Über das Buch

»Ein Genie der Gemeinsamkeit« Volker Braun.

»Wer ist Gerhard Wolf? Der wagemutige Verleger, eindringliche Essayist, exzellente Lektor, kunstversessene Herausgeber? Der Meisterkoch der deutschen Gegenwartsliteratur? Der Mann einer berühmten Frau, der Schriftstellerin Christa Wolf? Sollte all dies in einer einzigen Person vereinigt sein?« Friedrich Dieckmann.

Wenn dieser Gerhard Wolf seinen Passionen folgt und über Begegnungen mit unvergesslichen Literatur- und Malerfreunden schreibt, entstehen lebendige Künstlerporträts, die zum Lesen und Entdecken verführen: Irmtraud Morgner, Walter Jens, Günter de Bruyn, otl aicher, Carola Stern, Heinz Zöger, Stephan Hermlin, Tadeusz Różewicz, Günter Grass, Bert Papenfuß, Stefan Heym, Andreas Reimann, Johannes Bobrowski, Carlfriedrich Claus, Christa Cremer, Volker Braun, Gino Hahnemann, Jan Faktor, Louis Fürnberg, Nuria Quevedo, Maria Sommer, Barbara Beisinghoff, Róža Domašcyna, Angela Hampel, Franci Faktorová, Brigitte Reimann u. a.

»Ich kann nur über mich schreiben, indem ich über andere schreibe.« Gerhard Wolf

Über Gerhard Wolf

Gerhard Wolf wurde 1928 in Bad Frankenhausen geboren. Er studierte Germanistik und Geschichte in Jena und Berlin, war Rundfunkredakteur und Lektor und ist seit 1957 freier Schriftsteller. Zahlreiche Essays zu historischen und zeitgenössischen deutschen Dichtern und Künstlern; Herausgeber von Anthologien, Auswahlbänden und der Reihe »Außer der Reihe« (Aufbau 1988-1991). 1990 gründete er den Verlag Gerhard Wolf Janus press. Christa und Gerhard Wolf waren seit 1951 verheiratet. Er lebt in Berlin. Ehrenmitglied der Sächsischen und der Berliner Akademie der Künste.

Wichtigste Publikationen: Beschreibung eines Zimmers. 15 Kapitel über Johannes Bobrowski, 1971; Der arme Hölderlin, 1972; Albert Ebert – Wie ein Leben gemalt wird, 1974; Wortlaut, Wortbruch, Wortlust, 1988; Sprachblätter, Wortwechsel. Im Dialog mit Dichtern, 1992; Christa Wolf, Gerhard Wolf, Malerfreunde. Leben mit Bildern, 2010; Im deutschen Dichtergarten. Lyrik zwischen Mutter Natur und Vater Staat. Texte aus fünf Jahrzehnten, Radius-Verlag 2018; Carlfriedrich Claus, Gerhard Wolf, Christa Wolf, Nun schauen mich immer mindestens vier Augen an. Der Briefwechsel 1971-1998, Kunstkeller Annaberg, Chemnitzer Verlag 2018 außerdem: Peter Böthig (Hg.), Die Poesie hat immer recht. Gerhard Wolf: Autor, Herausgeber, Verleger. Ein Almanach zum 70. Geburtstag, 1998; Friedrich Dieckmann (Hg.), Stimmen der Freunde. Gerhard Wolf zum 85. Geburtstag, 2013.

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Gerhard Wolf

Herzenssache

Memorial —
unvergessliche Begegnungen

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Scheherezade aus Sachsen. Abschied von Irmtraud Morgner

Geist und Macht. Rede auf Walter Jens

Günter de Bruyn. »Mein Brandenburg«

otl aicher. schreiben und widersprechen

Carola Sterns Buch »Der Text meines Herzens. Das Leben der Rahel Varnhagen«

Nicht widerrufbares Leben. Trauerrede für Heinz Zöger

Nicht beendetes Gespräch über Stephan Hermlin zwischen Christa und Gerhard Wolf

Der Dichter, ein Zeuge. Zu Tadeusz Różewicz, Günter Grass, Bert Papenfuß und Detlef Opitz

Stefan Heym. Unverhoffter Gast, bleibender Zeitgenosse

Auf der Suche nach einem Land. Der Dichter Andreas Reimann

Im Bilde sein. Gerhard Altenbourg. Grafiken zu Dichtung von Johannes Bobrowski

Carlfriedrich Claus in dis tanz.

Christa Cremer. Malerei – Kleinplastiken. Ergebnisse eines Lebens mit der Kunst

C Gespräch im Hause Wolf über den in Vers und Prosa / G sowohl als auch stückweis anwesenden Volker Braun

Worte für Gino Hahnemann.

In zügelloser Sprache.

Günter Grass. Signaturen zur Zeit

Louis Fürnberg. Traum und Wirklichkeit eines Dichters

Nuria Quevedo. Berlinerin aus Barcelona – Katalanin in Berlin

Maria Sommer. Theater als Herzenssache – Herzenssache als Beruf

Die Freundschaft zwischen Brigitte Reimann und Christa Wolf

Volker Braun. Dichtung als Geschichte der Zeit

Zu den Motiven der Kunst. Barbara Beisinghoffs

Gorzów heute. Gespräch zwischen Gregor Stach und Gerhard Wolf über die Geburtsstadt von Christa Wolf

Die Dichterin Róža Domašcyna. Unter einem gewaltig mildtätigen horizont

Angela Hampel. Schriftzeichen – Bildzeichen. Arbeiten zur Literatur

Memorial für Franci Faktorová.

Quellennachweis

Bildnachweis

Anmerkungen

Impressum

Irmtraud Morgner (1933–1990) gehörte mit Romanen wie »Hochzeit in Konstantinopel« und »Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz« zu den großen deutschen Erzählerinnen feministischer Prosa.
Ich hielt ihr 1975 die Laudatio zur Verleihung des Heinrich-Mann-Preises unter dem Titel »Abschied von der Harmonie«.
An ihrem Grab sprach neben mir auch Alice Schwarzer.

Scheherezade aus Sachsen
Abschied von Irmtraud Morgner

»Man ist für das Leben nicht eingerichtet.«

Vor knapp einem Jahr kam eines Abends unvermittelt ein Anruf, der nicht, wie anzunehmen war, Christa galt (denn man weiß, dass ich ungern telefoniere), ein Anruf, der mich betraf; mir mit etwas umständlicher Erklärung, dann umso deutlicher – in diesem seltsamen Diskant bei gutturalem Unterton – ein Anliegen vortrug, das ich nicht abweisen konnte, weil es nicht misszuverstehen war; denn wie entzieht man sich einer Anfrage, die einem als letzter Wille vorgetragen wird.

Ich habe seitdem auf meine Weise damit gelebt, immer diese Stimme im Ohr, die um ihr Ende wusste, stockend, aber bestimmt, waghalsig und hellsichtig, zupackend und arabesk – dieser plötzlich ausbrechende heitere Diskant bei untergründig dunklem Guttural –, wie es im Reden, wie es anders im Schreiben ihre Art war.

Ich konnte mir danach keine Rede ausdenken, und wir haben, nach einer letzten Begegnung in ihrer Wohnung, es war ein überheißer Junitag, beide nie mehr über diese Abmachung gesprochen. Wir waren nicht dafür eingerichtet. Ich habe seitdem manchmal in einem ihrer Bücher ein paar Seiten wiedergelesen, habe absichtlich empfindungslos oder mit lautlosem bösen Lachen das Buch beiseitegelegt, hilflos, keine Notizen. Ich wusste, wenn es so weit sein würde, ihre Bücher würden schon die rechten Stichworte geben, die ich brauchte, um, wie sie es sich nun einmal wünschte, etwas sagen zu können. Ich weiß jetzt nicht mehr, ob das stimmt, und muss es auf diesen Versuch ankommen lassen. Aber ich sehe mich dabei nicht allein, sondern mit anderen hier in einer durch sie wie insgeheim vereinbarten Gemeinsamkeit. Sie, die wie ich auf meine Weise an diesen letzten Jahren Irmtraud Morgners Anteil nahmen, Sie werden, besser als ich es vermag, auf Ihre Weise das Bild von ihr ergänzen, es reicher, farbiger, gültiger machen. Ich aber hoffe, mit meinem aus dieser Situation entstandenen Vorgehen vielleicht einen Zug ihrer Arbeitsweise zu treffen, die sie beklagt und zugleich als ihre ureigene Arbeitsmethode verteidigt hat: sich an Kerngedanken und Grundideen zu orientieren, die man frisch der Ausführung vorauswirft, um sie im Schreiben selbst möglichst einzuholen und einzulösen: Einfälle, Inspirationen, schöne Entwürfe für einen »unendlicheren Zusammenhang«, den man – ja man weiß es – sicher nie erreicht, aber immer anstrebt. Vorhaben, das man deshalb in bemessene Szenen, Stücke oder Kapitel einteilt, die man überblickt und schafft, Zitate aus den ältesten, Dokumente aus jüngsten Quellen dazu, poetische Geschichtsschreibung aus der Lage und Sicht einer heutigen Frau, wie es Walter Jens in seiner Rede auf die Tausendsassa Morgner so beschrieben hat: »[…] einmal im Simplizissimus-Stil, volkstümlich und archaisierend, ein zweites Mal in der Weise des wahren sozialistischen Realismus, wirklichkeitsgesättigt also und plastisch, und ein drittes Mal, anspielungsreich und hermetisch, mit Dialogen von verweisender Kraft und Beschreibungen, die ein langes In-Spuren-Gehen verraten«. Sie hat es damit zu einiger Meisterschaft gebracht, nannte die Bände ihrer »Salman-Trilogie« Montage-Romane, »die Prosa der Zukunft«; Montage – freilich nur eine unzureichende Bezeichnung für dieses kaum nachbeschreibbare bizarre, bunte Gewebe aus Tatsächlichem und Phantastischem, ich sehe es als aufgezeichnete, sich fortschreibende große Applikation auf die Welt, Gesuch, sie zu durchschauen, Heilmittel als Vision, sie zu ändern. Sie sagt: »Die Menschen glauben große Wahrheiten eher in ungewöhnlichen Gewändern«, und man wünscht, sie hätte damit recht. Sie verwandelt sich aus solchen Gründen ja vor unseren Augen ständig in verschiedenste reale und zauberhafte Gestalten, spricht eben noch ganz gegenwärtig als berufstätige Frau und Mutter ihres Sohnes und ist im Nu auch deren Wunschbild, gewitzte Gauklerin, Spielfrau oder fabelhafte Sirene, redet mit Weiber-, Schlangen- und Hexenzungen – und ist doch immer die Morgner, Scheherezade aus Sachsen, die weiß, dass sie erzählen muss, es geht ihr ans Leben, täte oder könnte sie es nicht. Eine widersetzliche Trobadora mit höchster Stimmlage, um den in der Kehle gebrochenen Laut hervorzubringen, moderne Poetessa mitten in dieser von Männern geprägten und dirigierten Gesellschaft.

Denn wie sie auch an dieses Gemeinwesen gebunden war, das für sich den Anspruch auf Sozialismus erhoben hatte, verstrickt in seine uneingelösten Maximen und real existierenden Miseren – wie jeder von uns auf seine Weise –, den Grundwiderspruch dieser Zeit sah sie schließlich in den modernen Industriegesellschaften des Patriarchats angelegt, welcher Herrschaftssysteme und -strukturen es sich auch jeweils bediente.

Und um nichts Geringeres ging es ihr als um Umwertung aller herrschenden Werte – und sei es nur mit Mitteln der erfinderischen Poesie, die ja Gleichnisse und Utopien erlaubt.

Sie hatte für diese Projekte kaum zeitgenössische Vorbilder und musste sich aus Wissenschaft und Kunst, aus Theorie und Praxis alternativ lebender Frauen ihre Figuren und Muster entwerfen, den patriarchalischen Helden matriarchalische Menschen entgegensetzen, um humane Verhältnisse ins Bild zu bringen: unter den berühmten männlichen Troubadouren die eine, kaum noch bekannte Troubadoura entdecken, die alten Mythen und Mythologien aufgreifen und neu deuten, zum Beispiel der Allgeberin Pandora endlich wieder den ihr zukommenden Platz neben dem populären Menschenbildner Prometheus einräumen, Pandora, die in ihrer Büchse nicht das Verderben, sondern die Zukunftsbilder trägt.

»Die Geschöpfe des Prometheus«, heißt es im »Amanda«-Roman, »haschen nach den Luftgestalten. Als Pandora sah, daß die Güter mit Fittichen – Erdenliebe zum Beispiel, Sinn für Harmonie […], Kompromißfähigkeit, Frieden – davonflogen und niemand ihnen nachsetzte, keiner sie einfangen wollte, warf sie schnell den Deckel zu.«

Irmtraud Morgner hat Goethe für die profunde Umdeutung des patriarchalischen Mythos gedankt, weil er Pandora aus ihrer Rolle als Unheilbringerin erlöste; sie erklärt und gibt uns ein Zeichen, wie man ihre Bücher wirklich verstehen kann:

»Nicht Prometheus, sondern Epimetheus und Pandora gemeinsam werden als Zukunftshoffnung gesetzt. Epimetheus heißt ›nachbedacht‹. […] Der Mensch muß nachdenken bei vielen Entscheidungen. Vor der Gefahr der Selbstausrottung bewahrt ihn nicht Instinktregulierung. […] Der Homo humanus ist nicht erreichbar ohne die Freisetzung und harmonische Verbindung der kreativen Potenzen beider Geschlechter.«

Wie muss es sie gefreut haben, in der sächsischen Nonne aus dem 10. Jahrhundert Hrotswitha von Gandersheim eine Vorläuferin zu finden, die das erste Drama der Faustsage in Deutschland verfasste, wo es doch immer hieß, »daß Frauen die Fähigkeiten zum Stückeschreiben fehlen«.

Dem »Cherubinischen Wandersmann« des Angelus Silesius, Sinnbild des ewig Suchenden, nach Wahrheit sich sehnenden Geistes aus dem Barock, hätte sie gern die »Cherubinische Wandersfrau« folgen lassen, zugesellt als Antipodin und Partnerin; fand Idee für sie vorgedacht in Betrachtungen Jakob Böhmes, die sie sich anzuverwandeln suchte in praktikable Philosophie »über täglich zu bewältigende, unabweisbare, elementare Lebensereignisse als da sind Tod, Krankheit, Zufall, Glück, Unglück« – die ewigen, immer unbeantworteten Fragen unserer Existenz, auf die sie weder in der Praxis ihrer Gesellschaft noch in der dort praktizierten Ideologie Antworten oder auch nur Handreichungen erhalten konnte. Antworten, nach denen sie selbst forschte, ungeschützt, ziemlich auf sich selbst gestellt, unabgeschirmt, weil, wie sie weiß, weibliche Forscher unabgeschirmt leben, nicht mehr der traditionellen weiblichen Rolle verhaftet, wie sie auch das Bücherschreiben immer intensiver als Forscherarbeit betreibt – und dabei Federn lässt.

Sie spricht von »Denktrieb«, sagt, dass ein poetischer Text, so verstanden, nur strahlt »wegen der Intensität, mit der das ganze Potential einer Persönlichkeit einer Sache nachdenkt und -fühlt, zwanghaft, mit perfektionistischem Suchtrieb nach dem optimalen Ausdruck für eine Vorstellung, die logisch allein nicht ausdrückbar ist. Diese Intensität bei der Suche, auch das Engagement ist sicher mit ein Grund dafür, weshalb ein literarischer Text einen Denk-, Such- und Gefühlsimpuls bei einem Leser auslösen kann.«

In dieser Arbeit ist sie ganz aufgegangen. Ihre Leser, natürlich vor allem Frauen in den beiden Deutschländern, haben sie als Sprecherin für ihre souveränen Rechte und Möglichkeiten auf allen Gebieten ihres Daseins empfunden.

Für die ständige Überanstrengung, die sie diese Arbeit unter den gegebenen Umständen kostete, einer ganz anders ausgerichteten Umwelt solche Freiheiten abzutrotzen, hat sie mit ihrer Gesundheit bezahlt. Sie sagte, als wir uns damals zuletzt sahen, dass sie nicht zufällig an dem empfindlichsten Organ getroffen worden sei, mit dem sie als Frau voll und ganz gelebt habe, und wies auf ihren Leib. Alle, die sie kannten, haben ihren eigensinnigen Mut gespürt, mit dem sie der zerstörenden Krankheit wieder und wieder Widerstand leistete; eine Berufskrankheit, denkt man an Franz Fühmann und Erich Fried, an die Gefährtinnen Brigitte Reimann und Maxie Wander.

»Schreiben war meine Art, Ängsten zu trotzen«, sagt sie und hält die Ängste mit Gelächter nieder. »Je dreckiger es mir geht, desto stärker bin ich zur Possenreißerei aufgelegt. Humor ist bei mir Auflehnung des Lebenstriebes gegen Depression, Melancholie.« Sie hat, glaube ich, daran ziemlich bis zuletzt festgehalten, Verstörungen nur den Nächsten anvertraut, plötzliche Zusammenbrüche immer mit diesem diskanten Gelächter in der Stimme überspielt, auf späten Fotos, die es gibt, lässt sie nicht davon ab, über Schmerzen maskenhaft zu lächeln. Fensterstürze überließ sie ihren umhergeisternden Hexen, die ohnehin nicht totzukriegen waren. Nicht den selbstbestimmten Entschluss, auf Flügeln eines Tages, den kühnen Harpyien gleich, davonzufliegen, sie sprach ganz ernsthaft davon und glaubte längst an eine außerirdische Existenz.

Den geplanten dritten Band ihrer »Salman-Trilogie« gibt es nur in Fragmenten, in ihnen unsterbliche Sätze, Sie werden sie hören.

»Schmerzensschreie gehören heute zum guten Ton oder zu einem, an den man sich gewöhnt hat. Freudenschreie erwecken mitunter selbst von Toten. Ihnen fühlte ich mich zugehörig, obgleich der gegenwärtige Weltzustand mich ausgetrieben hatte […].«

Als Vermächtnis dachte sie sich ein Buch mit dem Titel »Das hero(i)sche Testament«, in dem sie noch einmal alle Seiten ihres Talents aufspielen lassen wollte. Sie hat es nur in Motiven und Skizzen, mit ironischen Aperçus und trefflichen Paradoxen notieren können. Es ist in der Struktur eines Promotionsverfahrens entworfen, eines nicht ganz geheuren Verfahrens, in dessen sonderbarem Verlauf sich Herta Kowalczik (Frau aus dem Volk der DDR) durch Philosophie der Tat verkörpert, verwandelt zu Hero, die sich ihren idealen Mann Leander (griechisch: Mann aus dem Volk), wie einst Adam die Eva, in einem geistigen Akt, der sich sofort als lebendige Schöpfung zeigt, aus den Rippen schneidet. »Frisch geschnitten – ganz gewonnen.« Das Werk ist als spektakuläre Apotheose auf die Menschheitsgeschichte angelegt.

»[…] indem der Mensch aus seiner Natur fiel, fiel er aus aller Natur – und begann Geschichte zu machen. […] eine Voraussetzung fürs Geschichtemachen nennt Friedrich Engels ›weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts‹.« Und diese gilt es, lässt die Morgner ihre Hero planen, endlich aufzuheben. Also ist auch eine Liebesgeschichte zu erwarten.

Nach der antiken Sage schwamm Leander seiner Geliebten Hero allnächtlich über den Hellespont entgegen und ertrank, als ein Sturm die ihn leitende Fackel verlöschte, in den Fluten. Hero stürzte sich verzweifelt vom Turm ihm nach in den Tod.

Irmtraud Morgners Herta Kowalczik aus Reichenbach im Vogtland, Hero genannt, erfindet sich ihren Geliebten vermittels ihrer heroschen Philosophie, wörtlich dem spitzen Verweis der Beamtin des Wohnungsamtes, die ihr als Einzelwesen die Wohnung verweigert, stante pede folgend: »Wennse keen Mann ham, müssense sich embd een ausn Rippen schneiden.«

Das heroische Testament, lesen wir aus den Bruchstücken dieses grandiosen Exposés eines nicht mehr ausgeführten Romans, »das heroische Testament Leander ist ein Mann zum Herauslesen«.

Ich musste so ausführlich von ihrem unvollendeten Buch sprechen, weil ich, weil wir alle es nun nicht mehr zu lesen kriegen.1 Hier leuchten noch einmal alle Facetten ihrer genuinen Fabulierlust auf, ihr großes experimendum mundi einer Selbsthelferin sondergleichen, der mitten im schreibenden Entwurf – bleiben wir getrost bei der archaischen Wendung – die Feder aus der Hand genommen wurde.

Weil ich es seit Langem wusste, gelang es mir nicht mehr, ohne bösen Schmerz in ihren Büchern zu lesen. Ich bin ihrer Bitte nachgekommen und habe ihr diese Rede gehalten, aber ich bin dafür nicht eigentlich eingerichtet. Und ich weiß, dass ich so nicht enden kann, und suche mir bei ihr den besseren Schluss, lasse sie mit ihrer Stimme sagen:

»Hexisches Gelächter […] erscheint mir in finsteren Zeiten hilfreich, um die Lähmung angesichts der übergroßen Aufgabe, die Depression aus Überforderung, zu überwinden. Riesige Autoritäten, die wichtigste ist: der Tod kann nur mit einem weinenden und einem lachenden Auge angegangen werden.«

1990

5733-001.tif

Walter Jens und Gerhard Wolf, November 1989.

Walter Jens (1923–2013), bedeutender Schriftsteller der Gruppe 47 mit Romanen, Hörspielen und Essays. Präsident der Akademie der Künste Berlin/Brandenburg mit großen Verdiensten bei der Vereinigung der beiden Akademien West- und Ostberlins.
Wir waren befreundet und planten 1989 eine Friedensbibliothek, die gleichzeitig in Ost- und Westverlagen erscheinen sollte, was sich zerschlug.

Geist und Macht
Rede auf Walter Jens

Meine Damen und Herren, lieber Mitbürger Walter Jens, wie denn stellt man einen profunden Rhetoriker, wie Sie es nun einmal sind, in diesem Metier Professor gar, in gebotener Kürze einem Publikum in diesem Apollosaal vor? Weiß man, was es von Ihnen kennt, welches Ihrer Bücher es gelesen hat – nur wenige Titel waren bis vor Kurzem hierzulande auf direktem Wege zu bekommen, eben erst in den letzten Jahren etwa das ausgewählte Kompendium mit dem Titel »Die Friedensfrau« – nach Herders Motto: »Meine große Friedensfrau hat nur einen Namen, sie heißt allgemeine Billigkeit, Menschlichkeit, tätige Vernunft.«

Vielen werden Sie, Präsident der Akademie der Künste in Westberlin, immerhin öfter in unserer Ostberliner Akademie kritischer Gast, Ehrenpräsident des PEN-Zentrums der Bundesrepublik, bekannt sein, als Redner auf gesamtdeutschen Kirchentagen und Symposien, als Christ und Demokrat Sprecher der Friedensbewegung, unermüdlicher Anwalt in Sachen unserer gemeinsamen Kultur; durch Ihr engagiertes öffentliches Auftreten, wo immer Sie es für nötig erachten, konnte man Sie hören, so dass ich, der ich mich am wenigsten für einen versierten Redner halte, nicht sicher bin, wo ich an- oder ein-, gar Schwerpunkte setzen, Gesichtspunkte finden soll, um nicht Eulen nach Athen zu tragen. Denn wo immer Sie das Wort ergriffen haben: Um das, was jetzt allerseits flott aus berufenem und unberufenem, oft nur berufs- oder geschäftsmäßigem Munde »deutsche Belange« genannt wird, darum ist es Ihnen aus verschiedenem Anlass, aus wohlerwogenen Gründen – allgemeine Billigkeit, Menschlichkeit, tätige Vernunft – eigentlich seit jeher gegangen.

Ich jedenfalls habe Sie so gelesen und erfahren; und ich versuche mir jetzt damit zu helfen, indem ich ganz unrhetorisch vorgehe. Nicht bedacht auf die schönen diskursiven Bögen – wie ich sie an Ihren Reden von Kanzel und Katheder, von Tribüne oder Tisch aus bewundere, ein Thema durch markante Thesen gliedernd, wohlgewählt die Zitate, genau an der rechten Stelle die Pointen, im Resultat überzeugende Schlussfolgerungen –, sondern ganz bruchstückhaft, willkürlich, lediglich den Einfällen und ersten Assoziationen vertrauend, die mir kamen, als ich in den letzten Tagen noch rasch wieder kreuz und quer in Ihren Schriften las – Romane (nimmt Ihr »Herr Meister« nicht schon geistreich das gegenwärtige Spiel der Postmoderne vorweg?), Stücke, Übertragungen aus dem Altgriechischen und Ihre Adaptionen dazu, »Die Friedensfrau« nach der »Lysistrate« des Aristophanes, und, kaum auf einen Blick überschaubar, Essays und Reden, erstaunliche Vielfalt, beneidenswertes Volumen bei akkuratem Radius. Wer Sie neulich am Robert-Koch-Platz zur Literatur der Bundesrepublik gehört hat, wird amüsiert Ihrem Selbsturteil zustimmen, mit dem Sie sich auf dem weiten Feld der Literatur einem Zehnkämpfer in der Sportarena verglichen, und da nähmen Sie es schon mit manchen Zeitgenossen auf. Dem Essayisten aber, der bewusst und ingeniös über ein großzügiges rhetorisches Vermögen verfügt, würde ich ohne Zögern den Lorbeer reichen, weil ich dafürhalte, dass Sie in diesem Bereich ganz sich selbst eingeben, offenbaren und vollenden, andere lebhaft inspirierend, wie ich Sie seit ersten Begegnungen und Gesprächen nun immer vor mir sehe: persönlich, unprätentiös, ohne Pose, aber gestenreich Ihrer Sache gewiss, der Sie sich jeweils energisch annehmen, erregt von Unrast – schon Ihr Arbeitspensum scheint mir Ihre sensible Konstitution zu übersteigen –, ständig angespannt bis zur Nervosität, doch im Zuhören und Antworten überraschend konzentriert, fast bedächtig, selbst bei böswilligen gegnerischen Attacken – die Sie nicht erst in diesen Wochen deutsch-deutschen Disputs profilierungsbeflissener Feuilletonisten abbekommen –, wie Sie also in solchen Situationen, dazu bei allergischer Veranlagung, den provozierten Adrenalinausstoß mit überlegener Intelligenz in gemessene, gezielte Formulierung umsetzen, den Fundus humanistischer und literarischer Bildung mühelos abrufbar, ohne damit geltungssüchtig aufzutrumpfen, das macht Sie in meinen Augen zu einem legitimen, integren Redner, nicht nur von Profession, sondern seinem Temperament nach, wie von Natur.

Entferne ich mich vom vorgegebenen Pensum unserer Veranstaltung? Ich nähere mich ihm, indem ich aus der intellektuellen Physiognomie eines Mannes auf sein Anliegen, seine Mission schließen möchte; eines Autors – nun doch ein paar Fakten –, der ein Buch »Von deutscher Rede« verfassen musste, »Republikanische Reden« selbstverständlich, den großen Wissenschaftsreport über eine deutsche Gelehrtenrepublik Tübingen, ins Zentrum zielende Monographien über deutsche und europäische Dichter dieses Jahrhunderts »Statt einer Literaturgeschichte«, »Ort der Handlung ist Deutschland. Reden in erinnerungsfeindlicher Zeit«. Gab es erinnerungsfreundliche Zeiten?

Buffons berühmtes Aperçu, wonach der Stil der Mensch ist, bestätigt sich für mich im Schreiben, Reden und Tun von Walter Jens auf glückliche Weise. Man weiß, wie er schon vor Jahren an den Gottesdiensten der »Kirche von unten« in Halle an der Saale teilnahm, als dort mit Kerzen in den Händen der protestantische Widerstand gegen das Regime begann. Er saß mit den Demonstranten auf nacktem Boden vor den Raketenbasen im schwäbischen Mutlangen und hat dafür seinen staatlich verordneten Prozess mit Urteil bekommen.

Nein, an seine Verantwortung und moralische Haltung in Bezug auf deutsche Fragen braucht ihn niemand zu erinnern. Dass man sie ihm nun als Schriftsteller frech und impertinent zum Vorwurf macht, wer hätte das gedacht? Keine vergebliche Polemik, nur ein Zitat, apropos Mensch und Stil:

»Die unterbliebene (und auf fürchterliche Weise von der RAF-Generation exekutierte) Auseinandersetzung mit denen, ›die Auschwitz möglich gemacht haben‹, halste den moralisch engagierten Autoren der BRD (und auf andere Weise jenen der DDR) ein humanitäres und politisches Debet auf, von dem die ästhetischen Zinsen, die zum Beispiel jemand wie Grass erwirtschaftet hatte, aufgezehrt wurden.«2 Fürwahr ein Sätzchen, zwischen den Fingern zu reiben. Wie da das Vokabular von Bank und Finanzen mit Sollseite Akonto, mit erwirtschaftetem und aufgezehrtem Zinssatz auf Schriftsteller, Literatur und Ästhetik übertragen und angewandt wird – der Stil allein kann einen Analytiker abschrecken, bevor ihn die Lust ankommt, sich in der Sache einzulassen. Da argumentieren? Vielleicht mit dem bekannten Versaphorismus von Ernst Jandl, durchaus nicht nur politisch auszulegen:

manche meinen

lechts und rinks

kann man nicht

velwechsern.

werch ein illtum!

Ästhetik und Moral im Kunstwerk sind nicht zu trennen, kaum zu trennen ist das Werk von der Gesinnung seines Autors, so seltsame Wechselbeziehungen und Paradoxe sich zuweilen auch auftun und die Szene einnehmen.

»Mit postmoderner Beliebigkeit möchte ich nichts zu tun haben«, sagte Jens 1987 im Gespräch; und schon im Essay »Nachdenken über Heimat« von 1984 heißt es: »Deutschland, das ist eine Vokabel aus dem Geschichtsbuch und, dazu, natürlich ein Wort, das an Schuld erinnert, von deren Aufarbeitung das Mehr oder Minder an gesellschaftlichem Ansehen so gut wie die moralische Existenz jedes einzelnen abhängen sollte.«

Sechs Jahre später: »Es ist die Aufgabe der Intellektuellen – und, bei Gott, nicht nur der Intellektuellen –, mit dem Blick auf die gemeinsame Geschichte und die gemeinsame Schuld aller Deutschen Fragen zu stellen, im Akt des Gegen-den-Strom-Schwimmens und der sokratischen Verfremdung, die ebenso unbequem wie nützlich sind.« Gesagt auf einem Colloquium im Mai 1990, schon im Bewusstsein der Bürgerbewegung, die sich nach dem von ihr mit herbeigeführten Sturz des bankrotten Systems in diesem Teil Deutschlands bereits neuen staatlichen Vereinnahmungen gegenübersieht. Wenn es mich nicht täuscht, sieht diese radikal demokratische Bürgerbewegung, im Osten wie im Westen, Walter Jens auf ihrer Seite.

Er, der unbelehrbar und hartnäckig altmodisch darauf beharrt, »das Erbe der Aufklärung zu hüten«. Er hat sich dabei auf Lessing und Heine als Schutzheilige berufen und im Zuge seines großen Essays »In Sachen Lessing« die phantastische Konstellation hergestellt, dass Lessing und Heine auf elysäischen Gefilden in einen imaginären Dialog miteinander geraten – ein Stück, in dem sich die rhetorischen und poetischen Gaben unseres Autors aufs Trefflichste ergänzen und vereinen. Im Ringen um die Lösung der ewigen Menschheitsfragen verkündet Lessing den Tod des Mephistopheles, entwirft die Versöhnung Shylocks mit Antonio zu einer Figur: Utopie eines Menschbürgers für alle, die guten Willens sind. Heine – er hat Revolutionen kommen und vergehen sehen – holt den Kollegen auf den nüchternen Boden der Tatsachen zurück: »Wissen Sie, lieber Freund, wir haben heute andere Spiele […]. Was damals der Spielsaal war, ist jetzt die Börse […]: Das Steigen und Fallen der Kurse, […] das Träufeln der Zinsen, dazwischen das leise Schluchzen der Armut – das ist die Melodie des Jahrhunderts!«

Da finden wir uns jäh wieder zurückversetzt hier in den Apollosaal. Geschichte wiederholt sich nicht: was sich wiederholt, ist der ewig unentschiedene Konflikt zwischen »Geist und Macht«, Titel eines Essays von Walter Jens über Literatur und Politik in Deutschland, das eben eine aktuelle Wende in diesem Streit erlebt. Gestalten wie die »Göttinger Sieben«, Rahel Levin und Rosa Luxemburg, Heinrich Mann und Ossietzky werden uns da ins Gedächtnis gerufen, denen bisher kein nationales Pantheon errichtet wurde. Jens zitiert: »Auch dies, Land, ist deine Geschichte. Es könnte wichtig für dich sein, gerade heute, da sichtbar geworden ist, wohin die von den Siegern geschriebene Historie geführt hat, sich – spät, aber nicht zu spät – an sie zu erinnern.«

Ich nehme an, Walter Jens wird uns in diesem Sinne eine Rede halten. Ich weiß es zu schätzen, mit ihm in einem Lande zu leben.

1990

Günter de Bruyn (geb. 1926), bedeutender Schriftsteller von Romanen, die vor allem in seiner brandenburgischen Heimat angesiedelt sind, einer fundierten Autobiographie und Werken zur preußischen Literaturgeschichte wie »Als Poesie gut« und »Die Zeit der schweren Not«.
Wir waren befreundet und gaben von 1980 bis 1990 die Bände des »Märkischen Dichtergartens« heraus, wichtige und übersehene Werke dieses Landes, wie zum Beispiel von Achim und Bettina von Arnim, Rahel Varnhagen, Heinrich Heine oder Friedrich de la Motte Fouqué, die im Ostberliner Buchverlag Der Morgen und im Westen als Taschenbuch bei S. Fischer erschienen.

Günter de Bruyn
»Mein Brandenburg«

»Von guten oder schlechten Absichten allein lebt Literatur so wenig wie von Erfindung; sie lebt von Wirklichkeit« – ich stelle den Satz, den Günter de Bruyn als ein Resümee seiner Vertiefung in das Werk des Brandenburger Romantikers Friedrich Baron de la Motte Fouqué findet, meinen Betrachtungen voran, die ich für mich als Anhaltspunkte mit »Lesefreuden und Schreibschwierigkeiten« untertitelt habe, da ich es mir nicht so leicht machen will, wie es aus Anlass solcher Buchpremieren üblich ist, einfach zu rühmen, was mir an diesem rundum schön gestalteten Buch vortrefflicher Prosa aus nun wahrlich profunder Sachkenntnis gefällt; weil ich denke, dass man ihm damit nur oberflächlich gerecht würde und dass ich, aus Gründen, über die ich sprechen will, dazu auch gar nicht in der Lage wäre.

Ich erkläre mich für befangen; was nun mehrdeutig heißt – ich habe bei Hermann Paul noch mal nachgeschaut – : Ich befasse mich mit einem Thema »verlegen im Benehmen«, »nicht frei im Urteil«, also in die Sache selbst involviert und im Bemühen, dafür die rechten Worte zu finden, weil ich an der Entstehung manchen Kapitels in diesem Buch Anteil nahm. Sind es doch Beiträge zu einer Arbeit, die uns über gut ein Jahrzehnt hin beschäftigte und verband. Lust und Last literarischer Streifzüge und Exkursionen, Wiederentdeckungen und Deutungen, eben Freud und Leid – um es auf diese knappen Assonanzen zu bringen – vor dem Hintergrund einer Lebenswirklichkeit in diesem Land, an die wir nun verschiedene Erfahrungen und Erinnerungen knüpfen, unterschiedliche Absichten und Empfindungen. Manchmal glaubt man schon, nicht in der gleichen Wirklichkeit gelebt zu haben, um mit Goethen zu sprechen: »Man weiß eigentlich das, was man weiß, nur für sich selbst.« (»Maximen und Reflexionen«)

Denn als man mich aufforderte, heute hier über dieses Buch Günter de Bruyns zu sprechen, habe ich befangen gezögert, wie er daran gezweifelt haben wird, ob ichs tun würde, weil wir uns – das gehört zu diesen Zeitläuften deutscher Vereinigungsquerelen, und deshalb rede ich davon – seit gut drei Jahren nicht mehr gesprochen haben, sondern uns, befangen, eher aus dem Wege gegangen sind, obgleich es selbst an offiziellen Gelegenheiten, sich zu treffen, nicht gefehlt hätte. Ich hörte seine Rede zur Leipziger Buchmesse 1992, ohne ihm danach die Hand zu schütteln, er ging an meinem Messestand vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Unsere Interessen, um es auf die banale Formel zu bringen, hatten sich voneinander entfernt und begegneten sich nicht mehr. Er fand endlich für sein Werk die weithin öffentliche Ehrung und Anerkennung, Wertschätzung als Erzähler und Essayist, die er verdient und in unseren Augen längst hatte, so dass uns manche Begleitmusik und Zungenschläge dazu mehr störten, als dass wir die Freude darüber mit ihm geteilt hätten, wie wir ihm zuvor die verdiente Würdigung längst gewünscht, und, wo wir konnten, dafür plädiert hatten. (Das »wir«, in das ich manchmal gerate, ist kein Pluralis Majestatis, wie Günter gut weiß.) Er wiederum missbilligte manche unserer Entscheidungen und Auftritte während jener Wendezeit; für die andere Literatur, für die ich mich seit Jahren engagierte, konnte er kaum Sympathie aufbringen; Herausforderung durch eine respektlose nachfolgende Generation, die ihn nicht zur Kenntnis nahm und ihm schon ihrem ästhetischen Selbstverständnis nach zuwider sein musste.

Das Gespräch, wie es aus persönlicher Freundschaft über uns beide bewegende oder bedrückende Tagesereignisse und Arbeitsvorhaben üblich gewesen war, wurde nicht mehr gesucht; Tagungen und Institutionen sahen uns an getrennten Tischen wie in gegnerischen Lagern; man sprach den anderen nicht mehr persönlich, sondern bediente sich, wie es jetzt Brauch war, der öffentlichen Medien. Seine Vermittlungsversuche, soweit er dazu ansetzte, zwischen »Jubelschreien« und »Trauergesängen«, wie er es nannte, im geübten Spektakel eine andere Tonart anzuschlagen, fanden ihn, wie uns auf andere Weise, zwischen den Stühlen – aber leider haben wir auch darüber, vermutlich weil es nicht die gleichen Stühle waren, keinen Dialog versucht. Ich weiß nicht, ob er das so bedauert wie ich, hoffe es aber doch. Jedenfalls regt mich sein Buch dazu an, oder ich lasse mich – nicht die schlechteste Wirkung – von ihm provozieren, wenigstens in ein paar Sätzen darüber zu sprechen. (Vielleicht ist es doch langsam an der Zeit, dass Leute wieder miteinander zu reden beginnen, sich, vielleicht deutlicher jetzt als zuvor, ruhig ihre Meinung sagen, wie sie es seit dem Fall der Mauer nicht mehr getan haben, weil Vorbehalte und andere Grenzen sie seitdem trennen. Denn das, was man inzwischen unter öffentlichem Meinungsstreit in Deutschland versteht, und wie ihn Großmedien an- und abblasen, kann es doch wohl nicht sein. Um Bobrowski zu zitieren: »denn was das heißt, mit jemand deutsch reden, das wissen wir. Da lieber schon friedlich« – und nicht in Zeitungs-Schlagetotzeilen und TV-Shows mit ihren Exerzitien wohlbesetzter gegenseitiger Anschuldigungen und Bezichtigungen, wo einer dem anderen gar nicht zuhört, seine Repliken schon vorher parat hat, geschweige denn um gegenseitiges Verstehen bemüht ist.)