Die „verlorene Aufmerksamkeit“ im Beziehungsalltag

Ilse Schneider

Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Auffallende Gewohnheiten und Ausdrucksformen

2.1. Posen, Marotten, Manierismen, Schrullen, Exzentrik als Markenzeichen

2.2. Perseverationen

2.3. Ticks

2.4. Zwänge

2.5. Das Suchtverhalten – eine entgleitende Gewohnheit

2.6. Mit sich und der Welt „zerfallen“

3. Unterschiedliche Absichten – unterschiedliche Wirkungen

3.1. Das soziale Stimmungsbarometer

3.2. Sich bemerkbar machen um jeden Preis

3.3. Gnadenlose Langweiligkeit

4. Ganz normale Eigenschaften und prekäre Manieren

5. Beobachtungen und Ansichten zur „Selbstverwirklichung“

5.1. Einschränkungen und wie man sich zu helfen weiß

5.2. Eine Zumutung

6. Das Milieu als Herausforderung

6.1. Auffassungen über alltägliche Verständigung

7. Zeitgefühl und Beziehungsabstimmung

7.1. Zustände der Zeitlosigkeit

7.2. Abschalten für den Hausgebrauch

7.3. Einschätzung des Zeitgefühls

8. Persönliches Tempo und Beziehungsabstimmung

8.1. Beispiele für massive Tempounterschiede

8.2. Ergänzende Beobachtungen zum persönlichen Tempo

9. Erklärungsversuche zur Entstehung und Signalwirkung von merkwürdigen Angewohnheiten

9.1. Zur Entstehung von zwanghaften Verhaltensweisen

9.2. Aus dem Weg gehen?

10. Kann man Menschen ändern? Wollen sich Menschen ändern?

10.1. Positive Formulierungen

10.2. Hypnose

10.3. Suggestion

10.4. Gehirnwäsche

11. Gegensteuerung zu Änderungsversuchen

11.1. Widerspruchsgeist, Widerspenstigkeit, Trotz, Sabotage – Negativismus als chronische Haltung

12. Die Basis unserer spontanen wechselseitigen Einschätzung

12.1. Erster Eindruck

12.2. Empathie, unsere universelle Fähigkeit Formen der Empathie und deren Wirkung

12.3. Authentizität – die individuelle und soziale Kompetenz

12.3.1. Der Körperausdruck ist eine individuelle Basis-Kompetenz

12.3.2. Das Nähe-, Distanz- und Territorialgefühl ist eine soziale Basis-Kompetenz

12.3.3. Die kulturelle Kompetenz ist Erziehungs- und Erfahrungssache

12.3.4. Das Kommunikationsgeschick

13. Resümee über die Entstehung und Wirkung alltäglicher Angewohnheiten

1. Vorwort

Alles, was beiträgt, sich selbst und einander in entsprechender Umgebung besser zu verstehen, ermöglicht eine bessere Lebensqualität. Im Folgenden wird die Rede von Angewohnheiten sein, mit denen wir nichts Rechtes anfangen können, die uns schwächen und ein engeres und weiteres Zusammenleben beeinträchtigen und zermürben. Von eitlen Eigenheiten, Nachlässigkeiten, Gedankenlosigkeiten bis hin zum Zwangs- und Suchtverhalten. Verhaltensweisen, die uns beleidigen, kränken, lähmen wird die Rede sein. Das sind Lebenszeichen, die aus Trotz, Beharrung, Bosheit, aber auch aus Witz und Schalk beibehalten werden – zum Schutz und zur Verteidigung des Selbstwertgefühls. Zur Rechtfertigung wird gar nicht selten beansprucht: „Wenn eine Person mich wirklich mag, dann akzeptiert sie mich mit allen Fehlern und Schwächen“. Muss man, soll man, kann man das? – Ratlosigkeit!

Was tun mit Erfahrungen, die nach Unbeirrbarkeit und verlorener Liebesmüh ausschauen:

• eine Nörgelspirale in Gang setzen,

• ironische, zynische Bemerkungen einstreuen, spiegeln, spotten

• sich blind und taub stellen

• sich in jedwede Tätigkeit flüchten, d. h. abreagieren – putzen, gärtnern, sporteln …

• in Trauer verfallen und warten, bis der Schmerz vorüber ist, um dann weiterzuwursteln

• sich mit Hilfe von Alkohol und anderen Drogen ins Vergessen flüchten

• wütend oder resigniert die Beziehung abbrechen.

Ist die Frage nach der Entstehung von Gewohnheiten, dem möglichen Sinn bestimmter Selbstdarstellungen, weiterführend? Ob Personen einander gut leiden können oder weniger bis gar nicht, hängt von gewissen Übereinstimmungen ab. Aber die Erfahrung lehrt, dass sogar der Gleichklang zur Wahrung des eigenen Gesichts aufs Spiel gesetzt wird und daher die Chancen auf Überprüfung der persönlichen Wirkung nicht besonders aussichtsreich sind. Worum könnte es gehen? Fühlen sich Personen ertappt oder/und stimmt die Beschämung über einen Mangel an Selbstkontrolle abweisend? Was schafft wechselseitige Selbstzufriedenheit und Zugewandtheit?

Ein Platz in der Gemeinschaft

Was die Menschheit vorwärtsbringt und einzigartig macht, sind Neugierde, Forschergeist, Expansionsstreben, Schaffenskraft, sich selbst als handelnde und wirksame Person zu erleben – und das als Bezugsperson in einer Gemeinschaft. In der westlichen Kultur gelten Individualität, Unverwechselbarkeit, Selbstverwirklichung als erstrebenswert, während in der östlichen Kultur mehr ein konformistisches Verhalten Ansehen genießt – das Selbstverständnis, die Selbstsicherheit wird aus der Zugehörigkeit und dem Beitrag zum Gelingen einer Gemeinschaft bezogen.

Abgesehen von diesen beiden kulturellen Idealvorstellungen von Selbstverwirklichung ist der Mensch – egal wie – auf Beachtung von seiner Bezugswelt angewiesen. Und das wird das Kernthema der folgenden Ausführungen sein. Die Aufmerksamkeit wird vor allem auf alltägliche, persönliche Ausdrucksformen gerichtet, die zur Beachtung der Person in der jeweiligen Gemeinschaft beitragen – im positiven aber mehr noch im aufreibenden Sinn.

Immer dasselbe, wundert sich fast jeder im Stillen – banale Verhaltensweisen, Marotten, Manierismen, Schrullen, Ticks und Zwänge im täglichen Zusammenleben! Aber Spannungen und Reibereien, die aus unvereinbarem Zeitgefühl, Tempo und unterschiedlichen Grundstimmungen entstehen, haben Auswirkungen auf die Beziehungswelt. Eine seltsame Scheu hindert die meisten Menschen jedoch, solchen Beobachtungen offiziell eine Bedeutung beizumessen, geschweige denn, sich zu beklagen, wie sich Personen von gewissen Gewohnheiten vereinnahmen lassen.

Was diese häufig gedankenlosen Verhaltensweisen bedeuten sollen, frage ich mich aus eigener Erfahrung, als gelernte Expertin und im Interesse zahlloser Betroffener. Minimale Ärgernisse, lästige Gewohnheiten laufen unter dem Begriff „daily hassles“ – z. B. dauernd Sachen verlegt, unbrauchbare Werkzeuge, unzufriedene Mitmenschen, subtiler Erwartungsdruck usw. Solche chronischen Minibelastungen verursachen erwiesenermaßen größeren Stress als einschneidende Lebensereignisse, die bewältigt und abgeschlossen werden können. Wenn uns auch manche merkwürdige, höchst widerstandsfähige Verhaltensmuster tagtäglich wundern und zunehmend unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, kann es ein Trost sein, dass jede Erfahrung nicht nur Persönliches, sondern auch allgemein Gültiges über die Gefühls- und Gedankenwelt der meisten Mitmenschen aussagt. Wir sind mit unseren Beobachtungen, Beschwernissen und Bewertungen nicht allein.

„Die Elemente der Beziehung, die mitzuteilen unmöglich scheinen – die heimlich beunruhigenden, unbefriedigenden Elemente – sind am meisten der Mitteilung wert“, sagt der amerikanische Begründer der Gesprächs-Psychotherapie, Carl R. Rogers (1902–1987), dessen Grundideen mich als Absolventin überzeugt haben. Und darum nehme ich entsprechend seinem Spruch einige beunruhigende, als belanglos heruntergespielte Anlässe für subtile Beziehungsspannungen unter die Lupe.

Bei näherer Betrachtung stellen sich gedankenlose, lästige Gewohnheiten im täglichen Umgang als bekannt, wenn auch meist als so selbstverständlich heraus, dass sie „offiziell“ kaum unser Interesse verdienen dürfen.

Zur näheren Abklärung der subtilen Vorgänge wird eine Unterscheidung in absichtsvolle und absichtslose Vorgänge versucht; dann interessiert, was die Person selbst davon hat, was der Beitrag zu einem Beziehungsgeschehen sein könnte und was in den hilflosen Beteiligten vorgeht. Und es ist zu hoffen, dass aufgrund näherer Erkenntnisse unausbleibliche Spannungen verständlicher werden und ein distanzierterer, humorvollerer Umgang mit diversen Zumutungen möglich wird.