Über das Buch

Merle und Moritz sind bereit für ein neues Abenteuer! Ihre unheimliche Nachtfrau Gesine Wolkenstein gibt den Geschwistern Rätsel auf. Was nur ist das Geheimnis ihres schwarzen Ladens? Wieso endet ausgerechnet dort die Murkelei, in denen die Kinder dem Waisenfuchs Silberträne und den hinterhältigen Spitzzahntrollen begegnet sind? Ist es am Ende wirklich wahr, dass dort Kinder verschwinden? Denn eines Tages ist Merles Klassenkamerad Sebastian Schneemilch wie vom Erdboden verschluckt. Niemand hat etwas gehört oder gesehen. Nur Zoe Sodenkamp weiß natürlich mal wieder Bescheid. An Sebastians Verschwinden kann nur eine schuld sein: Gesine Wolkenstein. Merle und Moritz werden die Wahrheit herausfinden!

Jutta Richter

Frau Wolle
und das Geheimnis der chinesischen Papierschirmchen

Mit Illustrationen von Günter Mattei

Für Lela, Lisa und Paula,
die keine Schnecken zertreten wollen.
Für Becca und Melli, die eine große Wut im Bauch haben.
Für Esat, Hans und Djamal, die besten Freunde der Welt.
Für Herrn Dr. Bügelsack, den Direktor der Wolkenfabrik.
Für Doro und Anne, die mich immer gefragt haben, wie es weitergeht.
Für Irmchen und alle anderen Sternköniginnen
und ganz besonders für Lili …

Hitzefrei

In diesem Jahr war der Sommer groß und unerträglich heiß. Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Der mächtige Kastanienbaum in Sebastian Schneemilchs Garten warf seine trockenen Blätter ab.

Jeden Morgen auf dem Schulweg wettete ich mit Moritz, dass es heute endlich Hitzefrei gebe.

Aber es gab kein Hitzefrei. Denn Frau Padberg sperrte den Sommer einfach aus. Er funkelte, lockte und flirrte hinter den fest geschlossenen Doppelglasfenstern unseres Klassenzimmers.

Vorne am Lehrerpult summte leise der Ventilator. Den hatte sich Frau Padberg von zu Hause mitgebracht. Wenn sie an der Tafel stand, flatterten ihre silbernen Haare im Wind, und wir alle beneideten sie um den kühlen Luftzug.

Seit gestern gab es die neue Sitzordnung. Diesmal war es Mädchen neben Junge. Wahrscheinlich, weil Zoe Sodenkamp gesagt hatte, dass sie nicht mehr neben mir sitzen wolle, wahrscheinlich, weil die Büchermauer, die Zoe auf dem Pult zwischen uns aufgebaut hatte, schon zweimal mit lautem Getöse zusammengekracht war.

Jetzt saß ich am Fenster neben Sebastian Schneemilch, und Zoe Sodenkamp saß neben Kevin Koschka, neben dem niemand sitzen wollte, weil er immer pupste und popelte.

Das hatte sie davon.

Auf dem Schulhof erzählte Zoe nämlich flüsternd die schaurigsten Geschichten. Geschichten von verschwundenen Kindern, die Gesine Wolkenstein in ihren schwarzen Laden in der Sperbergasse gelockt hätte, denn unsere Nachtfrau Gesine Wolkenstein sei mit den dunklen Mächten im Bunde und Moritz und ich wären ihre heimlichen Helfer.

Zoe erzählte von Hexerei und Verwandlungskunst, vom Weinen und Wimmern der verlorenen Kinder, das man nachts hören könne, wenn man das Ohr an die verschlossene Ladentür legte, und dass die Wolkenstein außer uns noch andere Gehilfen habe in der Zwischenwelt, in der sie eigentlich zu Hause sei.

Wenn Moritz und ich in diesem heißen Sommer in der großen Pause über den Schulhof gingen, dann tat sich jedes Mal vor uns eine Gasse auf, denn niemand wollte uns berühren. So viel hatte Zoe Sodenkamp mit ihrem Geschwätz schon erreicht. Und sie hatte noch etwas geschafft:

Von dem blassen Mädchen mit den dünnen Rattenzöpfen, das mit seiner Mutter in der kleinsten Wohnung der Welt wohnte und das keiner in seine Mannschaft wählen wollte, war sie zur ungekrönten Gruselkönigin der Schule geworden. Alle hingen an ihren Lippen, und in den Pausen drängten sich Trauben von Kindern um Zoe herum, um ja alles mitzukriegen, was sie flüsternd erzählte.

Zuerst hatte Moritz es toll gefunden, nicht mehr geschubst zu werden und die anderen mit einem einzigen finsteren Blick verjagen zu können, jetzt aber fing es an ihn zu bedrücken. Das merkte ich genau, auch wenn er nicht darüber redete. Schließlich kannte ich meinen Bruder lange genug.

Wolkenkino

Während die anderen Zoe Sodenkamp in den Pausen umringten, lagen Moritz und ich auf der Schulmauer und guckten in den Himmel. Die Wolkenfabrik, die den Strom machte, dampfte weiße Wolken ins strahlende Blau.

»Wolkenkino!«, seufzte Moritz. »Weißt du noch, Merle?«

Natürlich wusste ich noch …

Damals hatte es noch keine Nachtfrau in unserem Haus gegeben. Damals waren wir noch Vater, Mutter und zwei Kinder gewesen. Alles ganz normal. Fast ganz normal, denn ein bisschen besonders war unsere Familie schon.

Papa hatte nachts gearbeitet und Mama tagsüber.

Aber für Moritz und mich war das wunderbar gewesen, weil Papa zu Hause war, wenn wir aus der Schule kamen. Dann machte er frisch geduscht und ausgeschlafen die Tür auf und war bereit, uns die Welt zu erklären.

»Wolkenkino!«, hatte Papa an Tagen wie diesen gerufen.

»Au ja! Wolkenkino!«, hatten Moritz und ich gejubelt.

»Merle, du holst die Decke! Moritz, du bringst bitte die Saftflaschen und drei Strohhalme, aber die mit den Knickrillen! Und vergesst die Sonnenbrillen nicht!«

Papa war in der Garage verschwunden und kurze Zeit später mit dem alten Bollerwagen zurückgekommen.

»Ich zuerst!«, hatte Moritz gesagt und war in den Wagen gesprungen.

Hinter unserem Haus im Hasenweg führte ein Trampelpfad durch Viehweiden, auf denen rotbunte Kühe grasten. Die Kühe hatten große feuchte Augen, und ihr Atem roch nach Wiese und Milch. Dann machte der Weg einen Knick, und es ging bergauf, an den mannshohen Maisfeldern vorbei, an den dornigen Wallhecken entlang, in denen die kleinen Zaunkönige wohnten.

Dort hatten Moritz und ich die Plätze gewechselt.

Oben auf der Kuppe des Hügels war eine große Wiese, die schaumweiß leuchtete, weil dort Tausende kleiner, duftender Kamillenblüten standen.

»Endstation«, hatte Papa gesagt. »Endstation Wolkenkino!«

Das beste Wolkenkino konnte man an den Tagen mit strahlend blauem Himmel anschauen, denn an diesen Tagen dampfte die Wolkenfabrik, die den Strom machte, besonders viele und große schneeweiße Wolken ins strahlende Blau. Wir hatten auf der Decke gelegen, und oben zogen die Gesichter unserer Lehrer vorbei, die sich verwandelten und zu brüllenden Löwen oder mächtigen Elefanten wurden. Die Grillen zirpten uns was ins Ohr, und zu jedem Gesicht und jedem Tier, das wir sahen, hatte Papa eine Geschichte gewusst.

Moritz und ich lagen Kopf an Kopf auf der Schulmauer und starrten in den Himmel, in dem jetzt Papas Gesicht vorbeiglitt, sich verwandelte und zu einem großen Adler wurde, der sich mit mächtigen Flügelschlägen entfernte.

Mamazeit

»Ihr werdet schon sehen«, sagte Mama mittags, als wir in der Küche am großen Tisch saßen. Sie schob mir den Teller mit den Spaghetti rüber. »Ihr werdet schon sehen, nach den Sommerferien wird niemand mehr über euch reden! Dann fängt ein neues Schuljahr an, und alle sind braun gebrannt und sechs Wochen klüger geworden. Sie werden wieder mit euch reden, bestimmt! Denn ihr seid nette und liebenswerte Kinder, und jeder möchte mit euch befreundet sein! Ich weiß das!«

Moritz hing an Mamas Lippen, und ich drehte schnell eine Gabel in die Spaghetti und schob sie mir in den Mund.

»Merle, nun sag du doch auch mal was dazu!«, forderte Mama mich auf.

»Mamf muff abwafen!«, murmelte ich.

»Da hörst du es, Moritz!«, strahlte Mama. »Deine Schwester ist der gleichen Meinung! Also Kopf hoch! Willst du noch mehr Tomatensoße?«

Moritz schüttelte den Kopf, eine dicke Träne tropfte auf seine Spaghetti.

»Ich könnte ja mal mit Zoes Mutter reden …«, sagte Mama.

Moritz und ich schnappten beide nach Luft und schüttelten gleichzeitig die Köpfe.

»Bloß nicht!«, rief Moritz und fing an zu husten.

»Ganz schlechte Idee!«, sagte ich und klopfte ihm auf den Rücken.

»Aber Zoe kann doch nicht einfach solche Lügen über Frau Wolkenstein in die Welt setzen!«

»Kann sie wohl!«

»Aber jemand muss ihr doch Einhalt gebieten!«

»Aber du machst das nicht!«

Moritz’ Unterlippe fing an zu zittern.

»Halt dich einfach da raus, bitte, Mama!«, bettelte er. »Du hast doch selbst gesagt, dass es nach den Sommerferien besser wird! Und das wird es bestimmt! Außerdem habe ich gehört, dass die Sodenkamps wegziehen wollen …«

»Wer sagt das denn?«

Moritz starrte mich verwundert an.

Mama hob die Augenbrauen.

»Davon weiß ich ja nichts.«

»Du schläfst ja auch den halben Tag …«

»Weil ich die ganze Nacht arbeite!«

Mama rastete hörbar ein. Das war ihr wunder Punkt. Sie hatte vor nichts mehr Angst, als eine schlechte Mutter zu sein.

Dabei war sie keine schlechte Mutter, wirklich nicht. Sie konnte ziemlich gut trösten. Sie erlaubte uns, unsere Lieblingsfilme im Fernsehen anzuschauen. Sie konnte die längsten Wortketten bilden. Und sie hatte das schönste Mamalachen der Welt, auch wenn sie das in der letzten Zeit nicht so oft zeigte.

Zugegeben, manchmal war sie etwas schusselig. Dann vergaß sie, Mittagessen zu kochen. Oder sie vergaß, uns Kakaogeld mitzugeben, sie vergaß, wichtige Elternbriefe zu unterschreiben, und sie konnte kein Blut sehen, aber nur, wenn es unser Blut war. Deshalb hatte Papa immer die Pflaster auf unsere aufgeschlagenen Knie kleben müssen. Früher, als Papa noch bei uns war.

»Na, dann warten wir eben ab, wie sich die Sache entwickelt«, grummelte Mama. »Wenn ich euch schon nicht helfen darf, dann müsst ihr euch eben selbst helfen!«

Moritz und ich atmeten gleichzeitig auf.

»Ja!«, nickten wir. »Das ist das Beste.«

Wolkenstein

Gesine Wolkenstein war die Pünktlichkeit in Person. Beim siebten Glockenschlag der Kirchturmuhr stand sie in unserem Wohnzimmer. Jeden Abend ging das so, seit acht Wochen schon, und sie war nie auch nur eine Sekunde später da.

Gestützt auf ihren schwarzen Stock mit dem Silberknauf, schnippte sie einmal kurz mit den Fingern, und mein Bruder Moritz machte gehorsam den Fernseher aus, obwohl gerade seine Lieblingsserie »Die Salinos« lief und die Geschichte auf den Höhepunkt zusteuerte.

»Guten Abend, Kinder!«, sagte Gesine Wolkenstein.

Sie trug eine weiße Strickjacke, die so flauschig aussah, als wäre sie aus den Daunen der jungen Gänse gestrickt, die auf Bauer Petermanns Weide das Gras zupften. Ihre Augen hatten die gleiche Farbe wie ihre Hose. Ein helles, leuchtendes Maigrün. Und ihre Goldrandbrille saß auf der Nasenspitze, sodass sie über die Gläser hinwegschauen konnte.

Ich überlegte, wie viele Gänse man wohl rupfen musste, um so eine Jacke zu stricken.

Gesine Wolkenstein warf mir einen strengen Blick zu, als ob sie meine Gedanken gelesen hätte. Ich bekam ein mulmiges Gefühl.

»Nur Mut, Merle!«, sagte sie, und ihre Stimme war dunkel und drohend, und sie rollte das r so, wie es die Kanarienvögel tun, wenn sie balzen. »Du kannst mir jede Frage stellen. Tust du das nicht, dann wird dein Kopf zu voll, denn die unbeantworteten Fragen brauchen Raum. Sie könnten dein Gehirn verstopfen und dich schwermütig machen!«

Ich merkte, wie ich rot wurde.

»Ist nicht wichtig!«, murmelte ich.

»Es gibt keine unwichtigen Fragen, Merle! Aber stellen musst du sie schon.«

Frau Wolkensteins Augenfarbe hatte sich verändert. Aus dem hellen Maigrün war ein dunkles Grün geworden, und das war ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sich ärgerte.

»Ich wollte nur wissen, wie viele Gänse für die Jacke gestorben sind, die Sie tragen!«, hörte ich mich sagen.

Gesine Wolkenstein zog hörbar die Luft ein, und ihre Nasenflügel bebten. Sie warf mir einen empörten dunkelgrünen Blick zu.