Sabrina Seegers

Ein Hauch Glückseligkeit


Renate Rüdiger ist verzweifelt. Sie bekommt ein Kind von einem anderen Mann. Was wird ihr Ehemann Viktor sagen, wenn er davon erfährt, und hat ihre Liebe zu Thomas überhaupt eine Chance?

Die Autorin führt mit ihrem Roman zurück in die Nachkriegszeit, als die Menschen versuchten, sich ein neues, glücklicheres Leben aufzubauen.



»Da muss ich durch, irgendwie«, dachte ich und stöhnte, denn die Wehe hatte mich voll gepackt. Niemand war da, der mich zum Hospital begleiten konnte, und auch wenn es seit Kurzem ein Taxi in unserem Dorf gab – wer sollte es herbeirufen? Zu den paar Glücklichen, die ein Telefon besaßen, gehörte ich leider nicht.

»Irgendwie werde ich es schon schaffen«, machte ich mir selber Mut. Ich schnappte mir mein Köfferchen und öffnete die Tür. Es war tiefe Nacht und atemstockende Kälte schlug mir entgegen. Wäre Mutter doch nur bei mir oder nein, doch lieber nicht. Sie würde mich nur aufregen, sollte sie ruhig ihre Schwester besuchen, obwohl sie ja wusste, dass meine Niederkunft kurz bevorstand. Hätte sie mich in den vergangenen Monaten nur nicht so bedrängt…! Aber was soll´s, die Entscheidung war gefallen. Ich würde das Kind, das nun bald das Licht der Welt erblicken würde, weggeben. Wer weiß, vielleicht war es gut so. Es stimmt ja was Mutter sagte: »Wir können gerade für uns selber sorgen. Wie sollen wir das Kind durchbringen? Du allein schaffst es schon gar nicht. Du wirst dir Arbeit suchen müssen, nach der Trennung von Viktor. Und mit mir kannst du nicht rechnen, falls du darauf gehofft haben solltest. Ich bin nur heilfroh, dass wir Krieg, Elend und Not einigermaßen unbeschadet überstanden haben. Wir können dankbar sein, dass wir noch ein Dach über dem Kopf haben.«

Verdammt, auf dem Bürgersteig war es spiegelglatt. Ich schlidderte an der Häuserreihe entlang und versuchte mich an den Mauern festzuhalten, was wegen meines Köfferchens erschwert wurde. Vereinzelte Straßenlaternen warfen nur spärliches Licht. Und so kam mir der Weg zum Hospital endlos vor. Ich machte mir allergrößte Sorge. Nur nicht ausrutschen, dachte ich. Was ist, wenn ich das Kind hier auf der Straße bekomme? Lieber Gott, hilf! Nur das nicht! Zu dieser nächtlichen Stunde war kein Mensch unterwegs. Ich zwang mich nichts zu denken, einfach weiter zu gehen, weiter, Schritt für Schritt. Die nächste Wehe ließ mich innehalten. Ich umklammerte die Eisenstäbe eines Gitterzauns.

Hinter der nächsten Ecke lag das Hospital, nur noch ein paar Meter, dann war es endlich geschafft. Die mächtige Fassade des Gebäudes lag im Dunkeln. Nur am Eingang brannte ein spärliches Licht. Mit letzter Kraft schleppte ich mich die Stufen hoch und fiel einer Nonne in die Arme, die mir entgegen kam. Sie hatte mich vom Fenster des Empfangs aus bemerkt.

»Kommen Sie mit mir, mein Kind, ich bin Schwester Leonardis.« Unter der Haube sah mich ein gütiges Gesicht liebevoll an. Ich schluchzte auf, dabei musste ich doch stark bleiben, gerade jetzt. Aber dann konnte ich nicht anders: ich weinte. Die Nonne legte den Arm um mich, führte mich über einen langen Gang und schob mich in den Aufzug, der sich ruckelnd und knatternd in Bewegung setzte. Ich klammerte mich verzweifelt an Schwester Leonardis fest, die Schmerzen waren unerträglich.

»Ich bin Renate Rüdiger«, brachte ich mühsam hervor.

»Alles wird gut«, prophezeite sie und strich mir tröstend übers Haar.

In der dritten Etage angekommen, öffnete sich die Aufzugtür. Wieder ein langer Gang, mit einer wieder nur spärlichen Nachtbeleuchtung. Ich sah die Hebamme herbeieilen. Ihr Blick war finster. »Verständlich«, sagte ich mir. Sie konnte und wollte meine Entscheidung, das Kind wegzugeben, nicht verstehen.

»Mit dir habe ich noch nicht gerechnet, Reni«, murrte Frau Laurier, »du bist eine Woche zu früh dran!«

Als wenn ich den Zeitpunkt der Geburt festgelegt hätte! Ich antwortete ihr nicht. Was hätte ich auch sagen sollen? Immerhin hatte sie mich Reni genannt und nicht Renate, wie in den Gesprächen, als sie versuchte mich von meiner Entscheidung abzubringen, das Kind zur Adoption freizugeben.

Wir betraten den Kreißsaal, ein großer Raum mit kahlen Wänden und einem großen Kreuz zwischen zwei Fenstern. Schräg gegenüber hing eine Uhr, einer Bahnhofsuhr nicht unähnlich, deren Zeiger 2.15 Uhr anzeigten.

»Wie lange würde es noch dauern, bis das Kind geboren würde? Ach, wäre doch schon alles vorbei«, dachte ich.

Ich bemerkte die Blicke, die Hebamme und Nonne miteinander tauschten, und meinte zu wissen, was sie dachten: Das wird ihr noch leid tun, sie wird es bitter bereuen.

Sie geleiteten mich zum Bett. Vom Gang her drang Gemurmel ins Zimmer, Schritte, die hin und her eilten. Und dann ging alles überraschend schnell. Die Presswehen setzten ein.

»Lass es kommen«, befahl die Hebamme und kurze Zeit später war das Kind geboren. Es schrie, es lebte. Ich verbarg meinen Kopf in der Armbeuge und hörte, wie das Kind fortgetragen wurde. Es war vorbei. Unendlich erschöpft lag ich da und dann kamen die Gedanken ...

Jene Zeit ist mir noch heute so stark in Erinnerung, dass es schmerzt, daran zurückzudenken. Damals, ich wohnte in Globreich, einem kleinen beschaulichen Ort am Niederrhein, ging ich wie jeden Samstagmorgen zum Markt. Es war ein heller, leuchtender Frühlingstag, voller Vogelgezwitscher. Die Sonne schien warm von einem strahlend blauen Himmel, die Luft roch frisch und klar. Ich hatte ausgesprochen gute Laune. Es kümmerte mich nicht, dass mein Mann wieder einmal unterwegs war, auf einer seiner langen Reisen. Viktor jagte als Handlungsreisender von einem Termin zum anderen. Er wünschte, dass seine Frau zu Hause bliebe, während er weg war, und ich konnte meist nur dann ausgehen, wenn er an meiner Seite war, von den seltenen Verwandtenbesuchen mal abgesehen. Ich wusste, dass er mich kontrollierten ließ, wenn er fort war. In Verdacht hatte ich dabei eine Nachbarin. Er war eifersüchtig, das war mir klar und es war schon zu einigen heftigen Szenen gekommen. Ich fühlte mich oft regelrecht gefangen in unserem Haus, das nun Viktor gehörte, da seine Mutter im Krieg umgekommen und sein Vater gefallen war. Mir war danach auszubrechen, mein Leben zu genießen, nicht mehr allein zu sein. Mein Gott, ich war gerade 23 Jahre alt geworden, sollte es bis an mein Lebensende so weitergehen?

Nach rechts und links schauend, war ich bereit zu jedem Flirt und erwiderte unbekümmert und kokett die Männerblicke. Ich wusste, dass ich gut aussah und betrachtete mich verstohlen in einer Schaufensterscheibe. Schlank, großgewachsen, dunkelhaarig. Mein lockiges, langes, etwas widerspenstiges Haar trug ich im Nacken zusammengebunden. Der grüne Pulli, den Mutter mir aus ausgeriffelter Wolle gestrickt hatte, brachte meine Figur vorteilhaft zur Geltung und mein bunt gemusterter Rock wippte lustig bei jedem Schritt. Eine Meisterleistung von Frau Weiss, die sich kürzlich als Modellschneiderin selbstständig gemacht hatte und emsig aus alten Stoffen die zauberhaftesten Kreationen fertigte. Dazu hatte sie aus demselben Stoff eine Schärpe genäht, die meine schlanke Taille vorteilhaft zur Geltung brachte.

Ich schlenderte über die Alleestraße, bog in die Schildergasse ein und nahm die Abkürzung durch den Park mit seinem uralten Baumbestand, dem Weiher mit dem Entenhaus in der Mitte und der wunderschönen Trauerweide, deren herabhängenden Zweige sanft das Wasser berührten. Dahinter lag die Burg aus dem fünfzehnten Jahrhundert mit ihren vier runden Ecktürmen. Der Weg, der sich um die Burg schlängelte, war immer ein wenig feucht und fast völlig von Grün überwuchert und mich gruselte, wenn ich dort entlang ging, über schlüpfrige, modernde Blätter und rutschige Steine. Mein Gesicht musste ich vor dem Gestrüpp schützen und in meiner Fantasie wurden die mächtigen Zweige der Bäume, die tief herabhingen, zu Armen, die mich zu greifen versuchten.

Ich verließ den Park im Norden durch den großen Torbogen aus Quaderblausteinen. Vor der alten Kirche bog ich links ab und ging ein Stück an der guterhaltenen Stadtmauer entlang, die unser Dorf umgab. Ich war stolz auf Globreich und in unserem Ort lagen zum Glück nur wenige Häuser in Schutt und Asche. Die Bauten mit den wunderschönen Stuckfassaden, aber auch die Backstein- und die vereinzelten Fachwerkhäuser waren weitgehend verschont geblieben.