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Klaus Hinrichsen

Nicht quatschen, machen: Wandern durch Mecklenburg-Vorpommern

Entschleunige dein Leben. Selbstfindung auf dem Ostsee-Fernwanderweg E9

Alle Rechte vorbehalten

©Juni 2011

Fotos:
Klaus Hinrichsen

 

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Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-8448-8541-5

Printed in Germany

 

 

Eins, zwei, drei im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit, schaffen, schufften, werden älter, träger, müder und auch kälter, bis auf einmal man erkennt, dass das Leben geht zu End.

Viel zu spät begreifen viele die versäumten Lebensziele, Freude, Schönheit der Natur, Gesundheit, Reisen und Kultur.

Darum Mensch, sei zeitig weise! Höchste Zeit ist´s! Reise! Reise!

(Wilhelm Busch)

Inhalt

Prolog

Etappen

01 Travemünde - Boltenhagen

02 Boltenhagen - Wismar

03 Wismar - Insel Poel

04 Rundtour Insel Poel

05 Insel Poel - Rerik

06 Rerik - Kühlungsborn

07 Kühlungsborn - Warnemünde

08 Warnemünde - Dierhagen

09 Dierhagen - Prerow

10 Prerow - Barth

11 Barth - Hohendorf/Klausdorf

12 Klausdorf – Stralsund

13 Stralsund - Stahlbrode

14 Stahlbrode - Greifswald

15 Greifswald - Wolgast

16 Wolgast - Koserow

17 Koserow - Ahlbeck

Übersichtskarte Etappenziele

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Donnerstag, 5.Mai

Warum sitze ich eigentlich heute in diesem völlig überfüllten Zug gen Norden, rund 450 geplante Wanderkilometer quer durch Mecklenburg-Vorpommern bis zur polnischen Grenze vor mir? Einige Bekannte haben mich schlichtweg für jetzt völlig durchgeknallt abgestempelt, andere, meist die Vertreter der etwas beleibteren Fraktion, erstarrten in ungläubigem Staunen. Dabei weiß ich nicht mal selbst, ob ich das überhaupt schaffe, aber grundsätzlich habe ich nicht vor, klein beizugeben.

Warum also? Ich habe einfach das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen: Stress und komplettes Burn-Out sind vielleicht ein Faktor, der andere die permanente Gier nach "immer mehr zu wollen" bzw. auch die immer vorherrschende Angst, auch nur irgend etwas zu verlieren. Ich kann es nicht richtig beschreiben, es ist einfach ein Zustand der völligen inneren Unruhe, geprägt von Nervosität und leider auch damit verbundenen Schlafstörungen. Ein Zustand, der nicht akzeptabel ist und verändert werden muss.

Vielleicht ist dies die so oft beschworene, einsetzende Midlife-Krise, die ich früher immer belächelt hatte, aber jetzt, in der Altersklasse Ü50, wer weiß, vielleicht hat es mich tatsächlich auch mit diesem Phänomen erwischt.

Wie auch immer, aus meiner Sicht sollte es eine Tour zurück zu den eigenen Wurzeln werden: ohne jeglichen Zeitdruck, ohne Ehefrau, ohne Hund, ohne sonstige Begleitung, ohne iPhone, ohne BlackBerry, ohne Push-Emails, ohne Kundenanrufe, ohne sonstige ständige Störungen und Probleme des Alltags - die letzte vorhandene Multitasking-Fähigkeit habe ich schon länger gänzlich verloren: Wenn ich eine wichtige Email beantworte und dann gleichzeitig das Telefon klingelt, der Postbote an die Tür klopft, die Waschmaschine hupt und der Hund auf den Teppich kotzt, bin ich überfordert, gänzlich überfordert. Ein kompletter Reset des Systems mit gründlicher Aufräumung und Neustart mit bereinigtem Speicher war der Plan.

Was liegt also näher, mit einer längeren Wanderung aktiv an der frischen Luft Körper und Geist zu reaktivieren und nebenbei zum Erhalt und Verbesserung der eigenen Fitness beizutragen? Und hierbei soll es natürlich nicht um Leistung gehen: es ist nicht das Ziel, Gipfel zu erstürmen, sondern einfach sich selbst erobern zu wollen, sprich die Sinne und das Bewusstsein für die innere und äußere Welt wieder richtig zu sensibilisieren. Das Ziel ist dann hoffentlich mehr Lebensfreude, Harmonie und vor allem Ausgeglichenheit.

Warum der E9 durch Mecklenburg-Vorpommern? Zunächst fiel mir natürlich der allgegenwärtig bekannte Camino de Santiago ein, aber warum muss es dieser mittlerweile völlig überlaufene spanische Pilgerweg sein, es muss doch auch in Deutschland atemberaubende, spannende Naturlandschaften geben. Und da fiel mir eine Kinderkur im Reizklima Nordsee ein, die ich im zarten Lebensalter von 10 Jahren geniessen durfte - schwups, an der Ostsee in Meck-Pomm war ich noch nie, und schnell wurde aus der Idee ein Plan, das Reizklima kann schliesslich grundsätzlich erst Mal nicht so verkehrt sein.

Und für den Plan der Entschleunigung des mittlerweile im Alltagsleben vorherrschenden Tempos mit einem eigenen Zeitplan schien mir der E9 entlang der Ostsee zum Entspannen und Erholen durch Meerwasser, saubere und salzhaltige Luft sehr gut geeignet. Oder anders ausgedrückt: Spontan sein. Sich Zeit nehmen. Unendliche Weite. Im Einklang mit der Natur - Natur pur. Sich treiben lassen. Nicht mehr vom Geiste lenken lassen - einfach die Füße laufen lassen, wohin sie wollen. Keine Rücksicht auf andere nehmen zu müssen, vielleicht ist es das

GEFÜHL VON FREIHEIT!

Ich denke auch, das diese Entscheidung nicht zwingend eine Frage des Alters, sondern des richtigen Zeitpunktes ist. Der richtige Moment kann mit 19 Jahren nach dem Abi sein, mit 40 oder 50 mitten in einer Lebenskrise oder auch mit 70 Jahren.

Und dieses längere Wandern bedeutet natürlich auch das eigene Tempo finden. Es bedeutet die Konzentration auf das Wesentliche: der Rucksack sollte höchstens 10% des eigenen Körpergewichtes wiegen.

Das bedeutet bei mir maximal 7,3 Kilogramm, und nach langem Überlegen und gnadenlosem Aussieben nicht dringend benötigter Gegenstände bin ich letztendlich auf 4,9 Kilogramm gekommen, wobei ich allerdings noch eine Hüfttasche mit 8 Liter Volumen und 2 Kilogramm Gesamtgewicht mitgenommen habe, da diese eine ideale Stütze für den Rucksack bietet und somit für eine spürbare Entlastung des Rückens und der Nackenmuskulatur sorgt, sehr vorteilhaft für mich mit doch größeren Halswirbelsäulenproblemen. Rucksack wie Hüfttasche habe ich im übrigen von der Fa. Ortlieb erworben, da beide Produkte zu den seltenen Spezies der absolut wasserdichten Rucksäcke gehören und ich dem norddeutschen Wetter erst mal nicht so richtig über den Weg traue.

Jetzt sitze ich also tatsächlich im ICE gen Norden, den Monat Mai bewusst gewählt, da in ganz Deutschland kein einziger Schulferientag und auch kein Feiertag vorhanden ist, somit sollte immer eine kurzfristige Übernachtungsmöglichkeit gegeben sein und natürlich dürfte auch die Gegend überhaupt nicht überlaufen sein. Das mit den Kindern ging schon mal gründlich daneben: Statt mit Schulkindern ist der Zug von Klein- und Kleinstkindern geradezu belagert, und das aufgeweckte Kind vom Nebensitz aus Mannheim hat mit seinem offensichtlich vorhandenen Picasso-Talent direkt einen künstlerisch wertvollen Strich auf meine EINZIGSTE mitgeführte helle Wanderhose gemalt - super, zehn Punkte. Abgesehen davon war der Zug erstaunlich voll, erstaunlich laut, erstaunlich warm und natürlich auch erstaunlich verspätet - beim Umsteigen in Frankfurt habe ich nur mit letztem Einsatz den Sprung in den abfahrbereiten Intercity-Zug geschafft.

Im Nachhinein wäre vielleicht ein Verpassen die nervenschonendere Wahl gewesen: es ist sehr mühsam, über vier Stunden einem permanent, offensichtlich mit weiblichen Sprachgenen bestückten maskulinen Vertreter unserer Rasse, dauernd in lautesten, krächzenden Tönen die obszönsten, proletenhaft dargebrachten Ausführungen zum bevorstehenden Männerurlaub in Hamburg zu lauschen. Der Typ saß genau unterhalb des roten Bahnfenstereinschlagnothammers und ich ertappte mich bei der Überlegung, wie lange es wohl noch dauern würde, bis ich den roten Hammer in die Hand nehme. Gut, so nach dem geschätzten sechsten Weizenbier ist der Schwätzer zum Glück eingeschlafen, wobei - Schnarchen kann ich schon mal gleich gar nicht ab, aber in diesem Fall wohl eindeutig die bessere Wahl.

Jedenfalls bin ich jetzt in Travemünde angekommen (die einzig wahre Bahnanreisestation, wenn man die komplette Mecklenburg-Vorpommern-Küste von West nach Ost durchlaufen will - und diese Richtung ist wegen des hier oftmals vorherrschenden Windes immer zu empfehlen). Übernachten werde ich im auf dieser Tour einzigsten vorgebuchten Hotel:

Image „Sonnenklause“, Kaiserallee 21-25, 23570 Travemünde, Tel.: 04502/86130
www.hotel-sonnenklause.de

EZ €56,00 inkl.Frühstück

Beim Genuss des ersten Weizens im Freibereich musste ich dann sogleich auch noch eine Hilfeleistung erbringen: Ein schwergewichtiger Gast ist nach dem Kauf einer Palette Erdbeerkuchen direkt neben mir auf den Asphalt gesemmelt und kam nicht mehr selbst auf die Beine. Alle meine Anstrengungen, diesen geschätzten 250kg-Koloss wieder lauffähig zu machen, scheiterten grandios. Erst mit zwei herbeigeeilten Maurern klappte das Vorhaben und der Gast verließ mit seinem komischerweise unbeschädigten Erdbeerkuchen in einem noch fetteren Daimler ohne Dankessagungen den Ort des Geschehens.

Bei angenehmen Temperaturen habe ich dann auf der sehr schönen Sonnenterrasse des Travemünder "Marina Yacht Clubs" (direkt gegenüber der Priwall-Personenfähre bzw. gegenüber der Viermastbark "Passat") zu annehmbaren Preisen zu Abend gegessen.

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Und morgen geht es dann jetzt richtig los. Wobei, eigentlich wollte ich schon um 8 Uhr auf Tour sein, aber die Priwall-Personenfähre startet grundsätzlich erst mit ihrem Fährbetrieb um 10 Uhr, also ist für den ersten Tag erst mal Ausschlafen angesagt.

1 Travemünde - Boltenhagen

Etappenlänge: 27,8 km

Gehzeit (ohne Pausen): 6 Stunden

Travemünde - Steinbeck - Boltenhagen

Travemünde (N53 57 18.5 E10 52 15.8) - Steinbeck (N54 00 33.5 E11 08 49.5) - Boltenhagen (N53 59 18.4 E11 12 08.5)

Freitag, 6.Mai

Beim Frühstück lausche ich dem Gespräch eines älteren Paares, die ihrem Aussehen nach vermutlich noch heute von Woodstock träumen und sich die Rolling Stones auf die Ohrhörer dröhnen, und zwar laut, richtig laut. Die beiden Oldies berichten von den letzten zwei Tagen als Wanderer an der Küste von Schleswig-Holstein und dass sie jetzt noch zwei weitere Tage durchstehen müssen. Als sie sich erheben und zum Buffet humpeln, sich stöhnend ein Brötchen ziehen und dann wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht Platz nehmen, weiss ich warum. Ich oute mich nicht, schliesslich bin ich noch keinen Meter auf dem geplanten E9 gelaufen, und schon kommen erste Zweifel, ob ich mich da nicht etwas übernommen habe. Aber ich bin fest entschlossen, mein rund 450 Kilometer entferntes Ziel Ahlbeck auf der Insel Usedom auch zu erreichen. Und natürlich auf eigenen Füßen, nur auf eigenen Füßen. Obwohl, wenn ich mir diese bemitleidenswerten Wanderer so ansehe, gestehe ich mir auf der ganzen Strecke zwei Joker-Karten für die Benutzung eines Hilfsmittels wie Zug, Bus oder Schiff zu. Es geht los, der Weg ist das Ziel.

Nach der kurzen Überfahrt mit der Personenfähre biege ich nach der Ankunft auf dem Priwall links ab und folge dem Fuß- bzw. Radweg "Dünenweg" immer gerade aus und lasse eine nett erscheinende Ferienhaussiedlung rechts liegen. An der Kneipe "Priwall" biege ich rechts ab und folge auf dem neben der Straße nach Pötenitz verlaufenden Radweg ein kurzes Stück, bis er links in das Naturschutzgebiet "Ostsee E9 Fernweg" abzweigt. In schöner landschaftlicher Umgebung, vorbei an Weiden und riesigen, knallig gelben Rapsfeldern folge ich dem sogenannten Kolonnenweg und bin nun in Mecklenburg-Vorpommern angekommen.

Image Priwall

Die 3 Kilometer lange zu Travemünde gehörende Halbinsel Priwall (1600 Einwohner) an der Travemündung ist im Sommer aufgrund der breiten Sandstrände stark frequentiert, wobei die Gegend in Richtung Mecklenburg immer naturbelassener wird. Die Überfahrt mit den Priwallfähren über die hier 240 Meter breite Trave dauert nur wenige Minuten und ist nach wie vor die schnellste und kürzeste Verbindung zwischen Travemünde, dem Priwall und Mecklenburg-Vorpommern. An der Trave kann man auch die berühmte Viermastbark „Passat“ besichtigen.

Auf dem Kolonnenweg wurde zu DDR-Zeiten das Ostsee-Grenzpersonal zu ihren Einsatzorten, meist den Ostsee-Grenzwachtürmen, transportiert. Am Wegerand treffe ich ein pausierendes Radlerehepaar, örtliche Zeitzeugen der damaligen DDR. Sie erzählen, dass es damals nur äusserst priviligierten Personen möglich war, diese schöne Gegend zu besuchen - der gesamte Bereich vom Priwall bis Boltenhagen war gesperrt und ein Besuch nur mit besonderen Passierscheinen möglich. Es wurden viele Fluchtversuche unternommen und die meisten waren nicht von Erfolg gekrönt. Wenn die damals zum Strandbesuch berechtigten Personen auch nur ansatzweise mit ihrer Luftmatratze zu weit in die Ostsee hinaus paddelten, löste dies unweigerlich einen Großeinsatz der Bodentruppen und der Wasserschutzgrenz-Vopos aus, die sofort einen Fluchtversuch witterten. Der Zeitzeuge berichtet, dass mehrfach Leute, ohne jemals am Meer gewesen zu sein, z.B. aus Sachsen, lediglich mit einer Luftmatratze bewaffnet, einen Fluchtversuch über die Ostsee wagten, der in der Regel nicht gelingen konnte.

Nach einer weiteren Stunde Wanderns durch einen kleinen Mischwald erreiche ich den Strandzugang 1, einem Hundestrand. Direkt danach erfolgt im Wald ein Anstieg - ich dachte, ich bin im Flachland, und jetzt schwitze ich.

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Bei Strandzugang 4 laufe ich kurz zum Strand und geniesse bei ruhiger See, absoluter Windstille und vermutlich um die 20 Grad Lufttemperatur einen wunderschönen Ausblick auf Travemünde.

Linker Hand passiere ich eine Mahntafel und ein großes Kreuz aus Birkenholz.

Die Gedenkstätte soll an die in den letzten Stunden beim Untergang der Kap Arkona in der Travemünder Bucht ertrunkenen 7000 Menschen gedenken. An der Stelle des Kreuzes wurde damals ein Massengrab für 450 tote, an den Strand der Travemünder Bucht gespülte Menschen aus ganz Europa errichtet.

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Im weiteren Verlauf liegt zur rechten Hand das Hotel "Schloß Gut Groß Schwansee". Kurzzeitig spiele ich mit dem Gedanken, die 500 Meter rechts abzubiegen und ein Zimmer zu beziehen, verwerfe diesen dann aber wieder, schließlich bin ich erst rund 15 Kilometer unterwegs und ich will natürlich nicht gleich am ersten Tag als Weichei abgestempelt werden.

Ich laufe also brav den Weg hinter den Dünen, ab und an einen Blick der schönen Ostsee zuwerfend, von nun an immer auf und ab. Irgend jemand hat mir erzählt, ich wäre an der Ostsee im flachen Land, was definitiv für die Gegend des "Klützer Winkels" nicht zutrifft. Meine Sohlen fangen an zu qualmen, die Schulter beschwert sich beim Rucksack, die Riemen der Hüfttasche fräsen sich Richtung Knochen, und das alles schon nach lächerlichen 20 Kilometern. Zeit für eine kurze Pause und ich nehme den nächsten Strandzugang, um meinem müden Körper eine kleine Pause zu gönnen. Bereits nach kurzer Zeit verlasse ich allerdings den zugegebenermaßen wunderschönen Strandabschnitt, da mich ein permanent auf einem Quietschspielzeug beissender Hund keine andere Wahl lässt, da ich den lauten, lästigen Hochton in dieser ansonsten ruhigen, traumhaften Naturlandschaft wirklich nicht hören will und laufe durch den kühlenden Wald.

Image Brooker Wald

Das Naturschutzgebiet Brooker Wald dient dem Schutz eines alten Laubwaldes mit Buchen und Eichen auf einem aktiven Ostseekliff und gehört zum Dassower Becken. Der ehemalige Kolonnenweg führt als Rad-und Wanderweg durch das Naturschutzgebiet, an der höchsten Stelle (25 Meter über NN) befindet sich eine Aussichtsplattform mit einem schönen Blick über die Lübecker Bucht.