Maigret und die Bohnenstange

Wo Maigret eine alte Bekannte wiedertrifft, die auf ihre Art solide geworden ist, und wo es um den traurigen Alfred und vermutliche sterbliche Überreste geht

Auf dem Blatt, das der Bürodiener hatte ausfüllen lassen und Maigret nun hinhielt, stand wortwörtlich:

Ernestine, genannt Bohnenstange (geborene Micou, inzwischen Jussiaume), die Sie vor siebzehn Jahren in der Rue de la Lune festgenommen haben und die sich dabei n… gemacht hat, um Sie in Rage zu bringen, ersucht um die Ehre, mit Ihnen dringendst über eine höchst wichtige Angelegenheit zu sprechen.

Maigret warf einen Blick zum alten Joseph, ob der wohl den Text auch gelesen hatte, doch der weißhaarige Mann zeigte keinerlei Regung. In den Büros der Kriminalpolizei war er an diesem Morgen wohl der Einzige in Hemdsärmeln, und zum ersten Mal in all den Jahren fragte sich der

Es gibt so Tage, an denen man sich die albernsten Fragen stellt. Vielleicht lag es an der Hitze. Vielleicht war es auch die Ferienstimmung, die einen davon abhielt, die Dinge allzu ernst zu nehmen. Die Fenster standen weit offen, und der Straßenlärm von Paris drang herauf ins Büro, wo Maigret, bevor Joseph eingetreten war, einer Wespe dabei zusah, wie sie herumschwirrte und unweigerlich immer an derselben Stelle gegen die Decke prallte. Gut die Hälfte der Inspektoren war am Meer oder auf dem Land. Lucas trug einen Panamahut, der sich an ihm ausnahm wie eine Eingeborenenhütte oder ein Lampenschirm. Der große Chef war am Vortag wie jedes Jahr in die Pyrenäen gefahren.

»Betrunken?«, fragte Maigret den Bürodiener.

»Ich denke nicht, Monsieur Maigret.«

Wenn sie zu viel getrunken haben, verspüren manche Frauen ja das Bedürfnis, der Polizei Enthüllungen aufzutischen.

»Nervös?«

»Sie hat mich gefragt, wie lang sie warten muss, und ich habe ihr gesagt, dass ich nicht mal weiß, ob Sie sie empfangen werden. Darauf hat sie sich in den Warteraum gesetzt und nach einer Zeitung gegriffen.«

In der Nähe der Porte Saint-Denis war es gewesen, eine Gasse mit zwielichtigen Hotels und Imbissbuden, die Waffeln und Pfannkuchen feilboten. Er war damals noch nicht Kommissar. Die Frauen trugen gerade geschnittene Kleider und ließen sich die Haare im Nacken ausrasieren. Um über das Mädchen Erkundigungen einzuholen, hatte er mehrere Kneipen betreten müssen und dort, wie der Zufall es wollte, ein paar Pernod getrunken. Deren Duft hatte er nun in der Nase, und auch den Geruch nach Fuß- und Achselschweiß, der in dem kleinen Hotel herrschte. Das Zimmer lag im dritten oder vierten Stock. Erst erwischte er die falsche Tür und hatte einen Schwarzen vor sich, der auf dem Bett saß und Akkordeon spielte, vermutlich ein Tanzmusiker. Ohne innezuhalten, wies der Mann mit dem Kinn zur Nachbartür.

»Herein!«

Eine heisere Stimme. Da hatte jemand zu viel getrunken oder zu viel geraucht. Drinnen, neben dem Fenster zum Hof, stand eine

Sie war so groß wie Maigret, vielleicht sogar noch größer. Ungerührt musterte sie ihn und sagte dann:

»Sind Sie Bulle?«

Er fand die Brieftasche mit den Geldscheinen auf dem Spiegelschrank, was sie hinnahm, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Das hat eine Kollegin von mir verbrochen.«

»Was für eine Kollegin?«

»Wie sie richtig heißt, weiß ich nicht. Alle nennen sie Lulu.«

»Und wo ist sie?«

»Suchen Sie sie. Das ist doch Ihr Beruf.«

»Ziehen Sie sich an und kommen Sie mit.«

Es ging lediglich um einen Freier, der sich von einer Prostituierten hatte ausnehmen lassen, doch bei der Kriminalpolizei maß man dem Fall eine gewisse Bedeutung bei, nicht wegen der Summe, obwohl sie nicht unerheblich war, sondern weil es sich um einen reichen Viehhändler aus der Charentes handelte, der schon seinen Parlamentsabgeordneten mobilisiert hatte.

»Wegen Ihnen verzichte ich doch nicht auf mein Kotelett!«

Es gab in dem winzigen Zimmer nur einen Stuhl, so blieb Maigret stehen, während das Mädchen

Sie mochte damals um die zwanzig gewesen sein, blass, die Augen farblos, ein langes, knochiges Gesicht. Maigret sah ihr zu, wie sie mit einem Zündholz in den Zähnen herumstocherte und sich dann Kaffee aufbrühte.

»Ich habe gesagt, Sie sollen sich anziehen.«

Er schwitzte, und der Geruch im Hotel setzte ihm zu. Ob sie wohl merkte, wie unwohl er sich fühlte?

In aller Seelenruhe zog sie ihren Morgenmantel aus, dann ihr Unterhemd und ihr Höschen. Splitternackt legte sie sich auf das ungemachte Bett und zündete sich eine Zigarette an.

»Ich kann warten«, sagte Maigret ungeduldig und bemühte sich, woandershin zu sehen.

»Ich auch.«

»Ich habe einen Haftbefehl.«

»Dann verhaften Sie mich doch.«

»Ziehen Sie sich an und kommen Sie mit.«

»Ich fühle mich so ganz wohl.«

Es war eine lächerliche Situation. Das Mädchen lag ruhig da, völlig passiv, nur seine Augen funkelten ironisch.

»Sie wollen mich verhaften, schön und gut, aber Sie werden wohl nicht erwarten, dass ich Ihnen dabei helfe. Das ist hier mein Zimmer, es ist heiß,

Mindestens zehn Mal wiederholte er:

»Ziehen Sie sich an!«

Vielleicht wegen ihrer blassen Haut, oder weil das Zimmer so schäbig war, hatte er das Gefühl, noch nie eine derart nackte Frau gesehen zu haben. Vergeblich warf er ihre Kleider aufs Bett, drohte ihr, versuchte es mit Überredungskunst.

Schließlich ging er hinunter und holte zwei Polizisten zur Verstärkung. Nun wurde die Szene vollends grotesk. Sie mussten das Mädchen unter Zwang in eine Decke hüllen und es wie ein Paket durch das enge Treppenhaus tragen, in dem überall Türen aufgingen.

Seither hatte er sie nie wieder gesehen und auch nichts mehr von ihr gehört.

»Lassen Sie sie hereinkommen«, seufzte er.

Er erkannte sie sofort. Sie schien sich gar nicht verändert zu haben. Langes, bleiches Gesicht, wässrige Augen, und der breite, zu stark geschminkte Mund, der wie eine blutende Wunde aussah. In ihrem Blick fand er auch jene stille Ironie wieder, wie sie Menschen eigen ist, die so viel gesehen haben, dass ihnen nichts mehr wichtig erscheint. Sie trug ein annehmbares Kleid, einen hellen Strohhut und Handschuhe.

»Sind Sie mir noch immer böse?«

»Darf ich mich setzen? Ich weiß schon, dass Sie befördert worden sind, darum haben wir uns nie mehr gesehen. Rauchen ist doch gestattet?«

Sie holte eine Zigarette aus der Tasche und steckte sie an.

»Zuallererst: Damals war ich im Recht, aber das soll kein Vorwurf sein. Ein Jahr haben sie mir aufgebrummt, und das ganz unverdient. Diese Lulu gab es nämlich wirklich, Sie haben sich nur nicht die Mühe gemacht, sie zu finden. Wir waren zusammen, als wir dem Fettwanst mit dem vielen Zaster begegneten. Er nahm uns beide mit, aber als er mich betatschte, sagte er, ich soll mich zum Teufel scheren, weil Magere ihm die Laune vermiesen. Ich habe draußen im Gang gewartet, und eine Stunde später hat Lulu mir die Brieftasche gegeben, damit ich sie verstecke.«

»Was ist aus Lulu geworden?«

»Vor fünf Jahren hatte sie im Süden ein kleines Restaurant. Ich wollte Ihnen nur zeigen, dass jeder sich mal irren kann.«

»Und deshalb sind Sie gekommen?«

»Nein. Ich möchte mit Ihnen über Alfred reden. Wenn er wüsste, dass ich hier bin, würde er wieder sagen, dass ich eine dumme Gans bin. Ich hätte mich auch an Inspektor Boissier wenden können, der kennt ihn gut.«

»Mein Mann. Mein richtiger Ehemann, standesamtlich und sogar kirchlich, denn er hat noch was Frommes an sich. Inspektor Boissier hat ihn ein paarmal verhaftet, und einmal hat er sich fünf Jahre in Fresnes eingehandelt.«

Ihre Stimme klang fast rau.

»Der Name Jussiaume sagt Ihnen vielleicht nichts, aber wenn Sie seinen Spitznamen hören, wissen Sie bestimmt Bescheid, der steht oft in der Zeitung. Der traurige Alfred.«

»Panzerschränke?«

»Genau.«

»Haben Sie sich gestritten?«

»Nein. Es ist nicht so, wie Sie denken. Ist nicht meine Art. Sie kennen Alfred also?«

Gesehen hatte Maigret ihn noch nicht, oder zumindest nur flüchtig, wenn der Einbrecher darauf wartete, von Boissier verhört zu werden. Ihm stand vage ein schmächtiges Männchen mit flackerndem Blick vor Augen, die Kleider zu weit für seinen mageren Körper.

»Wir beurteilen ihn natürlich nicht auf die gleiche Art«, sagte sie. »Er ist ein armer Kerl, aber interessanter, als Sie wohl denken. Ich lebe seit bald zwölf Jahren mit ihm, da kenne ich ihn allmählich.«

»Und wo ist er?«

»Keine Angst, dazu komme ich gleich. Ich weiß

Er musterte sie neugierig, denn sie sprach mit entwaffnender Natürlichkeit. Weder zierte sie sich noch versuchte sie ihn zu beeindrucken. Sie brauchte nur deshalb lange, um den Fall zu schildern, weil er tatsächlich kompliziert war.

Dennoch stand da etwas zwischen ihnen, und das versuchte sie zu überwinden, damit er sich keine falschen Vorstellungen machte.

Mit dem traurigen Alfred hatte Maigret nie direkt zu tun gehabt, er wusste lediglich, was im Haus so über ihn geredet wurde. Er war fast eine Berühmtheit, und die Zeitungen berichteten gern über ihn, weil er so ein Original war.

Lange hatte er bei der Firma Planchart gearbeitet, die Panzerschränke herstellte, er war einer ihrer besten Fachkräfte gewesen. Schon damals war er trübsinnig und verschlossen gewesen, noch dazu kränkelnd, immer wieder hatte er epileptische Anfälle gehabt.

Boissier würde Maigret gewiss sagen können, unter welchen Umständen Alfred die Firma Planchart verlassen hatte.

Jedenfalls stellte er nun keine Panzerschränke mehr auf, sondern knackte welche.

»Natürlich nicht. Aber nicht ich habe ihn auf die schiefe Bahn gebracht, falls Sie das meinen. Er machte Gelegenheitsarbeiten, half hin und wieder bei einem Schlosser aus, aber ich merkte schnell, was wirklich los war.«

»Meinen Sie nicht, Sie sollten sich lieber an Boissier wenden?«

»Der ist für Einbrüche zuständig, nicht wahr? Aber Sie kümmern sich um Mordfälle.«

»Hat er jemanden getötet?«

»Hören Sie, Herr Kommissar, ich glaube, wir kommen schneller voran, wenn Sie mich einfach erzählen lassen. An Alfred kann man alles Mögliche aussetzen, aber um nichts auf der Welt würde er jemanden umbringen. Bei einem Mann wie ihm hört es sich komisch an, aber er ist ein Sensibelchen und heult wegen jeder Kleinigkeit los, davon kann ich ein Lied singen. Manche würden sogar sagen, er ist ein Waschlappen. Vielleicht liebe ich ihn deswegen so.«

Ruhig blickte sie Maigret an. Den letzten Satz hatte sie nicht besonders betont, doch klang daraus ein gewisser Stolz.

»Wenn die Leute wüssten, was ihm so alles durch den Kopf geht, wären sie vermutlich erstaunt. Aber nun ja, für Sie ist er nur ein Dieb. Er hat sich

Alfred hofft immer, irgendwann ein großes Ding zu landen, damit wir dann auf dem Land leben können. Das war schon als Kind sein Traum.«

»Wo wohnen Sie?«

»Am Quai de Jemmapes, gegenüber der Schleuse von Saint-Martin. Wissen Sie, wo das ist? Wir haben da zwei Zimmer über einem grün gestrichenen Bistro, das ist praktisch, wegen dem Telefon.«

»Ist Alfred jetzt dort?«

»Nein, ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht weiß, wo er ist, das können Sie mir ruhig glauben. Er hat ein Ding gedreht, nicht letzte Nacht, sondern vorletzte.«

»Und dann ist er abgehauen?«

»Moment, Herr Kommissar! Sie werden noch sehen, dass alles, was ich Ihnen erzähle, von Bedeutung ist. Sie kennen doch auch Leute, die Woche für Woche Lotto spielen, oder? Manche sparen sich das Los vom Mund ab, weil sie sich einbilden, ein paar Tage drauf sind sie endlich reich. Tja, und bei Alfred ist das auch nicht anders. Es gibt in Paris Dutzende von Panzerschränken, die er aufgestellt

»Er hofft also auf einen richtigen Batzen Geld.«

»Genau.«

Sie zuckte mit den Schultern, als redete sie vom harmlosen Fimmel eines Kindes.

»Er hat aber auch Pech. Meistens fallen ihm Wertpapiere in die Hände, die man nicht verscherbeln kann, oder Unterlagen. Nur einmal hätte es sich wirklich gelohnt, da hätte er ausgesorgt gehabt, und ausgerechnet da hat Boissier ihn geschnappt.«

»Waren Sie dabei? Haben Sie Schmiere gestanden?«

»Nein, das wollte er nie. Anfangs sagte er mir noch, wo er hinging, da war ich dann wie zufällig in der Gegend. Als er das merkte, hat er mich nicht mehr eingeweiht.«

»Aus Angst, dass Sie erwischt werden?«

»Vielleicht. Wahrscheinlich auch aus Aberglauben. Wissen Sie, obwohl wir zusammenleben, ist er ein Einzelgänger, und es kommt vor, dass er achtundvierzig Stunden lang kein Wort sagt. Wenn ich sehe, wie er abends mit dem Fahrrad losfährt, weiß ich, was das zu bedeuten hat.«

Maigret fiel wieder ein, dass man Alfred Jussiaume in manchen Zeitungen den »Einbrecher auf dem Fahrrad« genannt hatte.

Maigret fragte sich erneut, was sie eigentlich von ihm wollte. Als sie sich wieder eine Zigarette nahm, hielt er ihr ein entflammtes Zündholz hin.

»Heute ist Donnerstag. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch ist Alfred losgefahren, um einen Bruch zu machen.«

»Hat er Ihnen das angekündigt?«

»Ein paar Nächte hintereinander zog er immer zur gleichen Stunde los, das ist ein Zeichen. Bevor er in ein Haus oder ein Büro einbricht, ist er manchmal eine Woche lang auf der Lauer, um die Gewohnheiten der Leute auszukundschaften.«

»Und um sicherzugehen, dass niemand da ist?«

»Nein. Das ist ihm egal. Ich glaube sogar, er arbeitet lieber, wenn Leute da sind, als wenn alles leer ist. Er kann sich in einem Raum bewegen, ohne das leiseste Geräusch zu machen. Hundertmal hat er sich nachts neben mich gelegt, ohne dass ich merkte, dass er wieder da war.«

»Wissen Sie, wo er vorletzte Nacht gearbeitet hat?«

»Nur, dass es in Neuilly war, und das habe ich

Ich frage ihn noch:

›Wo genau war das?‹

›Hinter dem Jardin d’Acclimatation. Ich kam gerade aus Neuilly.‹

Als er dann vorgestern mit der Werkzeugtasche loszog, wusste ich Bescheid.«

»Getrunken hat er nicht?«

»Er trinkt nie und raucht auch nicht. Würde er gar nicht vertragen. Er hat immer panische Angst vor einem Anfall und schämt sich furchtbar, wenn ihm das auf der Straße passiert, mit lauter Menschen um ihn herum, denen er leidtut. Bevor er los ist, hat er noch gesagt:

›Ich glaube, diesmal ziehen wir wirklich aufs Land.‹«

Maigret machte sich gelegentlich Notizen, die er unwillkürlich mit Kringeln verzierte.

»Um wie viel Uhr ist er am Quai de Jemmapes los?«

»So gegen elf, wie in den Nächten davor.«

»Dann muss er ungefähr um Mitternacht in Neuilly gewesen sein.«

»Wann haben Sie ihn wiedergesehen?«

»Ich habe ihn gar nicht wiedergesehen.«

»Und deshalb meinen Sie, dass ihm was zugestoßen ist?«

»Er hat mich angerufen.«

»Wann?«

»Um fünf Uhr morgens. Ich schlief noch gar nicht, weil ich so in Sorge war. Er fürchtet ja immer, dass er auf der Straße einen Anfall bekommt, und ich dagegen, dass ihm das beim Arbeiten passiert, verstehen Sie? Dann habe ich unten im Bistro das Telefon gehört. Unser Schlafzimmer liegt direkt darüber. Die Wirtsleute sind nicht aufgestanden, da habe ich mir gedacht, das muss für mich sein, und bin runtergegangen. Ich habe ihm sofort angehört, dass etwas nicht stimmt. Er redete leise.

›Bist du das?‹

›Ja.‹

›Bist du allein?‹

›Ja. Wo bist du?‹

›In der Nähe der Gare du Nord, in einer Kneipe. Hör zu, Tine‹ – so nennt er mich immer – ›ich muss unbedingt eine Zeit lang verschwinden.‹

›Hat dich jemand gesehen?‹

›Das ist es nicht. Ich weiß nicht. Ja, ein Mann hat

›Hast du das Geld?‹

›Nein, es ist passiert, bevor ich fertig war.‹

›Was ist passiert?‹

›Ich war gerade mit dem Schloss beschäftigt, da hat meine Taschenlampe in einer Zimmerecke auf einmal ein Gesicht beleuchtet. Ich dachte, da hat sich jemand ins Zimmer geschlichen und beobachtet mich. Dann habe ich gemerkt, dass die Augen tot waren.‹«

Sie blickte Maigret an.

»Ich bin mir sicher, dass er nicht gelogen hat. Wenn er jemanden getötet hätte, hätte er mir das gestanden. Ich erzähle Ihnen hier keine Märchen. Ich spürte, dass er nahe dran war, in Ohnmacht zu fallen. Er hat ja solche Angst vor dem Tod …«

»Wer war der Tote?«

»Das weiß ich nicht, er hat nicht mehr dazu gesagt. Immer wieder meinte ich schon, er würde gleich auflegen. Er fürchtete, belauscht zu werden. Dann sagte er, er werde eine Viertelstunde später in einen Zug steigen.«

»Nach Belgien?«

»Wahrscheinlich, weil er ja bei der Gare du Nord war. Ich habe mir den Fahrplan angesehen, es gibt einen Zug um fünf Uhr fünfundvierzig.«

»Ich war gestern in dem Viertel und habe rumgefragt, aber ohne Ergebnis. Die Leute hielten mich wohl für eine eifersüchtige Ehefrau und wollten mir nichts sagen.«

»Also wissen Sie im Grunde nur, dass in dem Zimmer, in dem er arbeitete, eine Leiche lag?«

»Eine Frau war es, das hat er mir noch gesagt. Und dass ihre Brust blutüberströmt war und sie einen Telefonhörer in der Hand hielt.«

»Das ist alles?«

»Nein. Als er sich davonmachen wollte – ich kann mir gut vorstellen, in welchem Zustand! –, hielt vor dem Gittertor ein Auto.«

»Er hat also Gittertor gesagt?«

»Ja, das weiß ich noch genau, weil mir das Wort aufgefallen ist. Jemand ist ausgestiegen und zur Haustür gegangen. Als er hineinging, ist Alfred durchs Fenster getürmt.«

»Und sein Werkzeug?«

»Hat er dort gelassen. Zum Reinkommen hatte er ein Stück Scheibe herausgeschnitten. Da bin ich mir sicher, das macht er immer so. Ich glaube, das würde er sogar tun, wenn die Tür offen stehen würde, er ist nämlich ein wenig pedantisch, oder vielleicht abergläubisch.«

»Er ist also nicht gesehen worden?«

»Also war auch von einem Garten die Rede?«

»Erfunden habe ich das nicht. Als er durch den Garten schlich, hat jemand durchs Fenster gesehen und eine Taschenlampe auf ihn gerichtet, wahrscheinlich sogar die von Alfred, die hatte er ja liegen lassen. Er hat sich auf sein Fahrrad geschwungen und ist dann, ohne sich umzudrehen, bis zur Seine gefahren, ich weiß nicht genau, wohin. Das Rad hat er ins Wasser geworfen, weil er Angst hatte, dass man ihn daran erkennen könnte. Nach Hause traute er sich nicht, also ist er zu Fuß zur Gare du Nord und hat mich von dort angerufen und mich angefleht, nur ja niemandem was zu sagen. Ich wollte nicht, dass er wegfährt, und habe auf ihn eingeredet. Er versprach mir dann, mir postlagernd zu schreiben, wo er ist, damit ich nachkommen kann.«

»Das hat er aber noch nicht getan?«

»Der Brief hätte noch gar nicht ankommen können, ich war heute Morgen auf der Post. Seit vierundzwanzig Stunden denke ich ununterbrochen nach. Ich habe alle Zeitungen gekauft, ob nicht was über einen Frauenmord drinsteht.«

Maigret griff zum Telefonhörer und ließ sich mit dem Kommissariat Neuilly verbinden.

»Hallo, hier Kriminalpolizei. Ist Ihnen in den letzten vierundzwanzig Stunden ein Mord gemeldet worden?«

Maigret bohrte hartnäckig nach.

»Kein Leichenfund? Kein nächtlicher Alarm? Niemand aus der Seine gefischt?«

»Absolut nichts, Monsieur Maigret.«

»Keine Schüsse?«

»Keine.«

Die Bohnenstange saß geduldig da, als wäre sie zu Besuch, die Hände über der Tasche gefaltet.

»Verstehen Sie jetzt, warum ich zu Ihnen gekommen bin?«

»Ich denke schon.«