Fallwind

Cover

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2020

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ISBN 978-3-644-01150-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-01150-2

Für Jonna und Paul

Fallwind, der, des -s, plur. die -winde,

1. Wind, der auf der Leeseite von Bergmassen erwärmt und trocken abfällt.

2. Luftbewegung, die durch fallende Körper verursacht wird und deren Sturzform beeinflusst.

 

Frewels Technik-Lexikon, 1929

Beim Aufwachen dachte er an die toten Frauen. Ihre Gesichter, die man auf den Tatort-Fotos nicht sah, weil die Frauen auf dem Bauch lagen, ihr Haar an den Hinterköpfen glänzend im Blitzlicht des Fotografen von der Spurensicherung. Wie im Traum vermischten sich ihre Bilder in seinem Kopf, und ihm schien, als hätten die toten Frauen nebeneinandergelegen, sich vielleicht sogar berührt, dabei waren Wochen vergangen zwischen der Entdeckung der einen und der anderen Leiche.

Leuchtturmkinder. Das Wort huschte ihm durch den Kopf, aber er konnte es nicht festhalten. Die beiden Frauen waren Leuchtturmkinder gewesen, aber im Halbschlaf hatte er vergessen, was das bedeutete, ihm schien, als müsste er sie fragen, und um sie zu fragen, müsste er sie umdrehen und in ihre Gesichter blicken, und er kniete sich zu ihnen, aber dann fiel ihm wieder ein, dass sie tot waren, und er ärgerte sich über sich selbst.

Hauptkommissar Adam Danowski hatte die Angewohnheit, die Augen nicht gleich zu öffnen, wenn er merkte, dass er endlich wach war. Wenn die Bilder der toten Frauen verschwunden waren und ihn nur noch die Dunkelheit seiner Lider umgab. Dem Tag mit geschlossenen Augen zu begegnen: das war eine Angewohnheit aus der Zeit, als der Job ihn fertiggemacht hatte. Neu dazugekommen war eine weitere Angewohnheit: sich zur Seite drehen, nach seiner eigenen, lebenden Frau tasten. Um dann festzustellen, dass er in irgendeiner anderen Stadt im

Aber heute war alles anders. Danowski konnte sich gar nicht zur Seite drehen, weil direkt neben ihm die Wand war und etwas, das sich anfühlte wie ein Heizkörper, und den Arm konnte er nur unter Schmerzen ausstrecken, weil ihm der ganze Körper weh tat.

Danowski schlug die Augen auf. Der industrielle Fußboden mit dem gängigen Antirutschornament zerschnitt sein Gesichtsfeld wie ein Horizont, unterhalb dessen seine Wange auf dem kühlen Metall dieses Bodens lag und oberhalb dessen er im schummerigen Licht elektronischer Anzeigen mit Mühe die Konturen einer technischen Einheit ausmachen konnte. Steuerungselemente, die die halbe und nicht besonders hohe Wand füllten, Maschinenkästen, die sich weit ins Bild schoben und ihm ein Gefühl von Enge verursachten, eine mechanische Nachtwelt, deren Wände sich um ihn zusammengeschoben hatten, während er schlief.

Danowski hatte schon einiges an Hotelzimmerkatastrophen erlebt, seit er für die Abteilung Operative Fallanalyse des LKA Hamburg durch Deutschland reiste. Aber das hier war definitiv der Tiefpunkt. Für seine Begriffe war das gar kein Hotelzimmer. Eher ein Keller. War er so tief abgestürzt gestern Abend? Im Prinzip nicht seine Art, aber Erinnerungen, die das ausgeschlossen hätten, konnte er auch nicht vorweisen.

Er hob den Kopf und merkte, dass ihm dies mit jedem Zentimeter mehr weh tat. Er lag auf dem Fußboden eines Technikraumes, dessen Boden unter ihm zu schwanken schien, und undeutlich meinte er, ein Rauschen zu hören. Er trug die letzten halbwegs sauberen Kleidungsstücke,

Manchmal fand Danowski sich schwer von Begriff, dann musste er im Nachhinein über sich lachen. Aber nach Lachen war ihm jetzt nicht zumute. Er richtete sich an der Wand auf, fand sein eigenes Stöhnen theatralisch und hoffte, dass seine Erkenntnis ein Irrsinn war und nicht die Realität: Wenn das hier ein Steuerungsraum der Firma Silventia war, die Windkrafträder in die Nordsee pflanzte, dann war er in der Gondel eines solchen Windrads, direkt hinter dem Rotor, hundertzwanzig Meter über dem gleichgültigen, aber nicht gleichmütigen Meer. Vierzig, fünfundvierzig Kilometer vom Ufer der letzten Inselreihe entfernt, gerade so weit, dass von dort niemand mehr die kilometerbreiten Reihen von Windkrafträdern sehen konnte. Wegen der Erdkrümmung. Die Windräder durften erst dort beginnen, wo sie von den Stränden aus fürs Auge hinter dem Horizont verschwanden. Und obwohl er schon oft sehr viel weiter von zu Hause weg

Es dauerte immer eine Weile, bis sich nach dem Aufwachen jener Teil seines Gehirns zuschaltete, der für die Verarbeitung beruflicher Erkenntnisse und für das Abrufen kriminalistischer Expertise zuständig war. An manchem schlechten Tag hatte er das Gefühl, dieser Teil sei völlig abgehängt, aber jetzt dachte er beim Thema Betäuben wieder an die toten Frauen: Beide waren auch betäubt worden, bevor jemand sie erwürgt hatte.

Er bewegte sich ein wenig. Sein Körper fühlte sich wund an, als hätte er in einem Gurtgeschirr gesessen, mit dem jemand ihn hinaufgezogen hatte. Er hatte Schmerzen an den Oberschenkeln Richtung Lenden. Behutsam berührte er seine Stirn und meinte, Druckstellen unter den Fingern zu spüren, vielleicht von einem Helm, vielleicht davon, dass sein Kopf ungeschützt irgendwo angeschlagen war. Oder Abdrücke vom Fußboden, auf dem er mit dem Gesicht gelegen hatte. Wenigstens erst mal kein Blut.

Danowski suchte mit den Augen den kleinen Raum nach einem Ausgang ab, den er sich verschlossen vorstellte und der ihm selbst unverschlossen nicht viel nützen dürfte: Schließlich war da immer noch das Meer, wenn das hier eine Windkraftanlage jenseits der Küstenlinie war.

Wobei, plötzlich schöpfte er Hoffnung inmitten seiner Verwirrung. Vielleicht war er ja in einem sozusagen ganz normalen Windrad, auf dem Land, eingepflanzt in irgendein Mais- oder Kohlfeld, vielleicht musste er wirklich nur den Ausgang finden und konnte die Leiter hinabsteigen.

Mühsam fokussierte er, um sich weiter im Raum umzusehen, aber sein Blick kam nicht weit. Rechts von ihm, halb verborgen durch die vorspringende Kante einer Maschinenverkleidung, lag ein Körper auf dem Boden des Gondelraums. Danowski sah schon an den Beinen, dass es eine Frau war, die Schuhe kamen ihm sogar bekannt vor, aber es dauerte einen Moment, bis ihm einfiel, woher. Ihr Haar glänzte schwach im blauen Licht der Konsole.

Nicht noch eine dritte, dachte er. Nicht noch eine Tote.

Dass er in seinem Leben noch mal auf einem Polizeifahrrad sitzen würde, hätte Adam Danowski auch nicht gedacht. Rechts der Deich, links die spätherbstlichen Felder mit Reihen von stillen Windrädern. Die einbeinigen Herrscher, dachte Danowski, denn sie waren überall und schienen schweigend auf den richtigen Augenblick zu warten. Er trat in die Pedale und kostete von der Geschwindigkeit. Die norddeutsche Herbstlandschaft flog links und rechts an ihm vorbei, irre, wie schnell man hier immer aus dem Ort raus war, die Knicks am Rande der Landstraße kahl, fast zweidimensional aus seinen Augenwinkeln, das Land dahinter grau und flach wie das ins Schweigen resignierte Antlitz einer Zeugin, die niemals was erzählen würde.

Mit maulfaulen Zeugen brauchte Danowski sich nicht mehr herumzuschlagen, er hatte einen neuen Job. Und im Moment ein nagelneues Polizeifahrrad unter dem Hintern. Acht-Gang-Nabe, Shimano-Bremsen, Alu-Rahmen, nichts Besonderes, aber alles picobello. Kein Vergleich zu der alten Möhre, die er seit Jahren im Keller hatte und die er um ein Haar beim Umzug gar nicht mitgenommen hätte. Nichts fühlte sich besser an als die erste Fahrt auf einem neuen Fahrrad.

Weil ihm Nieselregen über der Deichmarsch entgegenschlug und seine Zähne kalt wurden, merkte Danowski, dass er die Lippen geöffnet hatte: Er grinste, so viel Spaß machte ihm das hier.

Beim ersten Kreisverkehr Richtung Industriegebiet oder Wesertunnel machte Danowski die volle Biege, schnittig lehnte er sich in den Wind und Richtung Straße, ihm war, als wäre sein Knie schon so gut wie auf dem Asphalt, absichtlich und kontrolliert, wie bei den Motorradrennfahrern, die er manchmal am Wochenende morgens mit seinen Töchtern guckte, wenn seine Frau Leslie am anderen Ende des Hauses ausschlafen wollte.

Dann eine Kindheitserinnerung, noch deutlicher als ebendie, zum ersten Mal ein neues Fahrrad zu fahren: wenn einem alles entglitt, wenn man das verlor, was für Danowski damals und heute bei den wertvollsten abstrakten Dingen immer ganz vorne in den Top Ten war – die Kontrolle. Die behielt er lieber bis zuletzt. Das ging immer damit einher, unmittelbar danach, aber eben doch im Nachhinein, zu merken, dass es zu spät war, dass man den Punkt überschritten hatte, an dem es noch die Möglichkeit gegeben hätte, die Kontrolle nicht zu verlieren, also den Mund zu schließen und nichts zu sagen, den Finger vom Abzug zu nehmen oder, in diesem Fall, vor der Kurve abzubremsen und nicht erst in dem Moment, wenn man die

Dann war Danowski in der Luft. Richtung Straßengraben, wie er mit einer Art Erleichterung feststellte, während das Fahrrad und der Rest der Welt hinter dem unteren Rand seines Gesichtsfeldes verschwanden, als würde er aus der Landschaft gekippt. Das Letzte, was er sah, waren die auf den Kopf gedrehten Windräder am Horizont.

 

«Adam, du verfluchtes Arschloch, was hast du mit meinem Rad gemacht?»

«Es fährt sich nicht mehr ganz so gut wie vorhin, zugegeben.»

«Es fährt sich? Dafür, dass es sich fährt, gehst du ganz schön zu Fuß damit.»

«Wer sein Rad liebt, schiebt.»

«Wer mein Rad liebt, meinst du.» Finzi griff nach dem Lenker und nahm sein Dienstfahrrad wieder in Empfang.

«Tut mir leid», sagte Danowski. Er hatte in zehn Minuten seine Präsentation vor der Soko «Leuchtturm» und sah aus, als hätte ihn ein Trecker überfahren. Die Hosenbeine aufgerissen, die Ärmel schlammig, das Gesicht zerschrammt von dem, was der Herbst von den Brombeeren übrig gelassen hatte. «Ich hab die Kurve nicht gekriegt.»

«Kenn ich», sagte Finzi, während er das verbogene Vorderrad zu bewegen versuchte.

«Im Ortszentrum ist ein Fahrradladen», sagte Danowski matt. «Kannst mir gern die Rechnung schicken.»

«Trotzdem nett, dass du mich besuchen wolltest», sagte Danowski, der zu übersehen versuchte, dass von der anderen Straßenseite einer der älteren Kollegen von vor Ort ihm die bittere Pantomime eines Mannes, der auf seine Armbanduhr schaut, vorführte, jetzt bereits in der dritten Version.

«Hundertachtundfünfzig Kilometer», sagte Finzi stolz, «und nur eine Übernachtung. Aber zurück fahr ich wohl mit dem Zug, wenn ich mir das hier so angucke.»

«Laub auf der Straße», sagte Danowski.

«Na ja, dann muss man halt die Fahrgeschwindigkeit auch mal den Witterungsverhältnissen anpassen», bemerkte Finzi halblaut mit finsterer Miene. Davon abgesehen sah er gut aus. Seitdem Finzi in Hamburg bei der Fahrradpolizei war, hatte er zehn, fünfzehn Kilo abgenommen, seine Gesichtsfarbe war deutlich gesünder als früher, seine Hände zitterten nicht mehr. Plötzlich wurde Danowski angesichts seines vor ihm übers halbwegs geschrottete Rad gebeugten Kollegen Finzi von Rührung vielleicht nicht übermannt, aber doch angerempelt und aus dem Gleichgewicht gebracht. Erstaunlich, dass Finzi und er sich beide halbwegs aus der alten Scheiße gezogen hatten. Jeder auf seine eigene Weise. Finzi, indem er dem Alkohol und der Berufsunfähigkeit durch die Versetzung zur Fahrradstreife entgangen war, und Danowski, indem er den Stress der Ermittlungsarbeit hinter sich gelassen hatte. Keine verwirrten Zeugen mehr, keine frisch entdeckten Leichen mehr, keine Büropolitik, keine Grabenkämpfe mit anderen Abteilungen. Alles, was ihn über Jahre mürbe und erschöpft gemacht hatte, hatte er zurückgelassen und eingetauscht

Manchmal vermisste er Finzi. Er merkte jetzt erst so richtig, wie sehr er sich gefreut hatte, dass sein alter Kollege ihn hier in der Einöde der Deichmarsch besuchte.

«Deicharsch», sagte Finzi mühsam beim Aufrichten, als könnte er Gedanken lesen, aber nicht besonders gut. «Ich versteh nicht, Adam, warum du zwei Jahre einen aufwendigen Lehrgang machen musst, damit es am Ende aussieht, als wärst du strafversetzt worden. Und zwar nicht an einen einzigen Ort, sondern alle paar Wochen an einen anderen Arsch der Welt. Wo warst du neulich? Schwerte? Pfaffenhofen? Erfurz? Was für ein Scheiß.»

Danowski gefiel genau das mit am besten an der Arbeit der Operativen Fallanalyse beim Landeskriminalamt Hamburg: dass sie von Dienststellen aus ganz Deutschland angefordert wurden und dass er immer mal wieder ein, zwei Wochen lang nicht zu Hause war. Es hatte ein paar Monate gedauert, aber jetzt musste er zugeben: Es tat ihm gut. Der Familie vielleicht sogar noch mehr. Oder

«Wir sind halt externe Dienstleister», sagte er.

«Du müsstest dich mal reden hören», sagte Finzi. «Und scheiße siehst du auch aus, nebenbei.»

«Ich kauf dir ein neues», sagte Danowski und zeigte mit dem Kinn auf das Fahrrad, das er fast einen Kilometer über die Landstraße zum Polizeirevier am Rande von Friederikenburg zurückgeschoben hatte, wo er jetzt seine Einschätzung zum aktuellen Fall vor der Sonderkommission «Leuchtturm» abgeben sollte. Bei größeren Fällen kamen sie zu zweit oder zu dritt, aber er war noch nicht lange dabei, darum übernahm er eher kleinere Sachen und reiste alleine. So wie jetzt. Denn auch das hier war nichts Großes, zumindest nicht nach ihren verzerrten Maßstäben: eine tote Frau. Mehr als genug, aber nicht genug für zwei Kollegen. Danowski war’s recht, konnte er im Auto in Ruhe kein Radio hören. Nur nachts hasste er es manchmal, dass im ganzen Hotel niemand war, dem die Existenz von Adam Danowski irgendwas bedeutete. Von seiner Mutter mal abgesehen.

Der Kollege von der Soko war längst in der Polizeiwache verschwunden. Die hatten sich bestimmt schon alle versammelt und warteten auf ihn. Aber er hatte das Bedürfnis, den Abschied von Finzi rauszuzögern, darum beugte er sich mit ratloser Geschäftigkeit über dessen demoliertes Dienstfahrrad. Mit gerunzelter Stirn fing er an, daran herumzufummeln.

«Alles noch von Hand, macht der Praktikant», sagte Finzi heiter.

«Na gut, ich geb auf», sagte Danowski. Sie hauten sich irgendwie auf die Schultern und machten dann eine Quatschumarmung daraus, und als Danowski ging, rief er noch «Und grüß Meta schön von mir» in Richtung Finzi. Der beugte sich schon wieder kopfschüttelnd über sein Fahrrad. Dabei machte er eine vage Handbewegung, als wollte er noch was sagen. Vermutlich irgendeine Zote über ihre gemeinsame ehemalige Kollegin, die er dann aber doch runterschluckte, und sei’s, weil Danowski kaum noch in Hörweite war.

«Eine tolle Idee, hier noch kurz vor unserem Termin eine kleine Radtour ins Gebüsch zu machen», sagte seine Mutter.

«Fand ich auch», sagte Danowski und blieb ganz ruhig, denn wenn er sich eins vorgenommen hatte, dann, sich von seiner Mutter nicht mehr provozieren zu lassen.

Auf der Treppe fummelte Danowski ein bisschen in seiner Aktenmappe, aber im Grunde wusste er, was er jetzt sagen würde. Nichts Originelles, aber er fand’s solide. Das waren seine neuen Wegmarken: nicht mehr Richtung originell abbiegen, schön bei solide bleiben.

Keiner vom knappen Dutzend Kollegen im Raum kommentierte Danowskis äußeres Erscheinungsbild, die Friederikenburger waren sehr diskret. In der Zusammenarbeit mit den Kollegen vor Ort war das angenehm, aber nicht, wenn es darum ging, alte Zeugenaussagen durchzuarbeiten. Die Leute hier sahen und hörten im Allgemeinen wenig. Während die Soko-Leute sich unterhielten, kippelte Danowski auf seinem Besprechungsraumstuhl, ganz schön abgerockt war das hier, der graue Teppich undefinierbar striemig, die Wände beige und abgerieben in Hüfthöhe, wo immer alle lehnten, wenn’s was zu bereden gab. Je weiter man von den Landeshauptstädten entfernt war, desto runtergekommener waren die Reviere.

Aber er mochte das. Kleine Städte, von denen er noch nie gehört hatte. Als Berliner nach Hamburg gekommen und kaum was anderes gesehen als Millionenstädte. Das änderte sich mit jeder Beratungsleistung, die er im Namen der Operativen Fallanalyse erbrachte. Wie hier in Friederikenburg. Wo die Weser sich Richtung Nordsee öffnete, die industriellen Lichter von Bremerhaven auf der anderen Flussseite wie helle Punkte am unteren Bildrand, Friederikenburg selbst offenbar mehrfach abgestorben,

Als alle da waren, fing er an. Es war seine dritte Fallanalyse, und er fand sich inzwischen recht routiniert. Vielleicht eine Spur zu ausführlich. Die Strangfurche am Hals der Ermordeten, das bläulich verfärbte Gesicht, die punktförmigen Blutungen in den Augenbindehäuten, all das kannten die Kollegen vor Ort besser als er, zum Teil hatten sie es mit eigenen Augen gesehen, als sie die Frauenleiche am alten Leuchtturm gefunden hatten. Denen brauchte er nicht zu erklären, dass Corinna Karlsson erdrosselt worden war. Und dass der Fundort der Leiche nicht der Tatort war. Klar, das musste alles noch mal rekapituliert werden. Aber Sandra Steckmann, die Soko-Leiterin vom örtlichen Revier, sein unmittelbarer Kontakt, seine Auftraggeberin, wenn man so wollte, kratzte sich die ganze Zeit an der Nase und der Oberlippe, als könnte sie der Versuchung, mit dem Popeln anzufangen, nicht mehr lange widerstehen. Eine ernste, schweigsame Polizistin ohne Haarschnitt, mit Sweatshirt und Cargohosen,

Wenn die Soko-Leiterin Steckmann nun von seiner Präsentation genervt war, dann war das schlecht: OFA und Soko mussten an einem Strang ziehen, und dafür musste er behutsam und im Rahmen seiner Möglichkeiten freundlich vorgehen. Nicht so schulmeisterlich wie er gerade. Danowski traf den Blick von Sandra Steckmann. Er schlug die Augen nieder und schürzte die Lippen, um ihr zu signalisieren: Lass mir Zeit, ich komm gleich zum Punkt. Sie nickte unmerklich, na gut.

Er vermutete, dass sie schon ahnte, wohin die Reise ging. Die Pointe derartiger Vorträge war oft dieselbe, und zwar die, die keiner vor Ort hören wollte.

Um sich davon abzulenken, betrachtete Danowski das Fundortfoto der toten Corinna Karlsson, das die Kollegen von der Soko an die Wand projizierten. Strangulierte hatten fast immer offene Augen, sie sahen verblüfft aus und als wollten sie gleich was sagen, vielleicht sich beschweren, weil ihre Gesichter aufgequollen waren, es sah aus, als blähten sie leicht die Backen. Die Operative Fallanalyse wurde von den Kollegen vor Ort bei Tötungs- und Sexualdelikten dazugeholt, wenn sie allein nicht weiterkamen. Das war nicht der Aspekt an der Arbeit, der Danowski gefiel. Was er mochte, war vielmehr, dass er alles nur aus zweiter Hand zu sehen bekam, all das Leid und Elend verschriftlicht und geordnet.

So wie hier: Corinna Karlsson, sechsunddreißig Jahre

Eine Beziehungstat war unwahrscheinlich. Ihr Ehemann arbeitete Hunderte Kilometer entfernt in Flensburg als Arzt und war nur am Wochenende in Friederikenburg, nicht in der Tatnacht, ihr Verhältnis galt als vergleichsweise spannungsfrei, niemand hatte Corinna Karlsson mit einem anderen Mann gesehen. In Corinna Karlssons offener, unbearbeiteter Browser-Historie fanden sich keine Hinweise auf Online-Bekanntschaften oder Dating-Portale. Wer sie kannte, sprach nur Gutes über sie, und mithin breitete sich Ratlosigkeit aus über Friederikenburg und dem Kreis Deichmarsch, was nach vier, fünf Tagen wie so oft in solchen Fällen zur Gründung der Sonderkommission «Leuchtturm» geführt hatte, zu der die Beamten vor Ort und ein paar Kollegen aus Hannover gehörten. Das war zwar die Landeshauptstadt, aber, von hier aus betrachtet, am anderen Ende der Welt, die Kollegen aus Hannover waren noch größere Außenseiter als Danowski.

«Adam?» Die Leiterin der Soko sah ihn fragend an.

«Richtig», sagte Danowski. Er sah, wie seine Mutter den Kopf missbilligend schüttelte. War er also doch wieder abgedriftet.

«Jedenfalls besteht, wie von Ihnen bereits festgehalten, Grund zu der Annahme, dass die Tote betäubt und vergewaltigt worden ist», hörte Danowski sich fortfahren. «Für diese Chronologie spricht, wie wir wissen, die Abwesenheit von Traumata im Genitalbereich und von Kampfverletzungen an den gängigen Körperregionen», sagte er. Ein Kollege von der Soko sorgte mit der Fernbedienung dafür, dass die entsprechenden Bilder zur Untermalung an der Wand aufleuchteten wie abstrakte Weltuntergangsvisionen. Danowski wandte sich ab, bevor er die Nahaufnahmen den entsprechenden Körperstellen zuordnen konnte. Auch das war überflüssig, sie alle kannten die Bilder, aber die Zusammenstellung des Multimediamaterials hatte er den Kollegen überlassen.

Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin hatten sich alle im Raum gespannt nach vorn gebeugt. Das lag nicht an den anatomischen Bilder aus der Gerichtsmedizin, sondern daran, dass der Elefant im Raum sich sozusagen geräuspert hatte, indem Danowski «Sperma» sagte.

Sperma bedeutete DNA, und zwar reichlich. Sperma war ein Füllhorn an Genmaterial, so viel davon, wie sie in Sperma fanden, würden sie im Leben nicht brauchen, um den Mann zu identifizieren, der mit Corinna Karlsson

Am Anfang hatten die Ermittlungen der Soko sich auf die Nacht vor dem Leichenfund konzentriert. Wer hatte in jener Nacht ein auffälliges Auto dort oder in der Nähe gesehen, ortsfremd womöglich? Das wäre ungewöhnlich zu dieser Jahreszeit, wenn die wenigen Touristen, die im Sommer kamen, weit weg waren und die einzigen Fremden jene, die im Auftrag des Windparkbetreibers Silventia nach Friederikenburg kamen. Aber niemand hatte ein ortsfremdes Fahrzeug gesehen, die Ermittlungen waren ergebnislos im künstlich angehäuften Strandsand verlaufen, keine Feinde und Konflikte im sozialen Umfeld, keine Hinweise auf eine Gelegenheitstat.

Das Problem war: Nun hatten sie zwar die Genspuren des Täters aus dem Körper des Opfers, aber keinen Match in der DNA-Analyse-Datei des BKA. Drei Viertel aller Vergewaltiger tauchten in den Fingerabdruck- oder DNA-Datenbanken auf, meistens wegen Diebstahl oder Körperverletzung. Ihr Täter aber war nicht einschlägig aufgefallen, und sein Genmaterial stand mit keinem anderen ungeklärten Verbrechen in Deutschland oder, wie sich nach zwei Wochen herausstellte, Europa in Verbindung.

«Nach meiner Einschätzung», sagte Danowski, «lässt sich Folgendes mit großer Wahrscheinlichkeit über den Täter sagen.» Er war froh, dass der Kollege, um Danowskis Einschätzung und Handlungsempfehlung zu untermalen, wieder das Porträtfoto von Corinna Karlsson an die Wand warf, das jeder in Norddeutschland inzwischen kannte. Es war ein seltsames Bild, eins, das eher in die sozialen Medien gehörte als in die Ermittlungsakte eines

«Es handelt sich um einen Mann, der das Opfer betäubt, vergewaltigt und erwürgt hat. Das Betäubungsmittel, das er verwendet hat, wird in der Veterinärmedizin eingesetzt und ist außerhalb von Fachkreisen wenig bekannt. Da eine Überprüfung aller Tierärzte in der Umgebung von hundert Kilometern nichts Ermittlungsrelevantes ergeben hat, weder Verdachtsmomente noch Praxiseinbrüche, gehen wir davon aus, dass der Täter gebildet genug ist, um sich durch eigene Recherchen Wissen über weniger bekannte Betäubungsmittel zu verschaffen, vermutlich mit Hilfe des Internets, und dieses Betäubungsmittel anonym auf dem Schwarzmarkt in einer Großstadt wie Bremen, Bremerhaven, Hamburg oder Hannover zu beschaffen. Das heißt, wir gehen von einem gebildeten, computeraffinen Mann mit eigenem Pkw aus, da der Leichnam des

Ein älterer Kollege von der Soko nickte und sagte halblaut: «Kein Minderleister.» Danowski räusperte sich. Seine Mutter markierte ein Gähnen. Die Banalität seiner Ausführungen und Erkenntnisse war mit Händen zu greifen. Aber manchmal war genau das die Aufgabe der Operativen Fallanalyse: von außen kommen und denen, die zu nah dran waren, die Banalität des Unausweichlichen vor Augen halten.

«Wie gesagt, das sind Vermutungen», fuhr Danowski fort. «Aber was wir wissen, ist, dass wir über Genmaterial verfügen, das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das des Täters ist oder, im mindesten Fall, das eines Zeugen, der bisher nicht in Erscheinung getreten ist und der für Sie aufgrund seiner Nähe zu Corinna Karlsson ein außerordentlich wichtiger Gesprächspartner wäre. Wir wissen außerdem, dass die Zeugenbefragungen und die Aufrufe an die Öffentlichkeit keine Hinweise ergeben haben, die uns etwas über die Tatnacht erzählen. Also, im Klartext: Niemand hat etwas Ungewöhnliches gesehen. Oder, noch klarer: Das, was alle gesehen haben, wenn sie etwas gesehen haben, waren gewöhnliche, erwartbare Dinge. Menschen und Fahrzeuge, die hier in die Gegend gehören und deren Auftauchen in der Nähe des Fundorts der Leiche und in den Stunden vor dem Fund nichts Auffälliges sind. Und wir wissen, dass der Fundort der Leiche abseits der üblichen Touristenwege liegt, wir wissen, dass dieser Trampelpfad seit der neu angelegten

Seine Mutter saß allein in der letzten Reihe an der Wand, und sie hatte diesen leicht amüsierten Gesichtsausdruck, ein wenig ungeduldig, wann kommt denn jetzt die Pointe? Er machte ein kleines Zeichen in ihre Richtung, damit sie ihm nicht dazwischenredete.

«Ich glaube, Sie ahnen alle, worauf das hinausläuft. Ich brauche Ihnen die statistischen Zahlen nicht runterzubeten, Sie wissen so gut wie ich, wie außerordentlich gering der Anteil von Zufallstätern bei Sexualmördern ist. Fast zwei Drittel der Täter kommen aus dem geographischen Nahbereich. Die Analyse Ihrer Ermittlungsergebnisse sagt, dass der Täter ortskundig ist, sein Ankerpunkt ist hier in der Deichmarsch.»

Die Soko-Leiterin blickte unbewegt. Der ältere Kollege, der Leuken hieß, wiegte das graue friesische Haupt. Wobei, das war hier nur ganz knapp Friesland, darauf legten die mittelgroßen Wert.

«Und die Wahrscheinlichkeit sagt, dass wir die DNA des Täters haben. Aus diesen Gründen, und dies nur als Zusammenfassung des schriftlichen Berichts, den ich in der vorigen Nacht fertiggestellt habe und den die Kollegin Steckmann jetzt von mir bekommt, um ihn an Sie alle weiterzugeben: Aus diesen Gründen empfehle ich einen Gentest aller Männer zwischen 20 und 70 im Kreis Deichmarsch.»

Das Schweigen war kurz. Vorne war der Soko-Kollege schon dabei, den Beamer zusammenzupacken, Corinna Karlssons zuversichtliches Selfie-Gesicht war von der Wand verschwunden. Dann entstand ein Murren und Scharren, als stiege es aus dem alten grauen Teppich auf.

«Das sind etwa zweitausendfünfhundert bis dreitausend Personen», sagte Danowski. Der Sauerstoff im Raum war so gut wie weg, und er merkte, dass es ihm schwerfiel, sich zu konzentrieren. Seine Mutter rutschte auch schon auf ihrem Stuhl hin und her, als könnte sie es nicht erwarten, endlich wegzukommen. Aber er brauchte sie vielleicht noch. «Jedenfalls rechnen wir wie so oft in diesen Fällen auch nicht damit, dass alle dreitausend Proben im Labor analysiert werden müssen», fuhr er fort. «Ich würde vielmehr auf die Dynamik setzen, die entsteht, wenn …» Seine Mutter rollte wieder mit den Augen.

«Schon klar», unterbrach ihn der Hannoveraner Kollege, «aber wenn keiner nervös wird, wenn alle sich freiwillig melden, dann ist das ein schwarzes Loch von Kosten und Personalaufwand, und …»

«Das kann einfach keiner von hier gewesen sein», sagte der Kollege Leuken aus dem örtlichen Revier, einer, der seit dreißig Jahren Polizist in Friederikenburg war und der sein Leben vor oder hinter dem Deich verbracht hatte, je nachdem, von wo aus man das Ganze betrachtete. «Wenn ihr über Wahrscheinlichkeit und so was und Statistik redet, dann schaut doch auch mal, dass hier seit dem Krieg kein Einheimischer ein Kapitalverbrechen verübt hat …»

«Reinhold», unterbrach ihn die Soko-Leiterin Steckmann, «mir fällt der Gedanke genauso schwer wie dir, aber du musst auch sehen, wie sehr sich Friederikenburg

«Neue Leute», sagte Reinhold Leuken, «das ist genau das Problem hier. Neue Leute. Seitdem die Silventia hier ihre Techniker schult und die Bauteile verschifft, ich meine, die ganzen Schulungsteilnehmer und Zulieferer und so, die sind doch gar nicht gemeldet im Kreis, die kannst du doch durch so einen Gentest, der die Leute hier verrückt macht, gar nicht erfassen. Von der Flüchtlingsunterkunft mal ganz abgesehen.»

«Das ist durch einen erweiterten Gerichtsbeschluss, der in diesem Fall sicher sinnvoll wäre, absolut machbar», schwadronierte Danowski und wurde ein wenig rot, vielleicht, weil die Spannung von ihm abfiel. Er warf seiner Mutter einen warnenden Blick zu. Manchmal fing sie an zu kichern, wenn er sich in Verlegenheit brachte, eine empathische Übersprungshandlung, die ihrerseits ihn dazu veranlasste zu grinsen, was er in den seltensten Fällen gebrauchen konnte. Grinsen passte eigentlich nie.

Aber der Stuhl seiner Mutter war leer.

Sie kannten sich von Kindesbeinen an, und, oh, was für Beine das waren. Am Anfang kurz und speckig, ziellos in die Luft gereckt aus reiner Lebensgier, später knochig, dünn, die Knie immer aufgeschlagen, Dauerschorf, Sommerbeine. Und dann wieder ein bisschen später sechs Beine, die noch nicht wussten, wohin und wieso, und dann verlief sich das alles eines Tages, die Beine und der ganze Rest.

Stephanie Rother kniete vor der Waschmaschine, wo die Hündin in ihrem Korb lag, und dachte an ihre Freundinnen, an Corinna, die tot war, und an Imke, mit der sie keinen Kontakt mehr hatte. Als sie ihr eigenes Gesicht im viel zu großen Fenster der Waschtrommel sah, Miele, Lebenszeitgarantie, fragte sie sich, ob ihr die Tränen übers Gesicht liefen wegen der Erinnerungen an die Zeit mit ihren Freundinnen, als sie jung gewesen waren und die Welt voller Möglichkeiten, Dinge wiedergutzumachen, oder wegen der Hündin Branca, sechzehn Jahre alt, Metastasen. Branca liebte das Geräusch und die Wärme der Maschine. Stephanie Rother wusste, dass das alles war, was sie noch tun konnte für die alte Hündin: sie an einem Ort in Ruhe zu lassen, den sie liebte. Der Rest war, ihr zweimal am Tag das Betäubungsmittel zu spritzen, um ihr die Schmerzen zu nehmen.

Sie stand auf und warf die Einwegspritze in den Mülleimer mit den Trocknerflusen. Sie atmete tief ein und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht wie Dreck.

Ihr neunter oder zehnter Geburtstag. Jahre, bevor alles schwierig wurde und die Zeiten sie auseinanderrissen. Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen. Stephanie Rother ignorierte sie, aber daran, wie wütend sie die Treppe aus dem Waschkeller ins Erdgeschoss ihres Einfamilienhauses hochstapfte, merkte sie, dass in ihr gerade nichts in Ordnung war.

Ein Einfamilienhaus. Wer hatte eigentlich die Idee gehabt? Thomas, klar. Weil es eine so günstige Gelegenheit gewesen war. Bei günstigen Gelegenheiten konnte man nicht Nein sagen, egal, ob es um einen Hamburger auf dem Heimweg vorm Abendessen ging, Sex mit der Kollegin nach der Weihnachtsfeier, wirklich, Stephi, es hat

Sie ging in die Küche und goss sich den Rest aus der Thermoskanne der Kaffeemaschine ein, die schon hier gestanden hatte, als das noch ein Musterhaus gewesen war. Corinna, Imke und sie, die drei Muskeltiere. Muskeln waren gut, das hatten sie schon mit sieben oder acht begriffen. Und Tiere sowieso, Tiere waren immer gut. Kein Wunder, dass schon die alten Helden sich so genannt hatten. Ihren Irrtum hatten sie erst begriffen, als sie Jahre später den Film gesehen hatten. Mit Charlie Sheen und Kiefer Sutherland, dreizehn waren sie gewesen oder zwölf, und sie erinnerte sich noch, wie sie sich erst gewundert und dann geschämt hatte, als auf der Leinwand «Die drei Musketiere» stand und nicht, was sie immer gedacht hatte.

Zum hundertsten Mal seit Corinnas Tod dachte sie daran, Imke anzurufen. Sie hatten seit Jahren keinen Kontakt

Sie ging zum Telefon und nahm es von der Station, den Kaffeebecher in der anderen Hand. Die Nummer von Imke hatte sie gar nicht mehr. Ihre Finger hätten die von früher gewählt, von Imkes Eltern auf der Insel. Oder von den Brakels, wo sie später mit Corinna und Imke gewohnt hatte, als sie Leuchtturmkinder waren.

Hast du auch so Angst, Imke?

Liegst du nachts auch wach und denkst an Cori?

Bist du auch so allein?

Und weißt du, wie leid mir das alles tut? Imke?

Sie ahnte, dass sie reden würde wie ein Kind, wenn sie je wieder mit ihrer alten Freundin sprechen sollte.

Ich glaube, Imke, das hat alles mit früher zu tun. Dass Cori tot ist. Ich glaube, das ist wegen früher.

Wegen damals.

Manchmal sah sie Imke, wenn sie aus dem Nachbarort zum Famila hinterm Kreisverkehr kam, weil man da in der ganzen Gegend am besten einkaufen konnte. Imke war immer noch die Schönste von ihnen, nach all den Jahren, aber wenn Stephanie sah, wie Imke hinterm Einkaufswagen her das linke Bein zog, Hinkebein, Hinkebein, willst du meine Hexe sein, dann bekam sie eine Gänsehaut und versteckte sich hinter dem Regal mit den

Sie arbeitete bei der Silventia in der Qualitätskontrolle. Ihr Leben wäre gerade so durchgekommen: nicht schlecht genug, um es zurückzuschicken, aber bei einer Reklamation wäre es auf Kulanz hinausgelaufen.

Imke erinnerte sie an diesen Werbespot damals im Fernsehen, als sie fünf oder sechs war. Ein Junge, der mit einem Kettcar durch die Gegend kurvte, die Handbremse zog und in die Kamera sagte: «Ich heiße Kai, und ich will später Rallyefahrer werden», und dann eine besorgte Männerstimme aus dem Off: «Kinder wollen so vieles werden in diesem Alter. Quält Sie auch manchmal der Gedanke, irgendetwas könnte dazwischenkommen?» Während er das sagte, verlangsamte sich das Bild, und die fröhliche Hintergrundmusik wurde verzerrt, davon hatte Stephanie Rother monatelang Albträume gehabt, und dann, als die Musik ganz unerträglich wurde und Kais Gesicht am Kettcar-Lenkrad ganz ernst, folgten Stille und Standbild und der eingeblendete Schriftzug, gesprochen von der gleichen Männerstimme: «Kinderlähmung ist grausam.» Und dann kurvte Kai weiter, die Musik wurde wieder fröhlich, was fast noch schlimmer war, und die Stimme sagte: «Schluckimpfung ist süß.»

Kinderlähmung. Das war auch eine dieser Geschichten von früher. Alles hatte mit früher zu tun. Alles war wegen früher. Mehr hätte ihr auch Imke nicht gesagt, wenn sie sie jetzt angerufen hätte. Mehr konnte keiner sagen, aber es erklärte ihr nicht, warum sie Angst hatte vorm nächsten Tag und manchmal sogar vorm nächsten Augenblick.

Imke hat Kinderlähmung, das war dann die Geschichte gewesen. Die vielleicht gar nicht so plausibel gewesen war.

Zum ersten Mal seit langem musste sie an Ludger denken, den Sohn ihrer Gastfamilie, bei der Imke, Corinna und sie damals gewohnt hatten. Vielleicht, weil der Junge im Schluckimpfungsfilm sie an Ludger erinnerte. Der gleiche arglose Blick, die gleiche bevorstehende Verletzung. In ihrer Erinnerung war ihre Jugend eine schlimme Zeit gewesen, aber war sie das nicht immer? Eigentlich hatten Corinna, Imke und sie sich gar nicht so gut verstanden, wie sie und die anderen immer geglaubt und getan hatten. Bevor sie Leuchtturmkinder wurden und zur Gastfamilie auf dem Festland kamen, weg von der Insel, weg von ihren Eltern, hatten sie nie darüber nachgedacht, ob sie Freunde waren. Vielleicht, weil die Insel so klein war. Sodass sich die Frage gar nicht stellte, wer wessen Freundin war und wer die beste, wer die zweitbeste. Das kam erst später, als sie nach Friederikenburg in die Schule mussten und bei Ludgers Familie wohnten. Da sprachen sie es zum ersten Mal aus: Wir bleiben Freundinnen für immer. Bis in den Tod. Das Wort war gefallen. Und jetzt? Schon deshalb musste sie zu Imke, weil der Tod jetzt da war und sie nur noch zu zweit waren. Und verbunden hatte sie, dass sie alle Ludger hatten beschützen wollen und dass sie alle ein bisschen in ihn verliebt gewesen waren oder sehr. Manchmal sah sie ihn, und dann stellte sie an ihrem Lächeln fest, dass sie ihn immer noch mochte, auch wenn sie nie ein Wort miteinander sprachen. Was sie immer