Inhalt

  1. Cover
  2. Titelei
  3. Widmung
  4. Zitate
  5. Einleitung
  6. I. Zeitenwende und Untergang des Vaterlandes – Anfänge und Formen ›abendländischer Wendung‹
  7. II. Freiheit im Eigenen als ›abendländische Wendung‹ im ersten Böhlendorff-Brief und die Kolonie des Geistes in der Überarbeitung von Brod und Wein
  8. III. Transzendentaler Don-Quijotismus – Hölderlins Abkehr von der Transzendentalphilosophie
    1. 1. Urtheil und Seyn – Hölderlins Auseinandersetzung mit Fichte und Schelling – Im ›Schacht der tyrannischen Philosophie‹
    2. 2. Nach Jena – ›Höhlenausgänge‹
    3. 3. Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter
  9. IV. Christus und seine Brüder in der Endzeit von Hellas: Der Einzige
  10. V. Der Geist als Widersacher des ›absoluten Ich‹ – Patmos: Das lyrische Ich auf dem Weg in die Kolonie
  11. VI. Die Geistigkeit des Fürsten des Festes in der Friedensfeier
  12. VII. Verhüllung des Göttlichen in Versöhnender, der du nimmergeglaubt…
  13. VIII. Geist und Geschichtsprozess – ›Todeslust‹ auf dem Weg zum Tragischen
  14. IX. Die Tragödie als Untergang des Bewusstseins – Kant und Fichte vor dem Richterstuhl des Zeus
  15. X. Über-Setzen und Ver-Dichtung des Seins in der Tragödie
  16. XI. Zeit als Sein: Gegenwart in tragischer Einung
  17. XII. Das Tödlichfaktische der Hellenen und die Aufgabe der Hesperier, Geschick zu haben. Die Antigone-Anmerkungen und der zweite Böhlendorff-Brief
  18. Resümee
  19. Literaturverzeichnis

Rainer Schäfer

Aus der Erstarrung

Hellas und Hesperien im ›freien Gebrauch
des Eigenen‹ beim späten Hölderlin

Meiner





Für Irene

„›Nachahmen soll ich nicht, und dennoch nennet
Dein lautes Lob mir immer Griechenland?‹
Wenn Genius in deiner Seele brennet,
So ahm dem Griechen nach. Der Griech’ erfand.“
Friedrich Klopstock1

„Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn,
wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Eine
wohltätige Gottheit reiße den Säugling beizeiten von seiner Mutter
Brust, nähre ihn mit der Milch eines besseren Alters und lasse ihn
unter fernem griechischem Himmel zur Mündigkeit reifen. Wenn er
dann Mann geworden ist, so kehre er, eine fremde Gestalt, in sein
Jahrhundert zurück; aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu
erfreuen, sondern furchtbar wie Agamemnons Sohn, um es
zu reinigen.“
Friedrich Schiller2

„Entweder vertritt der Ethnograph die Normen seiner eigenen Gruppe, dann können ihm die anderen nur eine vorübergehende Neugier einflößen, bei der die Missbilligung niemals fehlt; oder er ist imstande, sich ihnen völlig auszuliefern, dann ist seine Objektivität beeinträchtigt […]. Wie kann der Ethnograph den Widerspruch überwinden, der sich aus den Umständen seiner Wahl ergibt? Er hat eine Gesellschaft vor Augen, die ihm immer zur Verfügung steht: seine eigene; warum beschließt er, sie zu verachten und sich anderen, weit entfernten und völlig anders gearteten Gesellschaften mit einer Geduld und einem Eifer zu widmen, die er seinen Mitbürgern versagt?“
Claude Lévi-Strauss3

„Bleib uns nur fremd, bis wir uns fremder sind.“
Ingeborg Bachmann4

„Wir aber sind
Gemeinen gleich,
Die, gleich
Edeln Gott versuchet, ein Verbot
Ist aber, deß sich rühmen. Ein Herz sieht aber
Helden. Mein ist
Die Rede vom Vaterland. Das neide
Mir keiner. Auch so machet
Das Recht des Zimmermannes
Das Kreuz.“
Friedrich Hölderlin5

Endnoten

1Friedrich Gottlieb Klopstock Ausgewählte Werke, (Hrsg.) Karl August Schleiden, Darmstadt 1969, S. 180.

2Friedrich Schiller Briefe über die ästhetische Erziehung, Nr. 9, in: ders. Sämtliche Werke, (Hrsg.) G. Fricke u. H.G. Göpfert, München 91993 Bd. V, S. 593.

3Claude Lévi-Strauss Traurige Tropen, Frankfurt a.M. 2012, S. 378.

4Ingeborg Bachmann Mirjam, in: dies. Sämtliche Gedichte, München/Zürich 1999, S. 165.

5Hölderlin wird im Folgenden nach der Großen Stuttgarter Ausgabe (= StA) zitiert: Friedrich Hölderlin Sämtliche Werke, (Hrsg.) Friedrich Beißner, VIII Bde., Stuttgart 1946 – 1985; hier StA II/1, 337.

Einleitung

Hölderlin entwirft mit der sog. „abendländischen Wendung“ und der „vaterländischen Umkehr“ – zwischen Hellas, antikem Griechenland, und Hesperien, Deutschland bzw. dem Westen in Hölderlins Zeit – eine neuartige, die Dichtungs-‍, Tragödien-‍, Geschichts- und Götterkonzeption seiner letzten bewussten Jahre (etwa 1800 – 1804/06) durchziehende metaphysische Auffassung des Verhältnisses von Antike und Moderne.1 In dieser mythologischen Hermeneutik kreuzen sich dichterisch-ästhetische, interkulturelle, theologische, geisttheoretische, historische, ethnographische und politische Motive.2 Der Grund, weshalb dieser Ansatz für einen Philosophen interessant ist, liegt einerseits darin, dass ein zentrales Problem der gegenwärtigen Semantik von Hölderlins Theorie der „abendländischen Wendung“ behandelt wird, nämlich das Verhältnis von Sinnlichkeit und Denken, das in der Sprache vor einem kulturellen Hintergrund spezifischer Lebensformen auftritt und das Verstehen von Bedeutung ermöglicht; Hölderlins Idee einer „Phänomenalisierung des Begriffs“ spielt in seiner späten konkreten Metaphysik eine entscheidende Rolle in der Vermittlung von Sinnlichkeit und Intellektualität. Andererseits ist Hölderlins „abendländische Wendung“ für einen Philosophen wegen der von ihm in dieser ästhetischen Hermeneutik herausgearbeiteten Disziplinen verbindenden, genuinen Form des Verstehens interessant, denn dieses Verstehen von Bedeutung entspringt nicht einer einzelnen Disziplin, sondern einer ihnen als Einzeldisziplinen gegenüber vorgängigen Geistigkeit. Diese Geistigkeit ist eine ursprüngliche Fähigkeit des hermeneutisch-ästhetischen und interdisziplinären Verstehens, aus dem ein in einzelne Disziplinen aufgeteiltes und spezialisiertes Verstehen allererst folgen kann. Den umfassenden Geist der Dichtung beschreibt Hölderlin in einem erst vor kürzerer Zeit aufgefundenen Brief an Johann Gottfried Ebel vom 6. Juli 1799:

„Grösstentheils schränkte sich mein Nachdenken auf das, was ich zunächst trieb, die Poësie ein, insofern sie lebendige Kunst ist und zugleich aus Genie und Erfahrung und Reflexion hervorgeht, und idealisch und systematisch und anschaulich individuell ist.“3

In früheren Deutungen der sog. „abendländischen Wendung“ des späten Hölderlin liegt der Fehler, dass diese als eine Umwendung oder Umkehr Hölderlins zum Abendland, insbesondere zu Deutschland gesehen wurde. Das zeigt sich natürlich paradigmatisch bei dem Erfinder der These, bei Wilhelm Michel. Doch dies krankt gleich an drei Fehlern: 1. war sich Hölderlin natürlich auch in der Zeit vor 1800 bewusst, dass er selbst Teil des Abendlandes ist. Man denke nur an die Scheltrede an die Deutschen im Hyperion oder seine das Vaterland verherrlichenden Gedichte. Er brauchte sich also nicht erst nach 1800 dem Abendland zuzuwenden, er war ihm immer schon zugewandt; 2. hat sich der späte Hölderlin natürlich nicht von Hellas abgewandt, er hat sich vielmehr immer intensiver, aber auch immer selbständiger und mit größerer Differenz zum „üblichen“ Klassizismus mit dem Abgründigen, Wüsten, Wilden, Zornigen, Verbrennenden und Aorgischen des Hellenischen beschäftigt. Hätte er sich vom Griechischen abgewandt, wären z. B. seine späten Übersetzungen von und die Anmerkungen zu Sophokles’ Antigone und Ödipus sowie seine Übersetzungen von Pindar nicht zu erklären. Schließlich unterschätzt die These 3. in ihrem herkömmlichen Verständnis das Anliegen des späten Hölderlin, wenn sie Abendland und „Deutschland“ miteinander identifiziert. Dass „Hesperien“ und „Abendland“ in der Gegenwart Hölderlins für ihn einen viel umfassenderen, ja globalen Sinn haben als das enge Territorium von „Deutschland“, hat die Hölderlin-Forschung der letzten Jahre immer klarer herausgearbeitet. Das abendländische Hesperien reicht bei Hölderlin bis Amerika; Hellas reicht bis an den Indus und Asien und tief in den Orient. Abendland und Hesperien bezeichnen – wie auch Hellas – vielmehr weltumfassende geistige Prinzipien. Ich deute die „abendländische Wendung“ des späten Hölderlin daher überhaupt nicht in jenen engen Kategorien, sondern so, dass es Hölderlin um eine radikal befreiende Wendung im und nicht zum Abendland ging. Das weltumspannende und dennoch zugleich an konkrete Orte und Vorkommnisse gebundene geistige Prinzip des Abendlandes sollte sich umkehren, das war Hölderlins Forderung an den Geist der Zeit. Das geistige Prinzip von Hesperien besteht in gesetzmäßigem, ordnendem Regelfolgen, um Klarheit zu generieren. Das führt aber ohne seine beiden Gegenpole, einerseits die Erkenntnis von Eingebundenheit in nicht von Menschen gemachte Ordnungen, das Schicksal, und andererseits ohne Leidenschaft/Pathos, zu Selbstüberhebung und Erstarrung in kontingenten Ordnungsgefügen. Aus der Erstarrung soll die Wendung im Abendländischen führen. Diese Befreiung im Abendland soll nun aber nicht anarchisch dazu führen, dass einfach gesetzmäßige Ordnung aufgegeben wird, denn das führt ebenso in den Untergang wie das Festhalten an der Erstarrung. Der „freie Gebrauch des Eigenen“, der eigenen Ordnungen im Rahmen eines größeren Seinszusammenhangs, ist vielmehr das Ziel der „abendländischen Wendung“.

Paradigmatisch für diesen umfassenderen Anspruch dokumentiert sich in Hölderlins Wendungen zwischen antik griechischer und neuzeitlich deutscher Kultur eine eigentümliche Form des Verstehens fremder Kulturen, die wiederum eine Grundlage für die Erklärung des Verstehens überhaupt ist. Dabei wird ein ursprüngliches Verstehen des Anderen sichtbar, das die Grundlage für spezifischere Formen der Auseinandersetzung mit Fremdem bildet. Die Dichtung hat daher einen hermeneutisch-auslegenden Charakter. Am Ende der zweiten Fassung der Ode Stimme des Volks (von 1801) wird das Hermeneutische von Hölderlins Dichtung deutlich:

        […], und wohl
Sind gut die Sagen, denn ein Gedächtniß sind
   Dem Höchsten sie, doch auch bedarf es
      Eines, die heiligen auszulegen.4

Wenn man z. B. gegenwärtige Erklärungen des Verstehens von Sprachspielen und ihrer Bedeutung, wie sie der späte Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen analysiert und wie sie Quine in Word and Object mit seiner These von der „radikalen Übersetzung“ liefert oder auch Davidsons „radikale Interpretation“ mit Hölderlins „abendländischer Wendung“ vergleicht, dann wird deutlich, dass die gegenwärtige Radikalität in der Semantik einerseits nähere Präzisierung und andererseits weitere Radikalisierung verträgt, denn Quines und Davidsons Variante setzt z. B. 1. das erkenntnistheoretische Prinzip der Induktion voraus und 2., dass man nur vor dem Hintergrund der eigenen Kultur (bzw. der eigenen natürlichen Sprache) und aus ihm heraus die fremde Kultur verstehen kann, dass man also schon über eine Sprache verfügen muss, um die fremde Sprache zu verstehen; – Quine verwendet das Modell eines Feldforschers, der Dschungeleinwohner antrifft, deren Sprache er zu übersetzen versucht, um zu erklären, wie überhaupt Sprache erlernt wird und wie die Sprache ihre Bezeichnungsfunktion erfüllen kann – und 3. setzen Quine und Davidson Sinnesreize und deren Kausalität voraus; Quine bezeichnet dies als „Reizbedeutung“, bei Davidson gibt es eine kausale Relation zwischen äußeren Sinnesreizen und der Verarbeitung durch das Gehirn; bei beiden analytischen Denkern ist dies wohl als ein unbewältigter Rest des älteren logischen Positivismus zu sehen.5 Mit Hölderlin lässt sich dieses Erklärungsmodell für die bezeichnende Funktion der Sprache präzisieren. Denn nach ihm ist es nicht einfach so, dass wir unsere eigene natürliche Sprache klar und deutlich beherrschen und dann nur eine Transferleistung zu erbringen hätten, bei der wir unsere Bezeichnungsstrukturen in der anderen Sprache wiederfinden, um zu erklären, wie überhaupt die Sprache eine bezeichnende Funktion haben kann. Um zu verstehen, wie das erlernende Verstehen unserer eigenen Sprache entsteht, genügt es nicht, nur zwei natürliche Sprachen miteinander abzugleichen. Denn das würde für das Erlernen der eigenen Sprache schon voraussetzen, dass wir über eine Sprache verfügen. Für Hölderlin geht diesem Spracherlernen vielmehr eine Lebenswelt oder Lebensform voran, ein Horizont oder Hof, in dem sich dann das erlernende Verstehen immer schon aufhält. Erst aus der Einsicht, dass im Übersetzen bestimmte Projektionen nicht funktionieren, sehen wir dann die relative Bedingtheit und Begrenztheit der eigenen Lebensform ein und können sie nun erst dank der Fremdheit verstehen.

Beim antiken Hellas ist diese Lebensform eine Konstellation aus Lebendigkeit/ursprünglichem Feuer und Ordnung; die Prävalenz liegt bei dem ursprünglichen Feuer; die Griechen bemühten sich daher wesentlich um Ordnung. Dies kann man folgendermaßen in eine gegenwärtige philosophische Argumentation übersetzen: Der Horizont des Verstehens ist nicht nur als eine kulturelle Habitualität zu verstehen, sondern ebenso als eine leibliche Disposition; daher spricht Hölderlin in diesem Kontext von der „Athletentugend“ oder auch von „Totalwahrnehmung“. Hesperien bzw. das Deutschland zu Hölderlins Zeit hat dieselben Ingredienzien, nur dass hier die Ordnung prävaliert und wir uns um das ursprüngliche Feuer/Leidenschaft/Pathos bemühen müssen. Auch dies lässt sich in gegenwärtiges Philosophieren übersetzen: Die begrifflichen Ordnungsschemata stehen in Gefahr, sich zu verselbständigen, werden sie nicht an konkrete leibliche Erfahrungen zurückgebunden, die auch vorpropositionale Aspekte haben. Das impliziert jedoch keinen Sinnesdatenfundamentalismus, weil die Grenze zwischen begrifflichen Ordnungsschemata und Sinnesdaten unscharf, teils fließend und kulturell veränderlich ist. – Den Hintergrund dieses philosophischen Problems einer Rechtfertigung des Zusammenhangs von Begriffsschema und Sinnesdaten bildet natürlich nach wie vor die These Kants von den zwei Stämmen der Erkenntnis: Sinnlichkeit und Begriff; insgesamt bewegt sich die Problematik, ob gewollt oder ungewollt, also im Fahrwasser der Erkenntnistheorie Kants; wobei Kant selbst natürlich noch einerseits zwischen Wortsprache und Begriff sowie andererseits zwischen Form der Sinnlichkeit und gegebenem Inhalt der Sinnlichkeit differenziert. –

Mit Wittgenstein lässt sich das Konzept der „radikalen Übersetzung“ von Quine, das ja erklären soll, wie die Sprache ihre Funktion der Bezeichnung von Bedeutungen erfüllen kann, kritisieren. Schon der späte Wittgenstein reflektiert die Möglichkeit, die Sprache dadurch zu erklären, dass man eine Übersetzung analysiert, und er kommt – in seinem Kontext allerdings (teilweise und nur in bestimmten Hinsichten) gegen Augustinus gerichtet – zu einem kritischen Einwand, nachdem er genau Quines Ansatz vorwegnimmt, inklusive der Unbestimmtheitsproblematik:

„Wer in ein fremdes Land kommt, wird manchmal die Sprache der Einheimischen durch hinweisende Erklärungen lernen, die sie ihm geben; und er wird die Deutung dieser Erklärungen oft raten müssen und manchmal richtig, manchmal falsch raten. Und nun können wir, glaube ich, sagen: Augustinus beschreibe das Lernen der menschlichen Sprache so, als käme das Kind in ein fremdes Land und verstehe die Sprache des Landes nicht; das heißt: so als habe es bereits eine Sprache, nur nicht diese. Oder auch: als könne das Kind schon denken, nur noch nicht sprechen. Und ›denken‹ hieße hier etwas, wie: zu sich selber reden.“6

Dieser Reflexion Wittgensteins ist zu entnehmen, dass das Erlernen von Sprache überhaupt und ihre grundlegende Funktion des Bezeichnens zu begreifen etwas grundsätzlich Anderes ist, als eine andere Sprache zu lernen. Wittgensteins Reflexion kann man auf den Punkt bringen, dass die Erklärung von Augustinus (und in gewissem Sinne damit auch die von Quine) einen Zirkel begeht, denn sie setzt Sprache voraus, um Sprache zu erklären. Man kann auch die Frage aufwerfen, woher ich als spracherlernender Feldforscher überhaupt weiß, dass ich zu einem anderen Stamm, einer anderen Sprachgemeinschaft bzw. zu einer anderen Kultur komme, die spricht? Dann muss ich ja schon über Wissen von Sprache, Stamm oder Kultur verfügen. Es ist nicht so, dass Wittgenstein generell Augustins Verständnis der Sprache als einer Be-deutung von Gegenständen durch Worte sowie das Übersetzungsparadigma zurückweist, er sagt einschränkend, dass diese Bilder nur eine sehr primitive Form der Sprache, sehr rudimentäre Aspekte der Sprache beschreiben und somit nicht jeder Form der Sprache gerecht werden. Wohl mögen jene Modelle ausreichen, um einige rudimentäre Sprachaspekte zu beschreiben, wie z. B. Kinder einiges in ihrer Muttersprache durch Abrichtung erlernen; im Anschluss daran entwickelt Wittgenstein bekanntlich seinen eigenen Begriff des Sprachspiels, mit dem er uns vor genau solchen Übergeneralisierungen warnen möchte.7 Die tiefere Einsicht Wittgensteins besteht jedoch in der Erkenntnis der natürlichen Begrenzung der Grammatik:8 Sofern Sprache letztlich auf Konvention beruht – also darauf, einer Regel zu folgen – und Konvention wiederum auf Lebensformen, hat die Sprache hier ihren festen alltäglichen Grund, denn die konkrete Lebensform ist ein natürliches Ende dafür, wie Sprache gerechtfertigt sein kann.9 Berühmt ist Wittgensteins „Spaten-Metapher“:

„›Wie kann ich einer Regel folgen?‹ – wenn das nicht eine Frage nach den Ursachen ist, so ist es eine nach der Rechtfertigung dafür, dass ich so handle. Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: ›So handle ich eben‹.“10

Ab einem bestimmten Punkt beruht also unser sprachliches Verstehen auf einem blinden, robusten, naturwüchsigen Regelfolgen, das mit einem setzenden Verweis auf die Praxis endet bzw. sich wieder in höhere Schichten des Erdreichs zurückgräbt. Wittgenstein sagt nicht, dass das immer so ist oder es hier gar eine semantische Notwendigkeit gibt; er beschreibt nur, dass er in solchen Fällen „geneigt“ ist, mit jener Strategie einer einfachen Bekräftigung zu reagieren.

In diesem Zitat wird auch deutlich, dass Wittgenstein zwischen Ursache und Rechtfertigung sehr genau differenziert. Ihm stellt sich mit dem rechtfertigenden Grund sprachlichen Verstehens ein begriffliches Problem, kein kausales; wenn er nach dem Grund des Regelfolgens fragt, fragt er nach der Berechtigung, dies zu tun, nicht nach physiologischen, entwicklungspsychologischen, genetischen, neuronalen oder biologischen Ursachen; es geht ihm um ein Begriffsproblem. Die großartige Einsicht Wittgensteins besteht darin, dass er verdeutlicht hat, dass Rationalität und Gewissheit darin bestehen können, einer Regel zu folgen, dass man aber nicht hinter dem Regelfolgen wiederum nach höher zu verortenden Regeln und Interpretationen suchen darf, die erklären oder rechtfertigen, wie man Regeln folgen kann, weil man sich damit in einen Zirkel verfängt. Die Fähigkeit, einer Regel zu folgen, also letztlich das komplexe Problem der Bildung von Konvention, ist der Rationalität nicht äußerlich, sondern macht sie aus; zwar ist die Rationalität umlagert von harten Felsen, hinter die sie nicht zurückfragen kann, aber diese robuste Einbettung hindert nicht, dass sie sich nur selbst begründen kann, nämlich als das nach Gründen Fragende. Man darf es sich hier also nicht zu einfach machen und die Konventionsbildung als einen einfachen Nominalismus abtun oder sie in diese Schublade einordnen, denn das übersieht einerseits die Rationalitäts- und andererseits die Lebensweltaspekte der Konventionalität. Man darf aber andererseits auch nicht Regelfolgen und Rationalität miteinander identifizieren, denn manchmal ist es rational, einer Regel nicht zu folgen, neue zu (er)‌finden oder eine Re-volution zu vollziehen. Jedenfalls geht schon Hölderlin dieser Verankerung von Regeln im Leben nach. Die „abendländische Wendung“ ist eben Revolution in genau dem Sinne, dass z. B. die Hesperier, die modernen Deutschen in Hölderlins Zeit, sich dem Regelfolgen zu sehr verschrieben haben und sich dem Ausgleich einer Umkehr zu mehr Leidenschaft, Feuer oder, wie Hölderlin auch sagt, „Geschick zu haben“ zuwenden sollten, weil in der Moderne die Regel allbeherrschend geworden ist.11

Die von mir vertretene These besagt, dass Hölderlin mit seiner Analyse der geistig-leiblich-ästhetischen Haltung von Hellas und Hesperien in seiner „Theorie“ der „abendländischen Wendung“ mit dem antiken Griechentum und dem gegenwärtigen Deutschland genau solche Lebensformen analysiert, um spezifisches Sprachverhalten und -verstehen zu erklären und damit Wirklichkeitserfahrungen aus ihrem jeweiligen ästhetischen Horizont heraus zu begreifen. Dabei ist es für Hölderlin wesentlich, dass man sich nicht an den rudimentären Spracherscheinungen bei einem Kleinkind orientieren sollte, sondern an den höchsten, komplexen literarischen „Sprachspielen“, genauer: dort, wo im Drama oder im Gedicht die lebensweltlich-existentielle Szene ihren Höhepunkt erreicht. – Analog wie man sicherlich die Prinzipien der Fortbewegung auch an einem Floß oder an einer Rakete studieren kann, so zeigt die Rakete doch Möglichkeiten auf, die beim Floß verborgen bleiben. –

Hier kann auf den philosophischen Begriff des „Szenischen“ verwiesen werden, wie ihn Wolfram Hogrebe entwickelt hat. Danach ist die Szene eine existentielle Eröffnung für spezifischere Deutungen eines Auf- oder Abtritts einer Person. Die Szene ist analog zu einer Variablen, die sich in der Lebenswelt unmittelbar und als eine anfängliche Situation als die Grundlage einer deutenden Praxis zeigt.12 Hellas und Hesperien sind bei Hölderlin Lebensformen, in denen Sprachspiele allererst verständlich werden; diese können nicht bloß in einer prosaischen oder einer kalkulierend-rechnerischen Übertragung von einer Sprache in die andere übersetzt werden, das ist zwar auch für Hölderlin ein wichtiger Aspekt („das kalkulable Gesetz“), aber dieser löst nicht das ganze Problem sprachlichen Verstehens und seiner Wurzeln, sondern hier, an dieser Schnittstelle zweier szenischer Lebensformen, wo das Geben und Nehmen der Gründe und der Rechtfertigungen an ein Ende gelangt, hat die Dichtung ihre vermittelnde, spezifische, spracherweiternde Rolle. Die szenische Einbettung des Verstehens wird bei Hölderlin besonders im Phänomen des Tragischen deutlich. Der tragische Held erkennt mit gewollter, ungewollter oder halbgewollter Verspätung seinen Fehler und wird dadurch auf sein Sein, seine fragile leibliche Existenz in der Zeit und die Präsenz des Todes zurückgeworfen. Gegenwärtig wird oft behauptet, wir lebten in einer Zeit, die mit der Kategorie des Tragischen nichts mehr anzufangen weiß; doch dies scheint mir unplausibel und nur ein Fehler der richtigen Übersetzung dieses Phänomens in unsere Zeit. Das zeigten schon die Studien zur Tragödie von Szondi und Botho Strauß’ Anschwellender Bocksgesang. Hölderlins Gedanken des Tragischen präzisierend und in die Gegenwart übersetzend kann man sagen, dass gerade im Tragischen das begriffliche Verstehen, seine Einbettung in eine leiblich sinnliche Gegebenheit, die Zeit und unser Sein zum Tode paradigmatisch erlebt werden. Das Tragische ist das paradigmatische Erleben der ganzheitlichen Struktur des Menschen aus Sinnlichkeit, Freiheit, Zeitlichkeit, Tod, Todesbewusstsein und dem Versuch, dies begrifflich zu erfassen, d. h. eine bestimmte Kultur auszubilden. Daraus folgt natürlich nicht, dass alles im menschlichen Dasein tragisch ist, damit hätte man sicherlich zu viel bewiesen; aber das Tragische ist durchaus ein paradigmatisches Moment, in dem die Ganzheit menschlicher Existenz aufscheint.

Die Verdrängungsmechanismen und Techniken, das Tragische auszublenden, sind dabei selbst Teil des tragischen Geschehens, weil sie dazu dienen, die wesentliche Erkenntnis des Zusammenhangs von Sein, Zeit, Leib und Tod im rechten Zeitpunkt auszublenden. Diese Nichterkenntnis des Wesentlichen zum rechten Zeitpunkt war schon von alters her integraler Bestandteil des Tragischen und des schuldhaft-schuldlosen Verstrickungszusammenhangs. Die Oberflächlichkeit gegenwärtiger Medien und Medieninhalte sowie die Technik als selbst mechanisch-tote Todesverdrängung dienen z. B. der Wissensvermeidung bezüglich der tragischen Dialektik des menschlichen Leibes, der insofern dialektisch ist, als er einerseits unser Leben ermöglicht und uns ebenso sterben lässt. Das Tragische besteht darin, dass Leben und Sterben durch genau dasselbe vollzogen werden, zwei Seiten unserer Leiblichkeit sind. Wenn Hölderlin davon spricht, dass wir bzw. der Held im Tragischen dem Göttlichen zu nahe kommt, dann ist damit diese Einsicht in die Wechselseitigkeit von Leben und Tod sowie von Sinnlichkeit und Intelligibilität gemeint.

Wie zu untersuchen sein wird, identifiziert Hölderlin Zeus im Moment des Tragischen mit der Zeit: Das was uns Bewusstsein und Leben schenkt, nimmt es auch, die zeitlich-leibliche Existenz. Hamlets tragische Frage nach „Sein oder Nichtsein“ vereinheitlicht Leben und Tod ebenso wie schon Heraklits Deutung der Dialektik des Dionysischen als unbewusste Einheit von Tod und Leben. Indem Heraklit die Lebensform der religiösen Praxis der Anhänger des Dionysos als Schauplatz für die Widerspruchseinheit von Leben und Tod reflektiert, zeigt er, dass schon am vorsokratischen Anfang des Abendlandes die Einheit von Sinnlichkeitserlebnis, Begriffsschema, Vorlauf in den Tod und Kulturpraxis steht.13

Die Lösung des Problems sprachlichen Verstehens bei Wittgenstein ist natürlich bahnbrechend und Maßstäbe setzend. Seine Antwort auf die Frage nach der Übersetzbarkeit von einer Sprache in die andere besagt, dass es eben die „gemeinsame menschliche Handlungsweise“14 ist, welche die Deutung der fremden Sprache in der eigenen Sprache ermöglicht; und die Gemeinsamkeit besteht wiederum in „Gepflogenheiten“, „Gebräuchen“ und „Institutionen“. „Eine Sprache verstehen, heißt eine Technik beherrschen.“15 An dieser Stelle verschmilzt bei Wittgenstein – ähnlich wie später bei Quine – die Frage nach der Übersetzbarkeit von einer Sprache in die andere mit der Frage nach dem Bezeichnen und der Entstehung einer Sprache überhaupt. Denn auch Wittgensteins Antwort auf die Frage, wie eine Sprache überhaupt die Funktion des Bezeichnens erfüllen kann, besteht darin, dass sie eine Technik, ein institutionalisierbarer und durch Abrichtung erlernter Gebrauch von Worten ist, der in Lebensformen verwurzelt ist, die beherrscht sein wollen. Das macht allerdings das Verstehen einer Sprache nicht nur zu einer bloß technischen Angelegenheit, denn Wittgenstein betont, dass das Verstehen in der Beherrschung einer Technik besteht, also darin, souverän und frei mit Sprachspielen umgehen zu können. Dieses Erlernen von Freiheit und Souveränität im Umgang mit Ausdruckstechniken thematisiert Hölderlin. Die Verwurzelung von Sprachspielen in Lebensformen kann man mit Hölderlins „Theorie“ der „abendländischen Wendung“ – manchmal gibt es hier auch Nähen zu dem von Hölderlin als „vaterländische Umkehr“ bezeichneten Prozess – näher untersuchen, denn sie erhellt den Übergang von der Lebensform zur sprachlichen Darstellung.16 Mit Hölderlin lässt sich gegen ein technizistisches Verständnis von Sprache zeigen, dass Sprache wesentlich gar keine Technik ist und sich nicht instrumentell begreifen lässt. Natürlich hat auch schon der späte Heidegger gegen die aufkommende sprachanalytische Philosophie betont, dass ein technisch-instrumentelles Sprachverständnis zu kurz greift. Das zeigt sich, wenn die Untersuchung der Sprache nicht bei dem Bezeichnen von Bauklötzen, sondern bei der Deutung von Dichtung ansetzt. Das scheinbar Technisch-Semantische der Sprache, wenn sie Bauklötze bezeichnet, und die hervorgebrachte dichterische Wirklichkeit des Gedichts bilden zwei Extreme der Sprache, und es ist gerade die höchste Erscheinungsform der Sprache in der Dichtung, in der das Wesen der Sprache sichtbar wird, am unteren Ende ist es nur verschleiert präsent.

Im zweiten Teil der Philosophischen Untersuchungen wird Wittgensteins Verknüpfung der Themen (1.) Fremd‍(sprachen)‌verstehen, (2.) Erlernen der eigenen Sprache und (3.) Anlangen auf dem Grund der Praxis besonders deutlich:

„Wir sagen auch von einem Menschen, er sei uns durchsichtig. Aber es ist für diese Betrachtung wichtig, dass ein Mensch für einen anderen ein völliges Rätsel sein kann. Das erfährt man, wenn man in ein fremdes Land mit gänzlich fremden Traditionen kommt; und zwar auch dann, wenn man die Sprache des Landes beherrscht. Man versteht die Menschen nicht. (Und nicht darum, weil man nicht weiß, was sie zu sich selber sprechen.) Wir können uns nicht in sie finden.“ Und kurz darauf folgt die konsequente Applikation auf das Mensch-Tier-Verstehen: „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.“17

Wittgenstein plädiert hier natürlich nicht – auch wenn es oberflächlich so klingen mag – für ein Privatverstehen, wenn er sagt, dass „ein Mensch für einen anderen ein völliges Rätsel sein kann“18 oder dass wir Löwen einfach nicht verstehen. Doch wie können sich dann trotzdem Menschen mit unterschiedlichen Lebensformen miteinander verständigen? Wieder durch Abrichtung? Und wie funktioniert dies bei Lebensformen, die sich aufgrund ihrer Lokalisierung in unterschiedlichen historischen Epochen gar nicht begegnen können? Wie ist historisches Verstehen möglich? Wer richtet dort wen ab? Der Frühere den Späteren oder umgekehrt? Welche Rolle spielt beim sprachlichen Verstehen die Freiheit? Wie kann es Toleranz zwischen verschiedenen Lebensformen geben, wenn sie letztlich bloß auf ein blindes Regelfolgen hinausliefen? Hölderlin gibt auf derartige Fragen mit seiner These von der „abendländischen Wendung“ implizit Antworten, die ich im Folgenden explizit machen möchte. Auch für Hölderlin sind Lebensformen ein Letztes, ein Boden, an dem sich der Spaten zurückbiegt, d. h. ein Gegebenes, das sich nicht mehr begründen lässt, aber es muss nicht unerschlossen bleiben, es kann (z. B.) im Verstehen von Dichtung zumindest miterschlossen werden. Hölderlins „Übersetzung“ ist in dem Sinne radikalisiert, als selbst die Lebensformen – z. B. die von Hellas und Hesperien – ineinander übersetzbar sind; das zeigt sich besonders an seinen Übersetzungen von Pindar und Sophokles. Dazu ist aber nicht mehr die ordinary language fähig, die nur simpelste Referenzen auf Bauklötze vor Augen hat, sondern die Sprache muss sich ins Gedicht transformieren, um allererst im ästhetischen Rahmen ihre wahre Geistigkeit entfalten zu können, die ein zeichenhaftes Deuten – keine projizierende Vereinnahmung – des Anderen ist. Das wird deutlich, wenn Hölderlin in der Friedensfeier (Herbst 1802) dichtet:

    Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.
Und das Zeitbild, das der große Geist entfaltet,
Ein Zeichen liegts vor uns, daß zwischen ihm und andern
Ein Bündniß zwischen ihm und anderen Mächten ist.19

Man darf auch nicht einfach, wie Quine, das erkenntnistheoretische Prinzip der Induktion voraussetzen, um das Erlernen von Sprache zu verstehen.20 Vielmehr ist es nach Hölderlin ein Kennzeichen der uns zunächst und zumeist zu eigenen natürlichen Sprache, dass wir ihre Regeln so sehr durch Abrichtung und Regelfolgen habitualisiert und internalisiert haben, dass wir paradoxerweise unserem eigenen kulturellen und sprachlichen Horizont entfremdet sind, ihn selbst also allererst erlernen müssen. Induktionsschlüsse anzustellen ist auch eine Lebensform unseres natürlichen Bewusstseins, die souverän und in Freiheit beherrscht werden muss, um uns tatsächlich Informationsgewinn einbringen zu können. Insofern kann Induktion als eine Technik, die beherrscht werden will und durch souveräne Ausübung in einen unbewussten Hintergrund tritt, beschrieben werden. Wenn man dann induktive Sprachspiele souverän beherrscht, ist es eben nicht mehr nötig, sich jeweils klar zu machen, dass man gerade einen Induktionsschluss anstellt und dass dieser epistemische Unsicherheiten enthält. Müsste man sich das jeweils beim Ziehen eines Induktionsschlusses klar machen, verlöre man die Sache, um die es gerade geht, aus dem Blick. Macht man sich die Kontingenz des Induktionsverfahrens, nachdem man es erlernt hat, nicht deutlich, kann eine problematische Übergeneralisierung eben schnell passieren, die sich z. B. in der simplen unbegründeten Voraussetzung zeigt, dass man Sprache durch Induktion erlernt. Das Induktionsverfahren ist einem dann eben zu selbstverständlich, als dass man seine begrenzten und arbiträren Aspekte sähe.

Das Erlernen des Eigenen, das eigentlich schon ein zweites Erlernen der natürlichen Sprache ist, wird erst über die Einsicht in die andere natürliche Sprache möglich. – Hierin ist auch eine Parallele zwischen Hölderlin und Wittgenstein zu erblicken: Ist für Wittgenstein das genaue Hinsehen auf die Grammatik der Sprachspiele eine Therapie gegen eine fehlgeleitete Philosophie, so will Hölderlin analog mit seiner Dichtung eine Kritik an der Seinsvergessenheit der seine Zeit beherrschenden Ich-Philosophie Kants, Reinholds, Schillers und besonders Fichtes erreichen. Auch für Hölderlin erscheint die eigene Gegenwart therapiebedürftig, bedürftig einer Therapie gegen den sog. „subjektiven Idealismus“, gegen eine das menschliche Ego geradezu vergöttlichende und das Ich überhebende Philosophie und gegen eine solipsistische Geisteshaltung, die in der Demut lehrenden Tragödie besteht. Hölderlin hat mit der tragischen Begegnung von Gott und Mensch, in der das endliche menschliche Bewusstsein zerstört wird, natürlich einen Extremfall eines alter ego, ein nicht-menschliches Andres vor Augen. Die Enge des Bewusstseinszimmers und die Fensterlosigkeit der Monade werden durch die Wucht der göttlichen Zerrüttung in der Tragödie als fehlgeleitete epistemologische Konstruktionen aufgebrochen. – Das bedeutet nicht, dass Hölderlin Selbstbewusstsein generell verwirft, er stellt ja gerade dar, wie menschliches Selbstbewusstsein sich angesichts der Zerrüttung durch die Begegnung mit dem Göttlichen zu retten versucht. – Dieses durch Technik nicht beherrschbare tragische Geschick lehrt eine Demut und Freiheit, die uns Heutigen zwar essentiell abgeht, die wir aber durch immer neue Ausblendungstechniken und mit immer lauterem Eigendünkel übertönen. Tatsächlich sind gegenwärtig vielfach Bekenntnisse zur Größe einer anderen Kultur zu bloßen Versuchen herabgekommen, sich nicht wirklich mit ihr beschäftigen zu müssen. Mittels einer oberflächlichen Toleranz werden die bei intensiver Beschäftigung mit einer anderen Kultur fälligen Kritikpunkte gar nicht erst erreicht. Bei Hölderlin führt die Intensität seiner Beschäftigung mit den Griechen dazu, dass er von einer überwältigenden Trauer befallen wird, dass es diese Welt nicht mehr gibt und auch nicht mehr geben kann, es also eine kitschige Wirklichkeitsflucht bildet, wollte man die antiken Götter auferstehen lassen. Dabei übersieht Hölderlin aber auch nicht jene Aspekte, die notwendigerweise zum Untergang der antiken griechischen Kulturwelt geführt haben, die Schwäche der Griechen wird nicht ausgeblendet, auch von ihr will Hölderlin lernen. Gleichzeitig strebt Hölderlin eine Transformation griechischer Lebensform in seine gegenwärtige an.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Wittgenstein und Hölderlin ist nicht zu übersehen, die Rolle der Ontologie: Schaltet der späte Wittgenstein die Seinsfrage aus, so wendet sich Hölderlin mit dem Sein, mit einem spezifischen Erleben der Zeit und der Begrenzung menschlicher Subjektivität in der Zerstörung durch Göttliches, das dem Selbstbewusstsein Grenzen aufzeigt, der Ontologie zu. Dies ist eine Ontologie, die sich gegen die idealistischen Ich-Überschätzungen wendet und dagegen, das Ich zum Prinzip zu erheben.21 Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass nach Wittgenstein die Lebensform als Grund der Sprachspiele vorgegeben ist, dagegen ist bei Hölderlin auch die Lebensform ein Resultat von Lernprozessen. Lernen ist die Lebensform des Geistes und in dieser Lebensform, sofern sie sich mit anderen Lebensformen koordiniert, findet eine höhere Form der Freiheit statt, nämlich die anderes anerkennende Akzeptanz, dass der Geist mannigfaltige Erscheinungsformen hat, die über die bloße Notdurft, das für das Überleben Notwendige souverän hinausgehen. –

Man kann mit Hölderlin ein zweifaches Erlernen der Sprache differenzieren: zunächst ein ungeistiges, abgerichtetes Regelfolgen und dann ein geistiges Erlernen mit und in dem Kontrast zu einer anderen natürlichen Sprache bzw. kulturellen Lebensform. Die anfängliche Entfremdung gegenüber der eigenen Kultur wird also durch eine zweite Ent-Fremdung (im wahrsten Wortsinne) überwunden. Es wird deutlich, dass auch epistemische Methoden wie z. B. die Induktion oder die Transferleistung der Übersetzung u. ä. mittels einer bestimmten Grammatik bereits einer kulturellen Prägung entspringen, die wiederum – wie Hölderlin betont – einer grundsätzlicheren Seinsdisposition des Verstehenden entspringt.

Hölderlin verdeutlicht eine existentielle und ästhetische Dimension von Tod, Zeit, Ordnung, Lebendigkeit, Tragischem, Natur und leiblichem Dasein, die in den beiden Kulturen Hellas und Hesperien gleichermaßen als Horizont gemeinsam da ist und vor deren Hintergrund als Lebensform allererst ein übersetzendes Verstehen der je eigenen und je anderen Kultur/Lebensform möglich wird. Hierin erblicke ich den zuvor genannten dritten Aspekt, der in Quines Theorie des sprachlichen Bezeichnens wesentlich ist, die „Reizbedeutung“ bzw. die Ebene konkreter Sinnlichkeit. Mit Hölderlin lässt sich das dahin gehend präzisieren, dass die existentielle Dimension z. B. des tragischen Todes eine solche Leiblichkeit und Sinnlichkeit erlebbar macht, vor der als gemeinsamem Hintergrund die kulturellen Bedeutungen allererst ausdifferenziert werden können. Hölderlin spricht in diesem Kontext vom „Athletischen des südlichen Menschen“, dem „heroischen Körper“, der „Athletentugend“ und der „Phänomenalisierung der Begriffe“.22 Hölderlin würde also Quine dahin gehend weiterführen, dass das wahre Verständnis des Eigenen allererst durch das Verstehen des Anderen ermöglicht wird; ohne Fremdverstehen bleibt man sich selbst fremd. Zugleich steckt darin eine ontologische Dimension, auf die Hölderlin aufmerksam macht; wenn man seinen Gedanken hier der theologischen Spekulationen entkleidet, bleibt der semantisch bedeutsame argumentative Kern übrig, dass alle grammatische Konstruktion von Wirklichkeit letztlich auf eine sinnliche Gegebenheit auch des eigenen Leibes verwiesen ist, die als Lebensform da ist, eine Seinsfügung. Hölderlin bezeichnet diese Ebene einer Vorgabe von Sein auch als eine „Totalwahrnehmung“ oder als „intellektuelle Anschauung“, der gegenüber sprachliche Urteilung und Differenzierung abkünftig ist, mit dem Wort von Hogrebe: eine „riskante Lebensnähe“.23

Die vorliegende Studie, die immer wieder Hölderlins Konzept der „abendländischen Wendung“ mit neueren Ansätzen der Sprachanalyse, Semantik und Hermeneutik vergleicht, fällt selbst in eine historische Wendezeit. D. h., Hölderlins abendländische Wende wird selbst aus dem Kontext einer geschichtlichen Wende gesehen; in philosophiegeschichtlicher Perspektive aus dem engeren Kontext des linguistic turn oder in größerer historischer Dimension im Kontext der Globalisierung. Innerhalb der Globalisierungen gibt es natürlich auch spezifischere kulturelle Wendungen, z. B. vom „alten Europa“ zur „Neuen Welt“.24 Hölderlins Wende von Hellas zu Hesperien wird also vor dem gegenwärtigen Wendungskontext der Globalisierung gesehen. Man kann selbstverständlich auch eine Art „abendländischer Wendung“ in europäisch-chinesischen Beeinflussungen sehen; wenn z. B. in China Karl Marx ein Denker von staatstragender Bedeutung ist.25 Allerdings darf der Begriff der „abendländischen“ oder der „vaterländischen Wendung“ natürlich auch nicht unzulässig verallgemeinert und damit inhaltsleer werden; sonst könnte man in die Gefahr geraten, mit Husserls Gedanken aus der Krisisschrift, die „Europäisierung der Menschheit“ als sich allein schon durch Verwissenschaftlichung erfüllendes Projekt zu sehen. Daher soll der Begriff im Folgenden nicht generell jede nationale und internationale Beeinflussung bezeichnen, und obgleich viele der spezifischen Einsichten Hölderlins gerade im Kontext gegenwärtiger Globalisierung gültig sind, soll er doch vor allem eine moderne europäische Beeinflussung bezeichnen.26 Deren philosophische Reflexion in dieser Studie fällt eben auch in eine geschichtliche Wendezeit im Sinne Hölderlins. Er brachte damit offenbar nicht nur einen spezifisch für seine eigene Dichtung und sein eigenes Denken wichtigen Zusammenhang auf den Begriff, sondern erschließt zugleich ein politisch-pädagogisch-philosophisch-hermeneutisch-ästhetisches Phänomen von generellem Rang. Die Reflexion auf diesen Kontext stellt also eine Art mentalitätsgeschichtlicher Selbstanwendung der These Hölderlins dar, nämlich der These, dass sich Lebensformen in ihrer Eigenheit nur dann frei verstehen können, wenn sie sich selbst aus dem Fremden heraus allererst ein zweites Mal selbst erkennen und dann, bereichert um das Andere, sich selbst neu erfinden und ihre eigentlichen Bedürfnisse sowie die Dürftigkeit der eigenen Zeit frei erkennen können. Das bedeutet, die europäische Traditionslinie kann sich selbst erst dann frei erkennen, wenn sie sich aus der andersartigen Lebensform reflektiert. Dabei besteht eine Parallele zu Hölderlin darin, dass sich analog zur Entwicklung von Hesperien aus Hellas Amerika aus dem „alten Europa“ entwickelt und vorhandene Traditionslinien solcherart radikalisiert hat, dass sie zu etwas Anderem geworden sind. Eine ganz ähnliche Entwicklung kann derzeit im Verhältnis von Amerika und China gesehen werden, denn der dort propagierte „Chinesische Traum“ ist sicherlich durch den „Amerikanischen Traum“ inspiriert und muss sich in der Dialektik zwischen liberaler Ökonomieauffassung und „Sozialismus mit chinesischem Charakter“ zurechtfinden, droht sich aber in der Fremde (von amerikanischem Kapitalismus und europäischem Kommunismus) zu verlieren, wenn er nicht wirklich frei zu einem Eigenen findet.

Endnoten

1Gegen die Deutungen von Wilhelm Michel Hölderlins abendländische Wendung, Jena 1923, der Hölderlin gar zum „deutschen Führer“ (S. 18) machte, wendet sich zu Recht Wolfgang Janke Archaischer Gesang. Pindar – Hölderlin – Rilke. Werke und Wahrheit, Würzburg 2005, S. 135 ff. Michel deutet, Hölderlin habe sich mit der abendländischen Wendung vom klassischen Ideal der antiken Griechen dem Christentum und besonders einem nationalistischen Deutschtum und von einem „schwärmerischen Pantheismus“ einem abendländisch-christlichen Weltbild zugewandt. Dagegen betont Janke (a.a.O., S. 137): „Das Orientalisch-Griechische und das Hesperisch-Vaterländische stehen einander gar nicht kontradiktorisch feindlich gegenüber, so dass der Aufgang des einen der Untergang des anderen wäre. Ihr Sprachgeist wandert und bewegt sich vielmehr vom Eigenen ins Fremde, um aus der Distanz des Fremden das übermächtige Eigene frei gebrauchen und ‚schicklich‘ gestalten zu können.“ Einen – freilich nicht mehr national chauvinistischen – Nachklang der Deutung von Michel findet man noch in Stephan Wackwitz Friedrich Hölderlin, Stuttgart 1997, S. 137, 143, der betont, mit der vaterländischen Umkehr sei bei Hölderlin eine Abkehr von der Antike und eine Hinwendung zum Abendländischen verbunden; gleichwohl sieht auch Wackwitz, dass z. B. für die späten Hymnen Hölderlins Pindar ein wichtiges Vorbild bleibt; dass dies nicht recht zusammengeht, wird von ihm aber nicht näher reflektiert. Die erste Kritik an Michels Deutung findet sich in Walter Hof Zur Frage einer späten ›Wendung‹ oder ›Umkehr‹ Hölderlins, in: Hölderlin-Jahrbuch 11 (1958 – 1960), S. 120 – 159. Zu Recht verweist Hof darauf, dass sich schon in früheren Entwicklungsphasen von Hölderlins Dichtungs-Denken Ansätze zu den späteren Gedankengängen finden und man daher eigentlich weniger von einer Wendung oder Umkehr als von einer Vertiefung sprechen sollte. Gleichwohl ist die „vaterländische Sangart“ des späten Hölderlin mit einer Zuwendung zu im Abendland beheimateten Themenkreisen verbunden. Ich denke, dass man „abendländische Wendung“, „vaterländische Umkehr“ und „vaterländische Sangart“ in Hölderlins Spätwerk deutlich unterscheiden sollte. Die abendländische Wendung findet sich als Terminus so nicht bei Hölderlin, beschreibt jedoch sehr gut, dass er sich in dieser Schaffensphase (1800 – 1804/06) einerseits ein neuartiges Bild der Antike erarbeitet – er kehrt sich also nicht von der Antike ab, sondern vertieft seine Deutung – und dass er andererseits seine Gegenwart, die ihn umgebende Natur sowie die Mythologie Hesperiens (bes. Deutschlands) neuartig reflektiert. Beides setzt er in ein spezifisches Verhältnis, welches die abendländische Wendung von Hellas zu Hesperien ausmacht und ein sowohl geschichtliches als auch metaphysisches Gesamtgeschehen bildet. „Vaterländische Umkehr“, manchmal auch „vaterländische Revolution“, bezeichnet dagegen einen geschichtlichen Veränderungsprozess, der innerhalb ein und derselben Nation geschieht, z. B. durch kulturelle oder politische Umwälzungen. Die „vaterländische Sangart“ ist eine neuartige, von Hölderlin in seinen späten Werken geschaffene Form der Dichtung, die die abendländische Wendung im Gedicht verarbeitet. Lawrance Ryan „Vaterländisch und natürlich, eigentlich originell“: Hölderlins Briefe an Böhlendorff, in: Hölderlin-Jahrbuch 34 (2004 – 2005), S. 246 – 276, betont die Kontinuität von Hölderlins Konzeption eines spezifischen Verhältnisses von Griechenland und Deutschland von der frühen Schaffensperiode über den Hyperion bis hin zu den späten Vaterländischen Gesängen, den späteren Briefen sowie den Anmerkungen zum Ödipus und denen zur Antigone. Die späten Böhlendorff Briefe bringen somit nur eine grundsätzliche Vertiefung der geschichts-philosophischen Gedanken Hölderlins auf den Begriff. Die Kontinuität zu betonen ist sicherlich korrekt, aber wesentliche Unterschiede und eine grundsätzlich neuartige, freiere Auffassung des Hesperischen beim späten Hölderlin dürfen deswegen nicht nivelliert werden. Dass Christus eine wichtigere Rolle spielt, die Göttin Germania eine metaphysische, friedenstiftende und allseits beratende Rolle bekommt, Rousseau ein Halbgott ist, der Rhein zum metaphysischen Fluss wird, eine Vereinigung von Göttlichem und Menschlichem im Zorn geschehen kann, die Transzendentalphilosophie mit ihrem spezifischen Apriorismus kritischer, ablehnender gesehen wird, die Metaphysik äußerst konkret und prägnant wird, sind sicherlich neuartige Aspekte in Hölderlins spätem Denken und Dichten – die natürlich auch Ryan sieht –. Diese neuartigen Aspekte in der Bestimmung von Hesperien bzw. Hölderlins gegenwärtigem Deutschland verändern auch seine Sicht auf die Griechen und damit natürlich auch den Zusammenhang von Hellas und Hesperien.

2Schon Jochen Schmidt Hölderlins geschichts-philosophische Hymnen „Friedensfeier“ „Der Einzige“ „Patmos“, Darmstadt 1990, S. 281 ff., deutet, dass Hölderlins Dichtung eine ästhetische Hermeneutik ist. Zum zeitgeschichtlichen Kontext der Interdisziplinarität vgl. Jürgen Stolzenberg Subjektivität und Leben. Zum Verhältnis von Philosophie, Religion und Ästhetik um 1800, in: (Hrsg.) W. Braungart, G. Fuchs, M. Koch Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. I: um 1800, Paderborn 1997, S. 61 – 81.

3In: Hermann F. Weiss Ein unbekannter Brief Friedrich Hölderlins an Johann Gottfried Ebel vom Jahre 1799, in: Hölderlin-Jahrbuch 31 (1998 – 1999), S. 7 – 33, hier S. 21.

4StA II/1, 53.

5Vgl. Willard van Orman Quine Wort und Gegenstand, Stuttgart 1998, § 15, S. 129; vgl. auch § 17, wo sich Quine ausdrücklich dem Behaviorismus Skinners anschließt, um den Vorgang des Spracherlernens zu erklären. Interessant ist dabei, dass bereits – mit den Worten Wittgensteins – das „Abrichten“ und „Regelfolgen“, welches die Erzieher beim Kind während des Prozesses des Spracherlernens implementieren, eine bestimmte kulturelle Praxis voraussetzt. Hölderlin würde dies wohl als die ordnungsliebende Grundtendenz des Abendlandes beschreiben. Dass nach Quine die eigene Sprache im Übersetzen eines Feldforschers, der sich anschickt, eine Dschungelsprache zu verstehen, den Ausgangs- und Referenzpunkt des Verstehens bildet, zeigt eine Passage wie die folgende: „Hypothesen muss man sich nämlich erst einmal ausdenken, und der typische Fall des Ausdenkens ist der, dass der Sprachforscher einer funktionalen Entsprechung zwischen einem einzelnen Bestandteil eines übersetzten ganzen Eingeborenensatzes und einem Wort gewahr wird, das einen Bestandteil der Übersetzung dieses Satzes darstellt. Nur auf diese Weise lässt sich erklären, wie man jemals darauf kommt, eine Redewendung der Eingeborenen als Pluralbildung, als Identitätsprädikat › = ‹, als kategorische Kopula oder irgendeinen anderen Teil unseres heimischen Apparats der Bezeichnung von Gegenständen radikal ins Deutsche/Englische zu übersetzen. Überhaupt gelingt es dem Sprachforscher nur durch derartige unmittelbare Projektion vorgängiger Sprachgewohnheiten, in der Eingeborenensprache allgemeine Termini ausfindig zu machen oder diese, nachdem er sie gefunden hat, zu seinen eigenen in Entsprechung zu setzen. Reizbedeutungen reichen nicht einmal aus, um festzustellen, welche Wörter – falls überhaupt – Termini sind, und erst recht nicht, um festzustellen, welche Termini umfangsgleich sind.“ (A.a.O., § 15, S. 132 f.) Es fragt sich natürlich, ob „Projektion“ tatsächlich überhaupt zum Verstehen des Anderen/Fremden führt oder ob es nicht vielmehr die Erkenntnis der Gründe ist, weshalb eine jeweilige Projektion gerade nicht funktionierte, die die Erkenntnis des Anderen ermöglichen sollte. Projektionen verähnlichen und nivellieren.

6Ludwig Wittgenstein Philosophische Untersuchungen, § 32, Frankfurt a.M. 2003, S. 32.

7Vgl. zu dieser Weiterentwicklung des augustinischen Ansatzes in Wittgensteins PU, §§ 5 – 7, 14 f.

8Vgl. hierzu die vorzügliche Studie von Michael Forster Wittgenstein on the Arbitrariness of Grammar, Princeton UP 2005.

9In dieser Richtung deutet den späten Wittgenstein auch Stanley Cavell The Claim of Reason. Wittgenstein, Skepticism, Morality, and Truth, Oxford 1979; dt. Der Anspruch der Vernunft. Wittgenstein, Skeptizismus, Moral und Tragödie, Frankfurt a.M. 2006, 225: „üüüöü“äüääüäöüäääper seäà laö„ä“öä