© 2016 Bildungszentrum HVHS Hustedt

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

ISBN 9-783-743-144-682

Inhalt

  1. Beiträge
  2. Fundsachen, Basistexte, Beschlüsse
  3. In eigener Sache

Vorwort

Die Arbeiterbewegung hat ein reiches, heute weitgehend verschüttetes kulturelles Erbe: Der Kampf um gesellschaftliche Teilhabe und politische Emanzipation wäre ohne kulturelle Ausdrucksformen, ohne den Zusammenhalt in gewerkschaftlichen, bildungs- und kulturorientieren Vereinen – ohne Musik und Theater, Literatur, Bilder und Plakate – kaum denkbar gewesen. Dennoch ist die Auseinandersetzung mit kulturellen Fragen im politischen Diskurs jenseits der Feuilletons und kulturwissenschaftlichen Zirkel heute ein Rand- und Nischenthema. Dies gilt auch für die innergewerkschaftliche Meinungsbildung, die kulturelle Fragen in der Regel ausblendet. Die Zeiten einer neuen Kulturpolitik mit der Forderung nach einer „Kultur für alle“ sind lange vorbei.

Die soziale Frage, die der klassischen Arbeiterbewegung zugrunde lag, ist heute freilich drängender denn je. Insbesondere die sich radikalisierende gesellschaftliche Mitte sieht sich immer wieder mit Sozialabbau konfrontiert und in ihrer Existenz bedroht. Auch nach Auflösung der traditionellen Arbeitermilieus ist Arbeiterbewegung überall dort, wo sich in Lohnarbeit abhängig Beschäftige bewegen – in ihren Organisationen, im Betrieb und in der Gesellschaft. Dies gilt auch für moderne Angestelltenmilieus, die sich in besonderer Weise kulturell interessieren und politisch engagieren.

Eine kritische Auseinandersetzung und damit eine angemessene Pflege des kulturellen Erbes der Arbeiterbewegung verkommt freilich in „Sonntagsreden“, in den „Museen“ oder in ehemals basisorientierten, heute nicht selten in die Jahre gekommenen Chören, Geschichtswerkstätten oder auch informellen Treffen der Gewerkschaftssenioren. Eine kritische Auseinandersetzung blitzt dennoch in künstlerischen Einzelleistungen auf und prägt gelegentlich ein alternatives Festival oder ein soziokulturelles Zentrum. Eine Erzählung jedoch, eine große breitenwirksame identitätsstiftende Erzählung der Kämpfe, der Niederlagen und der Errungenschaften der Arbeiterbewegung als soziale Demokratiebewegung, als Bewegung der lohnarbeitenden Mehrheit für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen und ihrer unabgegoltenen Geschichte ist weitgehend unbekannt. Mit diesem Verlust an historischer und kultureller Kompetenz verkümmert freilich auch die Utopiefähigkeit, ohne die politisches Handeln perspektivisch kaum möglich ist.

Vor diesem Hintergrund hatte die Tagung „Von der Arbeiterkultur zur Kultur der Arbeit?“ (29. bis 31. Januar 2014) die Aufgabe, historische und aktuelle Formen der Breitenkultur, widerständigen Kultur und die „feinen Unterschiede“ neu zu entdecken. Der hier vorliegende Band der „Hustedter Beiträge zur politischen Bildung“ spiegelt diese Suchbewegung wieder:

Im ersten Teil werden Beiträge zum Wandel der Arbeiterkultur, zur Arbeits- und Sportkultur, zum politischen Lied, zu Fotografie und Literatur sowie zu den Perspektiven kultureller Bildung vorgestellt. Diese Beiträge beschreiben und analysieren in einem weiten Spektrum einzelne Aspekte und zentrale kulturpolitische Perspektiven – Traditionen, Engführungen und Chancen der politischen Kulturarbeit.

Im zweiten Teil werden Basistexte, historische Beschlüsse und Erklärungen zur gewerkschaftlichen Kulturarbeit dokumentiert. Viele dieser Fundsachen sind heute nach wie vor aktuell. Diese Sammlung ist unvollständig und spiegelt dennoch wesentliche Meilensteine und Weichenstellungen gewerkschaftlicher Kulturarbeit wieder. Sie nicht „abzuspeichern“ sondern heute wieder gezielt einzubringen und die Möglichkeit zu geben, sie produktiv „nach vorne“ zu erinnern, ist die Absicht dieser Dokumentation.

Die vorliegenden „Hustedter Beiträge“ verstehen sich damit nicht als Tagungsband. Über die damalige Tagung hinaus geht es uns um die Wiederaufnahme einer notwendigen kulturpolitischen Diskussion:

Wir erhoffen uns von der Veröffentlichung über die von den Autoren gezeichneten Beiträge hinaus einen Impuls für die Diskussion gewerkschaftlicher Kulturarbeit und einer Kultur, die notwendige gesellschaftliche Veränderungen mit künstlerischen Mitteln (mit-)gestaltet. Es geht um kulturelle Teilhabe heute – weder als unverbindliches „Jeder-kann-mitmachen-Projekt“ noch als kulturwirtschaftliche Eventkultur. Wir suchen Ansätze einer engagierten, skandalösen, kritischen, ermutigenden Kultur, die sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in einem ganz umfassenden Sinn auseinandersetzt. Eine zentrale Bedeutung hat dabei die soziale Frage – im Blick auf gute Arbeit und gutes Leben, soziale Demokratie und Gerechtigkeit, Teilhabe und Mitbestimmung.

Eine neue Kultur der Arbeit und der sozialen Gerechtigkeit entsteht freilich nicht im kulturpolitischen Diskurs. Kunst und Kultur können soziale Auseinandersetzungen begleiten, deuten und stärken und werden von ihnen – in Wechselwirkung – geprägt. Dazu bedarf es immer wieder neuer Anlässe und Impulse.

Im Bildungszentrum HVHS Hustedt finden im Rahmen der arbeitnehmerorientierten politischen Bildung in loser Folge Projekte und Workshops zur kulturellen Bildung statt. Daraus ergibt sich noch kein programmatischer Ansatz. Neben der authentischen künstlerischen Auseinandersetzung verbleiben aber künstlerische Objekte als „Hingucker“ und „Gesprächsanlässe“ auf den weitläufigen Parkgelände des Bildungszentrums: Stelen aus Granit in Erinnerung an die Opfer eines Todesmarsches, der 1945 über das Gelände des Bildungszentrums nach Bergen-Belsen führte (Kolbe/ Allmendinger, 2015); jenes unübersehbare Rad der Großplastik „Transport“ (Künstlergruppe Kontakt, 1978); eine Stahl-Sandsteinskulptur zum Thema Leben und Arbeiten (Torsten Paul, 2013); eine Installation aus original Asse-Fässern thematisiert die verfehlte Atom-Politik (IG Metall Anti-Atomkreis WOB, 2015); eine kleine Marx-Figur aus Vinylkunststoff: ein leger gekleideter älterer Herr, dessen Größe im umgekehrten Verhältnis zur Bedeutung seines politischen und wissenschaftlichen Werkes steht – Teil der damaligen großen Installation aus 500 Marx-Figuren des Konzeptkünstlers Ottmar Hörl auf dem Areal der Porta Nigra in Trier (2013); Variationen und Alltagsikonografie jenes weltberühmten Motives „Die Freiheit für das Volk“ von Delacroix ergänzt durch einen Lichtdruck „Solidarität“ von Willi Sitte (2006/1977) und nicht zuletzt die Arbeiten von Teilnehmenden aus den alljährlichen Fotokursen zu Arbeiterfotografie (Ewen/Straßer).

In diesem Umfeld kann eine weitere Initiative zum Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung praktische Bedeutung erlangen. Das Liedgut selbst ist als UNESCO-Weltkulturerbe von der deutschen Kommission anerkannt worden. Entsprechende Seminare werden in Kooperation mit der Initiative um Werner Kraus und Joachim Hetscher (Beverungen) in Hustedt angeboten. Das ist ein traditionsbewusstes, aber kein rückwärtsgewandtes Projekt. Es reiht sich ein in eine Vielzahl von eher jugendlich getragenen Musikinitiativen, alternativen Festivals und gewerkschaftlichen Jugendtreffen, die von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen (wieder) mit wachsender Resonanz durchgeführt werden, so auch das kreativ bunte, politische Jugendcamp des IG Metall Bezirks Niedersachen/Sachsen-Anhalt auf dem Gelände des Bildungszentrums Hustedt. Das Bildungszentrum versteht sich als Ort für neue Anregungen und Impulse und ist auf Kooperation angelegt.

Die hier nun vorliegenden Beiträge wurden weitgehend in der von den Autorinnen und Autoren vorgetragenen Form belassen und geben damit, zuweilen auch assoziativ-fragmentarisch oder steil-deduktiv, über die jeweilige kulturpolitische Position Auskunft. Offensichtlich werden dabei neben kulturwissenschaftlichen Analysen auch persönliche und politische Brüche und Widersprüche im Theorie-Praxis-Verhältnis. Insbesondere die Ableitung aktueller politischer Kulturarbeit aus politischen Positionen des frühen 20. Jahrhunderts im Rückgriff auf sozialistische oder kommunistische Klassiker werfen Fragen nach der heutigen Grundlegung, der Entwicklungs- und Vermittlungsfähigkeit auf, sind freilich, wie sich zeigt, als historische Bausteine und unabgegoltenes Erbe bei einigen Akteuren präsent und identitätsstiftend.

Mit der Veröffentlichung schließlich der biografisch geprägten „Anmerkungen zur gewerkschaftlichen Kulturarbeit“ von Udo Achten verneigen wir uns vor dem Autor und Kollegen und seinem Lebenswerk. Udo Achten prägt als Publizist, Künstler und Pädagoge die gewerkschaftliche Kulturarbeit in besonderer Weise. Dass sein Engagement in den 60er Jahren im Bildungszentrum HVHS Hustedt als Teilnehmer der langen Grund- und Aufbaukurse zur politischen Bildung seinen Ausgang nahm, ist für uns heute eine besondere Verpflichtung.

Mit Blick auf zukünftige Aufgaben deutet sich in den Beiträgen bei aller Unterschiedlichkeit der Fragestellungen, Themen und Kontexte eine Erkenntnislinie an: Die Entwicklung kultureller Ausdrucksformen ist nicht in erster Linie eine ästhetische, sondern eine politische Frage (Degenhardt), keine Frage der Delegation an die „Bildungsabteilung“, sondern abhängig von den politischen Zielen und Aktionen, hier der IG Metall, also abhängig von größeren Anlässen, wie es z.B. die Auseinandersetzung um die Arbeitszeitverkürzung ist, in denen Kultur einen großen Raum einnehmen muss (Obermayer). Und letztlich ist es immer wieder, auch spielerisch und sportlich, ein Kampf um die Deutungshoheit (Krankenhagen) und schließlich eine Frage des richtigen Handelns (Reinwand-Weiss).

„Kulturelle Bildung ermöglicht ästhetische Erfahrungen: Sie alle werden es vielleicht schon einmal erlebt haben, dass Sie gestaltet haben oder auch rezeptiv etwas wahrgenommen haben, etwas gehört oder gesehen haben, was Ihnen ein Aha-Erlebnis beschert hat. Wo Sie anschließend sagen: Ah ja, jetzt stimmt`s! Ja, jetzt ist mir dies klargeworden. Und in dem Moment war Ihnen vielleicht vollkommen klar, so ist das richtige Handeln.“ (Reinwand-Weiss)

Politische Kulturarbeit, wie wir sie verstehen, handelt, indem sie sich an den sozialen Auseinandersetzungen und Kämpfen um die Sicherung und Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen beteiligt. Damit wird Kunst und Kultur nicht vereinnahmt oder instrumentalisiert. Politische Kulturarbeit unterstützt und gestaltet und erkämpft vielmehr damit jene Voraussetzungen, die künstlerisches Handeln aus sich selbst heraus nicht leisten kann, aber zur eigenen Entfaltung zwingend benötigt, nämlich die „Freiheit der Kunst“. Sie ist, wie sich aktuell immer wieder zeigt, ein hohes Gut, das immer wieder neu politisch gelebt und erstritten werden muss.

Heute sind das Elend des Neoliberalismus und die Spaltung der Gesellschaft, politische Apathie und Rassismus offenkundig. Wir benötigen eine neue große Demokratiebewegung, die die Verunsicherung und Ängste breiter Bevölkerungsgruppen aufnimmt und die Demokratisierung aller Lebensbereiche einfordert. Demokratie braucht Demokratie in einem richtig verstandenen, republikanisch umfassenden Sinn. Dazu bedarf es auch kultureller Ausdrucksformen, um sich neu und mit künstlerischem Eigensinn impulsgebend zu artikulieren – dazu kann politisch kulturelle Arbeit in besonderer Weise beitragen.

Die Tagung, auf der diese hier vorliegende Veröffentlichung basiert, wurde vom Bildungszentrum HVHS Hustedt in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel durchgeführt. Unser kollegialer Dank für die gute Zusammenarbeit gilt Prof. Dr. Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss, Direktorin der Bundesakademie und Urban Überschär, Leiter des Landesbüros Niedersachsen der Friedrich-Ebert-Stiftung, sowie Udo Achten für die hilfreiche Beratung und kenntnisreiche Unterstützung bei der Tagungsvorbereitung.

Die kulturpolitischen Fundsachen, Basistexte und Beschlüsse im zweiten Teil wurden nach umfangreicher Recherche von Harald Kolbe zusammengestellt. Redaktionell werden die „Hustedter Beiträge“ von Dr. Peter Straßer betreut; die Texterfassung erfolgte durch Inge Brauer, Petra Georgi und Prisca Michaelis.

Ganz besonders danken wir den Autorinnen und Autoren, ohne die diese „Hustedter Beiträge“ nicht möglich wären.

Celle/Hustedt, August 2016

Dietrich Burggraf 1 Harald Kolbe 2


1 Dietrich Burggraf, Leiter und Geschäftsführer des Bildungszentrums HVHS Hustedt 2009-2016, ehrenamtlicher Vorsitzender des Trägervereins der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel e. V.

2 Harald Kolbe, Leiter und Geschäftsführer des Bildungszentrums HVHS Hustedt

I. Beiträge

Prolog – drei persönliche Stellungnahmen

„Ich möchte gerne eine Frage stellen, wenn ich darf. Reden wir jetzt nicht im Moment ein bisschen zur sehr über allgemeine Politik. Und ein bisschen zu wenig über die Frage, wie kombinieren wir das mit Arbeiterkultur, worüber wir sprechen. Und da will ich mal aus meinem sehr langen Leben etwas berichten, vor 1933 hatten wir in der kleinen Stadt Emden einen Arbeiterradfahrerclub, wir hatten einen Arbeiterkanuclub, wir hatten einen Arbeitersegelverein, wir hatten einen Arbeiterradioclub, wir hatten eine Arbeitervolkstanzgruppe, einen Arbeitergesangsverein und auch einen Arbeiterschachclub. Der Vater meiner Frau hat bis an sein Lebensende in seinem Selbstbewusstsein davon gelebt, dass er mal in einer Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Schachclub den Vorsitzenden des bürgerlichen Schachclubs geschlagen hat. In einer Auseinandersetzung am Brett. Das alles gibt es heute nicht mehr. Und jetzt habe ich die Frage, warum haben wir das heute nicht mehr? Vor 33 war es der Ausdruck einer Klassensituation, jetzt gibt es diese Arbeiterkultur nicht mehr, können wir daraus schließen, wir haben auch den Klassencharakter dieser Gesellschaft nicht mehr? Wenn ich zu dem Ergebnis komme, die Klasse ist noch da, aber die Kultur nicht mehr, dann muss man die Frage stellen warum nicht“. (Johannes Bruns3, Meldung aus dem Publikum)

„Ich habe bei Krupp in der Gießerei gearbeitet, als Werkstoffprüfer. Ich habe nicht in einem Labor meine Pause gemacht, sondern bin immer raus in die Halle gelaufen und habe mit den Leuten von dem Sandstrahlgebläse mein Butterbrot gegessen. Die Leute im Labor wussten gar nicht, warum geht der immer in die Halle. Das wusste ich damals auch noch nicht. Bis ich dann plötzlich die Möglichkeit bekam mit dem alten Johannes, Baujahr 1903, zu reden. Der war 17 Jahre als er die Märzrevolution 1920 mitgekriegt hat, und wo vor seinen Augen Reichswehr Freikorps Soldaten jemanden erschießen, der als Aufpasser in der Siedlung geblieben ist, als die anderen an der Front gewesen sind und in der Roten Ruhrarmee gekämpft haben. Der hat mit 17 Jahren angefangen Texte und Lieder zu machen und da bin ich hingegangen und habe das Tonband mitlaufen lassen und habe gehört und gehört und gehört. Und der hat gesungen und erzählt und gesungen und erzählt und daraus haben wir dann eine CD gemacht, die heißt „Lieder der Märzrevolution 1920“ und die haben wir nach draußen geschickt. Wir haben erst gedacht, die will kein Schwein hören, was wollen die mit so einer Platte „März 1920“, was wollen die heute? Das war 2005 oder 2006. Und auf einmal merkten wir, die ist weg die CD. Das war eine wichtige Produktion für mich, um rauszukriegen was hat der Johannes als 17 Jähriger mitgekriegt und wie hat der das immer noch in seinem Kopf, schwer verarbeitet und holt sich da so einen Liedermacher und sagt, „Du musst das singen!“ und dann fing ich an und wir sangen diese Lieder der Märzrevolution von 1920“. (Frank Baier, Liedermacher)

„Ich habe im vergangenen Jahr in Zusammenhang mit dem 150-jährigen Jubiläum der SPD alte Texte der Arbeiterbewegung wieder aus dem Schrank geholt. Die hatte ich jahrzehntelang nicht gelesen – Kautzki, Bernstein und Wilhelm Liebknecht. Man sieht die ganzen Formen von kultureller Betätigung, die ja aus der Illegalität gegen das Sozialistengesetz kam. Solidarität zum Beispiel übt man, indem man sich kulturell betätigt, ein Lied singt, eine Sportart betreibt, eine Wanderung organisiert oder ein gemeinsames Essen – und dabei kann man dann auch politisieren. Diese Formen haben sich dann in Vereinen konkretisiert und dabei ist eine Kultur entstanden, die nach meinem Eindruck verschiedene Charakteristika hat: So sind wir stolz auf das, was wir als Arbeiter darzustellen haben. Man vergisst heute bei den ganzen Debatten um Ziele der Sozialdemokratie, der Linken oder der Gewerkschaften, dass es nicht nur um Geld ging, es ging auch um die Ehre des Arbeiterstandes, um die Verachtung, die damals aus dem bürgerlich-adligen-militärischen Leben gegenüber der arbeitenden Bevölkerung kam. In Hannover ist gerade eine Ausstellung über den Simplicissimus. Und da gibt es eine tolle Karikatur, da ist eine vornehme Dame zu Besuch in Leipzig und sagt: „Ich höre, Leipzig hat 500.000 Einwohner? Nein, 50.000, die anderen sind Arbeiter“. Man muss wissen, dass die Spaltung der deutschen Gesellschaft in die Herrschenden, den Adel und die bürgerliche Gesellschaft, also das Bürgertum gegen die Arbeiter so tief war, dass es kaum möglich war kulturell miteinander zu kommunizieren. Trotzdem ist in Arbeiterbildungsvereinen immer auch ein Teil dessen, was wir bürgerliche Kultur nennen, hochgehalten worden; Schillers Glocke konnten fast alle Arbeiter auswendig, weil Schiller eben auch als Befreiungsdichter galt. Eben Bildung zu haben und teilzuhaben an der Gesamtheit der Kultur, nicht nur der Herrschaftskultur, sondern Kultur als eine Möglichkeit menschlicher Entfaltung zu verstehen. Und für sich auch zu reklamieren. Und dieser Aspekt, das ist mir erst in den letzten Jahren deutlich geworden, hat mich schon in meiner Jugendzeit fasziniert. Deshalb habe ich gerne Volkstanz gemacht, auch beim 1. Mai in der DDR, das hat mir Spaß gemacht, warum soll ich das nicht sagen. Wenn ich bei Gewerkschaften oder bei der SPD Arbeiterlieder höre, dann habe ich immer das Gefühl, das hast du alles in der DDR gelernt. Man muss fragen, was bedeutet eigentlich diese Tradition in der gegenwärtigen kulturellen Landschaft. Ich habe unter Bildung immer verstanden, dass die Menschen, das was sie sagen, auch verstehen. Und das bedeutet nicht, dass man alles Mögliche auswendig kann, sondern dass man Herr seiner Selbst wird. Das kann sehr unterschiedliche Aspekte haben und wenn man das erkannt hat, bekommt man auch einen Zugang zu den neuen Formen der Kultur. Alles was mit Internet und Youtube zu tun hat, das sind ja ganz andere Formen als die der traditionellen Arbeiterbewegung. Wie können moderne Formen mit politischen Inhalten verbunden werden, so dass die Menschen bei sich bleiben und sich nicht nur ständig kommerziell verwirren lassen? Das ist mein Impetus dabei. Und was ich bei den alten Arbeitern in Stöcken, wo ich seit 1969 wohne, gelernt habe. Das hatte ich an der Hochschule nicht gelernt, auf dem Dorf schon lange nicht und in Seminaren auch nicht, nämlich dass man sich auf einander verlassen kann, das ist schon eine Erfahrung“. (Rolf Wernstedt, Nds. Kultusminister a.D.)


3 Johannes „Joke“ Bruns, ehem. Nds. SPD-Landesvorsitzender/Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion

Ulrike Obermayr

Arbeiterkultur im Wandel aus der Sicht der Gewerkschaften

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich bedanke mich für die Einladung zu Eurer Tagung und freue mich, hier sprechen zu dürfen. Freilich möchte ich eingangs etwas Bescheidenheit üben. Ich kann euch weder eine historisch-politische Untersuchung zum Thema vorlegen, noch werde ich den Versuch wagen, einen neuen programmatischen Anlauf zu unternehmen. Denn die Kulturdebatte in den Gewerkschaften stagniert, wie ihr wisst. Ich kann nur als Praktikerin der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, die eigentlich – systematisch gesehen – Teil einer gewerkschaftlichen Kulturarbeit sein müsste, ein paar Überlegungen vorstellen, ein paar Anstöße geben, von denen ich hoffe, dass sie helfen Perspektiven zu öffnen.

Ich beginne mit einem Frankfurter Denkmal, das man eigentlich kennen müsste (und ihr vielleicht auch kennt), weil es so spektakulär ist. Dennoch erregt es außerhalb der kleinen Minderheit von Kultur-Engagierten und Kunst-Interessierten wenig Aufsehen. Vor dem Eingang der Frankfurter Messe, nicht eben ein unbedeutender Platz, steht seit zwei Jahrzehnten eine 23 Meter hohe und 32 Tonnen schwere schwarze Figur, der „Hammering Man“. Der Rücken des hageren Mannes ist gebeugt, er schaut mit gesenktem Kopf nach unten und bearbeitet mit einem motorgetriebenen Hammer ein Werkstück. Der Hammer bewegt sich langsam herunter und wieder hoch. Er ist nicht der aus der sozialistischen Kunst bekannte Skulpturentyp4, der aufsteigt, stetig aufsteigt, unaufhaltsam aufsteigt, bis in die Fingerspitzen aufsteigt, und den Wolf Biermann unsanft landen ließ, indem er ihn dem allgemeinen Gelächter preisgab, siehe sein Gedicht „Der Aufsteigende“.

Abb. „Hammering Man“

Der Aufsteigende (Wolf Biermann)

„Mühsam aufsteigender – Stetig aufsteigender – Unaufhaltsam aufsteigender Mann.

Mann, das iss mir ja’n schöner Aufstieg: Der stürzt ja! Der stürzt ja fast!

Der sieht ja aus, als stürze er. Fast sieht der ja aus, als könnte er stürzen.

Steigt aber auf – Der steigt auf – Der steigt eben auf!

Der steigt aber mächtig auf! Der hat Newtons berühmten Apfel gegessen:

Der steigt einfach auf. Noch nicht die kralligen Zehen,

aber die Hacke riss er schon vom Boden

Über das Knie zerren die Sehnen das Bein

Auf Biegen und Brechen zur Geraden

Das wieder stemmt hoch ins Becken

Die Hüften wuchten nach oben

Aufwärts auch quält sich der massige Bauch.

Die den Brustkorb umgürten: Die Muskelstränge,

sie münden – Vorbei am mächtig gebeugten Kopf

In jener Schulter. Ergießen sich dann in jenen Arm.

Und stürzen weiter bis in die Hand.

Schnellen hoch in die Fingerspitzen. Ja!

Dieser Fleischklotz strebt auf

Dieser Koloss steigt und steigt – das ist eben ein Aufsteigender!

Der steigt unaufhaltsam auf

mühsam auch, ich sagte es schon –

Diesen Mann da nennen wir zu Recht: den Aufsteigenden

Nun sag uns nur noch das: Wohin steigt dieser da?

Da oben, wohin er steigt

was ist da? Ist da überhaupt oben?

Du, steigt der auf zu uns? Oder steigt er von uns auf?

Geht uns der voran? Oder verlässt er uns?

Verfolgt er wen? Oder flieht er wen?

Macht er Fortschritte – Oder macht er Karriere?

Oder soll er etwa, was wir schon ahnten

– ein Symbol sein der Gattung Mensch?

Steigt das da auf zur Freiheit, oder, was wir schon ahnten

zu den Fleischtöpfen?

Oder steigt da die Menschheit auf im Atompilz zu Gott

und, was wir schon ahnten, ins Nichts?

Nein, der Hammermann ist kein Held der Arbeit, sondern ein Mensch der Arbeit. „Der Arbeiter in uns allen“, sagt sein Erschaffer Jonathan Borofsky. Freilich hat der US-Künstler von der Figur her kaum sich selbst porträtiert, sondern eher einen Arbeiter der 3. Welt. Oder sogar einen Zwangsarbeiter aus einem KZ. Mühsal der Arbeit, Monotonie der Arbeit, Unterwerfung unter die Arbeit – aber auch Beherrschung der Tätigkeit, Verwandlung des Rohstoffs in ein Produkt, Nachdenklichkeit beim gemessenen Gebrauch des Werkzeugs, Leben und Überleben. Der Hammermann ist der biblischen Genesis näher als dem Klassenkampf: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis dass du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist.“

Aber das Monument steht vis-à-vis vor dem Eingang zur Frankfurter Messe, einem Tempel von Handel, Konsum und Kapitalismus. Eine andere Version steht übrigens in Basel vor der Zentrale der Schweizer Großbank UBS. Also ist die Platzierung kein Zufall. Die schwarze Silhouette vor den glänzenden Fassaden, der gebeugte Mensch vor den aufsteigenden Symbolen von Macht und Reichtum. Krasser – und mit Verlaub: klassenkämpferischer – kann der Widerspruch mit künstlerischen Mitteln kaum inszeniert werden. Deutlicher kann man kaum darstellen, wer den Reichtum schafft und wer ihn sich aneignet.

Ist das nun Arbeiterkultur? Eher nein. Die Aufstellung der Skulptur hat mit den Gewerkschaften, soweit ich informiert bin, nichts zu tun gehabt, und was man über Jonathan Borofsky in Erfahrung bringen kann, macht nicht den Eindruck, das er in irgendeinem Bezug zur Arbeiterbewegung steht. Das Kunstwerk ist also weder aus der Arbeiterbewegung entstanden noch für sie geschaffen worden. Und doch: Wenn die IG Metall in der Frankfurter Messe einen Gewerkschaftstag abhält, was sie im November 2013 und im August 2003 gemacht hat, und wenn wir an der Skulptur vorbei zum Eingang laufen, dann denke ich: Ist er nicht aus Metall geformt? Formt er nicht Metall? Der Hammermann ist doch ein Metaller. Das ist unser Denkmal. Und es hat uns keinen Cent gekostet, wenn mir die Bemerkung gestattet ist, die Bildungsarbeit gehörte bei der IG Metall nämlich sechs Jahre lang zum Hauptkassierer.

Kultur der Arbeit ist es sicherlich, und auch so gemeint. Nun die spannende Frage: Ist es auch Unternehmenskultur? Im wohlverstandenen Sinne: Ja – wenn Unternehmenskultur nicht nur in dem Sinn verstanden wird als Beweihräucherung von Unternehmen oder Unternehmertum. Die Frankfurter Messe AG tut gut daran, ihre Angestellten dezent, aber kontinuierlich mit nicht virtuellen Realitäten zu konfrontieren.

Ich habe dieses Beispiel natürlich gewählt, um deutlich zu machen, wie schwer mir die Abgrenzung zwischen Arbeiterkultur, bürgerlicher Kultur, Kultur der Arbeit und Unternehmenskultur (im wohlverstandenen Sinn) manchmal fällt. Das scheint nicht immer so gewesen zu sein. Arbeiterkultur war im 19. Jahrhundert zunächst einmal nichts anderes als die Bereitstellung elementarer kultureller Angebote für die Arbeiterinnen und Arbeiter und ihre Familien. In Walter Köppings Aufsatz, der in den Tagungsunterlagen nachgedruckt ist, wird zu Recht daran erinnert, dass die Gewerkschaften und Arbeiterorganisationen in anhaltenden Kämpfen erst einmal die Voraussetzungen für eine kulturelle Betätigung der Arbeiter schaffen mussten: Eine sinnvolle Freizeitgestaltung setzt voraus, dass Freizeit überhaupt vorhanden ist. Dieser Raum musste dem Kapitalismus in der Phase der ursprünglichen Akkumulation erst abgetrotzt werden.

Es ging also zunächst einmal darum, kulturelle Angebote zu machen, die von der Arbeiterschaft auch angenommen werden können und ebenso darum, Arbeitern die Gelegenheit zu geben, selbst aktiv zu werden, in Musikkapellen, Theatergruppen, Vereinen unterschiedlichster Art.

Wir assoziieren Schalmeienkapellen, Arbeitersport und Kaninchenzucht und nicht wenige finden das heute altbacken und überholt. Aber das ist es nicht, ganz und gar nicht! Es ist ein Erfolgsrezept par excellence – nur dass es sich von uns entfernt hat. Es markiert den Anfang der Massenkultur. Die Rockmusik beispielsweise erinnert immer wieder an ihre proletarischen Wurzeln und kommt ohne diesen Bezug gar nicht aus, auch wenn er für die Biographien vieler heutiger Musiker nicht mehr zutrifft. Sie ist so erfolgreich, dass sich eine Menge Geld damit verdienen lässt, also wurde sie kapitalisiert. Dadurch hat sie sich von ihrer Herkunft so weit entfernt, dass einem der Begriff Arbeiterkultur nicht mehr über die Lippen kommen mag. Und der Fußball erst! War er nicht ursprünglich ein Arbeitersport?

Mit dieser Interpretation stimme ich natürlich nicht mehr mit Walter Köpping überein, der meint, typisch für die bürgerliche Kultur sei, dass sie der Zerstreuung diene, während die Arbeiterkultur eine Sammlung zum Ausdruck bringe. Unterhaltung und Zusammenhalt, Spaltung und Vereinigung, Zerstreuung und Sammlung – und das so gut wie nie innerhalb der realen oder gedachten Bahnen von Klassenbewegungen – sind das Kennzeichen jeder neuen Kultur, also jeder Kultur.

Woran die Arbeiterbewegung ursprünglich einmal großen Anteil hatte, das ist also keineswegs überholt oder unzeitgemäß, sondern es geschieht ständig aufs Neue und wiederholt sich immer wieder. Aus Arbeitermilieus, oder allgemeiner: Aus den Milieus ausgebeuteter, unterdrückter, diskriminierter Menschen entstehen ständig neue kulturelle Ausdrucksformen, kreativ, ausdrucksstark, vielseitig, reichhaltig. Was Erfolg verspricht, wird von den Unterhaltungskonzernen buchstäblich in jedem Winkel der Erde aufgespürt, aufgekauft und aufgehoben: Es wird von der Straße aufgehoben, und dann gehört es nicht mehr zur Straße. Das ist nicht immer, aber meistens mit kultureller Regression verbunden. Die ursprünglichen Inhalte werden bagatellisiert, die Formen genormt, bis sie sich zur Vermarktung eignen. Verzweifelt versucht der zum Star gewordene Künstler den Nimbus einer sogenannten Aufrichtigkeit oder Authentizität aufrechtzuerhalten, wobei man sich immer wieder fragt, was das eigentlich sein soll. Dieser Prozess ist so eingefahren, funktioniert so gut und wird von der Medienindustrie derart perfekt beherrscht, dass wir uns zum Teil enttäuscht davon abgewandt haben. Nur selten und mit mäßigem Interesse wenden sich Gewerkschaften und andere gesellschaftlichen Verbände denjenigen zu, die der Markt an den Rand drängt, weil sie sich für seine Mechanismen nicht eignen oder weil sie sich nicht vollständig unterwerfen.

Kehren wir zur Arbeiterkultur zurück. Mit der Entfaltung der Arbeiterbewegung, dem Erstarken ihrer Organisationen, mit der Theoriebildung gewinnt die Arbeiterkultur Konturen, die sie für rund hundert Jahre prägen sollten: Vom letzten Viertel des 19. bis zum letzten Viertel des 20. Jahrhunderts. Die herrschende Kultur wird als Kultur der herrschenden Klasse verstanden. Folglich muss die Arbeiterklasse der bürgerlichen Kultur ihre eigene Kultur entgegensetzen. Darin spiegelt sich das neue Selbstbewusstsein der Beherrschten; sie beanspruchen ihren Platz auf allen gesellschaftlichen Terrains, also auch im geistigen Leben. Dieser Anspruch bleibt immer ein bisschen ambivalent, er wird zum Thema ständiger Diskussionen. Wollen wir an der bürgerlichen Kultur teilhaben, um sie durch eigene Beiträge zu bereichern und zu entwickeln? Oder wollen wir ihr eine Gegenkultur entgegensetzen? Verbirgt sich hinter dem Wunsch nach Teilhabe eine Anpassung an die bürgerliche Ideologie? Oder verbirgt sich hinter dem Wunsch nach Gegenkultur die Verdrängung einer tiefsitzenden Intellektuellenfeindlichkeit, die ja nicht grundlos ist: Was den Menschen jahrhundertelang vorenthalten wurde, was ihnen allzu oft feindlich gegenübertrat, das lehnen sie ab. Dieser Widerspruch wird auch durch synthetische Formulierungen nicht gelöst, wie sie die IG Metall in einer programmatischen Entschließung 1986 wählte, wonach man beides tun müsse, nämlich die herrschende Kultur erobern, aber auch Gegenkultur entwickeln.

Auf der Seite der Kulturschaffenden waren es vor allem Schriftsteller, die das neue Interesse der Arbeiterbewegung aufnahmen, ja zum Teil begierig aufgriffen, und in gesellschaftlichen und politischen Themen den Stoff für großartige Werke fanden und immer noch finden. Ihre Arbeit nahm einen parteilichen Standpunkt ein, was nicht bedeutet, dass sie für eine politische Partei arbeiteten, sondern dass sie Partei für die sozial und politisch unterdrückten Menschen ergriffen. Der „engagierte Intellektuelle“ wurde hegemonial, das heißt er prägte den Stil und das Denken in Literatur, Theater, Film, Musik und bildender Kunst, in den Humanwissenschaften und schließlich sogar in den Naturwissenschaften, wo wir die Ökologie durchaus als Antwort auf die Atombombe begreifen können. Mit diesem engagierten Selbstverständnis sahen sich besonders die Schriftsteller in der Tradition der europäischen Aufklärung. Wie die Aufklärer durch ihre Abwendung von der Religion neue Kontinente der Freiheit entdeckten und den Boden für die französische Revolution bereiteten, so wollten die modernen Intellektuellen durch die Abkehr von der Klassengesellschaft am Aufbruch in eine bessere Zukunft teilnehmen.

Wahllos nennen ich ein paar Namen, wie sie mir gerade einfallen: Brecht, Hemingway, Adorno, Sartre, Camus, Simone de Beauvoir, Charlie Chaplin, John Lennon, Alfred Hrdlicka, Jurek Becker – was für eine glanzvolle Epoche. Wer von uns möchte sie nicht gern zurückholen, so sehr wir uns mitunter geärgert haben, wenn ihre Werke manchmal weniger unserer Sammlung dienten? Doch das wird nicht funktionieren, denn die gesellschaftliche Entwicklung ist weitergegangen, und für die Gewerkschaften war es schwer genug, sich gegen den Neoliberalismus zu behaupten und die anhaltenden Mitgliederverluste zu stoppen.

Für eine neue Besinnung auf unsere kulturellen Aufgaben und Chancen habe ich vor allem bei dem Querdenker Gramsci Anregungen gefunden. Bei einer Kritik intellektuellenfeindlicher Tendenzen in der italienischen Arbeiterbewegung findet er erstaunlicher Weise zu einem Satz der alten griechischen Philosophie zurück: Erkenne dich selbst. Ist das ein individualistischer oder subjektivistischer Ansatz? Nicht bei Gramsci. Erst wenn man sich selbst erkennt oder zu erkennen versucht, meint Gramsci, könne man diese Erkenntnis mit Anderen teilen, und das Teilen solcher Erkenntnisse sei eben das, was Kultur ausmacht. Erkenne dich selbst5 habe beispielsweise ein paar Jahrhunderte später im alten Rom eine revolutionäre Bedeutung gehabt: Indem sie sich selbst erforschten, erkannten die Plebejer, dass sie den Bürgern Roms ebenbürtig sind.

Genau diesen Gedanken finde ich in einer Rede des japanischen Schriftstellers Haruki Murakami wieder. Er hielt sie am 11. Juni 2011 anlässlich einer Preisverleihung in Barcelona, und selbstverständlich spricht er darin über das gerade ein Vierteljahr zurückliegende Atomunglück von Fukushima, und wie diese Nuklearkatastrophe ausgerechnet einem Land passieren konnte, das schon Hiroshima und Nagasaki erfahren hat. Murakami sieht sich als „unrealistischen Träumer“: „Es ist eine der Aufgaben eines Schriftstellers zu träumen. Die wichtigere Aufgabe eines Schriftstellers ist es aber, diese Träume mit anderen Menschen zu teilen. Man kann ohne den Drang zum Teilen kein Schriftsteller sein.“ 6

Die kulturelle Maxime des Teilens untereinander soll mir ein bisschen zur Sublimierung, also zur Veredelung der mehr praktischen Erfahrungen und Lehren dienen, die ich in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit mache und zu denen ich jetzt übergehen möchte. Denn damit scheint mir ein für uns wesentliches Moment festgehalten zu werden.

Erfahrungen und Wissen miteinander zu teilen, ist eine der zentralen Aufgaben gewerkschaftlicher Bildungsarbeit. Wir stehen für ein emanzipatorisches Menschenbild. Die Kolleginnen und Kollegen sollen in die Lage versetzt werden, selbstbestimmt sich Problemstellungen und Inhalten zu nähern und Selbstwirksamkeit im Bildungsprozess erleben.

Dieser Zusammenhang der Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit wurde uns erst unlängst auf unserer internen Jahresarbeitstagung des Bildungsbereiches von einem Gesundheitswissenschaftler verdeutlicht und könnte in gewisser Weise als Gradmesser für die Gewerkschaftsarbeit insgesamt dienen. (Es ging um Konzepte betrieblicher Gesundheitsförderung, die bei gelungener Umsetzung den Grad der Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit in zahlreichen Studien bei den Beschäftigten evident erhöhen.) Das setzt eine demokratische Lernkultur voraus, für die wir als Bildungsarbeiterinnen und Bildungsarbeiter Verantwortung tragen. Demokratische Lernkultur beinhaltet, in Abgrenzung zum institutionalisierten Lernen, welches nach wie vor an festgelegten Curricular ausgerichtet ist, dass wir uns in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess auf die Lerninhalte bzw. Gegenstände verständigen und das Lernen beteiligungsorientiert gestalten.

Dies ist Ausdruck für eine kulturelle Entwicklung bezogen auf das Selbstverständnis in der IG Metall über das, wie der Mensch lernt und sich Welt erschließt. Das schließt Orientierung als Angebot ausdrücklich mit ein.

Die Bildungsarbeit mit ihren Bildungshäusern ist darüber hinaus natürlich Kulturträger und Kulturvermittler. In die Seminare werden Gedichte, Prosa, Musik, Filme und manchmal sogar Theaterarbeit integriert. Die regelmäßig und unregelmäßig durchgeführten Kulturveranstaltungen in den Bildungszentren – wenn auch konsumtiv – ergänzen das Bestreben nach Vermittlung anderer kultureller Erfahrungen jenseits des Mainstreams.

Es fehlt – bis auf wenige Ausnahmen wie z. B. der Sommerschule in Sprockhövel – die eigene aktive Aneignung bzw. das Einüben und Praktizieren von kulturellen Techniken und das Herstellen von entsprechenden Produkten.

Dies würde – solange die gesamte Organisation das nicht für bedeutsam hält – eine Überforderung der bestehenden Ressourcen in der Bildungsarbeit bedeuten. Anlassbezogen gelingt es, wie z. B. in der Kooperation mit der Initiative „Respekt-Kein Platz für Rassismus“, die eine Vielzahl von kulturellen Aktivitäten in den Betrieben ausgelöst hat. Der Bildungsbereich trägt und koordiniert im vierten Jahr diese Aktivitäten. Darüber hinaus haben wir in dem letzten Jahr einen Impuls mit der Neuauflage des Arbeiterliederbuchs aufgegriffen, um unsere Kolleginnen und Kollegen zum Singen zu motivieren und sich mit den historischen Texten zu beschäftigen. Aktuell haben wir zwei Quartette entwickelt, mit denen spielerisch historisches Lernen möglich ist.

Dies soll beispielhaft verdeutlichen, dass wir durchaus an einer kulturellen Auseinandersetzung arbeiten. Alle diese Aktivitäten können erst dann wieder mehr Gewicht bekommen, wenn die politischen Aktivitäten und Ziele der IG Metall größere Anlässe schaffen – wir erinnern uns an die Auseinandersetzung um die Arbeitszeitverkürzung – in denen die Kultur größeren Raum einnehmen muss. Das setzt voraus, dass es einer Neuauflage der Debatte z. B. über Lebensqualität bedarf. Wenn die Beschäftigtenbefragung u. a. das Thema Beruf und Freizeit als eines der zentralen Themen der Menschen identifiziert, dann reicht es nicht aus, ausschließlich über die Arbeitswelt zu diskutieren. Das Thema Freizeit und ihre Qualität muss dann gleichberechtigt Gegenstand mitgedacht und diskutiert werden.

Es gibt ein großes Bedürfnis Interessen und Erfahrungen miteinander zu teilen. Eine eigenständige gewerkschaftliche Kulturarbeit kann viel dazu beitragen. Wir sind daher angehalten, dieses „Kraftwerk der Gefühle“ (Lothar Pinkall) wieder stärker in den Blick zu nehmen. Die gewerkschaftliche Bildungsarbeit kann Impulse geben, begleiten und auch Initiator von kulturellen Prozessen sein, man kann eine eigenständige gewerkschaftliche Kulturarbeit allerdings nicht an diesen Bereich „delegieren“.


4 Vgl. hierzu die Bronze „Aufsteigender“ von Fritz Cremer z. B. https://de.wikipedia.org/wiki/Auf-steigender

5 Antonio Gramsci, Gefängnishefte Band 6, S. 1376

6 Unrealistischer Träumer: Dankesrede von Haruki Murakami zur Verleihung des International Catalunya Prize am 11.06.2011

Stefan Krankenhagen

Arbeiter- und Sportkultur(en) aus der Perspektive der Kulturwissenschaften7