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UWE BÖSCHEMEYER

Der innere
Gegenspieler

Wie man ihn findet
und überwindet

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.

Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2020 Ecowin bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Palatino, Kosmik Plain, Din 2014

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Lektorat: Arnold Klaffenböck

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie

ISBN: 978-3-7110-0264-8

eISBN: 978-3-7110-5289-6

Für meine Frau Christiane

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

EINLEITUNG

Der Anstoß zu diesem Buch: Wertimaginationen – die destruktive Macht des Gegenspielers und die konstruktive Kraft des Verbündeten

DER INNERE GEGENSPIELER: WAS ER IST, WAS ER TUT, WOHER ER KOMMT

»Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust«

Verdeckte Beispiele des Gegenspielers

Ist vieles im Leben nur Schicksal, Verhängnis, Tragik?

Worum es dem Gegenspieler vor allem geht

Der Gegenspieler und der Zweifel

Woher kenne ich den Gegenspieler?

Warum ist die Macht des Gegenspielers nicht hinreichend bekannt?

Woher kommt der Gegenspieler?

Ist der Gegenspieler nur »negativ« oder nur »böse«?

Wie finde ich den Gegenspieler?

Jürgens Trauerspiel: Ein langes Leben im Griff des Gegenspielers

WIE WIR DEN INNEREN GEGENSPIELER ÜBERWINDEN KÖNNEN

Die Stille als wesentliche Bedingung der Möglichkeit, die Macht des Gegenspielers zu begrenzen

Will ich mich wirklich verändern?

Von der Kraft des Verbündeten

Eine Begegnung zwischen dem Gegenspieler und dem Verbündeten

Die Persönlichkeitslehre des Enneagramms als effektive Hilfe in der Auseinandersetzung mit dem Gegenspieler: Vom Typ zum Original

Und das Leben lohnt sich doch!

Es wird doch wieder Sommer werden!

Das Ringen um Lebensqualität: Leben ist mehr als Leistung und Erfolg

WELCHE WESENTLICHEN VERÄNDERUNGEN BRAUCHEN WIR IN DIESER ZEIT, UM DEN GEGENSPIELER IN SEINE SCHRANKEN ZU WEISEN?

1.Wir brauchen eine freundlichere Anschauung des Menschen

Viktor Frankl, der Therapeut der Hoffnung

2.Wir brauchen mehr Einsicht in die Notwendigkeit, die verletzenden Stunden des vergangenen Lebens anzusehen

Wie der Gegenspieler Jahrzehnte eines Lebens mitbestimmte – eine therapeutische Intervention

3.Wir brauchen das gefühlte Bewusstsein: Ich bin ich!

4.Wir brauchen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Selbstverantwortung und Verantwortung für unsere Mitwelt

5.Wir brauchen ein neues Verständnis für die Einsamkeit

6.Wir brauchen mehr Einsicht darin, dass der Gegenspieler uns dazu verführt, uns selbst als Opfer zu betrachten

7.Wir brauchen mehr Sinnerfahrung

8.Wir brauchen mehr Mut zum Leben in dieser Zeit

9.Wir brauchen mehr Besinnung auf die Liebe

10.Wir brauchen mehr Kenntnis vom Gegenspieler, weil sie uns im Umgang mit Krankheiten behilflich sein kann

11.Wir brauchen eine neue Einstellung zum Staunen

12.Wir brauchen mehr Mut, über die Schulweisheiten hinauszusehen

13.Wir brauchen eine vertiefte Selbsterfahrung

14.Wir brauchen eine Wiederentdeckung der Dankbarkeit

15.Sinnvoll leben – Gedanken, die, wenn sie das Herz erreichen, den Gegenspieler überwinden werden

16.Wir brauchen ein vertieftes Verständnis für die Zeit

17.Wir brauchen eine neue Reformation

Nachwort und Dank

Auswahl der Literatur von Uwe Böschemeyer

Literatur zum Buch

Informationen

VORWORT

Ein ums andere Jahr habe ich Bücher geschrieben, und in der Rückschau stehe ich zu jedem einzelnen. Trotzdem ließ mich seit Längerem der Gedanke nicht los, ich hätte noch nicht meinBuch geschrieben.

Mein letztes erschien Ende 2018, in dem ich die »hellen Farben der Seele« mir selbst und meiner Leserschaft nahezubringen versuchte. Es ging um eine ausführliche Zusammenfassung meines »Lebenswerkes«, wie einige meiner Schüler es nannten. Ich danke auf diesem Wege den vielen Leserinnen und Lesern, die freundlich auf das Buch reagierten.

2019 wollte ich ein weiteres Buch schreiben. Dabei geschah etwas Seltsames, was ich bis dahin nicht erlebt hatte: Ich machte mehrere Anläufe, mich für ein bestimmtes Thema zu entscheiden. Doch sobald ich für einen Titel zu brennen begann, folgte stets rasch die Ernüchterung. Dann, an einem Sonntagmorgen, fiel mir wie Schuppen von den Augen, was mich ein ganzes Lebens lang beschäftigt, was ich mit fast ungläubigem Staunen an mir und später an meinen Klienten und Patienten beobachtet hatte: dass wir Menschen oft, sehr oft das, was wir wollen, nicht tun, dass wir dagegen das, was wir nicht wollen, tun. Ob arm oder reich, ob jung oder alt, ob intelligent oder stumpf, ob gebildet oder ungebildet, ob Mann oder Frau, ob Afrikaner, Chinese, Russe oder Westeuropäer. Wir Menschen haben diese Neigung! Oder diesen Trieb?

Das war schon immer so, unabhängig von der Zeit und ihrem Geist, unabhängig von den jeweiligen Umständen. Mir scheint jedoch, dass eine Generation nach der anderen sich daran gewöhnt hat, dass das Leben nun mal so ist: unvollkommen, doppeldeutig, zwiespältig, so und nicht anders. Dass die Ambivalenz des Lebens unser Schicksal ist.

Ich schreibe dieses Buch zur Zeit des Coronavirus. Wir erfahren aus den Medien, dass es Zeitgenossen gibt, die sich verantwortlich fühlen und sich an die vorgegebenen Hinweise zur Vermeidung der Ausweitung der Pandemie halten. Und dass es andere gibt – und diese stehen meiner Überzeugung nach unter dem Diktat des »Gegenspielers« –, die nur an sich und ihre Wünsche denken und sich nicht vergegenwärtigen, dass sie mitverantwortlich sind für die Ausweitung der Epidemie – und damit für weitere Todesfälle.

In diesem Buch möchte ich zeigen, dass wir Menschen keineswegs dem Diktat innerer Zerrissenheit ausgeliefert sind, dass wir vielmehr die Möglichkeit haben, unser Dasein in weiten Bereichen selbst mitverantworten und mitgestalten zu können und viel mehr Freude am Leben haben könnten als bisher.

Noch etwas: Alle Namen in den Fallgeschichten aus meiner Berufspraxis im Buch sind frei erfunden. Und: Auf vielen Seiten ist von »er« und »ihm« die Rede. Selbstverständlich meine ich damit den Menschen, die Frau und den Mann.

EINLEITUNG

Der Anstoß zu diesem Buch: Wertimaginationen – die destruktive Macht des Gegenspielers und die konstruktive Kraft des Verbündeten

Zugegeben, alles Leben ist vom Wechselspiel polarer Strukturen bestimmt. Wir begegnen ihm überall. Es gibt den Tag und die Nacht, die Geburt und den Tod, die Natur und den Geist, den Himmel und die Erde, den Mann und die Frau, die Liebe und den Hass, die Freiheit und den Zwang, die Verzweiflung und die Hoffnung, die Lebensverneinung und die Lebensbejahung, die Konstruktivität und die Destruktivität, die Sinnfindung und die Sinnverweigerung. Wie aber können wir im Spannungsfeld dieser Polaritäten leben – wirklich leben?

Vielleicht, wahrscheinlich sogar, werden Sie sich fragen, was mich dazu bewegt, mich auf ein solches Thema einzulassen, haben sich doch viele große Geister aus Philosophie, Psychologie, überhaupt Geistes- und Naturwissenschaftler seit Jahrhunderten an dieser Frage wundgerieben. Nein, ich bin nicht übermäßig eitel oder geltungssüchtig. Ich möchte nur gegen Ende meines Lebens Ihnen nicht vorenthalten, was ich im Lauf der Jahre in meiner Arbeit von der Möglichkeit erfahren habe: dass wir weit weniger in diesem Spannungsfeld unserer Seele leiden müssten, dass wir häufiger zum Frieden mit uns selbst und der Welt gelangen könnten, wenn wir mehr von dem wüssten, was in unserer inneren Welt, also im Unbewussten, vorgeht – an Bedrohungen einerseits und realen Möglichkeiten andererseits. Und was sollten wir wissen, vor allem erfahren?

Vor gut 30 Jahren habe ich Wertimaginationen zu entwickeln begonnen. Inzwischen ist diese Form der Imagination den forschenden Kinderschuhen entwachsen.

Die Wertimagination ist ein empirisches Konzept, beruht also auf Erfahrungen – auf Erfahrungen mit Menschen unterschiedlichster Art, typologisch, lebensgeschichtlich, persönlich. Und diese Erfahrungen haben mir etwas gezeigt, worauf mein Denken niemals gekommen wäre: dass sich die polaren Strukturen des Lebens im Unbewussten in zwei großen symbolischen Gestalten widerspiegeln – in der des Lebensbejahers, ich nenne ihn den Verbündeten, und der des Lebensverneiners, den ich als den Gegenspieler bezeichne. Darüber hinaus haben mir diese Erfahrungen gezeigt, dass es einen Unterschied macht, ob wir ein allgemeines Symbol betrachten, wie zum Beispiel die Freiheitsstatue in New York, oder die Freien als Wertgestalt.

Lebensbejahung ist wohlwollende Haltung sich selbst und allem Leben gegenüber und daher die wichtigste Voraussetzung für ein gelingendes Leben. Lebensverneinung dagegen ist aggressive Haltung sich selbst und dem Leben gegenüber und daher die Grundlage für ein misslingendes Leben. Wer diese Tatsache verkennt und sich nicht bewusst mit ihr auseinandersetzt, läuft Gefahr, unglücklich zu werden.

Die Auseinandersetzung mit dem inneren Gegenspieler einerseits und das Sich-Ausrichten und Sich-Einlassen auf den inneren Verbündeten andererseits sind ein wesentlicher Grund dafür, dass wir mehr als bisher in Freiheit sein und tun könnten, was wir wollen. Um Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einen kleinen Einblick in die innere Welt zu geben, von der ich spreche, möchte ich Ihnen kurz die von mir entwickelte »Methode« der Wertimagination vorstellen. Anschaulicher würde sie jedoch, wenn wir sie miteinander praktizierten.

Wertimaginationen (lat. imago = Bild) sind einem Traum vergleichbar. Sie sind »Wanderungen« ins Unbewusste, präziser: in den Bereich des Unbewussten, in dem die spezifisch menschlichen Werte ihre Wurzeln, ihren Grund haben, zum Beispiel die Freiheit, die Verantwortlichkeit, die Liebe, der Mut, die Hoffnung, die Spiritualität, die Kreativität etc.

Anders als im Traum jedoch wird das Bewusstsein nicht ausgeblendet. Der Imaginand erlebt die inneren Bilder nicht nur, er kann auch selbst auf sie Einfluss nehmen, auf die »positiven« ebenso wie auf die »negativen« Gefühlskräfte, die ihn in der Entfaltung seiner Persönlichkeit fördern beziehungsweise behindern.

Zentrum der Wertimaginationen sind die inneren »Wertgestalten«, die die spezifisch menschlichen Werte als Personen zum Ausdruck bringen. Sie sind es, die die Selbst- und Sinnverwirklichung fördern. Sie symbolisieren Potenziale, reale Möglichkeiten, die weit über die Fähigkeiten des Bewusstseins hinausgehen. Sie »wissen« besser als der Verstand, womit sich die Imaginandin/der Imaginand auseinandersetzen sollte und womit nicht. Und sie vermitteln Kräfte, die Erkenntnisse auch umsetzen zu können. Sie schaffen eine erstaunliche kognitive, emotionale und energetische Annäherung an den jeweiligen Wert, den sie symbolisieren. Wichtig ist, dass sie nicht vorgestellt, sondern erwartet werden. Und das geschieht so, dass wir uns auf sie ausrichten.

Die Wertgestalten können sich in jedem Menschen zeigen. Sie mögen verdrängt oder verkapselt sein, präsent bleiben sie immer, denn sie sind konstitutiv für jeden.

Wer sind diese Gestalten? Keine Einbildungen, keine Projektionen unbewusster Wünsche, keine Fantasiefiguren, keine Phantome, sondern vom unbewussten Geist (Viktor Frankl) geschaffene, wirkungsmächtige Personifizierungen. Sie sind Gefühlskräfte, die darauf warten, endlich wirken zu können. Sie haben die Tendenz, sich mit unserem Bewusstsein zu verbinden.

Die Wertimaginationen haben mir deutlich die destruktive Macht des Gegenspielers veranschaulicht, mehr aber noch die konstruktive Kraft des Verbündeten. Beide Großmächte sind im Grunde die Autoren der Geschichte unseres Lebens, je nachdem, wem unsere Zuwendung gilt. Gewiss, im Alltag erfahren wir wenig von dem, was sich in unserer Tiefe abspielt. Das aber bedeutet keineswegs, dass dieses Spiel in der Tiefe uns nichts anginge, im Gegenteil: Je »realistischer« wir über dieses Spiel hinweg leben, desto leichteres Spiel hat der Gegenspieler.1

1Eine ausführliche Darstellung der Wertimagination finden Sie in meinem Buch: Unsere Tiefe ist hell. Wertimagination – ein Schlüssel zur inneren Welt, München 72014.

DER INNERE GEGENSPIELER: WAS ER IST, WAS ER TUT, WOHER ER KOMMT

»Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust«

Dieser leidvolle Ausruf von Goethes Faust könnte insbesondere als Motto unserer abendländischen Kulturgeschichte gelten, dessen Vorläufer sich bereits bei den griechisch-antiken Philosophen Xenophon und Platon findet. Zwei Seelen? Es gibt ein Gespräch, das niemand hört und kaum jemand als Gespräch erkennt. Es findet an einem Ort statt, den jeder kennt und doch nicht jedem vertraut ist. Wenn Sie sich jedoch in sich selbst zurückziehen und so weit wie möglich nichts denken, tun oder wollen, dann erfahren Sie das Zwiegespräch in Ihrer eigenen Seele: das Für und Wider der Gedanken und Gefühle, das Hin und Her zwischen Zögern und Entscheiden, das Gespräch zwischen dem Lebensbejaher in Ihnen, der Leben will und Leben sucht, und dem Lebensverneiner in Ihnen, der sich weigert, zu hoffen und zu glauben, dass Leben geht und gut sein kann, so oder so.

Was Goethe mit dem berühmten Satz aus Faust meinte, war den Märchen, jenen Spiegelungen der Seele, schon immer bekannt. Ein Beispiel: Der Prinz ist voll Freude auf dem Weg zu einem fernen Schloss, um seine künftige Gemahlin in sein Reich zu holen. Unterwegs aber locken ihn sieben Raben in eine Schlucht und verschließen ihm, jedenfalls vorerst, den Ausweg. Bis eine alte, gebückte, gütige Frau erscheint und ihm zuflüstert, auf welchem Weg er in das nahe liegende Schloss gelangt.

Sigmund Freud schreibt in seinem aufregenden Traktat Das Unbehagen in der Kultur, das Unbehagen liege vordergründig in der Unruhe … in der Angststimmung ihrer (der Menschen) Zeit, denn: »Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten.«

Hintergründig jedoch liegt für ihn das Kernproblem in etwas Grundsätzlichem und Bleibendem: Zwei mächtige Prinzipien bestimmen, so Freud, den Gang der Welt, zwei mächtige Triebe, die miteinander im Kampf liegen. Gemeint sind die Destruktivität (er nannte sie in späteren Jahren den Todestrieb) und die Libido, die Liebe. Wie der Kampf dieser beiden »Giganten des Lebens« ausgehen werde, sei ungewiss, denn sie stellten nach Freuds Auffassung einen »wahrscheinlich unversöhnlichen Gegensatz« dar. Dieses Ungewissheitsgefühl war für Freud das grundlegende und bleibende Kernproblem des Menschen seiner Zeit. Deshalb beendete er sein Traktat mit dem (aus meiner Sicht) niederschmetternden Satz: »So sinkt mir der Mut, vor meinen Mitmenschen als Prophet aufzustehen, und ich beuge mich ihrem Vorwurf, daß ich keinen Trost zu bringen weiß, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen.«2

Und wenn Freud irrte? Wenn man gar kein Prophet sein müsste, um sagen zu können: Es gibt Trost für uns Menschen? Es gibt Grund zur Hoffnung, Hoffnung darauf, dass wir unser eigenes Leben und das Leben überhaupt mehr als bisher wohlwollend betrachten, vielleicht sogar lieben können? Allerdings unter zwei Bedingungen: Dass wir uns beide Seiten der Seele vergegenwärtigen, dass wir die dunkle Seite ansehen, studieren, so weit wie möglich begreifen und daraus existenzielle Schlüsse ziehen – und dass wir im Besonderen die helle Seite der Seele ansehen, studieren, begreifen und daraus existenzielle Schlüsse ziehen. Denn wir leben primär nicht von unserem Problembewusstsein, sondern von unserer Wertorientierung.

Um uns dem »Wesen« des Gegenspielers anzunähern, möchte ich Ihnen zunächst eine Reihe individueller, aber verdeckter Alltagsbeispiele vorstellen, darüber hinaus solche, die weit über den Alltag hinausgehen.

Verdeckte Beispiele des Gegenspielers

Die folgenden einfachen Beispiele aus dem täglichen Leben sind keine Erfindung. Nicht wenige dieser Sätze sind oder könnten in meiner Ordination gesagt worden sein. Ob Ihnen das eine oder andere Beispiel bekannt vorkommt?

Eine Frau sagt: »Ich habe doch alles, wonach sich so viele Frauen sehnen: einen lieben Mann, nette Kinder, Gesundheit, genügend Geld. Aber ich bin trotzdem nicht glücklich. Immer wieder mache ich mir klar, was ich alles habe. Aber dann werde ich von dunklen Gedanken überschwemmt, gegen die ich machtlos bin – oder zu sein scheine.«

Ein Mann sagt: »Ich gebe es ungern zu: Ich habe Angst. Ich weiß nicht wovor. Das war schon immer so. Dabei kenne ich gar keinen Grund, weswegen ich Angst haben sollte. Doch dann schleichen sie heran, die Gedanken, die ich nicht mehr einfangen kann. Nur mühsam gelingt es mir – viel zu selten –, anders, ›positiv‹ zu denken.«

Jemand sagt: »Auf meinem Nachttisch liegt ein Buch, das ich mir vor zwei Jahren bewusst gekauft habe. Aber ich greife an jedem Abend immer nach einer Boulevard-Zeitung, die ich hasse.«

Ein anderer berichtet: »Ich stehe vor meinem Chef und möchte mich über etwas beschweren, was mich schon lange bedrückt. Aber dann nicke ich nur zu einer belanglosen Geschichte, die er mir anvertraut.«

Ein Mann ahnt, dass ihm sein Stress bald einen Herzinfarkt bescheren könnte. Er hat Angst vor dieser Möglichkeit. Aber: Weder ändert er die Struktur seiner Tage noch seine Einstellung zur Arbeit. »In einer Nacht«, erzählt er leicht beschämt, »hatte ich einen wunderschönen Traum. Ich stand an einem Bach. Die Morgensonne spielte mit den winzigen Strudeln des fließenden Wassers. Die Luft war klar, die Stille wohltuend. Ich tat nichts. Ich war nur da. Ich nahm nur auf: die wohltuende Stille, die klare Luft, die Morgensonne, die Schönheit der Bilder. Tiefes Glück zog durch alle meine Poren. Mit einem Lächeln wachte ich auf. Nur eine Stunde später bediente ich zwei Telefone zugleich, griff nach meinem Medikament und murmelte, als sich mir der Traum noch einmal zeigen wollte: ›So eine Albernheit.‹«

Eine Frau weiß, dass sie mit dem Rauchen aufhören müsste. Sie sagt sogar: »Ich ekle mich inzwischen vor dem Rauch.« Aber dann steckt sie sich die nächste Zigarette an …

Ein 40-Jähriger: »Ich wusste, dass der Satz, den ich auf der Zunge hatte, die endgültige Trennung von meiner Partnerin zur Folge haben würde (was ich überhaupt nicht wollte). Aber dann sagte ich ihn doch.«

Eine Frau und ein Mann ahnen, dass ihre Ehe gefährdet ist. Beide wissen sogar, dass sie sich noch immer lieben. Aber: Statt zu klären, was sie in diese Situation gebracht hat, machen sie sich weitere Vorwürfe.

Er sagt zu ihr: »Ich liebe dich.« Doch sie blickt verschämt zur Seite und hängt nur dem Gedanken nach: »Wie oft hat er diesen Satz wohl schon anderen Frauen gesagt?«

Eine Frau ahnt, wie wichtig es wäre, die jahrelange Feindschaft gegen ihre Familie aufzugeben und versöhnliche Zeichen zu setzen. Aber: Wieder greift sie zum Hörer und entlädt ihre Aggressionen.

Die kleine Tochter sagt zu ihrem Papa: »Komm doch bitte mit auf die Demo für die Umwelt.« Er schaut sie liebevoll an und sagt: »Weißt du, mein Schatz: Frag die Mami. Die hat wirklich mehr Zeit als ich.«

Nur drei Beispiele von vielen möglichen, die weit über das Alltägliche hinausgehen. Sie ließen sich beliebig erweitern:

Während ich diese Sätze schreibe, lese ich, dass vor zwei Tagen ein 27-jähriger Mann in Südtirol mit seinem Sportwagen in eine Gruppe junger Skiläufer gerast ist. Er war betrunken. Sieben junge Menschen zwischen 22 und 25 Jahren starben. Andere schweben derzeit noch in Lebensgefahr. Was gäbe dieser Mann darum, wenn er nicht der inneren Stimme seines Gegenspielers gefolgt wäre, die ihn dazu verführte, sich betrunken ans Steuer zu setzen?

Akte des Gegenspielers sind meines Erachtens auch die laschen Bemühungen von Politikern, dem immer deutlicher werdenden Klimawandel konstruktiv zu begegnen. Es musste erst ein Kind kommen, um die »Großen« auf ihre Pflichten aufmerksam zu machen. Was hat das mit dem Gegenspieler zu tun? Er »sorgt« dafür, dass die Vernunft das innere Brennen für unseren wunderbaren Planeten niederhält.

Nicht verdeckt, sondern brutal offen zeigt sich der Gegenspieler in Kriegen, so zum Beispiel in Traumatisierungen von Soldaten, die aus Afghanistan zurückkehren und an »posttraumatischen Belastungsstörungen« leiden. Einen erschütternden Brief leitete eine Zeitung an mich weiter mit der Bitte, der 30-jährigen Frau S. behilflich zu sein. Der Brief spiegelt in einem Einzelfall wider, was Kriege im Allgemeinen und immer wieder im Besonderen anrichten. Frau S. schrieb:

»Unser Leben hat sich verändert, und ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Vor drei Jahren haben wir geheiratet. Mein Mann ist 29 Jahre alt und Soldat bei der (deutschen) Bundeswehr. Ich weiß, dass sein Beruf sehr gefährlich sein kann. Vor einem Jahr kam er nach Hause und sagte, er wolle nach Afghanistan, um dort seine Pflicht zu tun und den Menschen zu helfen. Und er zitierte den früheren Verteidigungsminister, der gesagt hatte, dass unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt werde.

Ich versuchte, meinen Mann von seinem Vorhaben abzubringen. Wir waren doch voller Pläne, wollten ein Kind und eine Familie gründen. Aber vergeblich. Er könnte nicht anders, er hätte sich ja nun einmal für den Beruf des Soldaten entschieden. Er flog nach Afghanistan. Ich habe entsetzliche Angst um ihn gehabt. Und ich war so dankbar, als er nach sechs Monaten äußerlich unversehrt zurückkam.

Aber er hat sich verändert und ist mir fast fremd geworden. Er hat offensichtlich etwas erlebt, was das Maß des Erträglichen bei Weitem überstiegen hat. Er ist mir gegenüber abweisend. Einziger Außenkontakt ist sein Kamerad, der ebenfalls in Afghanistan war. Ich erreiche ihn nicht. Er spricht nicht darüber, was ihn bewegt. Nachts schreit er manchmal, wimmert, ruft den Namen eines Kameraden, der wohl Opfer eines Überfalls geworden war. Er wird immer wieder von den grausamen Erinnerungen an Afghanistan überflutet, sodass er sich wie betäubt, stumpf, ja gleichgültig fühlt. Daher vermeidet er auch alle ihm sonst vertrauten Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an die Traumatisierungen wachrufen könnten.

Er ist übererregt und schreckhaft und findet wenig Schlaf. Er versteht sich selbst nicht mehr, ist von sich selbst evakuiert. Und dass mit diesen Symptomen Angst, Depression und suizidale Gedanken verbunden sind, wird niemanden verwundern.

Für mich ist schwer zu ertragen, dass er einerseits seine seelischen Schmerzen zurückhält und andererseits sich offenbar danach sehnt, mit dem Leben wieder in Berührung zu kommen. Inzwischen wundere ich mich nicht mehr, dass er mit seinen Leidensgenossen zurzeit leichter sprechen kann als mit mir.«

Ist vieles im Leben nur Schicksal, Verhängnis, Tragik?

Wenn ich an die gerade angedeuteten Erfahrungen Einzelner sowie an die eben nur angedeuteten katastrophalen Verhaltensweisen vieler denke, wenn ich mir darüber hinaus die grauenvollen »modernen« Kriege vergegenwärtige, das Verhungern-Lassen von Millionen Kindern durch reiche Staaten, die Ignoranz oder grenzenlose Naivität verantwortungsloser narzisstischer Politiker, so frage ich mich: Ist das alles Schicksal, Verhängnis, Tragik? Warum geschieht so vieles im Leben, dem wir kopfschüttelnd, verzweifelt oder fassungslos gegenüberstehen, auch uns selbst? Müssen wir uns mit dem, was auf unserem schönen Planeten passiert, abfinden? Ist das nun mal so? Sollten wir uns lieber darauf verlassen, dass die Wissenschaften uns irgendwann Schlüssel zum Verständnis dieser Weltabläufe geben? Und wenn sie das könnten, vermögen sie uns auch zu zeigen, wie die Erkenntnisse in die Tat umzusetzen sind.

Die im letzten Abschnitt angedeuteten Beispiele sind Aussagen, die in ihrer Alltäglichkeit oder Weltläufigkeit über das zentrale Problem der Menschheit hinwegtäuschen. Ich sage es jetzt mit dem berühmten und doch so verkannten Paulus: »Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; das Böse aber, das ich nicht will, das tue ich.« Das bedeutet: Dass wir nicht so frei sind, nicht so verantwortlich, nicht so liebesfähig, nicht so glücksfähig, nicht so menschlich etc., wie wir sein könnten und möchten – jedenfalls den realen Möglichkeiten nach.

Muss Leben so sein – und bleiben? Was ist das für eine Kraft, die uns immer wieder daran hindert, dass wir unserer eigenen Einsicht und unserem eigenen Willen folgen? Oder gibt es doch eine Kraft, die stärker ist als die Hindernisse in uns?

Worum es dem Gegenspieler vor allem geht

Der Gegenspieler hat verschiedene Gesichter und Ausdrucksformen. Seine »Verwandten« heißen zum Beispiel der Wütende in mir, der Verantwortungslose, der Ankläger, der Arrogante, der Eitle, der Unwahrhaftige, der Heimatlose, der Angstmacher, der Lieblose, der Haltlose, der Maßlose, der Süchtige, der Ausweichler, der Wahrnehmungsstörer. Oder auch: Der (scheinbar) Vornehme, der Mitleidheischende, der Spötter, der Zyniker, der Brutale, der Schmeichler, der Stratege. Kurzum: Der Gegenspieler ist der oft verkannte und deshalb nicht erkannte, nicht wahrgenommene, nicht begriffene Lebensverneiner in uns, der das Gute im Menschen und im Leben überhaupt stört oder gar zerstören will, der das Gegenteil des Lebensbejahers ist, der das Leben will (!).

Das, worauf der Gegenspieler vor allem abzielt, ist das Entwerten