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Stefan Haenni

Tellspielopfer

Fellers fünfter Fall

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Treffsicher Im Tellbüro der Freilichtspiele Interlaken wird die Leiche eines Wachmanns entdeckt. In seinem Hals steckt der Pfeil einer Armbrust, ein Safe wurde ausgeraubt. Für Privatdetektiv Hanspeter Feller liegt ein direkter Zusammenhang zwischen Raub und Mord auf der Hand, bis eine vermisste historische Fotografie auftaucht, die den Schweizer Armeegeneral Henry Guisan mit Laiendarstellerinnen und -darstellern in den frühen 1940er-Jahren zeigt. Die Wiederbeschaffung dieser Aufnahme war Fellers ursprünglicher Auftrag. Ein Sabotageakt auf dem Spielgelände sorgt für zusätzliche Verwirrung. Nun stellt Feller seine Dienste der Kantonspolizei Bern zur Verfügung, obwohl er lieber über seinen baldigen Ruhestand sinnieren würde. Welche Abgründe wird der Detektiv bei dem Fall auf dem Bödeli zwischen Thuner- und Brienzersee zutage fördern?

Stefan Haenni, geboren 1958 in Thun, studierte an den Universitäten Bern und Fribourg Kunstgeschichte, Psychologie und Pädagogik. Seit 2009 lebt und arbeitet er als freischaffender Autor und Kunstmaler in seiner Geburtsstadt. Haenni publizierte zahlreiche Kriminalgeschichten in thematischen Anthologien. Im Gmeiner-Verlag erschienen seine Kriminalromane »Narrentod«, »Brahmsrösi«, »Scherbenhaufen« und »Berner Bärendreck«. Mit »Tellspielopfer« legt er den fünften Fall um den Thuner Privatdetektiv Hanspeter Feller vor.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Berner Bärendreck (2019)

Scherbenhaufen (2011)

Brahmsrösi (2010)

Narrentod (2009)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Christine Braun

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © PixHound / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6310-5

Gedicht

Rasch tritt der Tod den Menschen an,

Es ist ihm keine Frist gegeben;

Es stürzt ihn mitten in der Bahn,

Es reißt ihn fort vom vollen Leben.

Friedrich von Schiller, aus: Wilhelm Tell

1

Eine matte Sonne erhebt sich zögerlich über den verschneiten Berggipfeln der Berner Alpen. Interlaken erwacht unter dunstigem Morgenhimmel. Zuhinterst im Tellweg nahe dem Rugenwald herrscht in aller Frühe ungewohnt hektisches Treiben. Die Zufahrt zu Eissporthalle Matten und Tellspielgelände ist für jeglichen Privatverkehr gesperrt. Immer wieder treffen Streifenwagen mit Blaulicht ein. Der tomatenrote Pultdachbau der Tellspiele wird von Uniformpolizisten weiträumig mit flatterndem Kunststoffband umzäunt. Der Kriminaltechnische Dienst KTD der Kantonspolizei wieselt in weißen Overalls auf dem Gelände umher. Eine überdimensionale Bronzeplastik des Volkshelden Wilhelm Tell sitzt vor dem Zugang zur Freilichtbühne und blickt mit zeitloser Gelassenheit über das Gewimmel hinweg. Tells Erscheinungsbild ist ungewöhnlich. Im Gegensatz zu den Laiendarstellern, die ihn im Schillerstück verkörpern, trägt das bronzene Pendant weder Vollbart, Heuerhemd noch Holzsandalen. Mit dem muskulösen nackten Oberkörper und den langen, nach hinten gekämmten Haaren erinnert die Tellplastik an Pierre Brice als Winnetou. Immerhin steht dem alpenländischen Indianer hier tatsächlich eine Armbrust und nicht etwa ein Pfeilbogen zu Füßen.

Seit Signora Bruni vor rund 20 Minuten die Notrufnummer gewählt hat, sitzt sie apathisch auf einem pneumatischen Bürosessel im Sekretariat der Freilichtspiele. Eine steile Metalltreppe links der Tribünenaufgänge A und B führt zum Büro im ersten Stock hinauf. Die Wände des Sekretariats sind mit hellem, naturbelassenem Holztäfer ausgekleidet. Die Decke mit den massiven Sichtbalken, die sich zur niederen Fensterreihe senkt, verleiht dem Raum ein skihüttenartiges Flair. Im Licht der Neonbeleuchtung verteilen sich mehrere Arbeitsplätze, die von den Besuchern durch eine hüfthohe Theke getrennt werden.

Signora Bruni hat um 7.30 Uhr wie gewöhnlich das Büro aufgeschlossen, routiniert den Staubsauger aus dem Putzschrank gehievt und den dreipoligen Stecker in die Dose gesteckt. Um 8.15 Uhr erscheint normalerweise die Sekretärin Melanie Hofer an ihrem Arbeitsort, um den Schalter pünktlich um 8.30 Uhr zu öffnen, online Buchungen zu bearbeiten und den Vorverkauf zu managen. Bis dahin ist Frau Bruni mit der Reinigung des Sekretariats bereits fertig. Und jetzt so was!

Ein Mann in der mattschwarzen Uniform einer privaten Security-Firma liegt zwischen Theke und Schreibtisch am Boden. Die Leuchtstreifen an Ärmeln und Hosenbeinen reflektieren den Schein der Deckenleuchten. Am rechten Oberarm prangt das gestickte Firmenlogo. Selbst für Laien ist unübersehbar, dass der Security-Mitarbeiter tot ist. Das ist darum auch der Putzfrau klar. Nicht nur die reglose Bauchlage und die eingedickte Blutlache lassen diesen Schluss zu. Vor allem ist es der massive hölzerne Pfeil, der dem Opfer im ungeschützten Hals steckt.

Vor der Tür wachen zwei junge Polizisten, die ihre Uniformen so lässig tragen, als wären sie gerade in Mode. Ein dritter Beamter befragt die verdatterte Zeugin.

»Sie behaupten, die Eingangstüre sei verschlossen gewesen?«

Signora Bruni hat sich etwas gefasst: »Ja, ich bin mir sicher, dass die Tür noch zu war. Ich habe sie mit meinem Schlüssel geöffnet.«

Der Beamte verschränkt die Arme und schürzt die Lippen. »Das würde bedeuten, dass die Täterschaft nach dem Mord die Eingangstür abgeschlossen hat. Etwas unwahrscheinlich, finden Sie nicht auch, Frau Bruni?«

»Keine Ahnung. Vielleicht ist der Mörder gar nicht durch den Haupteingang ins Büro gelangt«, murmelt die Putzfrau mit verschleiertem Blick.

»Das haben wir bereits überprüft. Alle Fenster sind intakt und unversehrt. Ein Hintereingang existiert nicht.«

Signora Bruni zuckt hilflos die Schultern. »Ich war’s jedenfalls nicht.«

»Dann war’s der Tell persönlich?«, mault der Polizist wenig emphatisch. »Wie Sie selbst sehen, ist das Opfer von einem Pfeil durchbohrt. Eine Armbrust liegt am Boden. Kennen Sie diese Waffe zufälligerweise?«

»Ja, die Armbrust hing bisher an der Wand hinter dem Schreibtisch«, antwortet Frau Bruni. »Jetzt nicht mehr.«

»Sind Sie sicher, dass es sich um dieselbe Waffe handelt?«

»Keine Ahnung. Sieht nicht eine wie die andere aus? Die Tellspiele verfügen bestimmt über mehrere Exemplare.«

»Sind das alles echte Waffen?«

Signora Bruni zuckt die Schultern. »Woher soll ich das wissen?«

»Die Armbrust am Boden war jedenfalls einsatzfähig«, kommentiert der Polizist trocken. »Und was sagen Sie dazu, dass der Tresor sperrangelweit offen steht?«

Verwundert hebt Signora Bruni den Blick. »Oh, stimmt! Das habe ich noch gar nicht bemerkt.«

»Dass er bis auf einen Umschlag mit einer Fotografie darin leergeräumt ist, etwa auch nicht?«, fragt der Beamte mit bedrohlichem Timbre.

Signora Bruni schüttelt den schwarzen Lockenkopf. »Ich habe nichts weggenommen.«

Bevor der Polizist seine unprofessionelle Befragung voller impliziter Anschuldigungen und Verdächtigungen fortsetzen kann, betritt der zuständige Untersuchungsleiter in Zivil den Tatort. Er hat einen untersetzten Körperbau, trägt petrolfarbige Jeans und einen passenden Leinenkittel über moosgrünem T-Shirt. Er wendet sich an den Polizisten. »Merci, Herr Pfeuti. Ich übernehme. Schicken Sie Ihren Bericht an die Dienststelle.« An die Zeugin gewandt: »Frau Bruni, wollen Sie ein Glas Wasser?«

Dankbar nimmt sie das Angebot an. Hauptmann Roland Bangeter wartet, bis Signora Bruni das Glas ausgetrunken und sich etwas beruhigt hat. Danach eröffnet er seine Befragung mit der Feststellung, dass sie so etwas Schreckliches bisher vermutlich nur aus TV-Krimis kenne.

Bangeters KTD-Team hat Beweisaufnahme und Spurensicherung inzwischen weitgehend abgeschlossen. Die Polizeifotografin, eine zierliche junge Frau mit blasser Haut und schwarzem Haar, hat den Tatort und die Leiche aus den unterschiedlichsten Perspektiven festgehalten. Nun wird der Tote auf den Rücken gedreht. Der anwesende Arzt wirft einen Blick auf das Opfer und bestätigt die Todesursache. Da springt unvermittelt Signora Bruni auf und macht drei Schritte auf das Opfer zu: »Padre mio! Das ist doch …«

Hauptmann Bangeter stellt sich neben die aufgeregte Frau: »Sie kennen den Mann?«

Sie stößt mit bebender Stimme hervor: »Natürlich! Das ist Signor Mollet!«

Bangeter macht sich Notizen. Danach wendet er sich wieder an die Putzfrau: »Könnten Sie mir allenfalls seine Privatadresse angeben?«

Sie bejaht kaum hörbar, nennt die Anschrift des Toten und beginnt still vor sich hin zu schluchzen.

Erneut hält der Hauptmann die Angaben der Befragten fest. »Ihre eigenen Personalien haben wir bereits?«

Signora Bruni schluckt. »Ja. Die habe ich dem unfreundlichen Polizisten gegeben.«

»Gut, Frau Bruni. Dann können Sie jetzt nach Hause gehen. Wir werden uns bei Ihnen melden. Erholen Sie sich erst mal von Ihrem Schrecken.«

»Aber ich habe hier noch gar nicht fertig…« Sie wischt sich die Tränen aus den Augen.

»Die Reinigung können Sie ausnahmsweise uns überlassen.«

Mit zweifelndem Blick hebt sie den Kopf. Dann schaut sie fragend zum Safe hinüber.

Der Hauptmann folgt ihrem Blick. »Tja. Da ist nicht mehr viel drin. Haben Sie eine Ahnung, was weggekommen ist?«

»Nein. Das müssen Sie schon Frau Hofer fragen. Sie kennt sich damit aus. Vermutlich werden im Tresor die Einnahmen aus dem Vorverkauf und die Entschädigungen für die Laiendarsteller verwahrt.«

»Danke. Die Sekretärin ist bereits informiert und auf dem Weg hierher. Wie übrigens auch Ihr Chef, der Präsident des Tellspielvereins.«

»Vermuten Sie, dass es der Mörder auf das Geld abgesehen hat?«, will Signora Bruni mit großen verweinten Augen wissen.

»Noch steht nicht fest, ob überhaupt etwas gestohlen wurde. Mit Sicherheit wissen wir bis jetzt nur, dass es ein Opfer gibt.«

»Mein armer Ivan! Er tut mir so leid. Wissen Sie, er ist nämlich verheiratet und hat kleine Kinder.« Sie trocknet ihre Augen mit einem bestickten Nastüchlein. »Tragisch, wirklich tragisch!«

»Soll ein Beamter Sie mit dem Auto nach Hause bringen, Frau Bruni?«

»Nein, nein! Mein Velo steht draußen auf dem Vorplatz. Was würden meine Nachbarinnen denken, wenn mich ein Streifenwagen vor die Haustür stellt?«

Roland Bangeter lächelt verständnisvoll. Er legt ihr väterlich eine Hand auf die schmale Schulter, während er ihr die andere zum Abschied reicht. Dabei fällt ihm ihr überraschend fester Händedruck auf, der nicht zum Bild der verstörten Augenzeugin passen will.

2

»Herr Feller, ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht«, meldet sich Paul Stettler, der Präsident des Tellspielvereins Interlaken, mit weicher Stimme am Telefon.

Der Thuner Privatdetektiv Hanspeter Feller und Paul Stettler kennen sich seit geraumer Zeit. Genau genommen seit der Auftragserteilung im Fall »General Guisan«. Vor rund zwei Jahren wandte sich Stettler mit der Bitte an die Thuner Detektei, bei der Wiederbeschaffung einer historischen Fotografie behilflich zu sein.

Auf besagter Schwarz-Weiß-Aufnahme sind ehemalige Darsteller und Darstellerinnen der Tellspiele auf der Freilichtbühne zu sehen. In ihrer Mitte posiert General Henri Guisan, Schweizer Heerführer im Zweiten Weltkrieg, in Galauniform. Seine linke Hand liegt auf einem überdimensionalen Eisenschwert, eine Art Zweihänder. Seine rechte Hand hebt er mit den drei Schwurfingern theatralisch in die Höhe. Flankiert wird er von zwei Darstellern des Ensembles. Sie tragen weiße Hemden unter kurzärmligen Westen, die mit breiten Ledergürteln zusammengehalten werden. Der Jüngling an Guisans rechter Seite stellt unzweifelhaft Arnold von Melchtal dar. Die Figur zur Linken vermutlich Werner Stauffacher. Er hat seine Hand vertraulich auf den horizontalen Schwertgriff dicht neben die Hand des Generals gelegt.

Der einzige erhaltene Abzug dieses historischen Dokumentes war im Besitz der Tellspiele Interlaken. Er wurde im Tresor des Sekretariats sorgsam aufbewahrt. Aus unerklärlichen Gründen verschwand er vor zwei Jahren. Obschon bereits damals nur eine beschränkte Anzahl von eingeweihten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Zugriff zum Tresor hatte, ist die Täterschaft bis zum heutigen Tag ein ungelöstes Rätsel geblieben. Der General hat sich im verschlossenen Panzerschrank auf magische Art und Weise in Luft aufgelöst.

»Hallo, Herr Stettler. Ihr Anruf überrascht und beschämt mich gleichermaßen. Ich muss Ihnen nämlich gestehen, dass wir in der Angelegenheit ›Guisan‹ nicht viel weitergekommen sind.«

Der Präsident kichert in den Hörer. »Umso glücklicher werden Sie sein, zu hören, dass Sie das entsprechende Dossier schließen können.«

Feller ist überrascht. »Sie wollen damit aber nicht behaupten, dass Sie die Fotografie zurückhaben?«

»Doch! Genau das will ich«, frohlockt Stettler. »Sie können mir Ihre Abschlussrechnung zukommen lassen.«

»Das ist mir unangenehm«, windet sich Feller. »Wir haben zugegebenermaßen so gut wie nichts erreicht. Und nun soll die Fotografie wie von Zauberhand wiederaufgetaucht sein?«

»Ja. Das ist in der Tat unerklärlich. Wir haben sie nämlich genau dort gefunden, wo wir sie vor Jahren verloren glaubten. Im Panzerschrank!«

Hanspeter Feller verschlägt es beinahe die Sprache.

Paul Stettler vernimmt bloß das würgende Schluckgeräusch des Privatdetektivs. Darum bekräftigt er seine Aussage: »Jawohl! Der General ist zurück in seinem Réduit, sozusagen.«

Nun muss auch Feller lachen, obschon er enttäuscht ist, dass nicht ihm die wundersame Wiederbeschaffung geglückt ist.

»Es ist leider trotzdem alles andere als erfreulich«, bremst ihn der Tellpräsident.

Umgehend erstirbt Fellers Heiterkeit. »Herr Stettler, Sie bringen mich ganz durcheinander. Warum sollte der Fund kein Grund zur Freude sein?«

»Der General freut uns natürlich schon. Allerdings ist er unter höchst tragischen Umständen heimgekehrt. Es gab dabei nämlich ein Opfer.« Stettler fährt mit bebender Stimme fort: »Einer unserer Sicherheitsmänner wurde im Tellbüro tot aufgefunden.«

»Wollen Sie andeuten, ein reuiger Dieb habe das Foto zurückgebracht, um sich anschließend selbst zu richten?«

»Nein. So ist es natürlich nicht«, widerspricht Stettler. »Ivan Mollet hat sich bestimmt nicht selbst umgebracht. Er wurde von einem Pfeil durchbohrt. Von einem Armbrustpfeil, genau gesagt.«

Feller ist perplex. »Und wenn die Fotografie nie wirklich verschwunden war?«

»Keinesfalls! Die war mit absoluter Sicherheit weg. Der Tresor wurde damals ja auch von Ihnen gründlichst untersucht. Der General war fort. Jetzt ist Guisan zurück und Mollet tot. Voilà! Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen.«

Feller schüttelt stumm sein ratloses Haupt.

»Die Kantonspolizei ermittelt. Ich soll Sie anfragen, ob Sie mit Ihren bisherigen Erkenntnissen bei der laufenden Untersuchung helfen würden.«

Die Anfrage überrascht den Detektiv nicht wirklich. Des Öfteren hat er in der Vergangenheit schon mit der Polizei zusammengearbeitet. »Ja, klar. Ich stehe selbstverständlich zur Verfügung. Wer leitet denn die Untersuchung?«

»Hauptmann Roland Bangeter. Kennen Sie ihn?«

»Nein. Das Vergnügen hatte ich bisher noch nicht. Bei den letzten Fällen hatte ich es stets mit Hauptmann Geissbühler zu tun. Aber egal. Herr Bangeter darf sich gerne bei mir melden.«

»Das habe ich mir gedacht und ihm bereits Ihre Telefonnummer gegeben. Sie werden bestimmt bald von ihm hören. Leider bezahlt die Polizei kein Honorar.«

»Das weiß ich«, schmunzelt der Privatdetektiv. »Zudem kann ich Ihre gemischten Gefühle nachvollziehen, Herr Stettler. Die Freude über das wiedergefundene Dokument und Ihre Bestürzung über den Tod des Mitarbeiters. Er tut mir sehr leid.«

Nach dem Gespräch bleibt Feller noch minutenlang am offenen Fenster sitzen und starrt auf die vielbefahrene Frutigenstrasse hinunter. Erst als sein Assistent Jürg Lüthi gut gelaunt in die Detektei poltert, atmet er tief durch.

3

Hanspeter Feller berichtet seinem Assistenten die überraschenden Neuigkeiten aus Interlaken.

Jürg Lüthi fragt nach: »Was wissen wir denn, das die Polizei interessieren könnte?«

Die Frage klingt in den Ohren seines Chefs fast wie eine Beleidigung. »Zum Beispiel weiß ich, wer vor zwei Jahren den Zahlencode des Panzerschrankes kannte.«

»Nämlich?«

»Das waren genau fünf Personen. Der Präsident der Tellspiele, seine Vizepräsidentin, der Finanzchef, der Spielleiter und die Sekretärin.«

»Warum hast du nicht herausgefunden, wer von denen die Fotografie gestohlen hat?«, wundert sich Lüthi.

»Weil alle glaubwürdig darlegen konnten, dass sie als Dieb oder Diebin nicht infrage kommen«, antwortet Feller in einem Tonfall, der seinem Assistenten zur Vorsicht rät.

»Ich will ja nicht deine Arbeit kritisieren. Schließlich sitzen wir im selben Boot. Jedoch scheint es mir wahrscheinlich, dass eine der fünf Personen gelogen hat.«

Das Gespräch missfällt Feller. Er wendet sich demonstrativ von seinem Mitarbeiter ab, um den Laptop zu starten. Nach wenigen Klicks ruft er die gesuchte Internetseite auf. Er liest vor: »Rund um die Schweiz tobte der Krieg. Während das nationalsozialistische Deutschland Europa überrannte, herrschte in Interlaken noch Ruhe. Nach der überhasteten Abreise der Feriengäste im Sommer 1939 war aus der pulsierenden Fremdenmetropole eine beschauliche Garnisonsstadt geworden.«

»Hanspudi, wird das jetzt eine Geschichtslektion?«, fragt Jürg Lüthi mit besorgtem Blick.

Hanspeter Feller dreht sich auf dem Bürosessel schwungvoll zu seinem Assistenten und erklärt: »Junger Mann. Ich habe damals nicht nur die fünf Eingeweihten identifiziert, sondern auch die historischen Hintergründe aufgearbeitet. Sie verdeutlichen, warum das verschwundene Foto überhaupt als wertvoll betrachtet wird. Ende März 1941 fuhren in der Gartenstrasse 43 in Interlaken die Wagen des Generalstabes vor. Soldaten luden Kommandokisten, geheimes Kartenmaterial, Bundesordner und Büroeinrichtungsgegenstände aus. Am 1. April schließlich traf der General in der Villa Rheinland persönlich ein, der späteren Villa Cranz und heutigen Gemeindeverwaltung.«

»Und wenn schon«, lästert Lüthi. »Da hat der oberste Militärstab halt einmal mehr eine neue Unterkunft bezogen.«

»Immerhin sollte diese Villa für über drei Jahre als Hauptquartier der Schweizer Armee dienen«, betont Feller. »Bescheiden, wie er war, hatte der General nur ein kleines Eckzimmer zu seinem persönlichen Büro erklärt. Es versprach Morgensonne und Sicht auf den bewaldeten Hügel des Rugen. Dort stand schon damals die Freilichtbühne der Tellspiele.«

Jürg Lüthi horcht auf. »Und dann ist der General schnurstracks zum Rugenwald gefahren, um sich mit den Laienspielern abzulichten? Hatte der nichts Wichtigeres zu tun, mitten im Krieg?«

»Quatsch! Die Tellspiele wurden während dem Krieg unterbrochen. Die Aufnahme entstand erst anlässlich der Premiere nach Kriegsende. Mit dem Büroblick auf den Rugenwald hatte es eine andere Bewandtnis. Dass sich unweit der Freilichtbühne eine hoch geheime Kaverne befand, in die der General mit seinem Stab im äußersten Notfall hätte flüchten können, blieb lange ein gut gehütetes Geheimnis.«

»Na ja. Interlaken ist verkehrstechnisch günstig gelegen«, gibt Jürg Lüthi zu bedenken. »Mit der Eisenbahn waren die wichtigen Städte und Zentren der Schweiz damals schon schnell zu erreichen. Der Lötschbergtunnel stellt seit 1913 die Verbindung zum Wallis sicher. Warum also sollte sich der Generalstab in corpore in ein finsteres Loch ohne Handlungs- und Bewegungsfreiheit verschanzen?«

Feller verteidigt den General: »Ein Rückzug in die Rugen-Kaverne war selbstverständlich nur als Notnagel gedacht. Vor diesem finalen Rückzug hätten zuerst andere Maßnahmen ergriffen werden können. Ein spezieller Generalszug beispielsweise stand ein paar Hundert Meter entfernt auf einem Reservegleis am Westbahnhof bereit. Er umfasste einen Büro- und Konferenzwagen, eine Küche und einen Schlafwagen. Guisan nutzte den Zug für Inspektionsfahrten durch die Schweiz. Eine weitere Zugskomposition bediente die Nord-Süd-Verbindung auf der Gotthardlinie.«

Feller kommt jetzt richtig in Fahrt. »Eine schnellere Alternative zu den Zügen waren die Flugzeuge vom Typ ›Fieseler Storch‹ oder ›Taifun‹. Selbst Thuner- und Brienzersee dienten notfalls als Fluchtwege. Das ›Iseltwalderli‹ auf dem Brienzersee wurde zum schwimmenden Kommandoposten umfunktioniert und auf dem Thunersee lagen Schnellboote vor Anker.«

Diese Aufzählung scheint Jürg Lüthi nun doch zu imponieren.

Das ermuntert Feller zu weiteren Ausführungen. »Meine Mutter, die in Interlaken aufgewachsen ist, erlebte den General als höflichen und edlen Reiter. Mehrmals hatte sie ihn am frühen Morgen hoch zu Ross auf dem Höheweg angetroffen. Mit seinem sicheren Auftreten und der besonnenen, würdevollen Art nahm er die Rolle einer nationalen Identifikationsfigur ein. Ihm gelang die Herstellung einer vertrauensvollen Verbindung zwischen Truppe und Zivilbevölkerung.«

»Okay«, meint Lüthi kleinlaut. »Jetzt verstehe ich, warum diese Generalsfotografie gewissen Eid- und Zeitgenossen so wichtig ist. Wenn sogar du dich beim Thema Guisan in feurigen Eifer steigerst. Andererseits habe ich mal gelesen, dass General Guisan kein großer Stratege gewesen sein soll.«

Hanspeter Feller mustert seinen Assistenten fassungslos und schluckt zweimal leer. Dennoch schließt er das Thema mit der lapidaren Frage: »Was spielt denn seine Strategie heute noch für eine Rolle? Jedenfalls sind wir in der Schweiz vom Krieg weitgehend verschont geblieben.«

Jürg Lüthi hält es für klüger, jetzt den Mund zu halten. 

4

Am nächsten Tag ist der Tagespresse folgende Schlagzeile zu entnehmen: »Raubmord beim Tellspiel Interlaken«.

Hanspeter Feller liest den Artikel aufmerksam durch. Tatsächlich steht darin ein Detail, das ihm der Tellpräsident bei seinem gestrigen Anruf verschwiegen hat. Aus dem Safe sollen angeblich mehrere Tausend Franken entwendet worden sein. Zudem irritiert das Bild, das den Text illustriert. Es zeigt nicht das Sekretariat, sondern den Schalter der Abendkasse.

Feller reicht die Zeitung seinem Assistenten über den Besprechungstisch hinweg. Jürg Lüthi sitzt dort bei einer Tasse Kaffee und fingert an seinem Smartphone. Er trägt enge Bluejeans und ein grün kariertes Flanellhemd, aus dessen Ausschnitt ein blütenweißes T-Shirt grüßt. Die athletische Postur ist nicht zu übersehen. Seine kräftigen Nackenmuskeln, die breiten Schultern und der beeindruckende Bizeps lassen ein regelmäßiges Training vermuten. Die sportliche Erscheinung wird durch zwei riesige Füße geerdet, die in niederen, schwarz-weißen Leder-Sneakern von Puma stecken.

»Jüre, schau dir das mal an«, fordert ihn Feller auf. »Im Bericht wird kein Wort über die aufgetauchte Fotografie verloren.«

»Ist doch klar. Eine Leiche und der Verlust von mehreren Tausend Franken sind wesentlich sensationeller als ein vergilbtes Föteli«, erwidert Jürg Lüthi gelassen.

»Da bin ich nicht derselben Meinung. Dass ein verschwundenes Bild wie aus dem Nichts wiederauftaucht, ist mindestens genauso spannend. Reine Magie!«, findet Feller.

»Die Leserschaft wertet den Verlust eines Menschenlebens verständlicherweise höher«, tadelt Jürg.

Feller zweifelt. »Pah! Die trauern doch nicht um einen Unbekannten.«

»Warum so zynisch, Hanspudi?«

Darauf erhält Lüthi keine Antwort. Stattdessen nörgelt Feller weiter: »Und die Illustration des falschen Tatortes? Was soll die? Ist sie peinliches Resultat unsorgfältiger Recherche?«