn das Geräusch von Ästen weckte, die am Auto entlangkratzten. Der Honda holperte eine Anhöhe hoch, und die Äste sahen aus wie lange Finger an großen Greifarmen, die versuchten, an ihn heranzukommen und ihn zu packen. Es war immer noch dunkel, Dad hatte sein Fenster einen Spalt offen und ließ ein wenig Luft rein, und er wechselte die Musik, von leichtem Jazz zu Neunziger-Hip-Hop.

»Sind wir da?«, murmelte Genie und wischte sich den Schlaf aus den Augen. Er blickte aus dem Fenster, aber er konnte nichts sehen außer Ästen. Der Wagen ruckelte und stotterte alle paar Sekunden, weil Dad immer in die Bremsen treten musste, um nicht in ein Schlagloch zu geraten.

»Jessas! Diese Straße ist eine Katastrophe«, fauchte er und machte das Radio aus, damit er sich konzentrieren konnte. Genie tastete rasch den Platz neben sich auf dem Sitz ab, auf der Suche nach seinem Stift. Als er ihn gefunden hatte, schlug er die nächste Seite seines Notizhefts auf. #440: Hilft es dir, besser zu fahren, wenn du das Radio ausmachst?, schrieb er hektisch, als Ma sich zu ihm umwandte und ihn schläfrig anlächelte.

»Ja, Schatz, wir sind da.« Ihr Gesicht wirkte müde, und Genie fragte sich, ob sie während der Fahrt überhaupt geschlafen hatte. In Wahrheit wirkte ihr Gesicht schon seit Monaten müde. Seit sie und Dad den großen Krach gehabt hatten, wo sie geschrien hatte, also richtig geschrien, dass seine ganze Zeit der Arbeit und den Jungs gehöre und er scheinbar nie Zeit für sie übrig habe. Ernie und Genie waren draußen gewesen und hatten sich eine Schneeballschlacht geliefert, und Donnie der Eckensteher, bekanntlich ein Knallkopf, hatte einen Vierteldollar in einen Schneeball gepackt und damit nach Genie geworfen. Hatte ihn direkt aufs Auge getroffen. Ernie kam angerannt und sah es sich an, und als er die Münze entdeckte, fing er an, Eckensteher-Donnie zu karatisieren … bis zur nächsten Ecke. Unterdessen lief Genie ins Haus, die Hand auf dem Auge, und geriet direkt in den wilden Streit von Ma und Dad darüber, dass Ma sich vernachlässigt fühlte. Genies Auge schwoll irgendwann ab. Aber die Müdigkeit auf Mas Gesicht verschwand nicht.

Wie auch immer, der Punkt war, dass Genie hoffte, Ma hätte auf dem Weg nach Virginia ein wenig geschlafen, denn das eine, was er über Virginia zu wissen glaubte, stimmte tatsächlich. Es war weit, viel zu weit weg, um die ganze Zeit wach zu bleiben.

Ernie hingegen hatte während der ganzen Reise geschlafen – schlief immer noch, mit weit offenem Mund, sodass sein Gesicht aussah, als würde es unten wegschmelzen. Seine Sonnenbrille war verrutscht und bedeckte nur ein Auge. Genie schob Ernies Bein von sich weg, aber es schnappte gleich wieder zurück auf seinen Platz auf Genies Schoß, als wäre eine Feder darin.

»Ern, wach auf«, sagte Genie und drückte den Finger in Ernies Oberschenkel. »Wir sind da.« Ernie rührte sich nicht. »Ern!«, schrie Genie, so laut, dass es Ma hörte. Sie wandte sich um und gab Ernie einen Klaps aufs Bein. Er zuckte verwirrt aus dem Schlaf, rückte seine Sonnenbrille zurecht und wischte sich mit dem Saum seines T-Shirts Spucke vom Kinn.

Als der Wagen die Kuppe der Anhöhe fast erreicht hatte, ertönte plötzlich das Bellen eines Hundes. Genie drückte das Gesicht an die Scheibe. War das der Hund von Großmutter und Großvater? Wieso war er draußen? Wussten sie, dass er ausgerissen war? War Großvater etwa mitten in der Nacht mit ihm spazieren?

»Ernie, erinnerst du dich noch an Samantha?«, fragte Dad und machte den Wagen aus.

Ernie reckte den Hals und sah gähnend aus dem Fenster. Er war schon einmal in North Hill gewesen, vor langer Zeit, als er vier Jahre alt war. Genie war damals nicht mitgekommen, weil er noch ein Baby war. Es war auch das letzte Mal gewesen, dass Dad seinen Vater gesehen hatte. Das war jetzt fast zehn Jahre her. Und Genie hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte.

Genie war jedenfalls zum ersten Mal in North Hill. Tatsächlich kam er zum ersten Mal überhaupt aus der Stadt raus. Er war in New Jersey gewesen, aber das zählte eigentlich nicht. Es dauerte länger, um zum Haus seiner anderen Großeltern, den Eltern seiner Mutter, zu gelangen, die in der Bronx lebten, als nach New Jersey.

Genie hatte Dads Vater, seinen Großvater, noch nie gesehen, aber seine Großmutter hatte er einmal getroffen. Sie war nach New York zu Besuch gekommen, als er noch viel jünger war, aber er wusste nicht mehr viel über sie, außer dass sie aussah wie Dad. Eine Art Dad als alte Dame ohne Schnurrbart und Bart. Und sie roch nach Seife. Daran erinnerte sich Genie noch.

»Natürlich erinnere ich mich an Samantha«, knurrte Ernie, die Stimme bleischwer vom Schlaf. Endlich bewegte er sein Bein und setzte sich auf. Genie hörte eine Kette über den Boden schleifen, bis ein Knall ertönte und sie nicht mehr weiter zu spannen war. Eigentlich hatte er keine Angst vor Hunden, aber es war entschieden beruhigend – und merkwürdig –, dass diese Hündin Samantha draußen im Dunkeln angekettet war. Hunde, die in Brooklyn draußen gelassen wurden, landeten im Tierheim!

»Wir haben’s geschafft. Alle aussteigen«, sagte Dad, und als sich die Wagentüren geöffnet hatten und Dad auch die Heckklappe hatte aufspringen lassen, flackerte ein gelbes Licht vor dem Haus auf. Die Tür öffnete sich, und ein formloser Schatten erfüllte den Eingang wie eine Art Gespenst. Der Hund, die Bäume, das kleine Haus so allein auf dem Hügel – das, dachte Genie, waren wirklich die Zutaten für einen Gruselfilm.

Eine krächzende, aber feste Stimme rief: »Sam! Hör auf mit dem blöden Gebell!« Es war dieselbe krächzende, aber feste Stimme, die Genie von den dreiminütigen Anrufen alle zwei Monate kannte, bei denen es immer darum ging, wie es bei ihm in der Schule lief und ob er auf seinen Bruder und seine Mutter aufpasste, was ihn immer verwirrte, weil er doch der Jüngste in der Familie war. Omas Stimme. Jetzt trat Oma hinaus auf die Veranda und schloss die Fliegentür hinter sich. Es war ein dunkleres Dunkel hier draußen, als Genie es gewohnt war, aber er konnte dennoch die Blumen auf Omas Nachthemd erkennen.

Dad nickte Genie und Ernie aufmunternd zu, ihm zu folgen, und schleifte den Familienkoffer auf die oberste Stufe der Veranda. Er stellte ihn ab und schlang die Arme um die alte Dame, ganz fest. »Hey, Mama.«

»Mein Gott«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange, dann streckte sie die Arme nach Ma aus. »Hat sicher ’ne Ewigkeit gedauert, bis ihr hier wart.«

»Du kennst ja deinen Sohn«, sagte Ma, umarmte Großmutter etwas flüchtiger und drehte sich dann rasch um, um sich zu vergewissern, dass Genie und Ernie gleich hinter ihr waren. »Fünf Meilen über dem Tempolimit ist praktisch ein Verbrechen.« Ma schüttelte den Kopf, als wäre sie genervt von Dad, ein Ausdruck, den Genie zu Hause die ganze Zeit sah. Aber Genie verstand es dieses Mal eigentlich nicht, weil, nun ja, fünf Meilen über dem Tempolimit waren nun mal ein Gesetzesverstoß.

Genie nahm es hin, dass seine Mutter ihn an der Hand nach vorne zog. Ernie hielt sich zurück.

»Also, das hat er von mir, meine Liebe. Ich bin die Vorsichtige in der Familie«, sagte Großmutter. »Nun kommt rein, kommt nur rein. Ich will euch mal richtig ansehen«, fuhr sie aufgeregt fort, als sie die Tür weit aufmachte. »Hier lang.«

Im Haus war es genauso dunkel wie draußen, bis Großmutter endlich gegen einen Schalter schnippte. Ein trübes gelbliches Licht ließ nun alles aussehen wie ein auf vergilbt getrimmtes Handy-Bild. Sie waren in einer altmodischen Küche mit sich abschälender meergrüner Tapete und einem schulbusgelben Kühlschrank, der so laut surrte wie eine Maschine im Waschsalon.

Großmutters Gesicht war etwas runzlig, aber um die Augen herum sah sie immer noch wie Dad aus. Das war alles, was Genie von ihr sehen konnte – ihr Gesicht –, weil alles andere von dem geblümten Nachthemd bedeckt war, das eher nach einem Bettlaken aussah, in das man ein Loch für den Kopf geschnitten hatte.

»Stellt euch nebeneinander hin und lasst mich euch ansehen«, ordnete Großmutter an, während sie auf dem Linoleumboden herumschlurften. »Diese Stadt macht euch fertig, ist doch wahr, oder?«, sagte sie und musterte zuerst Dad.

»Mama, ich bin seit gestern Morgen um neun auf«, erklärte er, ärgerlich und müde klingend.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte sie und tätschelte ihm den Bauch. »Wenigstens schmeckt dir das Essen da oben.« Dann wandte sie sich an Ma. »Danke, dass du ihn gut im Futter hältst, Liebes.«

»Ist mir ein Vergnügen, Mama.«

»Und sieh mal einer an. Meine süße Schwiegertochter«, sagte Großmutter mit einem leichten Seufzen, während sie Ma von Kopf bis Fuß musterte. »Zwei Jungs, und sieht immer noch aus wie in der Grundschule.« Ma biss sich einen Moment auf die Lippe, ehe sie sich ein Lächeln erlaubte. Ein kleines Kompliment wirkte doch immer, fiel Genie auf. Allerdings log Oma doch. Er hatte viele Mädchen in der Grundschule gekannt, und die meisten von ihnen sahen viel besser aus als Ma, seiner Meinung nach jedenfalls. Vor allem Shelly.

»Und sieh mal einer diesen coolen Kerl hier an«, sagte Großmutter und ging weiter zu Ernie, der – natürlich – seine Sonnenbrille trug.

»Ernie!«, blaffte Ma mit zusammengebissenen Zähnen. Ernie riss sich blitzschnell die Brille herunter.

»Ohhh, schon gut. Wie geht es dir, Ernie?, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Gut«, murmelte Ernie, unter den rollenden Augen von Ma.

»Und sieh mal einer an, wie groß der hier geworden ist«, sagte Großmutter zum Schluss und legte die Hand auf Genies Kopf. »Erinnerst du dich an mich, Genie?« Sie nahm ihn in die Arme. Er konnte die Seife riechen. Die Seife, wegen der er sich an sie erinnerte. Die gleiche Sorte, die seine Mutter benutzte.

Nach der Begrüßung bugsierte Großmutter sie alle, Ernie, Genie, Ma und Dad, weiter in ein Zimmer mit zwei großen alten Betten. Ma und Dad nickten rasch weg, kein Wunder, wo sie doch die ganze Nacht gefahren waren. Ernie schlief gleich nach ihnen ein, weil, nun ja, er hatte einfach nie ein Problem mit dem Schlafen. Es war egal, ob er in einem Auto oder in einem fremden Haus war, Ernie würde immer irgendwie seine Mütze Schlaf finden. Im Gegensatz zu Genie. Er fühlte sich einfach unbehaglich. Er war nicht in seinem Bett. Und nicht in seinem Haus. Und nicht mal in seiner Stadt. Er lag reglos auf der Matratze, die nach alten Socken stank. Die Matratze war so dünn, dass er die Federn im Rücken spüren konnte, als würde er auf geballten Fäusten liegen. Und noch seltsamer: Es war hier so irre ruhig! Keine Polizeisirenen, keine laute Musik, keine streitenden Pärchen draußen vor seinem Fenster auf der Straße. Keine hungrigen Katzen, deren Miauen aus irgendeinem Grund immer wie Babygeschrei klang. Die einzigen Geräusche außer Ernies Schnarchen waren die von einer Million Grillen und einer Million Frösche, die sich einen Zirp- und Quakwettbewerb lieferten. Unmöglich würde er da jemals einschlafen können. Unmöglich …

Als der Morgen kam, mit dem hellsten Sonnenlicht ÜBERHAUPT, und der Duft von Eiern und Schinken durch die Risse im Holzboden drang, vermischt mit dem Geruch von Ernies großem Zeh, der viel zu nah an Genies Nase war, da erwachte Genie. Also musste er doch eingeschlafen sein. Ma war schon aufgestanden, das Bett, in dem sie und Dad geschlafen hatten, war schon gemacht, als ob sie es gar nicht benutzt hätten, und ein buntes Laken klemmte zwischen Mas Kinn und Brust, während sie es einschlug. Sie hatte Genie zu Hause gezeigt, wie man auf diese Weise ein Laken faltet. Er hatte den Bogen immer noch nicht richtig raus, sie aber war eine Meisterin.

»Guten Morgen«, trällerte sie, schlug das Laken noch einmal um und legte es auf die Bettkante. Ein perfektes Rechteck. »Gut geschlafen?«

Genie, der die Tränensäcke unter den Augen seiner Mutter bemerkte, wollte ihr die gleiche Frage stellen, aber er nickte nur und rutschte unter Ernies Bein hervor. Er glaubte, Ernie würde schlafen, aber dann spürte er, dass sein Bruder vor Kichern bebte.

»Hey, Genie, wonach riecht mein Zeh?«, platzte Ernie lachend unter der Bettdecke hervor.

»Nach deinem Arsch!«

»Genie!«, fauchte Ma.

Er richtete sich in dem Moment auf, als Ernie versuchte, ihn mit dem Knie vom Bett zu schubsen.

»Lass das!«, sagte Genie, schubste zurück und versuchte dabei nicht hinzufallen.

»Ernie, Schluss jetzt. Es ist zu früh für so was«, warnte ihn Ma.

»Was? Ich mach doch nur Spaß mit ihm.« Ernie schnalzte mit der Zunge und griff nach seiner Sonnenbrille, die er in der Nacht sorgfältig auf den Boden neben das Bett gelegt hatte. Ma versetzte ihm einen Wag es bloß nicht-Blick.

»Komm schon, Ma. Es ist irre hell hier drin«, sagte er und setzte die Brille auf, ganz der Coole. Die Fenster hatten keine Vorhänge oder Jalousien, also strömte das Sonnenlicht einfach herein. Es prallte vom Holzboden und den gelblichen Wänden ab und ließ das ganze Zimmer orange wirken. Es schien fast, als wären sie im Innern der Sonne.

Das Zimmer war gerammelt voll mit irgendwelchen Sachen. Altes Zeugs, Poster von Basketballspielern in diesen verrückten kurzen Höschen. Ein verblasster Zurück in die Zukunft-Kalender von 1985 hing an der Wand. Eine Kommode, deren marineblauer Anstrich sich schuppte wie Haut von der Nase, wenn man einen Sonnenbrand hatte. Es gab auch Orden und Bändchen und eine gefaltete Flagge. Und da, mitten auf der Kommode, stand ein kleiner roter Laster – ein Wagen, wie ihn früher die Feuerwehr hatte. Genie sprang vom Bett und wollte ihn genauer betrachten.

»Pass auf, dass du keine Spreißel kriegst, Schatz«, mahnte ihn seine Mutter, als er über die Holzdielen mit den vielen Spalten lief. Als er an der Kommode war, erkannte er, dass der rote Laster ein altes Modellauto war, und die Details, die Leiter, die Seitenspiegel … waren einfach perfekt. Besser noch, als er es selbst hinbekam – Menno! Seine Modelle hatte er zu Hause vergessen! Und Ma hatte ihm gerade zwei neue gekauft, extra für diese Reise. Krrrh!

Gerade hatte er die Hand nach dem roten Feuerwehrauto ausgestreckt, da rief Großmutter von unten: »Raus aus den Federn, Kinder! Frühstück ist fertig!«

Die Jungen und ihre Mutter folgten dem Essensduft die kipplige Holztreppe hinunter zur Küchentür. Großmutter stand am Herd und schnippte mit einer Gabel Schinken um. Jedes Mal, wenn sie ein Stück anstach, spritzte Fett, aber sie zuckte nie. Ein alter Mann – Großvater! – saß am runden Küchentisch. Er trug ein weißes Hemd mit hochgerollten Ärmeln und, wie Ernie, eine dunkle Sonnenbrille. Sein Gesicht hatte den Ausdruck, den alte Männer kriegen, wenn sie sich tags zuvor rasiert haben und das Haar gerade wieder zu wachsen anfängt, mit weißen Staubflocken überall auf den Wangen.

»Kommt rein und sagt Hallo zu eurem Großvater«, sagte Großmutter, legte die Gabel auf den Tresen und rührte etwas in einem Kupfertopf um. Sie nickte Genie zu und bedeutete ihm, sich auf einen freien Stuhl neben dem alten Mann zu setzen. Ernie setzte sich gegenüber. Ma saß neben Ernie und schloss den Kreis.

Ernie sprach als Erster. »Hallo, Opa.«

»Ernie. Der Junge, der bald Geburtstag hat.« Großvater grinste und streckte seine Riesenhand aus. »Dachte schon, ich warte bis zum Sankt Nimmerleinstag, mein Junge. Lange nicht gesehen.« Genie wusste nicht so recht, was der »Sankt Nimmerleinstag« sein sollte, vermutete aber, Ernie müsse es wissen, denn der hob die Hand und klatschte Opas Hand ab. Diese Stimme. Genie erkannte sie wieder, von den Telefonanrufen. Es war Opa, der ihn immer fragte, ob Genie denn auf seinen Vater aufpassen würde, und dann kam es ihm immer vor, als ob seine Großeltern erwarteten, dass er auf alle aufpassen solle.

Ernie stupste Genie an, damit er etwas sagte.

»Hallo«, sagte Genie leise.

»Genie.« Wieder streckte Großvater die Hand aus. »Schön, dich endlich zu sehen.«

Genie wollte ihn gerade abklatschen, aber Großvater fing seine Hand ab, drückte sie nach unten wie eine Mausefalle eine Maus und schüttelte sie hart und fest. So fest, dass eins von Genies Augen sich schloss. So fest, dass er beinahe fragen wollte: Was ist dein Problem?

»Das erste Mal mach ich es immer so.« Großvater neigte sich zu Genie hin, so nah, dass er ihn riechen konnte – eine Mischung aus Süßem und Schweiß –, und senkte seine Stimme, bis er fast flüsterte. »Aber jetzt, wo wir uns kennen, sind’s von nun an High fives.« Dann grinste er breit. Seine Zähne waren wie die von Dad und Ernie. Ein perfekter weißer Lattenzaun. Ach ja, Dad, wo war er eigentlich, wann würde er auftauchen und ihn vielleicht vor diesem weißzähnigen Verrückten retten? Während Opa immer noch seine Hand festhielt, sah Genie sich suchend nach seinem Vater um.

»Lass den Jungen in Ruhe, Brooke«, sagte Großmutter und gab dem alten Mann einen Klaps auf die Schulter, während sie ihm einen Frühstücksteller vorsetzte. Großvater ließ los, und Genie, froh, endlich seine Hand wiederzuhaben, rieb sich die Finger. Großmutter musste Genies Nervosität bemerkt haben, denn sie fragte: »Wen suchst du denn, deinen Daddy? Der ist draußen. Kommt gleich wieder.« Sie küsste Großvater auf die Wange, dann wich sie ihm aus, als er ihr auf dem Rückweg zum Tresen, wo sie einen weiteren Teller holen wollte, einen Klaps auf den Hintern geben wollte. Ihr silbriges Haar war oben auf dem Kopf zu einem Knoten gebunden, und ihr geblümtes Nachthemd war bei Tageslicht viel hübscher. Und sie auch.

Den nächsten Teller bekam Genie. Eier, Schinken, Toast und ein klumpiges weißes Zeug aus diesem Topf, den Großmutter umgerührt hatte. Sah aus wie Gefängnisfraß im Film.

Großmutter strahlte. »Hoffe, ihr Jungs mögt Grütze.«

Ma lachte. »Die wissen nicht, was Grütze ist, Mama, aber heute werden sie mal kosten.«

Genie stach die Gabel in den weißen Schleim und hoffte, er würde nicht nach Erbsen schmecken. Erbsen, die hasste er mehr als alles andere. Dieses Zeug war nicht grün, das war schon mal ein gutes Zeichen. Er ließ den grützigen Glibber durch die Zähne der Gabel gleiten und auf den Teller zurückklatschen. Dann sah er seinen Bruder an. Ernie schien genauso besorgt, hob die Gabel jedoch einfach zum Mund und probierte. Ernie war nun mal so mutig. Er machte ein Gesicht, als ob das weiße Zeug – die Grütze – gut schmecken würde, also probierte auch Genie davon.

»Schmeckt wie Sand«, prustete Genie los, ausspucken wollte er es nicht gerade, aber schlucken auch nicht. Er wollte es einfach da in seinem Mund liegen lassen, bis es sich auflöste.

»Genie!«, fauchte Ma. Sie hasste es, wenn er solche Sachen sagte. Gleichzeitig bläute sie ihm immer ein, die Wahrheit zu sagen. Und die Wahrheit war, dass die Grütze für ihn schmeckte, als würde er Sand essen.

»Sand?«, sagte Großvater mit belustigter Miene. »Also, da kann ich helfen.« Er rückte mit seinem Stuhl zurück, gerade als Oma sich endlich hinsetzte, und ging hinüber zum Tresen, wo drei Kaffeedosen standen. Er schnippte den Deckel der mittleren auf, holte mit den Fingern etwas heraus und machte sie wieder zu. Dann kam er zum Tisch zurück und streute etwas auf Genies Grütze.

»Jetzt probier noch mal.«

»Was war das?«, fragte Genie besorgt.

»Magischer Staub.« Großvater grinste, diesmal nicht so unheimlich, und setzte sich wieder. »Probier.«

Genie nahm eine Gabel voll und führte sie zur Zunge, gerade so, dass er kosten konnte. Zucker! Und jaha, jetzt schmeckte die Grütze um einiges besser.

Großmutter sah Genie eindringlich an, mit schrägem Kopf, als ob ihr plötzlich ein Licht aufgehen würde. »Weißt du, wer seine Grütze auch nur gezuckert mochte?«, fragte sie.

»Hm-hm. Wood«, sagte Großvater. Er hatte mit der Gabel in seinen Eiern herumgestochert, hielt aber plötzlich inne, als ob ihn das Essen am Denken hindern würde. »He. Das ist ja mal was, oder?«

»Onkel Wood?«, warf Genie ein.

»Iss dein Frühstück«, wies ihn seine Mutter an. »Vor allem jetzt, wo es gezuckert ist.«

»Bitte passt auf, dass die Zähne meines Sohnes am Ende des Sommers nicht völlig verrottet sind.«

Eine neue Stimme im Raum. Dads. Urplötzlich war er da, kam herüber zum Tisch und küsste erst Genie auf die Stirn, dann Ernie. Er beugte sich vor und streifte Mamas Wange nur flüchtig mit den Lippen, ein wenig gezwungen. Es war freundlich, aber nicht … liebevoll. Doch immer noch besser als das, was Großvater kriegte, nämlich gar nichts.

»Dein Teller steht auf dem Tresen, aber wasch dir die Hände, bevor du isst«, sagte Großmutter leise, als ob Dad immer noch ein kleiner Junge wäre. »Wo du doch draußen warst und mit diesem dreckigen Hund gespielt hast.«

»Was redest du da von verrotteten Zähnen«, sattelte Opa noch drauf auf Großmutters Anweisung zum Händewaschen. »Ich bitte dich. Du hast mehr Zucker gegessen als jedes Kind in der Geschichte der Menschheit, und trotzdem hast du perlweiße Beißerchen, richtig?« Dad antwortete nicht. Stattdessen ließ er sich in der Spüle einfach Wasser über die Hände laufen. Großvater häufte sich jetzt seine Eier auf den Toast, tat Grütze obendrauf und krönte alles mit einer Scheibe Schinken. Ma warf Dad einen Blick zu, während auch sie einen Löffel Grütze nahm. Ernie, der zugesehen hatte, wie Großvater seinen Frühstücksturm baute, machte es ihm nach. Der Nachahmungstrieb! Das brachte Genie auf den Gedanken, ob Ernie seinen Spleen, die Sonnenbrille auch im Haus zu tragen, von Opa hatte.

Dad trocknete sich die Hände an einem Küchentuch, das an der Herdklappe hing, und blieb stehen. An dem kleinen Tisch gab es weder genug Stühle noch Plätze, aber er schien ohnehin keine Lust zu haben, sich zu setzen. Großvater bot ihm seinen Platz an, aber Dad lehnte ab und aß am Tresen.

»Wie auch immer, Mama, warum soll ich nicht ein wenig Geld in die Hand nehmen und hier das eine oder andere in Schuss bringen? Oben hat sich der Fußboden völlig verzogen, und zwischen den Dielen sind Lücken. Ich kann direkt ins Wohnzimmer runtersehen.«

»Muss nichts in Ordnung gebracht werden, mein Junge«, antwortete Großvater, ehe Großmutter auch nur ein Wort sagen konnte. »Ich hab viel Herzblut in dieses Haus gesteckt. Du weißt, dass ich es mit eigenen Händen gebaut hab. Es wird alt, genau wie ich. Aber es steht immer noch, genau wie ich.« Großvater hob die Gabel zum Mund und grinste. »Und … genau wie du.«

Dad verdrehte die Augen, und Großmutter meldete sich. »Ernest, ähm, das ist lieb von dir. Aber spar dir das Geld besser für die Jungs hier. Und für Jamaika. Ihr fliegt wann, in zwei Wochen, stimmt’s?«

»Jep. Und ich bin so dankbar, dass du die Jungen so lange aufnehmen kannst. Es war die einzige Gelegenheit, zumal Ernest jetzt Doppelschichten machen muss, damit er überhaupt zwei Wochen wegkann«, sagte Ma entschuldigend.

»Ach, Liebes, kein Problem. Bin froh, dass wir sie hierhaben.« Großmutter wischte Mamas Entschuldigung mit einem strahlenden Lächeln beiseite.

Dad biss sich nur auf die Lippe und starrte seinen Vater an, ehe er sich wieder dem Essen zuwandte. Genie jedoch war immer noch gebannt von Großvater – von seinem Gesicht, vor allem von seiner Sonnenbrille. Immer wenn er ein paar Bissen genommen hatte, blickte er auf und sah sein Spiegelbild in der Brille. Dann senkte er den Blick wieder auf den Teller, ganz verlegen, weil er so hingestarrt hatte. Aber er konnte einfach nicht anders.

»Was ist los, Genie?«, fragte Opa schließlich, der Turm war geschleift, der Teller leer geputzt. Er schlürfte Kaffee aus einem weißen Becher, auf dem in schwarzen Buchstaben VIRGINIA IS FOR LOVERS stand, wobei alle Vs durch Herzchen ersetzt waren.

»Hä?«

»Was ist los? Du starrst mich dauernd an. Ich hab dir doch gesagt, jetzt kennen wir uns, nach diesem Händedruck, das heißt also, du kannst mir alles sagen.« Er nahm noch einen Schlürfer Kaffee und schluckte. »Also, schieß los.«

Alle starrten jetzt Genie an. Außer Ernie, der zu sehr damit beschäftigt war, sämtlich Reste auf seinem Teller auf das letzte Stück Toast zu häufeln. Dann nickte Mama, was hieß, dass es in Ordnung war, wenn Genie frei von der Leber weg redete.

»Ähm«, fing er nervös an. »Also, es ist nur – « Genie sah noch einmal seine Mutter an, nur um sicherzugehen. Sie nickte erneut. »Es ist nur so, dass Mama immer sagt, man soll im Haus keine Sonnenbrille tragen. Das verdirbt die Augen, und außerdem sieht man völlig durchgeknallt aus.«

Mutter ließ die Gabel fallen. Vater schnaubte.

»Papa Harris, ich – «, legte sie entschuldigend los, aber Großvater unterbrach sie.

»Nun«, begann er, »deine Mom ist eine kluge Frau, aber bei mir liegt sie falsch.« Er wischte sich den Mund mit einer Serviette, knüllte sie zusammen und ließ sie auf den Tisch fallen. »Willst du wissen, warum?«

»Warum?«, fragte Genie.

Wieder neigte sich Großvater nah zu ihm hin, diesmal so nah, dass Genie einen Kaffeehauch in seinem Atem wahrnahm. »Weil ich schon jetzt überhaupt nichts sehen kann und schon seit Jahren durchgeknallt bin.«

ZWEI

#441: Warum ist Opa blind geworden? Ich wette, es war die grelle Sonne, die Ernie und mich heute Morgen auch fast blind gemacht hätte. Wie ist es eigentlich, blind zu sein? Ist alles nur schwarz? Ist es, als ob man schläft, aber wach ist, ist es wie Schlafwandeln? Und tut Opa einfach schlafwandeln und schlafsprechen und schlafessen? Und wenn er dann wirklich wach ist, ist ihm dann immer nach Schlaf zumute? Ich hab gehört, wenn du ein Tuch über einen Vogelkäfig legst und der Vogel nicht mehr wissen kann, ob es Tag ist, dann schläft er einfach ein.

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass er nichts sehen kann?!«, fragte Genie, als seine Mutter den kleinen Beutel zuzippte, in dem sie Zahnpasta, Zahnbürste und Creme aufbewahrte. Er hatte das rote Feuerwehrauto von der alten blauen Kommode genommen, saß auf dem Fußboden und fuhr mit dem Daumen über die Räder. Griffbereit neben ihm lag natürlich sein praktisches Notizbuch. Er hatte viele Fragen, aber die wichtigste hatte er gerade gestellt. Warum hast du mir nicht gesagt, dass er blind ist? Und das war eine Frage, die laut ausgesprochen werden musste.

»Dein Opa ist ein schwieriger Mensch, mein Schatz«, begann Ma zu erklären, aber dann stockte sie und schien nach Worten zu suchen, also sah sie Dad an. »Senior«, schnurrte sie und riss Dad aus seiner Trance. Senior, so nannte sie ihn, weil er ebenfalls Ernie hieß und sie sicher sein wollte, dass der Ernie, den sie gerade im Moment anschrie, wissen würde, dass er gemeint war und nicht der andere.

»Ja – ähm – ja«, stammelte Dad, immer noch ein wenig abwesend.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie.

»Jep, was gibt’s?«

Ma neigte den Kopf schräg. »Würdest du unserem Jüngsten hier mal erklären, warum wir ihm das mit Opa nicht gesagt haben?«

Er sah Genie an und seufzte. »Also, er ist so ’ne Art wilder Typ, Genie – «

»Nicht wild, Genie«, warf Ma ein. »Nur, ähm, interessant.«

»Richtig«, stimmte Dad rasch zu. »Wir wollten euch nichts verheimlichen … Es ist nur so, dass er mir vor langer Zeit das Versprechen abgenommen hat, dass ich niemandem sagen würde, dass er blind ist. Niemandem. Nicht mal euch beiden. Es ist etwas, das er gerne selbst übernimmt, wenn er einen erst mal kennengelernt hat. So kommt man nicht einfach zu ihm und denkt, nun ja, er ist halt behindert.«

»Ein Mensch mit einer Behinderung«, korrigierte ihn Ma.

»Ja, ich meine ein Mensch mit Behinderung. Das kann er gar nicht ausstehen.« Dad rutschte zur Kante seines Betts, dicht an Genie heran. »Opa mag nicht, dass, weißt du, dass Leute ihm helfen wollen.« Genie zog die Knie hoch – seine Beine wurden allmählich taub –, und Dad bemerkte das rote Auto in seiner Hand.

»Sei vorsichtig mit dem Ding, mein Junge«, sagte er und streckte Genie die Hand entgegen, damit er ihm das Auto gab.

»Das hat Wood gebaut, und es ist das Einzige aus seiner Kindheit, was Oma noch hat. Es ist ihr Ein und Alles.« Dad sah sich das Auto an, als könnte er Onkel Wood auf dem Fahrersitz erkennen. Offenbar bedeutete es auch ihm etwas. »Hab vergessen, dass Wood ein Modellbauer war. Genau wie du.« Er schüttelte den Kopf. »Verrückt.« Er gab Genie das Auto zurück, der in diesem Moment nur einen Gedanken hatte, nämlich was er und Onkel Wood sonst noch gemeinsam haben könnten. Aber Dad holte ihn wieder in die Gegenwart zurück. »Also, was deinen Großvater angeht – auch Ernie ist was passiert, als er zum ersten Mal hier zu Besuch war.« Dad sah Ernie an, der auf dem anderen Bett fläzte und auf seinem Handy rumdaddelte. »Was treibst du denn da, Ernie?«

»Ich versuch diesen Text hier wegzuschicken, geht aber nicht raus.« Ernie starrte angewidert auf das Display. Er hatte vor einigen Wochen mit seiner Freundin Keisha Schluss gemacht. Also, eigentlich hatte sie mit ihm Schluss gemacht. Ihm den Laufpass gegeben für einen Typen aus Flatbush namens Dante, den aber alle Two Train nannten. Das war sein Rappername. Und als Keisha Ernie erzählte, dass Two Train Raps über sie schrieb, schickte ihr Ernie von nun an jeden Tag eine Textbotschaft, bescheuerte Liebesgedichte, lächerliche Versuche zu reimen, die sein ganzes »cooles« Image gefährden würden, falls irgendjemand außer ihr, Genie oder seinen Eltern es jemals spitzkriegen sollte.

Dad lachte. »Texten? Vergiss es. Kein Netz hier draußen, mein Junge.«

»Und kein Computer«, ergänzte Ma.

Da endlich blickte Ernie auf, mit völlig verdatterter Miene. Kein Netz? Kein Computer? Das war eine schlechte Nachricht. Eine ganz schlechte Nachricht. Nicht nur für Ernie, auch für Genie. Wie sollte er jetzt irgendwas nachschauen? Er hatte sich seit dem Frühstück mindestens sechzehn neue Fragen aufgeschrieben, die meisten übers Blindsein. Was sollte er denn jetzt tun?

»Dann leg doch einfach mal das Ding weg und lass diese Keisha in Ruhe«, riet Ma. »Sie war ohnehin nicht gut genug für dich. Viel Glück mit Two Train, Schätzchen.« Ma wedelte mit der Hand, um die Erinnerung an Ernies Exfreundin zu verscheuchen. »Was soll das eigentlich für ein Rappername sein, Two Train?«

Dad brachte das Gespräch wieder auf die Spur. »Unwichtig. Ernie, erzähl deinem kleinen Bruder, wie es dir ergangen ist, als du Opa zum ersten Mal gesehen hast.« Er grinste. »Und bei ihm war es noch viel schlimmer als bei dir, Genie.«

Verdrossen dreinblickend warf Ernie das Handy aufs Bett. »Ich kann mich gar nicht mehr erinnern. Ihr behauptet immer nur, dass es passiert ist.«

»Weil es passiert ist.«

»Aber ich war erst vier