Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Dieses Büchlein ist ein Gemeinschaftswerk, daher geht ein besonderer Dank an die begnadeten Lektorinnen Elke Staamann und Gabrielle Zähler-Mielke, die freundlicherweise dem Ganzen endgültig zum Durchbruch verholfen haben. Für den computermäßigen Support bedanke ich mich bei Hartmut Köster. Vom Redakteur und Ballonpiloten Helge Treichel konnte ich inhaltlich profitieren. Ganz grundsätzliche, wegweisende Inspirationen und Ermutigung zum Verfassen literarischer Texte verdanke ich dem 2016 von uns gegangenen Lyriker und Erzähler Frank Kminkowski.

Bis auf „Die Ansage” stammen sämtliche Kurzgeschichten aus den Jahren 2015 bis 2017. Die Mehrzahl trägt mehr oder weniger autobiografische Züge.

Birkenwerder, November 2017

Hubert Humboldt

Durch einen seltsamen Zufall gelangte ich an das letzte unvollständige Tonbandprotokoll meines Freundes Hubert Humboldt.

Er beschreibt darin seinen Spaziergang auf dem Friedhof in Bad Salzelmen.

Dort war er vor rund 11 Jahren. Seine Eindrücke hielt er nicht schriftlich fest, wie sein Vorbild, der berühmte Naturforscher Alexander von Humboldt, sondern sprach sie direkt vor Ort in sein Diktiergerät. Dabei kam ihm der Umstand zugute, dass er druckreif sprechen kann.

Vor allem drucke ich seine Worte ab, damit mir jemand etwas über den Verbleib oder die Umstände des Verschwindens meines vor 11 Jahren verschollenen Freundes mitteilen kann.

Hiermit möchte ich meinen geschätzten Lesern sein Protokoll ungekürzt wiedergeben:

„Auf dem Gertraudenfriedhof in Bad Salzelmen:

Die Scharniere des schwergängigen, von Glyzinien umwucherten Eingangstores des Friedhofes quietschen beim Öffnen. Wer ihn durch die verrostete Eisenforte mit dem Kreuz darüber betritt, meint, es habe ihn in einen geheimnisvollen, uralten Zauberwald verschlagen. Summen empfängt mich hinter dem Eingang; ich schaue zur Linde rechts am Weg hinauf. Wildbienen haben die Linde zu ihrer Festung ausgebaut; für sie ist der Tisch reich gedeckt – Linden stehen jetzt in voller Blüte. Ein Sperber zieht seine Kreise; er lässt sich von den warmen Lüften in die Höhe tragen.

Oben am Baum saugen Misteln oder Zauberruten, wie manche sagen, aus ihren Zweigen den Saft. Über den Weg huscht eine Zauneidechse. Stimmen von Sperlingen erklingen aus dem dichtbelaubten Geäst steinalter Bäume. Die Bäume stehen rechts und links der Wege sowie inmitten von überwucherten Gräbern mit bemoosten, umgefallenen Totenkreuzen sowie zahllosen abgesackten Jahrhunderte alten Grabsteinen stehen. Morsche Holzbänke stehen am Weg. Wenigen Sonnenstrahlen gelingt es, das schier undurchdringliche Blätterdach über dem Schattenreich zu passieren. Den Boden bedecken Giersch, Löwenzahn und Disteln, besonders aber der alles beherrschende Efeu. An diesem Ort, an dem nun auf solche Weise selbst schon Steine begraben liegen, behaupten sich nur wenige Gewächse gegen diese Würgepflanze. Tiefe Stille lastet auf dem schaurig, schönen Herrschaftsgebiet des Efeus, ohne Leben, ohne Bewegung, einsam und beklemmend – Friedhofsstille.

Die schlichte Friedhofskapelle aus rotem Backstein steht seit einem halben Jahrhundert ungenutzt. Leichenbegängnisse finden schon lange keine mehr statt. Sie wurde nach einem Brand wieder errichtet. Auf ihrem First sitzen Tauben. Seltsamerweise hat der Efeu an den Wänden der Kapelle noch gar nicht hinauf gefunden. Hier ist seine Symbolkraft für „ewiges Leben“ von Bedeutung. Löwenzahnblätter pflücke ich ab, sie schmecken bitter.

An einer hohen Kiefer, deren kupferfarbener Stamm oben im Abendrot so schön aufleuchtet, hat jemand vor Zeiten ein Vogelhaus angebracht. Mittlerweile befindet es sich ungefähr 10 m über dem Boden; das alte Vogelhaus wird mit den Jahren vom Baumstamm in die Höhe gehoben worden sein. Die Kiefer wiegt sich unweit der Kapelle im Wind. Zur ihr führt ein gepflasterter Weg, auf welchem noch kein Grün Fuß gefasst hat. Harziger Duft steigt in meine Nase; er dürfte von der Kiefer ausgehen. Sie wird von zwei Eiben flankiert. Ich pflücke Beeren von den Gewächsen. Ihre giftigen Kerne spucke ich aus.

Knorrige, alte Robinien, Kastanien, Nadelbäume, mehrheitlich jedoch Linden – die höchsten in weitem Umkreis – beschatten das mystische Totenreich, kaum eine darunter, um die zwei Arme reichen. Auf den Wetterseiten ist die Borke unten mit Moos überzogen. Eine Linde sehe ich, auf deren starken Ästen sich sogar schon Moos angesiedelt hat. Verblüffend, wie viele verschiedene Grüntöne es gibt. Bis auf die Nadelgehölze befinden sich alle Baumriesen in der Umarmung des allgegenwärtigen Efeus, der seine teils armdicken Triebe um ihre Stämme gewunden hat. Er schiebt sich bis zu den Baumkronen empor. In ihrem Geäst beziehen nachts Krähen, Tauben und Elstern Quartier. Mitunter sind die dicksten Efeutriebe mit flaumigen Haaren bewachsen. Irgendwann werden die Baumveteranen an der Umschlingung sterben. Noch bieten sie Wildtieren wie den Eichhörnchen Schutz. Möglich, dass selbst in der höchsten Baumkrone Sperber ihren Horst haben; der Falke würde eher die nahe gelegene Kirche als sein Domizil erwählen, um von da aus Mäuse in den Blick zu nehmen. Obgleich dieser Friedhof auf einer Anhöhe liegt, lassen sich keinerlei Spuren von Blitzeinschlägen finden.

Vor mir auf dem Weg sitzt eine Taube; sie fliegt auf, als ich mich nähere. Ein junger Haselnussstrauch bringt mit seinem undefinierbaren Rotton im Blattwerk Abwechslung in das ewige Grün. Blumen suchen meine Augen hier vergebens. Stehen gebliebene steinerne Kreuze, Stelen sowie verrostete Umfriedungen von Grabstellen liegen reglos und in Dunkelheit, nur selten vom Eichelhäher aufgestört, da. Sie halten die Erinnerung an die Toten wach – Vergänglichkeit und Stille fassen sich bei den Händen.

Gebeine der Handwerker- und Salzsiederfamilien haben hier vier Jahrhunderte hindurch ihre ewige Ruhe gefunden. In der Gegend wurde früher Steinsalz gewonnen (selbst das Wasser aus der Heilquelle im Kurpark – er liegt knapp 200 m Luftlinie entfernt – schmeckt salzig).

Seitlich der Kapelle prunken Mausoleen; zu ihnen führen Stufen hinab. Sie zeugen von der Anwesenheit einst wohlhabender Leute in der glanzvollen Salzsiederära der Stadt; hier enden ihre Spuren. Schräg links vor der Kapelle steht ein Häuschen aus Stein, so groß wie eine Garage, der Eingang zugemauert. Es wird als Leichenhalle gedient haben.

Die wenigsten Grabinschriften sind lesbar. Am deutlichsten treten noch die Angaben auf schwarzem Selenit hervor. Schwarz. Trauer.

An poliertem Selenit hat der Efeu keinen Halt gefunden. Diese Steinart findet zudem erst seit rund 150 Jahren Verwendung. Die überwiegende Zahl der Grabsteine ist verwittert, im Würgegriff des Efeus sowie mit Moos und türkisfarbenen Flechten überzogen.

Manche Grabmale stammen aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts. Namen wie Kirchheim, Heise, Haferkorn, Meißner, Riemschneider sind zu lesen. Ich schlendere weiter.

Dereinst macht wohl jeder von uns Station an solchem Orte – für immer.

Halt, mir fällt ein gemauerter Brunnen neben einer Gruft ins Auge – auch er efeuumrankt. Während ich mich über den Brunnenrand beuge, strömt mir modriger Geruch entgegen. Vergeblich versuche ich den Schwengel der Wasserpumpe neben einer Zisterne zu bewegen – eingerostet und garantiert versiegt, zweifellos. Meine Hand ist braun vom Rost.

Dem Lärm der Stadt wird von der Friedhofsmauer aus Feldsteinen – meterhoch und großenteils begrünt – Einhalt geboten. Das Grün sieht mir eher nach einer anderen Kletterpflanze aus, keinesfalls Efeu. Im nördlichen Teil sind Steintafeln in die Mauer eingelassen.

Die Sprüche auf den Tafeln und Grabsteinen finde ich interessant, die meisten auf Lateinisch. Zum Beispiel steht auf dem Grabstein der Malerin Katharina Heise:

Sie ging erst, als ihr Werk getan ward

- CARPE ⋅ DIEM -

Auf dem Grabmal daneben lese ich:

GEHET NUR, IHR SEID AUF DEM RECHTEN WEGE
INS
JENSEITS

An der Seite zur Straße ist eine ganze Familiendynastie vertreten– die reinste Ahnengalerie der Allendorfs.

Besonders gibt mir jener Sinnspruch zu denken:

Rosel, oh reiner Widerspruch,
Lust,
Niemandes
Schlaf zu sein unter soviel
Liedern

– Wie im Leben so im Tod –

Mich interessieren vorzugsweise unbearbeitete, Natur belassene Steine mit schöner Farbe oder Ädererung, also Buntsandstein oder der seltene Marmor, wie der auf dem Grab der Malerin. An derartigen Steinen war außer Mutter Natur niemand Steinmetz. Bläulich schimmernder Basalt ist ebenfalls interessant. In einem Steinbruch dürften kaum weniger Steine umherliegen. Es kommt der Tag, an dem wird das alles hier zum Steinbruch.

Meine Suche führt mich tiefer in das dunkle Labyrinth aus Pfaden, Wegen und Gräbern, denen sich die Unkräuter bemächtigt hatten. Auf dem gepflasterten Weg vom Eingang zur Kapelle konnte ich meine Schritte noch hören, nun aber mit dem Gras unter meinen Füßen bewege ich mich geräuschlos.

Da, noch ein lesbares Epitaph, sogar mit Jahreszahl:

Nie mehr verlassen wird der das Reich,
der es durch die richtige Pforte betritt

1603

Eben habe ich mich an meterhohen Disteln gestochen, als ich an einen weiteren Grabstein trat. Die Schrift – wieder unleserlich.

Aus verschiedenen Richtungen höre ich Taubengurren, wie man es abends allenthalben vernimmt. Ein Wildkaninchen huscht ins Gebüsch. Wind frischt auf; Blätter rauschen. Zweige bewegen sich, der Eichelhäher krächzt. Die Sonne ist längst untergegangen.

Es wird dunkeler; der Pfad schmaler. Geruch von Feuchte und Fäulnis steigt mir in die Nase. Über meinem Pfad liegt ein umgestürzter Baumstamm; er muss schon lange so liegen. Schwämme und Baumpilze zehren von ihm – die Natur erobert sich den Gottesacker zurück. Ich steige darüber hinweg. Hier hatte ewige Zeiten keine Axt eines Holzfällers ihr Werk getan.

Orientierungslos irre ich umher. Ich bahne mir einen Weg durch Gestrüpp und Strauchwerk.

Wo ist der Ausgang? Beim Zurückschauen ist weder von der Kapelle, noch von der Mauer, noch vom Eingangstor etwas zu sehen.

Wohin ich blicke: nur knöcheltiefes Gestrüpp, Efeu und Bäume. Unheimlich. Weiß der Teufel, was der Efeu in dieser Wildnis alles unter sich begraben, worüber er sein grünes Leichentuch geworfen hat, um das Darunterliegende zu ersticken! Ab und an knackt es hinter mir, neben mir.

Glockenläuten ist von Ferne vernehmbar. Das kommt von der Kirche in der Stadt. Ich vermisse hier den Glockenstuhl, der häufig auf Friedhöfen anzutreffen ist.

Seitwärts bietet sich der Anblick einer Grube, deren vier Wände mit demselben Pflanzenteppich geschmückt sind wie alles hier. Für wen die wohl gedacht war? Das Begräbnis wird auf den St. Nimmerleinstag verschoben worden sein oder waren hier etwa Grabschänder …?

Verflucht!

Gerade bin ich über herumliegende Äste gestolpert und etwas Hartes gestürzt, das unter einer Pflanzendecke verborgen lag. Die Blätter darauf reiße ich ab, ein schwarzer Stein kommt zum Vorschein. Den Namen mit lateinischer Inschrift entziffere ich im Dämmerlicht:

* Am Ende des Lebens verstummen die Worte.

Das darf doch nicht … da steht mein Name!“

* * *

Anmerkung des Autors:

Dies waren Hubert Humboldts letzte Worte. An dieser Stelle brechen die Aufzeichnungen meines Freundes ab. Sein Diktiergerät lief noch 23 Minuten weiter. Es sind dann nur noch Hintergrundgeräusche zu hören; Krähen kämen eventuell in Betracht.

Meine Nachforschungen ergaben, dass an jenem Abend ein schweres Gewitter über Schönebeck, wozu Bad Salzelmen gehört, herrschte.

Spazierfahrt im Heißluftballon

– Wie dank gewisser Anstrengungen die Mehrheit eine Ballonfahrt überstand –

Später Vormittag. Ein Heißluftballon wird vom Wind über Auen und Wälder getrieben. Solche Ballons haben unten eine Öffnung, in die ein Brenner heiße Luft bläst. Heißluft entsteht beim Verbrennen von Propan, welches sich in Gasflaschen befindet. Sie werden im Korb, der am Ballon hängt, mitgeführt. Der Korb, in dem sich die Besatzung aufhält, wird zuweilen auch als Gondel bezeichnet. Um die Gewichtsaufteilung braucht man sich bei Heißluftballons keinesfalls Sorgen zu machen; alles wird mit dem Brenner geregelt. Steigt der Ballon zu hoch, kann durch ein Ventil heißes Gas entweichen, sodass er sinkt. Oben auf dem Ballon hat sich eine Taube niedergelassen – wohl auf der Suche nach einem geeigneten Ort zum Ausruhen.

Unter den Reisenden zieht die Landschaft dahin. In Kürze werden dieselben sich über einer Wasserfläche befinden, die in Fahrtrichtung liegt. Im Korb befinden sich neben dem Ballonpiloten zwei Passagiere; für sie ist es das erste Mal. Man genießt die Aussicht und schnuppert die Höhenluft. Bei den beiden Passagieren handelt es sich um Eheleute Sie besitzen eine Wurstfabrik. Am Ende des nahenden Sees haben die beiden ihr Wassergrundstück.

Der Ballonpilot, ein Mann, der mit nur drei Zwischenlandungen vom Nord- zum Südpol auf der Route Neufundland, Panama, Osterinsel gefahren ist, bewundert die Haarfarbe der Frau, die sich beim Besteigen der ausgepolsterten Gondel an ihn klammerte, weil sie das Gleichgewicht verlor. Mit seinem markanten Gesicht, seinen knappen, exakten Bewegungen kommt er ihr wie ein Held vor.

Reisehöhe derzeit: 450 m über dem Boden.

Laut Wetterbericht soll den Tag lang NO-Wind der Stärke 3 herrschen.

Wie vorhergesagt, ist der Himmel wolkenlos – ideale Bedingungen; Fallwinde, starke Windböen und dergleichen sind völlig ausgeschlossen.

Dass der Zeiger des Höhenmessers zurückgeht, während der Heißluftballon sich mittlerweile über der Wasserfläche bewegt, ist normal; über Wasser herrscht geringere Thermik; zudem kühlt die heiße Luft im Innern schneller aus.

Lächelnd sagt die Frau zum Ballonpiloten, der gerade das Fernrohr in die runde Halterung steckt: „Eine herrliche Aussicht, nicht wahr? Wenn wir die Richtung beibehalten, fliegt der Ballon bestimmt über unser Grundstück dort am gegenüberliegenden Ufer.“ Sie weist mit der Hand in die Richtung. „Sie haben wohl mit dem Wettergott eine Verabredung getroffen?“