ZUM BUCH

Ein Flugzeugtreibstoff, der die hundertfache Energie freigibt als die bisher bekannten. Ein Flugzeug, das gleichzeitig U-Boot ist. Als würde das nicht ausreichen, kommt Medardus Droste während des Ölkrieges zwischen Amerika und Mexiko immer wieder ein geheimnisvoller Unsichtbarer zu Hilfe.

 

Ungekürzt, Korrektur gelesen und in neuer deutscher Rechtschreibung.

Der Inhalt des E-Books entspricht der 1. Auflage von 1928.

 

Hans Dominik wurde 1872 in Zwickau geboren und starb 1945 in Berlin. Er war Ingenieur und Wissenschaftsjournalist, Dramaturg für Kurzfilme und arbeitete später als freier Schriftsteller. Schon bald wurde er durch seine vielgelesenen Zukunftsromane zum gefeierten Erfolgsautor.


 

1. KAPITEL

Ein hässlicher, feuchtkalter Herbsttag. Auf den Sommersitzen der englischen Gesellschaft rüstete man zur Abreise. Die altersgrauen Mauern von Roßmore-Castle verschwammen im grauen Dunst des Hochmoornebels.

Lord Roßmore schritt in seinem Arbeitszimmer unruhig auf und ab, blieb zuweilen am Kamin stehen und wärmte die Hände am Feuer. Ein alter Diener trat ein, um die Glut zu schüren. «Ist mein Sohn William noch nicht zurück?»

«Jawohl, Euer Lordschaft! Mr. Hogan kehrte eben von der Jagd zurück!»

«Er soll zu mir kommen!»

Kurz danach trat der Gerufene ein. Die sorgenvollen Züge Lord Roßmores schienen sich glätten zu wollen, als sein Blick über das frische, wettergebräunte Gesicht seines Sohnes, über die schlanke, rassige Gestalt im Jagdkostüm glitt. Doch dann wehrte er unwillig den Jagdhund ab, der mit hereingekommen war und tapsig an ihm hochsprang.

William Hogan griff den Hund am Halsband. «Kusch dich, Hektor! Nun, Vater, was ist’s, dass du so eilig –?»

Wortlos schritt Lord Roßmore an den Tisch und reichte seinem Sohn einen Brief.

«Ah ...!» Das gezwungene Lächeln und die leichte Röte, die über das Gesicht des jungen Mannes huschten, verrieten unangenehme Überraschung. «Ah! Mr. Malone ist um seine Pfunde besorgt. Aber es war doch abgemacht, dass er sich bis zum Winter gedulden wolle mit der Begleichung der Schuld!»

«Und dann?!», rief der Lord mit scharfer Stimme. «Wie gedachtest du die tausend Pfund zu zahlen? Du schweigst. Weißt genau, dass dein mütterliches Erbteil längst aufgebraucht ist. Weißt auch, dass ich mich geweigert habe, deinem Leichtsinn fernerhin Vorschub zu leisten. Die Einkünfte aus Roßmore genügen gerade, um meine Bedürfnisse und später die deines Bruders Allan zu bestreiten, der als Ältester die Pairie erbt. Du, als zweiter Sohn, bist darauf angewiesen, nach meinem Tod für dich selber zu sorgen. Ich habe alles getan, dir eine Ausbildung zu verschaffen, die dir das ermöglicht. Aber du schlugst meine Mahnungen in den Wind!»

Der Lord trat an seinen Sohn heran, der sich verlegen zur Seite gewendet hatte. «Bill!» Er legte seine Hand auf Williams Schulter. «Ich war heute Morgen in Lacey-Hall. Edward Lacey hat durch seine amerikanische Heirat seine Verhältnisse aufs Beste geordnet. Ich weiß von Laceys Gattin, dass es dich nur ein Wort kostet, und May Potter, die bei ihr zu Besuch weilt, ist die deine!»

Bei Nennung dieses Namens hatte William brüsk auffahren wollen. Dann, als besänne er sich, sah er den Vater bittend an – und erblasste unter dessen strengem Blick. Mit müden Schritten ging er zu einem Sessel. «Vater, du gestattest, dass ich mir eine Erfrischung kommen lasse. Die Jagd hat mich durstig gemacht.» Er drückte auf einen Knopf. Der Diener erschien. «Whisky und Soda, Thomas!»

Der Alte brachte gleich darauf das Gewünschte, ließ die Tür einen Augenblick offen, schlurfte wieder hinaus.

«Zurück, Hektor! Bist du verrückt geworden?»

Unwillkürlich waren Vater und Sohn aufgeschreckt. Denn der Hund, der bis dahin in einer Ecke gelegen hatte, stürzte erregt zur Tür.

«Kusch, Hektor!» William Hogan rief es zornig zum zweiten Mal.

Was hatte der Hund? Mit gesträubtem Fell, funkelnden Auges knurrte er am Zimmereingang, als stünde ein Fremder vor ihm.

William erhob sich, um das wütende Tier zu bändigen. Da, als hätte ein Fußtritt ihn getroffen, wich der Hund aufheulend zur Seite, duckte sich furchtsam, kroch kläglich winselnd unter einen Sessel.

«Was hat das zu bedeuten?», fragte Lord Roßmore erstaunt. «Ist Hektor krank?»

William Hogan schüttelte den Kopf, blickte halb verwundert, halb besorgt auf den Hund. «Ich kann es mir nicht erklären. So beträgt er sich sonst nur, als wenn ein Fremder ins Zimmer tritt. Doch wir sind allein. Die Tür ist zu, draußen ist niemand. Thomas hätte einen Besucher längst gemeldet.»

«Er scheint sich jetzt beruhigt zu haben. Er liegt still, doch seine Augen glühen, als wittre er Verdächtiges.»

«Ruhig, Hektor! Ruhig!» William Hogan warf sich sinnend in seinen Sessel.

Sein Vater betrachtete ihn schweigend, voll verstohlenen Mitleids. Er sah, wie allmählich aller Glanz aus dem eben noch so frischen Antlitz wich, wie tiefe Falten sich in die glatte Stirn gruben. Lord Roßmore schritt zum Fenster.

William deckte die Hand auf die Augen. «Vivian!», flüsterte er vor sich hin. «Dich lassen um diese May Potter! Deine Liebe verraten! Alles Süße gabst du mir – die Erinnerung –!» Sekundenlang verschwanden Leid und Sorge aus seinen Mienen. «Vivian! Dich lassen –»

Seine Augen schlossen sich. Er sah in Gedanken die zarte Gestalt, das rührend liebliche Antlitz. Wie schon so oft, schlossen ihre Arme ihn an ihre Brust ... Das heimliche Stelldichein im Park von Doherty-Hall – die köstlichen Stunden im nächtlichen Hain –

Dann, als hätte eine raue Faust ihn berührt, erstarrte er in Schreck und Abwehr. Das letzte Zusammentreffen ... was hatte ihm da Vivian schluchzend zugeraunt?

Wie von einem Hieb getroffen, schnellte er hoch. «Unmöglich, Vater! Ich kann May Potter nicht heiraten! Nie!»

Lord Roßmore wandte sich um, sah in tiefer Betroffenheit das todblasse Gesicht seines Sohnes. «Ich weiß, William, woran du denkst. Vivian Doherty – du liebst sie! Ich ahnte es längst. Mit Freuden würd ich sie als Schwiegertochter begrüßen. Es ist aber unmöglich! Ihre karge Mitgift reicht nicht aus. Ihr seid beide von Jugend auf verwöhnt. Diese Heirat wäre Torheit! Auch du selber musst dir das klarmachen!» Seine Stimme wurde schärfer. «Von mir hast du nichts zu erwarten – das weißt du! Und ich sehe nur den einen Ausweg: die Ehe mit May Potter.»

William wollte sprechen, doch sein Vater schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. «Nur zwei Möglichkeiten gibt es für dich. Du heiratest May Potter oder nimmst Dienst irgendwo in den Kolonien. Roßmore-Castle wird dir für alle Zukunft so oder so verschlossen bleiben. Die Eltern May Potters verlangen natürlich, dass ihr einziges Kind in Amerika bleibt. Du müsstest also jedenfalls dorthin übersiedeln.»

William ließ den Kopf tiefer und tiefer sinken. Die zuckenden Schultern verrieten, wie stark es in ihm arbeitete.

Ein langes Schweigen. Dann richtete er sich auf. «Wie hoch ist die Summe, um die ich mich verkaufen muss, Vater?»

Lord Roßmore zuckte zusammen. «Verkaufen? Warum solch harte Wort? Miss May ist ein liebenswertes Mädchen, mögen auch die Eltern ihre niedere Herkunft nie verleugnen können.» Und leiser fuhr er fort: «Man schätzt das Vermögen des alten Potter auf mindestens zwei Millionen Dollar.»

«Gib mir Bedenkzeit, Vater! Ich kann – »

«Unmöglich!» Der Lord deutete auf den Brief. «Die Schuld muss bis morgen getilgt sein. Ich kann dir nur beispringen, wenn ich weiß, was du unternimmst.»

William schritt erregt auf und ab, machte dann vor seinem Vater halt. «Also gut!» Und wandte sich mit schmerzlichem Seufzer zur Tür.

Eilends glitt der Hund ihm nach. Doch in der Nähe der Tür wiederholte sich das seltsame Gebaren des Tiers. An das Knie seines Herrn geschmiegt, den Schwanz eingeklemmt, den Kopf verängstigt zur Seite gedreht, folgte es zögernd.

William achtete nicht darauf. Er öffnete die Tür, ließ aber im selben Augenblick erschrocken die Klinke los. Verharrte sekundenlang wie unter dem Eindruck einer jähen Überraschung. Seine Nasenflügel bebten, als erfühle er etwas Fremdes, Ungreifbares. Der Hund neben ihm stieß plötzlich ein klagendes Geheul hervor.

Lord Roßmore kam mit schnellen Schritten. «William, was ist –? Du bist ja wie irre! Auch der Hund – Was soll das?»

William Hogan holte tief Atem, strich sich über die Stirn. «Eine Sinnestäuschung, Vater. Auch Hektor ... Es war mir, als hätte eben jemand, der hier gestanden, das Zimmer verlassen.»

Lord Roßmore schlang besorgt den Arm um die Schulter des Sohnes. «Deine Nerven sind überspannt. Ich weiß ja, wie schwer der Entschluss dir wurde! Und doch! Glaub mir, William, es ist das Richtige! Geh nun in dein Zimmer, schlaf dich aus! Morgen früh werden wir Fräulein Potter unsere Aufwartung machen.»

2. KAPITEL

Eine knappe Wegstunde von Roßmore-Castle entfernt, nahe am Ufer des Weyman-River, liegt auf einem nach drei Seiten steil abfallenden Felsenplateau Doherty-Hall. Auf den Grundmauern eines alten Normannenschlosses hatte der Vater des jetzigen Besitzers, Sir Roger Doherty, einen stattlichen Landsitz errichten lassen. Regelmäßig verbrachte die Familie hier den Sommer. Der frühe Eintritt des Herbstes brachte jetzt die Rückkehr nach London in nächste Nähe.

Den breiten Fahrweg, der zum Haus führte, kam ein junger Mann mit einem Knaben geschritten. In der Nähe einer großen Buche, deren Laub schon in allen Farben schimmerte, lief der Knabe von seinem Begleiter fort zu einer Bank, die unter den tief hängenden Zweigen verborgen war.

«Da sind wir wieder, Vivian!» Der Knabe schlang die Arme um die Gestalt eines jungen Mädchens. «Wir haben einen weiten Marsch gemacht, Dr. Arvelin und ich. Wir waren auf der anderen Fluss-Seite, in den Wäldern von Roßmore-Castle. Trafen auch William Hogan. Er war auf der Jagd, hatte einen starken Hirsch erlegt. Das prächtige Geweih zeigte er mir. So groß!» Er breitete mit drolligem Ernst beide Arme aus.

Das Mädchen hob ihn auf den Schoß, streichelte seine Stirn. «Nun wirst du müde sein und Hunger haben, Phil.»

Der Bruder nickte eifrig. «Ja, ja, Vivian, gewiss bin ich hungrig. Aber –» Ein Lächeln glitt über seine Züge. «Erst musst du noch hören, was da passiert ist! Erst kriegte ich einen Schreck – dann musste ich aber so lachen! – Als wir bei William Hogan standen, kam der alte Hektor aus den Büschen geflitzt und auf uns zugelaufen und ... ja, wie er bei uns war – ha, ha, Vivian, wie hab ich lachen müssen! –, da wollte er Dr. Arvelin beißen! Oh, wie war Hektor böse! Er hat geknurrt und gebellt. So zornig, als wollte er den Doktor fressen. Aber da hat William Hogan ihn mit der Peitsche geschlagen und ist mit ihm fortgegangen.»

«Und hat er weiter nichts zu dir gesagt, Phil?», flüsterte Vivian leise dem Bruder ins Ohr.

«O ja, Vivian! Ich soll Grüße an dich bestellen!»

Errötend drückte das Mädchen einen zärtlichen Kuss auf die Lippen des Bruders und übergab ihn seinem Erzieher, der jetzt näher trat.

«Verzeihen Sie, Fräulein Doherty, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache, dass Sie in leichtem Kleid in der kühlen Luft hier sitzen! Darf ich Ihnen einen Schal oder ein warmes Kleidungsstück schicken?»

Vivian Doherty wehrte freundlich ab. «Vielen Dank für Ihre liebenswürdige Fürsorge! Doch es ist nicht nötig. Ich komme gleich ins Haus zurück.» Ihr Blick haftete an den Davonschreitenden, bis sie an einer Wegecke verschwanden.

***

Schon über drei Jahre war Dr. Arvelin im Haus Sir Dohertys. Von einer Fahrt nach Deutschland hatte ihn dessen Gattin Mary als Hauslehrer für Phil mitgebracht. Der Knabe, bis dahin ein schwächliches, nervöses Kind, wurde unter Arvelins Leitung von Grund auf verwandelt. Geistig und körperlich blühte er auf, und das Verhältnis des Doktors zur Familie gestaltete sich im Laufe der Zeit immer inniger. Nichts im Haus geschah, ohne dass man ihn zur Teilnahme aufforderte, obwohl sein schüchternes, linkisches Wesen zu dem rauschenden Gesellschaftstrubel schlecht passen wollte.

Für Fremde mochte er wohl seines unvorteilhaften Äußeren wegen eine Spottgestalt sein. Der sonderbar geformte Schädel mit der vorspringenden Stirn, der buschige Schnurrbart unter der überlangen Nase, die mittelgroße, hagere Gestalt in schlecht sitzender Kleidung – das alles konnte bei oberflächlichem Eindruck zum Lachen reizen. Anders freilich wurde es, sobald er sprach. Die wohllautende Stimme, das lebhafte Spiel der großen, geistvollen Augen ließ dann die Körpermängel vergessen. Phil jedenfalls hing mit abgöttischer Liebe an seinem Lehrer.

Als sich herausstellte, dass Dr. Arvelin sich aus Liebhaberei mit physikalischen Studien beschäftigte, richtete ihm Sir Doherty im turmartigen Giebel des Hauses ein Laboratorium ein. Hier verbrachte der Doktor fast alle freien Stunden. Es gab Zeiten, wo man nächtelang das Licht im Turmzimmer nicht erlöschen sah.

Das Personal des Schlosses hatte einen heiligen Respekt vor dem deutschen Gelehrten. Unter den Dienstboten lief allerlei Gemunkel um über sein geheimnisvolles Treiben; nur scheu betraten sie den Turm.

Der Tochter des Hauses, Vivian, begegnete Dr. Arvelin stets mit rührender Ergebenheit. Soweit es seine Stellung erlaubte, suchte er jeden ihrer Wünsche, kaum dass er geäußert worden, mit emsiger Beflissenheit zu erfüllen.

***

Langsam schlenderte Vivian dem Haus zu. Traf in der Halle den kleinen Bruder, der mit kräftigem Appetit seine Mahlzeit verzehrte. «So allein, Phil?»

«Ja, Vivian! Dr. Arvelin ist noch einmal zurückgewandert. Er hat unterwegs seinen Stock vergessen. Weil es ein wertvolles Andenken ist, will er ihn suchen.»

3. KAPITEL

Fahles Mondlicht lag über dem Herbstlaub des nächtlichen Parks. Aus einem Pförtchen an der Rückseite des Hauses schlüpfte eine weibliche Gestalt. In ein dunkles Tuch gehüllt, eilte sie über den mondbeschienenen Platz und verschwand in den Bosketten. Vorsichtig im Schatten der Sträucher und Baumgruppen bleibend, pirschte sich Vivian über den Rasen nach einem Weg, der zu der Brüstung der großen Plattform führte. Dort senkte sich der Fels weniger steil zur Flussniederung.

Ein sausender Windstoß, vom Meer her, fuhr durch die breiten Äste der hohen Platanen, Regen von Laub rieselte über das Wäldchen herab. Fröstelnd zog sie das Tuch enger um die Schultern, barg sich hinter einem schützenden Baumstamm.

Minute um Minute verrann. Angestrengt horchte sie nach dem Fluss. Endlich ein schriller Pfiff vom Wasser her. Vivian schrak zusammen, eilte unwillkürlich zur Brüstung, starrte in das Halbdunkel über der Tiefe. Ihre Hände falteten sich, ihre Lippen bewegten sich wie im Gebet.

Wird William sein Versprechen gehalten und mit seinem Vater gesprochen haben? O Gott, wenn der Lord die Bitte zurückwies –! Sie schlug die Hände vors Gesicht; die zarten Schultern bebten in verhaltenem Weinen. Was sollte aus ihr werden, wenn Lord Roßmore seine Einwilligung verweigerte? Elend und Schmach! Die Eltern – der strenge Vater, was würde er mit ihr tun?

Ihr Herz pochte mit stürmischen Schlägen. In halber Ohnmacht klammerte sie sich an die kalten Steine der Mauer. Ein zweiter, leiser Pfiff vom Fuß der Felsen. Hastig richtete sie sich auf, blickte voll banger Erwartung in die Tiefe. Noch war nichts zu sehen. Wieder packten sie die quälenden Gedanken.

War die Entscheidung gefallen? Und günstig? Hatte Lord Roßmore den Bitten seines Lieblingssohnes widerstehen können? Nein! Nein! Es konnte, durfte nicht sein! Williams Gruß durch ihren Bruder Phil musste als gutes Zeichen gelten. Lord Roßmore würde doch Mittel und Wege finden, William zu helfen, ihrer beider Vereinigung zu ermöglichen.

Poltergeräusch eines fallenden Steins ließ sie aufmerken. Aus dem Schatten eines Strauchs tauchte die Gestalt eines Mannes, der langsam den steilen Hang heraufkletterte. Vivian vermochte die brennende Ungeduld kaum zu zügeln. Sie winkte mit einem kleinen Tuch dem Ankömmling zu, der jetzt schneller zu steigen begann. Noch ein paar Schritte, und er hatte den Fuß der Mauer erreicht.

«William! ... Bringst du gute Kunde?», kam es flüsternd von den Lippen des Mädchens.

Der Kletterer antwortete nicht, legte die Rechte auf die Brüstung, zog sich empor, um sich herüberzuschwingen.

Beim Anblick seiner bleichen, erregten Züge prallte Vivian zurück, presste die bebende Hand aufs Herz. «William!», wollte sie rufen, doch ihre Stimme versagte.

Hogan, die Augen auf Vivian gerichtet, wollte eben mit letzter Anstrengung sich über die Mauer werfen, da ... ein heiserer Laut der Überraschung, des Schreckens: Seine weit aufgerissenen Augen starrten auf die Gestalt Arvelins, die plötzlich, wie aus dem Boden gezaubert, hinter Vivian stand und ihm drohend die Faust entgegenreckte.

Gelähmt von dem spukhaften Bild, versagten Williams Kräfte. Seine Finger glitten von den Steinen ab; vergeblich suchten die Füße Halt. In schwerem Sturz fiel der Körper zurück, rollte, sich überschlagend, den Hang hinab.

Ein Schrei des Entsetzens kam aus Vivians Mund. Angstbetäubt taumelte sie zur Mauerbrüstung, streckte jammernd die Arme nach dem Stürzenden aus. Sank dann ohnmächtig zu Boden.

Wie lange sie gelegen, wusste sie nicht. Als sie die Lider hob, drang die Stimme Arvelins an ihr Ohr. Sie lag im Schatten der Platane, von dem Doktor sorglich gebettet. Seine Hand strich lind über ihre angstvoll starrenden Augen. «Keine Sorge, Fräulein Vivian! William Hogan lebt! Eine ungefährliche Fußverletzung – er wird bald wiederhergestellt sein!»

Eine leichte Röte huschte über Vivians blasse Züge. «Sie lügen nicht, Dr. Arvelin? Es ist Wahrheit?»

Arvelin nickte. «Es ist Wahrheit! Ich selbst sah, wie Hogans Diener seinen Herrn zum Boot brachte und ihn über den Fluss setzte.» Unter dem Bann der zweifelnden Augen sprach er weiter: «Ich war zu später Stunde noch in den Garten gegangen, allerhand Gedanken nachhängend. Kam hierher, hörte Ihren Schrei, sah, wie Sie fielen. Nachher eilte ich den Hang hinab und stellte fest, was ich Ihnen vorhin erzählte! Sie dürfen meinen Worten getrost vertrauen!» Er schob den Arm unter Vivians Achsel, richtete sie auf. «Sie müssen ins Haus zurück, gnädiges Fräulein! Dürfen nicht länger hierbleiben. Es könnte jemand kommen. Raffen Sie Ihre Kraft zusammen! Versuchen Sie, mit meinem Beistand aufzustehen!»

Mit dankbarem Lächeln hob sich Vivian an Arvelins Arm vom Boden, mühte sich tapfer, an seiner Seite weiterzuschreiten. Doch ihre Glieder versagten. Halb bewusstlos strauchelte sie aufs Neue.

Hilfsbereit hatte Arvelin die Sinkende aufgefangen und trug sie nun in eiligem Lauf ins Schloss.

4. KAPITEL

Wochen waren vergangen. Eine Reihe schöner, warmer Herbsttage hatte Sir Doherty veranlasst, die Abreise nach London noch zu verschieben. Unter der glasbedeckten Halle saß die Familie beim Lunch.

Phil hüpfte dem Diener entgegen, der die Post brachte. «Oh! Etwas aus Amerika?» Fröhlich schwenkte er einen Brief durch die Luft.

Alle sahen neugierig Doherty zu, der den Umschlag öffnete. Dr. Arvelin streifte mit einem schnellen Seitenblick Vivian, auf deren Antlitz Blässe und Röte wechselten.

Jetzt hatte Doherty das Schreiben entfaltet. «Ah – eine große Neuigkeit! William Hogan zeigt seine Verlobung mit Fräulein Potter in Chikago an.»

Noch ehe die anderen den Sinn der Worte erfasst hatten, flogen aller Augen zu Dr. Arvelin, der aufgesprungen war und die ohnmächtige Vivian in den Armen hielt.

Die weiteren Ereignisse des Tages überstürzten sich in rascher Folge. Vivian, von ihrer Mutter zu Bett gebracht, hatte in wirren Fieberträumen verraten, wie es um sie stand. Die Eltern, niedergeschmettert von dem Furchtbaren, vermochten kaum das Geschehene zu begreifen. Die Einzige, die eine Erklärung abgeben konnte, Vivian selbst, schien mit dem Tod zu ringen.

Unmöglich, jetzt an die Abreise zu denken. Die schottischen Wälder lagen im ersten Schnee, und noch immer war man in Doherty-Hall.

5. KAPITEL

Finstere, sternenlose Nacht. Wieder öffnet sich die Hintertür des Landsitzes. Eine Gestalt schreitet wie im Schlafwandel der Plattform zu, schwingt sich über die Mauer. Vorsichtig, Fuß vor Fuß setzend, klettert sie den steilen Hang hinab. Beschleunigt unten ihre Schritte, eilt dem Fluss zu.

Jetzt hält sie jäh an, wendet den Kopf zurück. Ihre Augen durchdringen das Dunkel ... Nichts zu sehen. Und doch! Hatte ihr Ohr nicht den Ruf «Vivian» vernommen?

Sie wendet sich, schreitet weiter. Da! Hört sie nicht plötzlich das Keuchen eines Menschen, der hinter ihr her eilt? Sie beginnt zu laufen. Nichts zu sehen – und doch wieder der heisere Ruf: «Vivian!»

Unaufhaltsam eilt sie in jagender Hast ihrem Ziel, dem Fluss, zu. Springt auf eine Steinplatte, die weit über das Ufer hinausragt. Stürzt sich in jähem Schwung in die dunkle Flut. Noch ein letztes Mal glaubt sie jenen Ruf zu hören, dann schlagen die Wogen über ihr zusammen und die Sinne schwinden ihr.

6. KAPITEL

Wieder standen die schottischen Wälder in herbstlichem Farbenspiel. Aber Doherty-Hall blieb unbewohnt. Nach den furchtbaren Ereignissen des vergangenen Jahres hatten die Dohertys es gemieden. In ihrem Londoner Haus standen die Koffer gepackt. Sir Doherty war im Begriff, mit seinen Angehörigen nach Kalkutta zu fahren, wo er eine hohe Stellung im indischen Gouvernement bekleiden sollte.

Noch einmal drückte Dr. Arvelin den kleinen Phil an sein Herz, sprach liebevoll auf den weinenden Knaben ein. Die Mutter musste kommen, die Arme Phils zu lösen, die Arvelins Hals nicht loslassen wollten. Noch ein herzlicher Händedruck an die Eltern. Dr. Arvelin wandte sich, um seine Rührung zu verbergen, und schritt schnell aus der Halle.

7. KAPITEL

An jenem Stein, der zuletzt Vivians Fuß getragen, ehe sie den Tod in den Fluten suchte, stand Dr. Arvelin. Stand lange so. Das Mondlicht, das durch die Uferbäume brach, weckte ihn aus seinen Sinnen. Fröstelnd zog er den Mantel enger um die Schultern, ging langsam flussabwärts.

Eine kleine Viertelstunde mochte er gewandert sein. Wieder wandte er sich dem Ufer zu. Ein Weidenbaum neigte seine Zweige bis auf den Wasserspiegel. Hier war’s, wo er mit Aufbietung seiner letzten Kräfte, die Gerettete im Arm, sich an den Strand schwang.

Er kehrte jetzt dem Fluss den Rücken. Vor ihm lief ein schmaler Pfad einer Hütte zu, die, halb versteckt, sich ins Schilf duckte. Ihr war er damals, keuchend unter der teuren Last, mit wankenden Knien zugeeilt. Eine alte Fischerwitwe wohnte in dem Häuschen. In jungen Jahren war sie in Doherty-Hall bedienstet gewesen. Sie kannte Vivian von Kindheit an, hatte die ersten Stunden der Neugeborenen betreut.

Jene Schreckensnacht verging. Im Morgengrauen hörte das alte Fischerweib den letzten Seufzer Vivians, den Schrei jungen Lebens neben ihr ...

Die Erinnerung an diese Nacht wuchs lebendig vor Arvelins Augen herauf. Das heilige Versprechen, das Vivian mit ihrem letzten Atemzug ihm abgenommen, nichts von allem den Eltern zu verraten, ihnen die Schande zu ersparen – er hatte es gehalten.

Arvelin stieß die Tür zu der Hütte auf. Im Lichtschein des Herdfeuers sah er das alte Fischerweib an einer Wiege sitzen, in der ein kräftiger Knabe lag. Er beugte sich über das Kind, schaute ihm lange ins Gesicht. Suchte fast ängstlich die Züge Vivians wiederzuerkennen, suchte lange – frohlockte innerlich, als die Alte rief: «Genau so sah die Mutter aus, als sie in diesem Alter war!»

Die Frau kramte in dem halbdunklen Hintergrund der Hütte allerhand zusammen, machte ein Bündel daraus und übergab es Arvelin. Der drückte ein paar Banknoten in die runzlige Hand, wandte sich zur Wiege, hüllte ein Tuch um das Kind. Die leichte Last auf dem Arm, verließ er die Hütte.

8. KAPITEL

An der pommerschen Ostküste unweit der polnischen Grenze auf einer Anhöhe ragte das Schloss der Freiherrn von Winterloo. Die alten, dicken Backsteinmauern, die noch wohlerhaltenen beiden Türme gaben ihm ein burgartiges Aussehen. Ein Stück landeinwärts der große Wirtschaftshof, an den sich die ausgedehnten Fluren schließen. Im oberen Turmgemach nach der Seeseite zu zwei Männer im Gespräch.

«Ich weiß nicht, lieber Arvelin, weshalb du dir meinen Vorschlag noch lange überlegen willst.» Freiherr von Winterloo deutete auf die offene Tür nach einem Saal hin, der wie ein Laboratorium eingerichtet war. «Hier findest du alles Notwendige für deine Arbeiten! Sollte etwas fehlen, würde ich’s gern beschaffen. Du sagst ja selbst, dass du durch die kleine Erbschaft, die dir kürzlich zufiel, ziemlich unabhängig bist. Die Jagd nach einer beamteten Stelle hast du doch nicht mehr nötig.» Er streckte Arvelin die Rechte entgegen. «Schlag ein, lieber Freund! Eine größere Freude könntest du mir nicht machen, als wenn du dauernd hier bei mir bliebest!»

Der andere zögerte noch immer. Der laute Ruf einer Knabenstimme vom Garten her ließ ihn aufhorchen.

Der Freiherr runzelte die Stirn. «Wieder dieses Kindergeschrei! Hab ich nicht der alten Droste streng befohlen, alle Störungen von diesem Teil des Gartens unter meinen Fenstern fernzuhalten?»

Arvelin hatte Winterloos Hand ergriffen, drückte sie, rief: «Ich bleibe!»

Der Freiherr umarmte den Freund. «Oh, wie schön! Wir werden ein glückliches Leben führen. Jeder wird seinen Arbeiten nachgehen, den anderen an seinen Erfolgen teilnehmen lassen. Mir ist’s, als wär ich um zehn Jahre jünger geworden!»

Arvelin wollte sprechen, da scholl wieder von unten die Knabenstimme. Der Freiherr hastete ärgerlich zur Tür, doch hielt der Doktor ihn zurück. «Was hast du, Winterloo? Ist dir dies unschuldige Kind so verhasst?»

Der Freiherr blickte erstaunt. «Das Kind? Ich kenn es ja gar nicht! Oder doch: Es wird der Knabe der Droste sein. Ja, richtig! Die Alte ist zur Stadt gefahren. Und der Bengel benutzt nun die Stunden der Freiheit, um sich im Garten auszutoben – das heißt, uns zu stören!»

«Nein, Winterloo – mich stört er nicht! Ich freue mich darüber. Ein hübscher, frischer Junge! Ich sah ihn gestern, als ich die alte Droste, deine Haushälterin, begrüßte. Es ist ihr Sohn – oder ihr Enkel?»

Der Freiherr schüttelte den Kopf. «Nein. Doch wenn du so viel Interesse daran nimmst, will ich dir sein sonderbares Schicksal erzählen. Von der Alten selbst würdest du nichts erfahren. Sie hängt mit abgöttischer Liebe an dem Kleinen, behandelt ihn wie ihr eigenes Kind, hat ihm ja auch ihren Namen gegeben.»

«Du machst mich neugierig, Winterloo! Erzähle bitte! Lass mich mehr über den Jungen hören!»

Die beiden setzten sich. Der Freiherr begann: «Es mögen jetzt an die sieben bis acht Jahre her sein, dass der Knabe in mein Haus kam. An einem stürmischen Herbstmorgen. Die See ging hoch. Schon seit Tagen wagte sich kein Fischer aufs Meer. Ich war wohl eben aufgestanden, da hörte ich vom Ufer her lautes Geschrei. Ich lief hinaus, schrak zusammen: Ein Frachtschiff, weit draußen in der See, stand in Flammen! Was auf dem vorging, war mit dem Fernglas nicht zu erspähen. Noch stand alles in den Anblick des furchtbaren Schauspiels versunken, da schoss eine Feuergarbe zum Himmel hinan. Kurz darauf traf uns der Schall einer furchtbaren Explosion. Und ein paar Minuten später waren die brennenden Reste des Schiffes im Meer versunken.

Lange standen wir, starrten über die gischtenden Wogen nach der Unglücksstätte. Vielleicht, dass es doch der Mannschaft gelungen war, die Boote klarzumachen. Da plötzlich ein Schrei vom Turm her, wo der alte Droste dem Schauspiel zugesehen: ‹Ein Boot kommt an!›

Die hohen Wellen versperrten uns jede Aussicht. Ich eilte selbst in das Turmzimmer, nahm das große Stativrohr zu Hilfe, schaute in der Richtung, in der Droste das Boot erblickt hatte. Und fand es bald. Es trieb in rasender Schnelle dem Strand zu. Wunderbar, wie das leichte Fahrzeug unversehrt durch die Wogen glitt! Immer wieder erwartete ich, es werde sich querlegen, von einer überbrechenden Welle zum Kentern gebracht werden. Doch immer wieder, wie von einem unsichtbaren Gott gelenkt, immer wieder bot das Schiffchen den anstürmenden Wassern den scharfen Bug. Niemand am Steuer, leer das Boot. Nur wenn es in ein Wellental hinabschoss, glaubte ich am Boden ein Bündel zu sehen.

So kam’s heran. Kurz bevor es den Strand erreichte, eilte ich hinab. Kam gerade zurecht, als eine Riesenwoge den Nachen ans Ufer setzte. Noch bevor die nächste Welle drohte, hatten die zuspringenden Fischer ihn landeinwärts gezogen.

‹Bark Anne Mary!›, rief ein Fischer mir zu. ‹Anscheinend ein englisches Schiff, was da unterging!›

Ich wollte mich zum Haus wenden. Da plötzlich ein vielstimmiger Schrei aus der Menge. Droste hatte das Bündel aus dem Schiff genommen und zu aller Überraschung entdeckt, dass es ein kleines Kind barg. Das lebte und streckte mit vergnügtem Lachen seine Händchen den fremden Menschen entgegen.

‹Ein Wunder!›, rief alles durcheinander.

Auch mich überlief’s wie ein frommer Schauer. Wirklich, ein Wunder war da geschehen! Das Kind der einzige Überlebende von dem Unglücksschiff!

Im Lauf der Zeit wurde durch die Seeämter festgestellt, dass tatsächlich die Bark ‹Anne Mary› auf der Fahrt von Leith nach Memel verschollen sei. Von der übrigen Besatzung hat niemals jemand wieder etwas gehört. Eine Passagierliste fand man nicht. Des Kindes Eltern sind sicherlich bei dem Schiffbruch zugrunde gegangen. Droste nahm es in seine Wohnung. Seine fromme Alte hielt es für ein Geschenk des Himmels an sie. Und seit nun vor Jahresfrist ihr Mann gestorben ist, hängt sie mit all ihrer Liebe an dem Knaben und hält ihn ganz wie ihr eigen.»

«Und du?», fragte Arvelin.

Der Freiherr lächelte in harmloser Abwehr. «Kindergeschrei ist nicht nach meinem Geschmack! Vielleicht, wenn der Junge größer wird ... Doch nein! – Warum soll ich mich um ihn kümmern? Eine bessere Pflegemutter als die alte Droste könnte er nirgends finden!»

9. KAPITEL

Jahre ... viele Jahre waren seit dieser Unterredung vergangen. Alt und grau waren die beiden Freunde geworden. Und in ihren Gemeinschaftsbund wuchs ein dritter hinein: Medardus Droste.

Nicht lange, nachdem Arvelin Wohnung in Schloss Winterloo genommen, hatte er den Knaben aus seiner Verborgenheit gezogen, war ihm Spielgefährte und Lehrer geworden. Auch der Freiherr hatte, je weiter das Kind zum Jüngling erwuchs, immer größeres Interesse für ihn bewiesen. Fast schien es, als ob sich die beiden Alten eifersüchtig um die Zuneigung des jungen Medardus stritten.

Da kam der große Streit zwischen der neuen Großmacht amerikanischen Union und Mexiko. Auf die Kunde von den neuen Ölfunden hatte in Mexiko eine heftige Bewegung eingesetzt für ein Gesetz, das die Ausbeutung von Ölvorkommen durch ausländische Gesellschaften verbieten sollte. Die bis dahin bekannten Ölquellen neigten ihrer Erschöpfung zu. Die sich mehr und mehr ausdehnende mexikanische Industrie war Hauptrufer in diesem Streit. Hatte man doch schon mit Bangen dem Augenblick entgegengesehen, da die Quellen versiegten und man genötigt sein würde, synthetischen Betriebsstoff aus der Union zu beziehen.

Das Gesetz wurde im mexikanischen Parlament mit großer Stimmenmehrheit angenommen. Es traf in erster Linie amerikanische Interessen, in geringerem Maß auch englische. Die Ölinteressenten der Union unter Führung des Leiters der Central-Oil-Company, William Hogan, hatten vergeblich gegen das Zustandekommen dieses Beschlusses gearbeitet. Durch geschickte Agitation verstanden sie es dann, die Stimmung in den Staaten derart zu beeinflussen, dass die Regierung eine diplomatische Aktion einleitete. Als sie fruchtlos zu verlaufen drohte, gaben ein paar mit Vorbedacht inszenierte Zwischenfälle, bei denen amerikanische Bürger ums Leben kamen, den gewünschten Anlass zum Appell an die Waffen.

Doch in einem hatten sich die Amerikaner verrechnet. Aus dem geträumten Spaziergang nach Mexiko-City wurde nichts. Der Krieg, auf beiden Seiten mit großer Erbitterung geführt, zog sich immer länger hin und verschlang Riesensummen.

***

Es war ein schwarzer Tag in Winterloo, als von Medardus die Nachricht kam, er wolle die günstige Gelegenheit nutzen, seine Fliegerkenntnisse zu vervollkommnen und habe die Führung eines Friedrichshafener Zeppelins übernommen, den die englische Firma Truxton & Co gechartert hatte, um Konterbande für Mexiko über den Ozean zu schaffen. Vergeblich alle Versuche der beiden Alten, Droste von diesem gefahrvollen Vorhaben abzubringen.

Die Wellen der Weltereignisse, die bis dahin das Gestade Winterloos kaum beunruhigt hatten, begannen nun stärker und stärker zu branden. Mit unverhohlener Sorge verfolgten die Freunde die Kriegsgeschehnisse, gespannt auf alle Nachrichten, die von den Fahrten ihres Medardus zu ihnen drangen.

10. KAPITEL

Arvelin saß in seinem Schlafgemach. Vor ihm lag eine englische Zeitung, die das Bild des kühnen Zeppelinführers Medardus Droste brachte. Lange vertiefte sich der Alte in die frischen, energischen Züge.

«Das Bild ist gut getroffen!», murmelte er vor sich hin. «Medardus, wie er leibt und lebt!»

Er beschattete sinnend die Augen. Schritt dann zu einer kleinen Kassette, nahm ein Päckchen heraus und ging wieder zum Tisch.

Die Hülle des Päckchens fiel. Eine verblichene Fotografie kam zum Vorschein. Das Bild einer jungen Dame. Arvelin legte es neben das Zeitungsblatt. Seine Augen gingen von dem einen zum anderen. Ein wehmütiges Lächeln glitt über sein faltiges Gesicht.

«Dieselben Züge, dieselben Augen! Nur dass das Kinn bei dem Jungen sich stärker ausprägt, energievoller. Keine Spur aber, gottlob, von William Hogan, diesem Verfluchten!»

11. KAPITEL

Über dem Golden Gate ein alter, aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammender Steinbau. Er stand noch im Weichbild der Befestigungsanlagen von San Francisco. Schon längst zum Abbruch bestimmt, hatte ihm der Krieg zwischen Nordamerika und Mexiko neue Frist geschenkt. In seinen Mauern verwahrten die Amerikaner eine große Anzahl politischer Häftlinge, um ihnen früher oder später den Prozess zu machen.

Zwölf Schläge der alten Turmuhr. Edna Wildrake, die Insassin der Zelle 17, schob das Buch, in dem sie gelesen, zurück, ging ein paar Mal wie in Erwartung auf und ab. Vom Ende des langen Ganges klang das Rasseln von Schlüsseln – die tägliche Revision des Fortkommandanten. Noch zehn Minuten – Edna hatte die Zeit wohl berechnet –, dann würde auch ihr Zimmer geöffnet werden. Hauptmann Winterloo würde, wie an jedem Tag, die üblichen vorgeschriebenen Fragen stellen und dann ... blieb sie wieder für vierundzwanzig Stunden allein.

Wenige Worte nur pflegte er an sie zu richten – und doch, welches Gewicht erhielten sie in seinem Mund! Ihr durch die lange Haft geschärftes Empfinden spürte unverkennbare Teilnahme an ihrem Schicksal heraus. Wie vorteilhaft unterschied sich überhaupt sein Benehmen von dem seines Vorgängers, des Majors Grimshaw. Der hatte nie anders als in brüskem, verächtlichem Ton mit ihr gesprochen.

Aus dem kurzen Gespräch mit der alten Mulattenwärterin, die täglich zu ihr kam, hatte sie einiges aus dem Leben der beiden Offiziere erfahren. Die furchtbare Katastrophe, die halb Frisco in Asche legte und Tausende von Menschenleben vernichtete, hatte auch in das Leben dieser Männer eingegriffen. Unter den Opfern befanden sich die Eltern Grimshaws und dessen Schwester Viktorine, die Verlobte des Hauptmanns Winterloo. Diese Katastrophe aber war das Werk des Kapitäns Wildrake, ihres Bruders! Sein stärkstes Heldenstück in den Augen des mexikanischen Vaterlandes und der neutralen Welt – ein fluchwürdiges Verbrechen in den Augen der Nordamerikaner. Verbrechen?! Immer wieder fragte sie sich, wie die amerikanische Union sie und ihre Familie für das Geschehene mitverantwortlich machen konnte.

Sie trat ans Fenster. Von der Höhe, auf der das Gefängnis lag, bot sich ein weiter Rundblick über den nördlichen Teil der Stadt. Wohin ihr Auge schaute – nichts als Trümmer und verkohlte Ruinen. Ragende Wrackteile auch im flachen Wasser der Bai.

«Damit Sie die Schandtat Ihres Bruders nicht vergessen, Fräulein Wildrake, hab ich Ihnen das Zimmer mit dieser schönen Aussicht anweisen lassen. Eigentlich kein angemessener Kerkerraum für Leute Ihrer Art!», hatte Major Grimshaw gesagt, als sie hier hereingebracht wurde.

Der neue Kommandant Winterloo aber hatte schon beim ersten Besuch wie beiläufig sich erkundigt, ob sie nicht einen anderen Raum haben wolle. Sie hatte abgelehnt. Nur ihre Augen hatten gedankt für das verborgene Entgegenkommen, das in seiner Frage lag. Doch war es ihr seitdem, als webe unsichtbar ein Verbundensein zwischen ihr und diesem Mann – dem Mann, dem die Tat ihres Bruders die Braut geraubt.

Schon längst hatte sie das Grausige des Anblicks da unten überwunden. Nur immer wieder die Erinnerung aufgefrischt an das Heldentum ihres Bruders, an den Schlag, der den Koloss der Union für Augenblicke zum Erzittern brachte.

***

Dunkle Herbstnacht. Ein rasender Nordoststurm peitscht die Wasser der Bai zu haushohen Wellen. Mit Mühe halten sich die Tausende von großen und kleinen Fahrzeugen vor Anker. Die Kriegsschiffe draußen auf der Reede machen Dampf auf, um sich nötigenfalls auf die hohe See zu flüchten. Auch auf den beiden Riesenschlachtschiffen, die innerhalb des Goldenen Tores festgemacht haben, ein wirres Hin und Her. Der ‹Columbus› und ‹Pizarro›, der Stolz der amerikanischen Marine, Wunder der Schiffsbautechnik, kurz vor Beginn des Krieges fertig geworden. Keine Marine der Welt hatte ähnliche Schiffseinheiten aufzuweisen: Vier Torpedotreffer sollten sie ertragen können, ohne zu sinken ...

Da – der Ausguck auf dem ‹Columbus› wollte schreien: ‹Periskop Backbord voraus in Sicht!› – Doch der Ruf erstarb in einer Detonation an Backbord des ‹Columbus›, der fast gleichzeitig eine zweite an Steuerbord des ‹Pizarro› folgte.

Ein furchtbares Dröhnen in den beiden Riesenleibern, dann legen sich, wie Nuss-Schalen auf einem Bach, die gigantischen Panzer auf die Seite ... Ein paar Minuten später, da, wo sie gelegen, nur noch ein Gewirr von Trümmern und von Menschen, die um ihr Leben ringen. Ihre Hilferufe verhallen im Brausen des Orkans.

Am Kai ankern die zwölf Öltankschiffe des Konvois, den die beiden Panzerschiffe hierher in den Hafen geleitet. Ihre kostbare Fracht ist zum Teil schon in die Ufertanks übergeleitet. Jetzt – ein kurzes Aufblitzen am Rumpf des ersten Schiffes ... des fünften, des achten –! Laute Schreie der Besatzungen. Am Ufer wird man aufmerksam, Lichter blitzen auf. Riesige brennende Ölmassen ergießen sich aus den getroffenen Schiffsleibern. Die lange Front des Seawall ist im Nu ein Flammenmeer, das sich, vom Sturm zu hemmungsloser Glut entfacht, mit Blitzesschnelle über die ganze Südfront der Bai ausbreitet.

Schon brennen die Docks! Dazwischen krachen die Explosionen der Landtanks. Die verängstigten Einwohner, durch des Brandes Tageshelle aus dem Schlaf gescheucht, stürzen auf die Straße. Da plötzlich ein donnerähnliches Getöse, das sich weiter und weiter fortpflanzt, ohne aufzuhören. Die riesigen Munitionsmengen, die, zur Verladung bestimmt, an den Kais lagern, explodieren.

Wildes Geschrei und Wehklagen der unzähligen von den Sprengstücken Getroffenen. Feuerwehr und Militär jagt zur Unglücksstätte. Noch weiß man nicht, was geschehen, übersieht kaum die Größe der Gefahr, da flackern schon die langen Uferstraßen mit den langen Lagerhäusern und hinter ihnen die stolzen Geschäftspaläste in lodernden Flammen.

Vergeblich alle Versuche, sie mit menschlichen Mitteln zu bekämpfen. Der tobende Sturm spottet aller Menschenmacht, stäubt die Flammen über Straßen und Plätze, verjagt die Helfer, frisst hohnlachend die verlassenen Löschapparate. Die Glut greift auf die innere Stadt über, überspringt ganze Viertel. Tausende, die sich noch retten wollten, sind plötzlich abgeschnitten, auf allen Seiten von brennenden Häuserblocks umgeben.

Erst in der Morgendämmerung legt sich die Gewalt des Orkans. Die Strahlen der jungen Sonne bescheinen ein Bild, weit grausiger und schrecklicher noch als das der großen Erdbebenkatastrophe von Anno 6. Viel stärker und einschneidender auch als damals wirkte dies Unglück sich in den Staaten aus. Der Verlust so ungeheurer Werte jetzt mitten im Krieg war doppelt schwer zu ertragen. Bildete doch San Francisco das Hauptsammellager für die technische Kriegführung. Auf den Kriegsschauplätzen machte sich der Ausfall empfindlich bemerkbar.

Wie war das Unglück entstanden? Man wollte, konnte nicht glauben, dass etwa ein Feind durch die hundertfach gesicherte Minensperre gebrochen sei. Die Berichte aus Frisco selbst waren so unklar, dass man sich kein sicheres Urteil bilden konnte. Da brachte am Abend des folgenden Tages der amtliche Heeresbericht aus Mexico-City folgende Nachricht: «Gestern Nacht gelang es unserem U-Boot 48, in den Hafen von Frisco einzudringen und die beiden Schlachtschiffe ‹Columbus› und ‹Pizarro› sowie zwölf Tankschiffe zu versenken.»

Ganz Mexiko jubelte. Die Welt verhielt den Atem.

Und die Union? Unbeschreiblich die Ausbrüche der Wut, des Hasses gegen den Führer dieses U-Bootes.

Wer war es?

Ein paar Stunden später: der Name Robert Wildrake im Mund jedes Nordamerikaners. Er der Täter! Der Verbrecher! Millionen Flüche und Verwünschungen wurden auf sein Haupt geschleudert. Schon mehr als einmal hatten mexikanische Heeresberichte kühne Taten des Kapitäns Wildrake erwähnt. Man wusste Bescheid über ihn. Wusste, dass sein Großvater James Wildrake aus Schottland nach Mexiko eingewandert war und dort umfangreiche Ländereien erworben hatte. Dessen Sohn hatte eine Tochter des Generals Alvarado geheiratet und die mexikanische Staatsangehörigkeit angenommen. In Wildrake-Hall, am Nordufer des Rio del Naxos, war Robert Wildrake geboren.

Wildrake-Hall! Ednas Gedanken flogen dorthin. Wie mochte es da aussehen? Die Amerikaner würden mit dem Besitztum ihres gefürchteten Feindes wohl ebenso wenig glimpflich umgehen wie sie ... Ihre Gedanken stockten. Ein harter, bitterer Zug grub sich um ihren Mund. Wie konnte man so unmenschlich, so grausam handeln? Wer hätte je annehmen können, dass der Feind aus reiner Rachsucht wehrlose Frauen, den kranken Vater aus dem Haus reißen, in Gefangenschaft fortschleppen würde? Gewiss, sie waren gewarnt. Lag doch Wildrake-Hall in der Gefahrenzone. Aber niemand hätte für möglich gehalten, dass das geschah, was in jener Schreckensnacht vor sich ging, als ein amerikanisches Geschwader landete und Wildrake-Hall umstellte.

Die Eltern – Maria, Roberts Braut – sie, Edna, selbst – gefangen fortgeführt unter dem Vorgeben, sie hätten gegen die Sicherheit der Besatzungstruppen konspiriert. Der kranke Vater dahingesiecht – vor zwei Wochen hatten sie ihn begraben. Maria, die Ärmste – wie viel musste sie gelitten haben, bis die Tränen ihr Augenlicht verdunkelten und man sie endlich mit der sterbenden Mutter heimsandte ...

Ein Schaudern überlief Edna bei dem Gedenken an ihre eigene harte Behandlung in der ersten Zeit der Haft. Mit welch teuflischem Vergnügen hatte dieser Grimshaw es verstanden, sie fast täglich auf alle mögliche Weise zu peinigen und zu kränken! Eine Erlösung endlich der Wechsel in der Kommandantur. Das erste freundliche Wort, das sie in der Gefangenschaft gehört, kam aus dem Mund Winterloos. Doch wie lange würde er noch bleiben? Täglich konnte er abgelöst werden. Mit Freude hatte sie beobachtet, wie seine anscheinend schwere Fußverwundung so schnell und gut verheilte. Doch mit Bangen dachte sie an die Stunde, wo Winterloo, völlig wiederhergestellt, seinen Interimsposten als Fortkommandant aufgeben würde, um zur Front zurückzukehren.

Wie in Gedanken öffnete sie den Fensterflügel bis zur Wand, trat vor die blanke Scheibe, schaute hinein. Denn ein Spiegel war ihr versagt. Mit ein paar kurzen Bewegungen ordnete sie die Fülle ihres blonden Haares. Lächelte dann über sich selbst. Ein Restchen Eitelkeit also selbst jetzt noch – trotz bitterer Gefangenschaft!

Kanonendonner von der Seeseite her ließ sie zusammenfahren. Nicht lange, und es krachte ein zweiter dumpfer Knall, dem wie ein Echo vom Meer her andere Schüsse folgten. Edna starrte durch das Gitter auf die Straße, die plötzlich von einem Gewimmel freudig erregter Menschen erfüllt war.

Ein großer Sieg der Union? Oder gar Friede? Und Freiheit für sie, der man doch nichts anderes vorwerfen konnte, als dass sie Robert Wildrakes Schwester war? Sie wusste ja über den Gang der Kriegsereignisse nur wenig. Zeitungen waren verbotene Lektüre für sie.

In ihrem Sinnen und Raten überhörte sie, dass sich die Tür ihrer Zelle öffnete. Erst der Klang der wohlbekannten Männerstimme ließ sie aufmerken. Ihr Auge begegnete in stummer Frage dem Blick des Offiziers.

Der nickte ihr freundlich zu. «Waffenstillstand, gnädiges Fräulein! Gebe Gott, dass der Krieg endgültig vorüber ist! Vielleicht wird Ihre Haft nun bald ein Ende nehmen!»

Ein kurzer Händedruck. Noch ehe sie sich von der Überraschung erholte, war sie wieder allein.

Friede, Freiheit! Sie presste die Hände ineinander. Oh, dass es Wahrheit werde!

12. KAPITEL

Waffenstillstandsverhandlungen im Lager des amerikanischen Höchstkommandierenden. Zehn Stunden lang schon saß man zusammen, in den Grundzügen ungefähr einig. Immer wieder nur der eine Punkt, an dem alles zu scheitern drohte: das Schicksal von vier mexikanischen Offizieren, deren Auslieferung zur Aburteilung durch ein amerikanisches Kriegsgericht gefordert wurde.

«Unmöglich, Señores!» Der greise Oberst Guerrero nahm auf mexikanischer Seite das Wort. «Unmöglich! Keine mexikanische Regierung dürfte das wagen, will sie nicht von der Volkswut hinweggefegt werden. Die Namen Wildrake, Alvarez, Barradas und Calleja sind meinen Landsleuten Symbole höchsten Heldentums. Niemals werden wir ...»

Sein Blick streifte die anderen mexikanischen Delegierten. Er hielt inne. Was war mit denen? Dachten sie jetzt doch anders? Ein bitteres Gefühl stieg in ihm auf. Die Kameraden umgefallen – doch umgefallen? Ihre verlegenen Mienen ... Er atmete heftig. Den weißhaarigen Kopf zurückgeworfen, stieß er schroff hervor: «Niemals werde ich in die Auslieferung dieser Tapferen, die Sie Verbrecher nennen, einwilligen.»

«Gestatten Sie, dass wir uns einige Augenblicke zu einer Beratung zurückziehen!» Der Führer der mexikanischen Delegation hatte sich erhoben, winkte den anderen, ihm zu folgen.

Nach einer kurzen Weile betraten die Unterhändler wieder den Raum. «Herr Oberst Guerrero lässt sich entschuldigen. Eine plötzliche Unpässlichkeit hindert ihn heute, weiter an den Verhandlungen teilzunehmen.»

Eine halbe Stunde später waren die Waffenstillstandsbedingungen schriftlich festgelegt. Die Vertreter der beiden Staaten unterschrieben das offizielle Protokoll. Und unterschrieben ein zweites Schriftstück ...

13. KAPITEL

In der Campeche-Bai das idyllische Eiland Palmas. Noch vor wenigen Jahren eine nur den Fischern bekannte Insel. Dann hatten spekulative Yankees dies köstliche Fleckchen Erde entdeckt und einen fashionablen Badeort daraus gemacht. Palastartige Hotelbauten wuchsen wie Pilze aus der Erde. In Kurzem war Palmas ein Treffpunkt für die millionenschweren Sportsleute der amerikanischen Kontinente geworden, und ein reges Badeleben der oberen Zehntausend aus den benachbarten Staaten spielte sich am Strand ab.

Der Krieg hatte all dieser Herrlichkeit ein Ende bereitet. Verlassen jetzt die Hotelbauten, verödet der paradiesische Strand.

Ein kleines Motorboot, die mexikanische Flagge am Heck, näherte sich von Westen her der Anlegestelle, machte dort fest. Ein Marineoffizier sprang heraus, verabschiedete sich von dem Führer des Bootes und ging quer über den Strand. Die hohe, kräftige Gestalt, der schmale Kopf, die klaren, stahlblauen Augen, das Blondhaar, das unter der Mütze hervorquoll ... lauter Charakteristika eher eines Nordländers als eines Angehörigen romanischer Rasse. Die Örtlichkeit schien ihm von früher her vertraut. Nur flüchtig glitt sein Blick über die verlassenen Strandhotels. Jetzt näherte er sich einer zwischen Palmen versteckten Villa. ‹Dependance de l’Hotel Imperial› stand in goldenen Lettern an ihrem Giebel.

Als er den Garten erreichte, sprangen drei Offiziere in weißen Tropenuniformen aus ihren Hängematten, die dort an den Bäumen befestigt waren. «Hallo, Kapitän Wildrake! Ist’s möglich?»

Eine kleine bewegliche, fast jungenhafte Gestalt eilte ihm entgegen. «Sie sind’s wirklich, Wildrake? Ich begrüße Sie herzlich in unserer Mitte! Kommt her, Barradas und Calleja! Ein illustrer Gast ... der vierte König im Kartenspiel. Calleja – das Licht, das du gestern aufstecktest, beginnt mir hell zu leuchten! – Pardon, Kapitän, Sie kennen die Herren noch nicht? Herr Leutnant Antonio Barradas und Juan Calleja.»

Der Angeredete drückte jedem die Hand, ließ dann seine Blicke musternd um sich gehen. Ein leichtes Lächeln trat auf seine Züge.

«Man hat uns ja eine ganz nette Erholungsstätte angewiesen, meine Herren. Nun, das Vaterland weiß, was es uns schuldig ist, Señores. Freier Aufenthalt in Palmas, dem Milliardärbad – nicht übel! Wäre nur nicht –», er drehte sich dem Meer zu, «dort drüben die unliebsame Nachbarschaft!» Er deutete auf ein paar Rauchwolken, die über die Kimme des Horizontes stiegen. «Das amerikanische Kreuzergeschwader, das da hinten vor Anker liegt, dürfte besser fehlen. Unsere Ruhe könnte von denen da drüben leicht gestört werden. Und wär’s auch nur, dass sie uns ein paar Granaten aufs Hausdach setzten.»