image

Mario Gmür

Psychiatrie in Bewegung

Wortmeldungen 1970–2017

image

Impressum

© 2018 Münster Verlag GmbH, Basel

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-905896-81-7

www.muensterverlag.ch

Inhalt

Vorwort

Schizophrenie

1.Der Schizophrene als Partner in der hausärztlichen Behandlung

2.Der Schizophrene und wir in der Praxis

3.Texte von Schizophrenen

Heroinsucht

4.Die Konzeptualisierung der Methadon-Behandlung von Heroinabhängigen

5.Die Grenzen der Methadonbehandlung von Heroinfixern

6.Die Methadonbehandlung von Heroinfixern – Konzept einer Therapiepolarisierung

7.Spritzenabgabe an Fixer – eine dringliche Massnahme

Mediengesellschaft

8.Wenn das Rampenlicht zerstörerisch wirkt – Beobachtungen zum Medienopfersyndrom (MOS)

9.Das Medienopfersyndrom

10.Negative Auswirkungen der Informationsgesellschaft

11.Das isovalente Zeitalter

12.Auf dem Weg zur total isovalenten Gesellschaft – Die Untergangskomödie der Intimität

Gewalt

13.Wahnsinnstat – wie es dazu kommen kann

14.Mörder

15.Der Richter und sein (forensischer) Denker

16.Ethische Wegweiser für Prognosestellung und Psychotherapie im Strafrecht sowie Straf- und Massnahmenvollzug

17.Missbrauchgefahr in Psychiatrie und Strafrecht

18.Psychotherapeutische Zwangsjacke

19.Elend und Verantwortung der forensischen Psychiatrie

Glücksspielsucht

20.Sozialkonzepte sind ein Witz

Überzeugung

21.Überzeugung und die Identität stiftenden Mechanismen

22.Wie ist meine Überzeugung beschaffen? Überzeugungstypen

23.Im Zweifel für den Zweifel

24.Stimmt es, dass Wissen dumm macht?

Narzissmus

25.Was ist Narzissmus?

26.Mutterglück … Ewige Brück

Biografie

27.Sauber ist, wenn man den Dreck nicht mehr wegbringt

28.Weihnachtsferien im Irrenhaus Rosegg

29.Die Probevorlesung

30.Die Seele landet im Giftschrank

31.Die letzten Hosen von Canetti

32.«Hast Du Legitimationskarte?» Über die Schweizermacherei

Vorwort

Als ich am 1. Dezember 1970 meine erste Arbeitsstelle als Assistenzarzt in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich antrat, sahen Lebenswelt und Psychiatrieszene anders aus als heute, weltweit und in der Schweiz. Vieles war nicht oder nur wenig bekannt: Laptops, Smartphones, Lokalradio und -fernsehen, tägliche Gratiszeitungen, Spielbanken und Spielsucht, Heroin und Heroinabhängige, Methadonbehandlungen, eine Vielzahl von heute gebräuchlichen Psychopharmaka. Die psychiatrischen Kliniken waren überwiegend geschlossen und Elektroschocks noch eine gängige Behandlung. Viele heutzutage selbstverständliche Dinge und Einrichtungen erlebte ich im Prozess ihrer Entstehung. Ich habe sowohl die Öffnung und Liberalisierung der Psychiatrie mit dem Aufschwung der Sozialpsychiatrie bis zu den neunziger Jahren als auch die seither erfolgten restaurativen Rückschritte mit dem Aufkommen einer kalten algorithmischen Diagnostik und einer repressiven Psychotherapie, besonders in der Gerichtspsychiatrie, erlebt.

Während meiner Tätigkeit als Psychiater – bis 1989 in psychiatrischen Kliniken und sozialpsychiatrischen Behandlungszentren und seither in der freien Praxis – war es mir immer wieder ein Bedürfnis, mich zu jeweils aktuellen und zum Teil umstrittenen gesellschaftspolitischen und psychiatrischen Entwicklungen zu äussern. Bei den publizierten Erfahrungsberichten, Konzeptualisierungsversuchen und kritischen Stellungnahmen war mir deren allgemeinverständliche Form Anliegen und Verpflichtung.

Der vorliegende Sammelband, der auch biografische Texte enthält, ist kein nachträglich verfasstes Erinnerungsbuch, sondern eine Zusammenstellung von unveränderten Originalbeiträgen in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Sie gibt dem Leser auch Anregung, sich auf die Ursprünge heutiger Gegebenheiten zu besinnen.

Zürich im Dezember 2017, Mario Gmür

SCHIZOPHRENIE

1.Der Schizophrene als Partner in der hausärztlichen Behandlung

Aus: Schweizerische Medizinische Wochenschrift 112 (1982): 1735–41, April 1980

Die Entwicklung der Psychiatrie im letzten Jahrzehnt war gekennzeichnet durch den Trend zur Dezentralisierung des psychiatrischen Geschehens von der zentralen Großklinik in den peripheren Lebens und Wirkraum von Familie, Beruf und Krankheit. Die Fortschritte der Psychopharmakologie und die Errichtung sozialpsychiatrischer Einrichtungen (Nachtkliniken, Tageskliniken, Ambulatorien) haben zu dieser zentrifugalen Entwicklung beigetragen und gleichsam den Schizophrenen der Gesellschaft zurückgegeben. Die Behandlung des Schizophrenen, insoweit es dazu kommt, geschieht vermehrt im Ambulatorium und/oder in der hausärztlichen Praxis. Kernstück jeder Konsultation ist neben dem Krankheitsangebot des Patienten, welches das Heilungsritual des Arztes herausfordert, die einfache Begebenheit, daß ein Patient zu uns kommt und von uns geht. In diesem Kommen und Gehen des Patienten drückt sich eine Aktionsdynamik aus, die eine innere emotionale Bewegung wiedergibt, die ihre Resonanz in der ärztlichen Reaktion von Empfangen und Entlassen (mit einem neuen Termin für die Wiederholung dieses Konsultationsrituales) sucht. Der Ablauf «Begegnung, Trennung und Wiederbegegnung» stellt einen sozialpsychologisch-dialektischen Zirkel dar, dessen Handhabung zur kardinalen Bewährungsprobe in der ärztlichen Konsultation im verstehenden Eingehen auf den Patienten wird. Die oft hintergründige Motivation des Patienten konstelliert sich und tut sich uns in einer szenischen Situation kund, die durch das Erscheinungsbild des Patienten, sein Kommen, Fragen, Fordern und Gehen, geprägt wird. Hausarzt sein und Medizin praktizieren heißt da: Situationen erleben. Dies begründet die Notwendigkeit, das Wesen der Krankheit aus dem Situationskontext der Arzt-PatientenBegegnung zu begreifen und darzustellen.

Situationen

Der klinikentlassene Patient (Überweisungssituation)

Als Folge der psychopharmakologischen und milieutherapeutischen Fortschritte werden Schizophrene heute häufiger als früher dem Arzt zur Nachbehandlung überwiesen. Diese Überweisung ist oft mit der Hoffnung und dem Auftrag verbunden, Rückfälle und Wiederhospitalisierungen zu vermeiden. Schon beim Lesen des Entlassungsberichtes ergeben sich dem Hausarzt Hinweise oder Fragen, die sich auf die Umstände der Entlassung beziehen: Ist der Patient geheilt entlassen worden? Steht er noch unter Psychopharmaka, die ihn vor einem Rückfall bewahren sollen? Ist er gegen ärztlichen Rat, vor der Ausschöpfung stationärer Möglichkeiten, vorzeitig ausgetreten, und hat die angeordnete ambulante Betreuung die Heilungs-und Besserungsschritte nachzuholen, die in der Klinik unterlassen wurden? Ist der Patient krankheitsbewußt und zur Nachbehandlung freundlich eingestellt? Welche Vorstellungen und Erwartungen trägt er bezüglich der Behandlung in sich? Wird er kommen? Zum vereinbarten Termin? Soll ich ihn behandeln, wenn er sich dagegen sträubt? Ist die Diagnose mit ihm zu besprechen? – Diese Fragen beziehen sich auf die äußeren Randbedingungen im Vorfeld der Konsultation und finden oft keine eindeutigen Antworten, weil die Motive des kommenden oder ausbleibenden Patienten im Irrationalen begründet sein mögen: Der Patient ist zwar nicht krankheitsbewußt, aber kommt pünktlich zur Konsultation aus Gehorsam gegenüber der Anweisung des Klinikarztes. Er kommt, weil er sich gerne dem Ritual einer ärztlichen Spritze unterwirft, ohne daß ihn die sachliche und fachliche Relevanz kümmert. Oder er sieht im Arzt schlicht einen Gesprächspartner, dem er von Zeit zu Zeit einen Höflichkeitsbesuch abstattet und von dem er zuhörende Präsenz und tatkräftigen Beistand erwartet, etwa in Form eines Zeugnisses zur Befreiung vom Militärdienst oder anderer Dienstleistungen.

Was geht im Schizophrenen Schizophrenes vor?

Daß der Patient, der uns aufsucht und den wir für 10–30 Minuten in unserer Agenda eingeschrieben haben, schizophren ist, wissen wir oft nur vom Hörensagen oder von Krankheitsberichten, manchmal von persönlicher früherer Erfahrung mit ihm. Nichts weist im gegenwärtigen Moment darauf hin, daß da eine Schizophrenie vorliegt. Er ist voll besonnen, freundlich, gesprächig. Vielleicht etwas kontaktarm, wortkarg und gefühlsmäßig stumpf, oder er zeigt einige sonderlingshafte Merkmale. Zeichen einer Schizophrenie? Residualsymptome?, oder Wetterleuchten eines herannahenden schizophrenen Gewitters? Uns interessiert, was sich in seinem Innenleben abspielt, aus welchem wir einige Signale empfangen. Ein Eindringen in seine Innenwelt durch bohrendes und symptom-orientiertes Fragen ist da wohl verfehlt, würde vom Patienten als ein verletzendes Herumstöbern in seiner Intimsphäre oder als ein Aufwühlen schmerzlich erlebter Vergangenheit empfunden. Die Psychopathologie leistet uns da einige Hilfe, allerdings nicht als ein Konglomerat von feststellbaren Einzelsymptomen, sondern als ein nachvollziehbares dynamisches System innerer psychischer Vorgänge, die sich, für uns wahrnehmbar und beobachtbar, an die Oberfläche als psychopathologische Symptombildungen projizieren. Nicht dieser Oberfläche des Symptombildes gilt unsere Zuwendung, sondern dem Geschehen im Patienten, das wir am besten zu erfassen vermögen, wenn wir Analoges im Gesunden suchen. BLEULER hat dieses Verständliche etwa im Begriffe der Ambivalenz gefunden und geprägt, das jedem Menschen vertraut ist als Hin- und Hergerissen sein zwischen Wollen und Nichtwollen, Tun und Nichttun usw. Die Lebenserfahrung lehrt uns, daß demjenigen, wogegen wir mit besonderer Heftigkeit den Donnerkeil unserer Empörung schleudern, oftmals auch unsere besondere Zuneigung gilt. Zitate der Literatur bringen diese Widersprüchlichkeit zum Ausdruck. Etwa: «… ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft …», «Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust».

Nach BLEULER hat uns auch CONRAD [1] einen Schlüssel zum Verständnis der schizophrenen Vorgänge gegeben, der uns für die Einschätzung und Behandlung schizophrener Verhaltensstörungen in der Ambulanz als wertvolle Verständnisgrundlage dient. Im Zentrum der schizophrenen Erkrankung steht nach CONRAD die Veränderung als verändertes Bedeutungsbewußtsein: Der Schizophrene regrediert gewissermaßen vom kopernikanischen Weltbild des Gesunden zum ptolemäischen des Schizophrenen. Er rückt selber in den Mittelpunkt allen Geschehens, von dem aus er alle Vorgänge in sich und um sich auf sich bezogen erlebt. Er ist in einer diffusen Wahnstimmung, aus der er mit übersteigerter Aufmerksamkeit der Dinge harrt, die da sind und kommen und, ehemals zufällig und selbstverständlich, ihm jetzt bedeutungsträchtig vorkommen. Sie faszinieren, ängstigen, bedrücken, bedrohen ihn. In diesem Zustand der Auflösung nimmt er die Umgebung in deren hervortretenden elementaren Wesenseigenschaften wahr: Der Schimmel wird, aufgegliedert in die beiden Wesensmerkmale «Pferd» und «weiß», erfaßt und als das «pferdene Weiß» wahrgenommen und bezeichnet. Die Welt wird in ihrer vielfältigen Symbolträchtigkeit erfahren, das Denken folgt assoziativ symbolischen Gleichungen, mitunter mit einer virtuosen Beweglichkeit, die manchen, der nicht übermäßig phantasiebegabt ist, neidisch machen könnte. Viele Menschen ergreifen die Flucht zu Drogen, um einen ebenbürtigen eidetischen Erlebnishunger zu stillen. Beim Schizophrenen ist indessen dieser veränderte Zustand oft begleitet von Gefühlen des Unbehagens, der Verunsicherung, der Angst. Dieses diffuse und nebulose Erleben verlangt nach Konkretisierung und Verdinglichung: Der Schizophrene mobilisiert in dieser bedrohlichen Verfassung alle möglichen Hilfsmittel, um die Bedrohung in den Griff zu bekommen, den unorganisierten Zustand zu organisieren. Er verlegt die Bedrohung von seinem Inneren nach außen. Es droht jetzt der Weltuntergang in Australien. Die Lokalisierung hilft, wenn auch unvollkommen, die apokalyptische Bedrohung zu bannen. Oder: Der Wirt vom «Goldenen Kreuz» hat Gift in die Suppe getan – Sündenböcke helfen in der Krankheit ebenso wie in der Politik, eine unerträgliche Situation besser auszuhalten.

Körperbewegungen, Schreien, Verwerfen der Arme usw., im Sprachschatz der Psychopathologie als «katatone Symptome» festgehalten, helfen ferner, das entschwundene Gefühl der körperlichen vitalen Leibhaftigkeit zurückzugewinnen und dem in Auflösung Begriffenen die Gewißheit zurückzugeben, «ich bin noch da, ich bin mich selbst». SCHARFETTER [2] hat diesen ich-psychologischen Aspekt in letzter Zeit herausgearbeitet. Das Ich als psychische Instanz der organisierenden Vermittlung zwischen innerem und äußerem Geschehen, des Ordnens und Ausrichtens des Denkens, Fühlens und Handelns, ist die Stätte des schizophrenen Geschehens in der bipolaren Anordnung von Desintegration (Auflösung) und Reparation (Wiederherstellung). Wahnbildungen und katatone Symptome stellen reparative Selbstheilungsversuche dar, die dem in einer Krise von Umbruch und Auflösung verlorenen Kranken Halt und das Gefühl von Eigenbestimmung verleihen. Verletzung und Narbenbildung sind die äquivalenten Erscheinungen (von Auflösung und Reparation) in der körperlichen Medizin. Als Ärzte lassen wir die Narbenbildung als Selbstheilungsvorgang gewähren, wenigstens solange sie nicht derart entartet, daß sie selbst zur Krankheit wird.

Wir haben bisher den inneren Zustand des Ichs als inneres Ordnungsprinzip in Betracht gezogen*). Die Auflockerung des inneren Zusammenhaltes hat indessen weitere Auswirkungen im Gefolge, nämlich eine Störung des Verkehrs zwischen dem Ich und seiner Umwelt. In einem Lande, dessen Regime aus den Fugen gerät, wird bekanntlich auch der Grenzverkehr· in Mitleidenschaft gezogen, Waren und Devisen können schrankenlos ohne Zollabfertigung ein und ausgeführt werden. Beim Schizophrenen, dessen innere Ordnung in Chaos versinkt, treten nicht minder Durchlöcherungen seiner Ich-Grenzen auf, was sich in seiner Eigen- und Fremdwahrnehmung dahingehend auswirkt, daß er zwischen innen und außen nicht mehr zu unterscheiden vermag, die innere Bedrohung als von außen kommend erlebt, seine eigenen Empfindungen auch beim Nachbarn vermutet usw.

Der paranoide Patient in der Praxis

Der drängende Paranoide

Beklagt sich der Patient, sein Nachbar bestrahle ihn mit Röntgen strahlen und nehme jede Nacht in seiner Küche Abtreibungen vor, so sind wir in einem Dilemma: Widersprechen wir seinen Behauptungen, wie der gesunde Menschenverstand und unsere Überzeugung uns gebieten, so fühlt er sich unverstanden und entzieht sich unserer weiteren Behandlung, die er anderswo fortsetzt. Unterstützen wir ihn, indem wir den Widerspruch vermeiden und gutes Einvernehmen herstellen, so verlieren wir unsere Aufrichtigkeit und müssen spätestens dann den Rückzug antreten, wenn der Patient uns das Mandat für die Verteidigung seiner Wahnrechte anträgt oder uns als Zeugen beansprucht. Nicht selten fehlt uns aber tatsächlich auch selbst die letzte Gewißheit, daß die Behauptungen des Patienten abstrus und unwahr sind. Denkbar ist es ja, daß der Nachbar die Blumenbeete mit Gift bestreut, oder daß das Telephon knackt, wie er meint. Jedenfalls tun wir gut daran, uns nicht voreilig zu positiven oder negativen Stellungnahmen hinreißen zu lassen. Unsere Bemühungen sind vielmehr darauf auszurichten, den Patienten von seinem inneren Druck zu entlasten. Die Kundgebung unserer Gefühle eignet sich besonders dafür, etwa teilnahmsvolles Staunen, z. B. ein erstauntes, halb fragendes, halb ausgerufenes «Ja, was!?». Oder: «Ja, das ist aber schwierig nachzuweisen». Oder: «Das ist aber unangenehm …». Solche inhaltlich neutrale, aber engagierte Äußerungen respektieren mindestens das subjektive Recht des Patienten, der seine Halluzinationen und Wahnvorgänge authentisch und leibhaftig erlebt. Stets auf der richtigen Linie befinden wir uns auch, wenn wir uns den vorgebrachten Wahn ausführlich und detailliert schildern lassen und so das von uns erwartete Interesse bekunden.

Die Divergenz von subjektiver und objektiver Betrachtung können wir dem Patienten zumeist nicht auf Anhieb plausibel machen. Sagen wir ihm, «das meinen Sie nur, Ihre Befürchtungen sind unbegründet», so wird er uns empört in die Reihe seiner Skeptiker, eventuell Verfolger verweisen, und wir haben ihn unwillkürlich aus unserer therapeutischen Beziehung verscheucht. Das Pünktchen auf das i unseres Unverständnisses ist für ihn, wenn wir ihm auf Anhieb Medikamente anbieten mit der Aussicht, «die Strahlen zu beseitigen», und ihn so indirekt zum Kranken stempeln. «Ich bin doch nicht etwa krank, Sie müssen das Gesundheitsamt benachrichtigen, damit diese dort die Röntgenstrahlen beseitigen», wird er uns entgegnen.

Sollen wir uns als Wahngehilfe für solche und ähnliche Ansprüche zur Verfügung stellen? Als wissenschaftlich orientierte Somatiker beurteilen wir diese Frage nüchtern-sachlich und weigern uns, uns auf die Seite des Wahns zu stellen. Hinsichtlich unserer Beziehung zum Patienten mag aber ein Mitspielen durchaus das Richtige und Heilbringende sein. Vergegenwärtigen wir uns an diesem Beispiel die innere Verfassung des Patienten: Er ist von Unruhe und Angst gequält und hat sich mit seinem Erklärungswahn wenigstens etwas zurechtgelegt, an dem er sich vor dem Sturz in den Abgrund einer apokalyptischen Krise retten und das er gleichzeitig als etwas Reparierbares darbieten kann, mit einem Appell an unser Verständnis und unsere Hilfsbereitschaft. Jede unsere Antwort ist hier stimmig, welche Aufgeschlossenheit gegenüber dem Anliegen des Patienten mit Wahrhaftigkeit unserer Stellungnahme verbinden kann. Zum Beispiel: «Mir scheint die Sache sehr sonderbar; ich will, wenn Sie so drängen, einmal mit der Polizei Kontakt aufnehmen und Ihnen dann wieder berichten». Oder: «Das kann ich fast nicht glauben!»; «Wäre es allenfalls denkbar, daß Sie sich das einbilden?» etc. etc. Meint ein an Altersparanoid leidender Patient, das Schloß seiner Wohnung in der Alterssiedlung sei «manipuliert» worden, so hat sich auch schon die Stellungnahme bewährt: «Dann wechseln wir doch einmal das Schloß aus, es ist ja keine Riesensache», und man hat vielleicht eine Beruhigung für einige Monate erzielt. Das Entscheidende ist, daß wir eine Gemeinsamkeit des Verständnisses oder Mißverständnisses mit dem Patienten herstellen, um ihn herauszuholen aus der Isolation und inneren Leere, in welcher er sein Wahngebilde aufbauscht.

Solche Reaktionsweisen eignen sich für den Auftakt’ einer ersten oder späteren Begegnung und immer dann, wenn unsere naturwissenschaftlichen Therapieangebote auf die irrationalen Widerstände des Patienten treffen. Unseren Standpunkt, der sich auf das ärztliche Wissen oder den gesunden Menschenverstand stützt, können wir dem Schizophrenen nur, wenn überhaupt, allmählich vermitteln, indem er sich durch eigene Erfahrungen und Konfrontationen mit der Realität zu einem Einlenken bewegen läßt.

Eine altersparanoide Patientin hielt zunächst an der Überzeugung fest, daß sie seit dem 6. Dezember letzten Jahres jeweils nachts von einem Lichtstrahl, der seinen Ursprung auf der anliegenden Straße habe, belästigt werde. Erst als sich in einem Gespräch herausstellte, daß dieser Lichtstrahl auch nach dem Umzug der Patientin in eine andere Wohnung jeweils zur selben nächtlichen Stunde erschien und ich ihr dazu erklärte, daß ich als Arzt häufig von älteren Leuten solche Klagen vernehme, meinte sie, «dann kommt der Lichtstrahl eben von innen heraus und ich bin krank», und war zur Einnahme von Neuroleptika bereit.

Der anspruchslose Paranoide (der Diplomatenmörder)

Anders sieht es aus, wenn der schizophrene Patient, der so beunruhigende und befremdende Äußerungen macht, keine Forderung nach Veränderungen an seine Umwelt richtet und auch uns davon verschont. Es sind dies oft Patienten, die ihren abstrusen Worten keine Taten folgen lassen, bei denen die Wahnphantasie die entsprechenden Taten geradezu erübrigt. Ein Patient beispielsweise erschreckt den Arzt seit Jahren bei jeder Konsultation mit der Ankündigung, er werde nun «einen Diplomatenmord begehen». Es wäre eine unverhältnismäßige Maßnahme, die Alarmglocke zu ziehen, eine Hospitalisierung zu veranlassen usw. Der Mordvorsatz (in seiner doppelten Großartigkeit, die dem Mord – und erst noch an einem Diplomaten – anhaftet) erledigt sich jedes Mal und hundertfach durch seine wiederholte Ankündigung, die dazu nicht mehr als einen Zuhörer mit aufmerksamer Zurückhaltung braucht. Schizophrene, die ihren Wahn mitteilen, bedürfen oft nur einer Spiegelung ihrer Phantasien und sind überfordert, wenn ihre metaphorisch gemeinten Äußerungen faktisch verstanden und für bare Münze genommen werden. Wir können es einem Patienten nicht verargen, wenn etwa bei jeder Konsultation seine Schrulle vom letzten Mal gegenstandslos geworden ist und einer neuen Idee Platz macht. Er will uns heute einen neuen, abstrus ausgetüftelten Intelligenztest vorführen und macht sich nichts mehr aus seinem überzeugend vorgebrachten Wunsch vom letzten Mal, einen Antiquitätenhandel aufzuziehen. Helas! So gehen wir auf sein aktuelles Thema ein. Ähnlich wie in der psychosomatischen Medizin die Kunst darin besteht, beides, das Somatische und das Psychische, im Auge zu behalten, müssen wir uns beim Schizophrenen auf die Realität und die Phantasie einstellen, ohne das eine gegen das andere auszuspielen.

Das verklungene Paranoid

Remittierte Schizophrene, die uns etwa von der Klinik zur Nachbehandlung überwiesen werden, stellen sich zur verklungenen Krise verschieden ein. Die einen mögen sich kaum erinnern, was in ihnen und mit ihnen vorgefallen ist, oder betrachten die Sache ganz einfach als überwunden. Es erwiese sich als völlig verfehlt, das Vergangene zu erforschen und aufzuwühlen. Der Kranke entgegnete uns, er möge sich an nichts erinnern, oder, er wolle darüber nicht sprechen, das wäre für ihn ein Anstechen alter Wunden. Bei anderen – es sind nicht wenige – richtet sich das Aussprachebedürfnis auf die psychotische Episode, und einige unter ihnen wünschen gar eine eigentliche psychotherapeutisch-systematische Bearbeitung und Bewältigung des Erlebten. So war ein Student der Überzeugung, er sei am Arbeitsplatz vom Vorgesetzten hypnotisiert worden und seither ein veränderter Mensch. In der Klinik habe dann der Oberarzt ihn nächtlicherweise hypnotisiert. Jetzt verlangt er von uns eine Erklärung für all das. Oder, eine Lehrtochter will von uns wissen, ob sie nochmals einen Rückfall erleiden könne und was sie dagegen tun könne.

Häufig verlangen Schizophrene auch Auskunft über ihre Restsymptome: Sie erleben die Welt nicht mehr gleich wie vorher, viel blasser. Sie spüren in der Straßenbahn den Zwang, anderen Fahrgästen eine Ohrfeige zu geben. Oder, die Häuser an der Bahnhofstraße stürzen auf sie ein. Weshalb? Solchen Beunruhigung anzeigenden Fragen sind nach meinen Erfahrungen oftmals Entgegnungen angemessen, die man als Analogiedeutungen bezeichnen könnte. Ich meine damit eine Art von normalpsychologischen Korrelaten oder Pseudoerklärungen. Es geht dabei darum, dem Patienten eine mögliche, denkbare, nicht unbedingt die richtige Erklärung aus dem Verständnishorizont des Gesunden zu geben und damit das beunruhigende Ereignis oder Symptom in eine Verstehensgemeinschaft zwischen Arzt und Patient einzufassen. Etwa so: «Es ist bekannt, daß Leute, die vom Lande in die Stadt kommen, sich oft ausgesprochen klein vorkommen und das Gefühl haben, die Häuser stürzen auf sie ein». Oder: «Wenn man krank war, so ist sehr häufig die Angst da, die Krankheit könnte sich wiederholen». Einem Patienten konnte ich die Beunruhigung über sein Derealisationserleben (Verblassung der Umweltwahrnehmung) nehmen, indem ich diese depressiv gefärbte Erlebnisqualität mit den Worten beschrieb: «Sie haben seit Ihrer Erkrankung das Gefühl, das Leben habe sozusagen kein Aroma mehr». Eine kausale Verknüpfung solcher Wahrnehmungsstörungen mit dem Ausbruch der Psychose (Rezidiv) fördert oft die Toleranz und Geduld des Patienten gegenüber den beklagten Symptomen. Bei vorhandener Krankheitseinsicht haben auch fachmedizinische Benennungen einen spannungsvermindernden Effekt, etwa: «Man nennt dies Phobien oder Zwänge» etc.

Bin ich schizophren?

Oft rätseln wir, ob der Patient eigentlich weiß, daß er schizophren ist. Ähnlich wie bei einem Karzinomkranken weiß er es oder weiß er es nicht. Weiß er es, will aber nicht darüber sprechen, das Wort nicht hören; weiß er es und möchte darüber sprechen, aber nicht den Anfang machen; möchte darüber sprechen, aber nichts davon wissen; weiß er es und weiß er es nicht etc. etc. Ihm die Diagnose aus heiterem Himmel ohne sein Verlangen zu eröffnen, wie etwa die Mitteilung einer somatischen Bagatelle, würde ihn wohl aus der Fassung bringen wie ein lebenslängliches Urteil, weil er eine so umfassende Fremddarstellung seiner Identität nicht ohne starke Erschütterung mit seinem Selbstbild in Deckung zu bringen vermag. Wir sagen ihm daher auch nur das, was nötig und nützlich ist, und gehen von dem aus, was er sich als Wissen und Selbstverständnis bereits zurechtgelegt hat. Das Wissen um die Diagnose und die damit verknüpften Erwartungen ist für ihn wichtig, um die Krankheit in seine Lebensgestaltung gebührend einzuordnen.

«Bin ich schizophren?» Gelegentlich kommt diese Frage aus dem Munde eines Patienten direkt auf uns zu. Unsere Verlegenheit unter diesem Überraschungseffekt ist vielleicht größer als die Hemmung des Patienten, auf uns zu hören. Werde ich von dieser Frage auf der Türschwelle überrascht, so sage ich dem Patienten: «Ja, diese Frage kommt so plötzlich, da müssen wir etwas ausführlicher darüber sprechen», und reserviere ihm dafür einige Zeit. Es kommt auch vor, daß ein Patient nur beiläufig seine Schizophrenie erwähnt, «daß er wegen seiner Schizophrenie ja zu 50 % arbeitsunfähig sei». Er erspart uns vielleicht einen dornenvollen Weg diagnostischer Aufklärung. Zuviel des Guten wäre es, die diagnostische Aufklärung des Patienten zum Prinzip zu erheben und zur Voraussetzung jeder therapeutischen Arbeit zu machen. Diejenigen Patienten sind wohl in der Mehrheit, die durch ihr Erscheinen bei uns und die umstandslose Einnahme der Neuroleptika genügend dartun, daß sie einer Behandlung bedürfen und dazu bereit sind.

Medikamente

Viele Patienten, die an einer Schizophrenie leiden, lehnen Medikamente rundweg ab, auch wenn sie von Stimmen gequält werden bis zur Verzweiflung und sich in Klagen darüber ergehen. Aussichtslos, ihnen die Medikamente mundgerecht zu machen, obwohl sie in ihrer Raserei und rastlosen Getriebenheit auch schon ihre Wohnung beschädigt haben und eine Hospitalisierung nicht mehr abwendbar scheint. Der Widerstand gegen die Medikamente ist gewöhnlich nicht zu brechen, und es ist meist auch nicht ergiebig, viel Mühe darauf zu verwenden, denn die Abwehr hat ihre Wurzeln in tiefen Verlustängsten: Da ist einmal die Angst des Schizophrenen, die inneren schizophrenen Objekte, die er gegen seine drohende Selbstauflösung aufgerichtet und mit denen er sich versöhnt und arrangiert hat, zu verlieren. Die Medikamente würden ihm seine blühende Schizophrenie wegnehmen, mit welcher er ein leeres, hohles Innenleben ausstattet. Wer garantiert ihm, daß es ihm ohne diese besser gehen wird? Eine weitere Quelle seines Widerstandes gegen Medikamente ist die Angst vor Kontrollverlust. Auch in seinem psychotisch aufgelösten Zustand behält er, beobachtend und agierend, die Kontrolle über die inneren und äußeren Vorgänge, die er sich nicht entwinden 1assen will. Erzwingen wir die Medikamenteinnahme, so steigert sich seine Angst zu einer höllischen Panik, die ihn wohl sein Leben lang gegen die Medizin stimmt, welche ihm kaum jemals als rettender Engel, sondern als unmittelbarer, wissenschaftlich verbrämter Vertreter der bösen nackten Gewalt entgegentreten wird. Da lassen wir besser die Medikamente beiseite und begnügen uns damit, der weiteren Entwicklung zu harren. Nicht selten wendet sich von selbst das Blatt, und der Patient telephoniert oder erscheint unvermittelt mit dem überraschenden Begehren nach Medikamenten.

Die Angst vor dem Kontrollverlust präsentiert sich freilich in den verschiedensten Variationen: Der eine Patient rettet seine Kontrolle, indem er in ultimativem Befehlston dem Arzt gebietet, unverzüglich die Spritze zu verabreichen. Bei einem anderen fahren wir gut, wenn wir ihm ein Semap (perorales Wochenneuroleptikum) mitgeben für den Gebrauch nach eigenem Gutdünken. Und ein Dritter fühlt sich einer eigenen angstmachenden Verantwortung nur dann enthoben, wenn er sich dem eindeutigen Imperativ der ärztlichen Anordnung auf der Stelle unterziehen kann. Die Auflehnung gegen ärztliche Medikation findet indessen noch weitere, durchaus rational begründete Erklärungen, nämlich die Angst vor Nebenwirkungen, wie Adipositas, Müdigkeit, vegetative und extrapyramidale Begleiterscheinungen, die von früheren Behandlungen als lästig und hinderlich in Erinnerung sind.

Zum Thema medikamentöse Dauerbehandlung (Beispiel: eine Dapotum-Spritze alle drei Wochen oder ein Semap pro Woche): Es ist eine Erfahrungstatsache, daß viele Patienten unter kontinuierlicher neuroleptischer Behandlung symptom- und rückfallsfrei sind und ein unauffälliges Leben in Familie, Gesellschaft und Arbeit führen. Manche bleiben psychisch und sozial von der Krankheit gezeichnet, können sich aber wenigstens außerhalb der Klinik halten. Das Bewußtsein, «dank der Medikamente» von einem Rückfall verschont zu bleiben, ist die zuverlässigste Motivation für eine kontinuierliche Behandlung. Oft gibt es aber auch andere Gründe, dem Arzt über Jahre die Treue zu halten: Sympathie, Gehorsam, Gewöhnung. Zieht sich die Behandlung in die Länge, über Monate und Jahre, so stellt sich indessen beim Patienten, wie auch immer seine Motivation gelagert ist, und oft auch beim Arzt eine Langeweile ein, die zur Sinn-und Zweckfrage veranlaßt: Wenn es dem Patienten so konstant gut geht, ist die Fortsetzung der Medikation noch angebracht? «Muß ich (er) das Leben lang Medikamente einnehmen?»

Ursprünglich eingeleitet zur Behebung einer Krise, nimmt die Neuroleptikabehandlung auf die Dauer zunehmend einen prophylaktischen Charakter an, dies im Unterschied etwa zu einer analgetischen Behandlung, wo der Kranke sich, durch das Wiederaufflackern des Schmerzes bei Dosisreduktion, täglich der therapeutischen Wirksamkeit vergewissern kann. Geht die unmittelbare Erfahrungsevidenz des Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs einer Medikation verloren, so verschwinden oft auch das Verständnis dafür und die Bereitschaft, die Disziplin zur regelmäßigen Medikamenteinnahme aufzubringen. Dem Reiz, sich wieder ohne den Artefakt chemischer Beeinflussung als Nativpersönlichkeit zu erfahren, ist schwierig zu widerstehen. Die Monotonisierung der Langzeitbehandlung weckt den Wunsch nach Änderungen und Dynamisierung. Vorerst stellt uns der Patient nur die Frage, weshalb er der Medikamente noch bedürfe und was diese in ihm noch bewirken. Ich knüpfe hier meist an seine früheren Erfahrungen an und entgegne, das Medikament bewahre ihn vor Rückfällen in die Krise, schirme ihn vor der Überflutung durch innere Ängste und Impulse ab. Eine solche Erklärung vermag die Motivation des Patienten oft zu verlängern. Sträubt er sich jedoch unvermindert gegen die Medikation, so erweist sich jede therapeutische Zwängerei unsererseits als unfruchtbar. An die Stelle der persuasiven Bemühungen hat unser Respekt für die subjektive Sicht des Patienten zu treten, für welche wir nun Verständnis bekunden, indem wir den Medikamenten-Absetzversuch zu einem gemeinsamen therapeutischen Programm gestalten, während welchem die Beziehung aufrechterhalten bleibt. Absetzversuche haben in der Regel kein unmittelbares Rezidiv zur Folge, welches sich meistens erst nach Monaten entwickelt. Eine unaufdringliche Empfehlung an den Patienten, bei Anzeichen von Verschlechterung die Behandlung wieder aufzunehmen, genügt in vielen Fällen, um Wiederhospitalisierungen zu vermeiden.

Die Einstellung zur Klinik in der Ambulanz

Vielerorts stehen psychiatrische Kliniken auch heute noch in einem anrüchigen Ruf. Sie werden despektierlich als Spinnwinden bezeichnet und als Aufbewahrungsstätte für Verrückte und Halbverrückte betrachtet. Ungeachtet der Modernisierung des intramuralen und extramuralen Psychiatriebetriebes lebt die Dämonisierung der Klinik fort und bewirkt eine Abschreckung auf behandlungsbedürftige Patienten, zu einem gewissen Grade indessen auch eine Attraktivität auf neue Psychiatergenerationen, die Einblick in die «Welt der Verrückten» nehmen. In den letzten Jahren entwickelten viele Psychiater der jüngeren, «sozialpsychiatrischen» Generation den Ehrgeiz, Hospitalisierungen um jeden Preis zu vermeiden. Generelle, zeitbedingte Vorurteile gegen die Klinik gilt es von der persönlichen Einstellung des Patienten abzugrenzen, die sich aus dessen eigener Krankheitserfahrung und persönlichem hautnahen Kontakt mit der psychiatrischen Klinik herausbildet. Oft ist es eindrucksvoll, wie nachhaltig und hartnäckig der Akt der Hospitalisierung und die ersten Stationserlebnisse von Patienten mit Empörung erinnert und angeprangert werden, und dies oft in krassem Gegensatz zu ihrer mitunter langjährigen passiven Ergebenheit gegenüber dieser Institution, aus welcher auszutreten sie keine Anstalten machen, oder umgekehrt trotz benignem Verlauf, der ihnen einen baldigen Austritt ermöglichte. Diese oft so festgefahrene und unverrückbare klinikfeindliche Haltung liegt teilweise in der Krankheit begründet: Der Zustand des hospitalisierungsbedürftigen Patienten ist ja meist ein akuter und bedarf deshalb allergrößter Vorsicht und Sorgfalt unsererseits, weil der Kranke sich gewissermaßen in einer verletzlichen Phase befindet, voller Angst und Mißtrauen gegenüber allem, was auf ihn zukommt. Wenn wir noch so sachgerecht mit ihm umzugehen meinen, verletzen wir ihn: unsere interessierte Miene und unser eifriges Notieren bei der Exploration und Einweisung geben dem Wahngestimmten die Gewißheit, daß wir Abgesandte der Kriminalpolizei sind, und wenn er dann von Sanitätsbeamten weggeführt wird, steigert sich diese zur Überzeugung, daß er das Opfer einer Deportation zu einer Hinrichtungsstätte wird, Stoff genug für eine Legendenbildung, die vielleicht lebenslang unverändert erhalten bleibt.

Gewiß tun wir meist zu wenig, um mindestens die vermeidbaren Traumatisierungen in dieser vulnerablen Phase zu verhindern. Als Notfallärzte haben wir es uns hier zur ersten Pflicht zu machen, alle unsere Bemühungen in den Dienst der Angst- und Spannungsverminderung zu stellen, weil angesichts der Tiefe der chaotischen Regression und Fragmentierung des Selbsterlebens des Patienten die Anfälligkeit für die Errichtung bleibender Wahngebilde, die ihn neurotisch einengen werden, erheblich ist. Hier ist auch das psychohygienische Postulat angebracht, Aufnahmestationen für Akutkranke eine möglichst sanfte und warme Ausstattung zu geben. Unvermeidliche Traumatisierungen bei brachialen Auseinandersetzungen, Spritzenverabreichungen usw. sind mindestens nach abgeklungener Krise mit dem Patienten ausführlich zu besprechen. Gewiß, auch übersteigerte Gefühle anderer Färbung, etwa der Faszination, können sich in der Wahnstimmung neurotisch einengend verfestigen und sind daher durch entsprechende Umgebungsgestaltung zu lindern. Fast alle Objekte bieten sich als Projektionsträger an für Gefühle von Angst, Wut, Mißtrauen usw. Die milieuhygienischen Maßnahmen sind daher darauf auszurichten, die jeweils vorherrschenden Affekte (psychotischen Ausmaßes) zu mitigieren (Mitigierung der psychotischen Affekte). Bei der nachträglichen gesprächstherapeutischen Bearbeitung der Traumata bewährt es sich, die vom Patienten mitgeteilten Erlebnisse mit geduldiger Aufmerksamkeit anzuhören und außerdem das traumatisierende Umgebungsverhalten motivationsanalytisch realistisch und aufrichtig aufzudecken. Mitteilungen wie die, daß Ärzte und Pflegepersonen mitunter auch mürrische Menschen sind, weil sie strenge und zermürbende Arbeit verrichten, und daß deren beklagte Verhaltensweisen nicht persönlich-boshafter Natur waren, tragen oft dazu bei, daß der Patient seine subjektive Interpretation der Vorgänge zu relativieren vermag. Auch das Zugeben von Fehlern, Entgleisungen, ungeschickten Formulierungen oder andere «Fragwürdigkeiten» können, wenn sie mit Takt und Offenheit dargestellt werden, die Entschärfung eines gespannten Patienten-Psychiatrie-Verhältnisses begünstigen. Beispiel: «Ich gebe zu, ich hätte allenfalls auch eine Hospitalisierung vermeiden können, aber es war kurz vor Ostern, und mir war bei der Hetze im Notfalldienst nicht so wohl dabei, Sie ihrer Familie zu überlassen».

Eine Frage, die allenthalben eine Grundsatzdiskussion auslöst, ist die, ob die Hospitalisierung als eine Kapitulation ambulanter Bemühungen einzustufen ist. Von der allgemeinen Auffassung, daß ein Leben außerhalb des Spitals, wenn immer möglich, der Hospitalisierung vorzuziehen ist und die Klinik nur als subsidiäre Einrichtung zu fungieren hat, gibt es wohl keinen überzeugenden Grund abzuweichen. Die Klinikvermeidung prinzipiell bis an die äußerste Grenze ambulanter Möglichkeiten zu strapazieren, liegt aber wohl kaum im Interesse jedes Patienten. Viel häufiger, als unserem eigenen Helferwillen lieb ist, drückt sich in einer psychotischen Krise ein ungestümer, protestvoller Widerspruch zur Normalität unserer Welt aus, der mit kompromißloser Radikalität und Ausschließlichkeit nach sinnhafter und fulminanter Darstellung und Verwirklichung drängt und im Rückzug in die Klinik mehr Resonanz findet, als wenn er psychopharmakologisch im Ansatz erstickt wird. Der Anspruch des Schizophrenen auf die Krise ist bei solcher eskalativer Entwicklung besser nicht zu verwehren, sondern als organischer Ablauf des psychischen Geschehens auch in seiner Steigerung zum Extremen zu gewähren, von welchem aus sich eine ernüchternde Rückkehr zur Normalität als leichtester Heilsweg anbahnen mag. Der Weg zur Gesundheit führt da manchmal über die Krankheit. Hospitalisierungsgründe gegen den Willen des Patienten müssen hingegen erheblich sein und sind nie durch die Psychose allein gegeben, sondern müssen Selbst- und / oder Fremdgefährlichkeit beinhalten. Viele Schizophrene fühlen sich am ehesten in der Unstete des Lebens geborgen. Sie wandern von einer Stadt zur anderen, schreiben uns Briefe bald von den Bahamas, dann aus dem Orient, aus der ganzen Welt, und verbringen während eines psychotisch durchlebten Jahrzehnts nur wenige Tage in Kliniken oder Untersuchungsgefängnissen. Oder sie verbringen die Jahre als Wandervögel im Dickicht der Stadt. Im Chaos der Welt sind sie gespiegelt und verstanden und halten sich so im Gleichgewicht, jeder Psychotherapie abhold. Weshalb hospitalisieren? Ist aber einmal ein Patient ganz von Sinnen, schlägt im Aggressionssturm wild um sich, poltert an Türen und Wände, so ist es gewiß am besten, die Hospitalisierung ohne Federlesens entschieden zu vollziehen und diese nachträglich mit ihm zu besprechen. An Hospitalisierungen erfährt der Patient oft am deutlichsten sein Scheitern in der Realitätsbewältigung, weil er die Krankheitseinsicht oft nicht durch die Krankheit selbst, sondern nur durch deren Konsequenzen gewinnen kann.

Die Rente

Bei einjähriger krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit erwächst dem Patienten der Anspruch auf eine Rente. Diese ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits gestattet sie dem Arbeitsunfähigen zu überleben, andererseits verschafft sie diesem einen sekundären Krankheitsgewinn und beraubt ihn mindestens teilweise der Motivation, sich zu neuer Erwerbsfähigkeit und Erwerbstätigkeit aufzuraffen. Die Einstellung des berenteten Patienten zu seiner Rente ist oft zwiespältig. Eine gewisse Scham ob der eigenen Schwäche mischt sich mit anklammerndem Interesse aus der Angst, das existenzsichernde Fundament zu verlieren. Beargwöhnen wir die Rentenfreudigkeit des Patienten und stellen seinen Anspruch in Frage, so sehen wir oft unsere Rehabilitationsfortschritte mit einem Mal vertan. Der Patient verliert seine Stelle und sichert sich so von neuem Invalidität und Rentenanspruch. Klüger ist es da, in der Rente einen Förderungsbeitrag zu sehen, die ihm Mut gibt, neue Arbeitsversuche zu wagen. Die Angst, er könnte nach einem gescheiterten Arbeitsversuch für die Dauer eines neuen Jahres den Rentenanspruch einbüßen, ist oft die Wurzel einer hartnäckigen Stagnation in der Resozialisierung; eine Rentenzusicherung für den Fall gescheiterter Arbeitsversuche führt in vielen Fällen zu deren Überwindung. Dies ist ein Beispiel für unsere Haltung gegenüber dem schizophrenen Patienten: Ihm gestatten, schizophren und krank zu sein, damit er möglicherweise gesund werden kann.

Literatur

1.Conrad, K.: Die beginnende Schizophrenie. 1. Aufl., Thieme, Stuttgart 1958

2.Scharfetter, Chr.: Die Psychopathologie Schizophrener – ein Weg zur Ther Umsch 33 (1976): Heft 7

*SCHARFETTER [2] hat die Basalfunktionen des Ichs mit Vitalität, Aktivität, Konsistenz Demarkation und Identität charakterisiert.

2.Der Schizophrene und wir in der Praxis

Aus: April 1980, Schweizerische Rundschau für Medizin (Praxis) 72, 1983

Das langjährige Bestehen sozialpsychiatrischer Einrichtungen gibt Gelegenheit, über den Umgang mit Schizophrenen zu berichten und einige Überlegungen anzustellen, die sich vornehmlich aus Erfahrungen in der sozialpsychiatrischen Ambulanz herleiten. Gewiss, die Mehrzahl der Schizophrenen wird heute und auch in Zukunft vom Hausarzt und vom niedergelassenen, frei praktizierenden Psychiater behandelt werden. Die besondere Häufung klinikentlassener schizophrener Patienten in einer sozialpsychiatrischen Poliklinik gestattet indessen, Eindrücke von deren Behandlung mit einer besonderen Dichte zu gewinnen, welche die Erweiterung der gängigen klinischen Schizophreniebetrachtungen um einige wesentliche neue Erkenntnisse erlaubt.

Es ist vor allem die Situation des Hausarztes, der seine Patienten oft über Jahre begleitet und ihnen in der Regel jeweils für die Dauer einer Sprechstunde begegnet, welche für die Beobachtung und für das Verständnis des schizophrenen Erscheinungsbildes eine neue Optik bietet (1).

Zur Wandlung des Schizophrenieverständnisses

Durch die grundlegenden Arbeiten von Griesinger (2) und Eugen Bleuler (3) hat sich unsere Einstellung zur Schizophrenie von einer fatalistisch-statischen zu einer optimistisch-dynamischen Haltung gewandelt. Griesinger markierte die Wende von der romantischen Psychiatrie, welche die Krankheit als moralische Verfehlung verstand, zu einer organisch ausgerichteten Psychiatrie, welche die Wurzeln psychischer Veränderungen in der Gehirnsubstanz lokalisierte. Mit Eugen Bleuler wich die Vorstellung eines unbeeinflussbar ablaufenden organischen Prozesses der Erkenntnis einer Dynamik sich widerstreitender Kräfte, die ihren Ursprung in der gegenwärtigen und vergangenen Innen und Aussenwelt, in der Anlage, Umwelt und Biographie haben. Die naturwissenschaftlich erklärende Psychologie wurde so durch die verstehende Psychologie erweitert. Dieser neue wertphilosophische Stellungsbezug erhob den Patienten vom Objekt distanzierter Betrachtung und distanzierender Ausschliessung zum Partner diagnostischer und therapeutischer Auseinandersetzung. Als neue therapeutische Methode gewann das ärztliche Gespräch zentrale Bedeutung. Hauptmerkmal dieser Neuorientierung waren in den 50er Jahren unseres Jahrhunderts die Intensität und die Beflissenheit, mit welcher Psychotherapien an Schizophrenen von Psychoanalytikern im Burghölzli ausgeübt wurden. Diese war genährt vom Bestreben und Eifer, die Heilbarkeit der Krankheit zu erweisen. Die therapeutische Auseinandersetzung, meistens an schizophrenen Patienten in der «verfügbaren» stationären Situation in der geschlossenen Klinik praktiziert, blieb damit Werkzeug in der psychotherapeutischen Werkstatt des Arztes, der Patient Therapieobjekt. Heilungsbeweise wurden in Einzelfällen erbracht, waren jedoch eher die Ausnahme. Was uns von dieser Ära psychoanalytischer Intensivtherapie erhalten geblieben ist, ist das Bekenntnis zum therapeutischen Engagement am Patienten, das heute unter den Titeln von Ergotherapie, Milieutherapie und Betreuung unter Einschluss der Psychopharmakologie weiterlebt. Neuere Ansätze und Anläufe zu psychodynamischem Verständnis und psychotherapeutischen Aktivitäten in den letzten Jahren waren oft von dem Bemühen gekennzeichnet, diesen vorausgehend diagnostisch-nosologische Umdefinierungsstrategien, quasi als Legitimation, zugrunde zu legen. «Schizophrene Reaktion», «Borderline», «narzisstische Neurose» – Diagnosen, die sich vorübergehend oder bleibend in Diagnoseschlüsseln und auf Austrittsberichten neuerer Auflage festsetzen – sind wohl geeignet, einen neuen therapeutischen Optimismus zu nähren. Dies durch ihre in der Wortwahl zum Ausdruck gebrachte Schonhaltung und ihre Abschwächungseffekte gegenüber der gesellschaftlich immer noch stigmatisierten Diagnose «Schizophrenie», durch die Andeutung von Interpretierbarkeit und milieubezogener Bedingtheit und durch ihre Verführung zu therapeutischer Beeinflussung: Schizophrene Reaktion – nur eine Reaktion, Borderline – lediglich ein Grenzfall, narzisstische Neurose – behandelbar, zum Glück keine Schizophrenie, wird uns mitunter suggeriert, zumindest da, wo diese neueren diagnostischen Etikettierungen auf die herkömmliche Schizophrenie angewandt werden. Die theoretischen Ansätze psychodynamischer und entwicklungspsychologischer Richtung (Kohut, Kernberg u. a.) haben unseren Verständnis- und Handlungsspielraum im Umgang mit kranken Menschen in einer Weise erweitert, dass sie der Verwertung für nosologische Neuorientierungsstrategien entsagen können und uns mehr bringen, wenn sie als allgemeine Psychologie des Menschen für die ärztlich-psychotherapeutische Arbeit Verständnis- und Handlungshinweise geben. Dies gilt auch für die Behandlung der Schizophrenie (4, 5).