Gerhard Roth

Bildung braucht Persönlichkeit

Wie Lernen gelingt

Vollständig überarbeitete Auflage

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe

 

Vollständig überarbeitete und erweiterte Neuauflage 2021

 

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2011/2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Ulf Müller, Wuppertal

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-98072-1

E-Book ISBN 978-3-608-11710-3

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Dr. Otto Kirchhoff und dem Friedrichsgymnasium Kassel in Dankbarkeit.

Vorwort zur Neuausgabe 2021

Die vorliegende Überarbeitung der Ausgabe von 2015 wurde vor dem Hintergrund einer für die Bildungsanstalten turbulenten Zeit vorgenommen. Zum einen verstärkte sich in den vergangenen Jahren die Diskussion um die Einführung und Nutzung digitaler Medien(1), nachdem internationale Vergleichsstudien Deutschland einen der unteren Plätze zugewiesen hatten. Es stellte sich heraus, dass sich über gerätetechnische Fragen hinaus niemand so recht Gedanken darüber gemacht hatte, was nun mit den forciert in die Schulen importierten Geräten aus pädagogisch-didaktischer Sicht eigentlich gemacht werden sollte. Manche Bildungspolitikerinnen glaubten indes, durch die Einführung digitaler Formate ließen sich die Bildungsdefizite von Schulkindern aus benachteiligten Familien beheben oder zumindest verringern, aber die genannten Untersuchungen bewiesen das Gegenteil.

Diese prekäre Situation wurde im Frühjahr 2020 durch den Ausbruch der Corona-Pandemie und die dadurch notwendig gewordene Schließung der Schulen verstärkt. In der Not griff man im Rahmen eines Homeschooling(1) zu Methoden des Unterrichts per Videoübertragung, wofür anfangs in den Schulen kaum technische Voraussetzungen, geschweige denn Erfahrungen vorhanden waren. Man kann aber vielen Schulen bescheinigen, dass sie sich diesen Herausforderungen gestellt und Erhebliches geleistet haben. Zu einer Beantwortung der Frage, wie man denn unter solchen Umständen diejenigen Forderungen nach einem wissenschaftlich fundierten Lehren und Lernen und insbesondere nach der Rolle der persönlichen Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden umsetzen könne, auf die John Hattie(1) in seiner großen Studie »Lernen sichtbar machen« von 2013 hingewiesen hatte, besaß man begreiflicherweise keine Zeit. Manche Bildungspolitiker und sonstige Bildungsexperten propagierten sogar das Homeschooling(2) als »Schule der Zukunft«, bei der man vielleicht mit weniger Lehrpersonal auskommt – ein Schelm, wer Schlechtes dabei denkt!

Das Motto dieses Buches »Bildung braucht Persönlichkeit« hat sich weiterhin als richtungsweisend erwiesen, auch nachdem man demnächst hoffentlich zu einem teilweise geordneten Unterricht zurückkehrt – etwa in Form einer Mischung von Präsenzunterricht(1) und digitalem Fernunterricht(1). Denn auch wenn man irgendwann komplett zu einem Präsenzunterricht(2) zurückkehren sollte, so ist doch unklar, welche Anteile sich für ein digitales Format gut eignen und welche nicht. Ich diskutiere dies im letzten Kapitel dieses Buches.

Bei der Überarbeitung habe ich die Grundstruktur früherer Ausgaben beibehalten, jedoch – abgesehen von sprachlichen Korrekturen – einige Teile gründlich überarbeitet und auf den neuesten Kenntnisstand gebracht, so die Kapitel 3 über Persönlichkeit, Kapitel 5 über Gedächtnis und Erinnerung und Kapitel 9 über Sprache. Neu hinzugekommen ist Kapitel 13 über den Einsatz digitaler Medien in der Schule. Bei den genannten Kapiteln haben sich in den letzten Jahren viele neue wissenschaftliche Erkenntnisse ergeben, welche die in früheren Ausgaben vertretenen Anschauungen weiter untermauern.

Erfreulich war und ist die Zusammenarbeit mit der privaten Leibnizschule in Elmshorn und Kaltenkirchen, in denen die beiden Leiter, Frau Barbara Manke-Boesten und Herr Egon Boesten, konsequent, feinfühlig und erfolgreich versuchten, dasjenige in die schulische Praxis umzusetzen, was sie und ich für notwendig und brauchbar an wissenschaftlicher Erkenntnis hinsichtlich eines »guten Unterrichts« ansehen. Das wäre zugleich ohne eine große Zahl engagierter Lehrerinnen und Lehrer nicht möglich gewesen. Die große Akzeptanz in Kollegium und Schülerschaft und auch unter den Eltern zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Dabei gilt, dass zwar manches in einer Privatschule schneller und besser umzusetzen ist, aber die Probleme sind dieselben. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass unsere Vorgehensweise ohne Schwierigkeiten auf öffentliche Schulen und Bildungsanstalten übertragbar ist.

Mein Dank geht deshalb vornehmlich an die Leitung der Leibnizschule in Elmshorn und Kaltenkirchen sowie an die jeweilige Lehrerschaft, und nicht zuletzt auch an die Schülerinnen und Schüler, soweit sie von unseren Maßnahmen betroffen waren und sind.

Kürzlich sagte mir ein Schüler: »Wir waren alle so froh, als wir nach der ersten Pandemiewelle endlich wieder zur Schule gehen konnten!« Als ich fragte, ob er damit die Möglichkeit meinte, seine Schulkameraden wiederzusehen, antwortete er: »Ja, aber ebenso wichtig war es, unsere Lehrerinnen und Lehrer wieder direkt vor unserer Nase zu haben!« Ein größeres Lob kann sich keine Lehrerschaft wünschen.

Danken möchte ich meiner Kollegin und Ehefrau Prof. Dr. Ursula Dicke für ihren fachlichen Rat und die Hilfe bei der Erstellung der neuen Abbildungen.

Lilienthal und Brancoli, Februar 2021

Vorwort zur Neuausgabe 2015

Ich habe die vorliegende Taschenbuchausgabe zum Anlass genommen, den Text zu aktualisieren und zu ergänzen. Anlass zu Ergänzungen war zum einen das Erscheinen der deutschen Ausgabe der Studie von John Hattie(2) mit dem Titel »Lernen sichtbar machen« vor zwei Jahren, was eine bis heute andauernde Diskussion um die Faktoren des Lernerfolges und insbesondere um die Bedeutung der Lehrperson sowie um die Wirksamkeit des »selbstregulierten Lernens« in Gang setzte, und zum anderen die eigenen Erfahrungen bei der Einführung eines fächerübergreifenden Projekttages an einer Reihe von Schulen. Entsprechend habe ich das Kapitel 11 »Zeitgenössische didaktische Konzepte« um Unterkapitel über selbstreguliertes Lernen und über die Hattie-Studie ergänzt und das Kapitel 12 »Bessere Schule, bessere Bildung« neu geschrieben. Dabei wurde die Bedeutung der Aussagen des vorliegenden Buches für die Schulpraxis ausführlich dargestellt. Außerdem wurden das 2. Kapitel »Persönlichkeit« und das 6. Kapitel überarbeitet und aktualisiert. Ich hoffe, dass das Buch dadurch an Aktualität gewonnen hat.

Danken möchte ich den Personen, die mir geholfen haben, die hier vorgestellten pädagogisch-didaktischen Vorstellungen zu entwickeln und in die Praxis umzusetzen. Dies sind Herr Michael Koop von der Gesamtschule Bremen Ost, das Ehepaar Barbara Manke-Boesten und Egon Boesten vom Leibniz-Gymnasium Elmshorn und Bad Bramstedt, Frau Andrea Honer von der Albert-Schweitzer-Realschule Böblingen, Frau Angela Huber vom Schulamt in Böblingen sowie – last but not least – meinen Bremer »Mitstreiterinnen« Frau Gisela Gründl von der Universität Bremen und Frau Anja Krüger von der Oberschule Ronzelenstraße.

Die vorliegende Taschenbuchausgabe ist meinem früheren Kasseler Lehrer Dr. Dr. Otto Kirchhoff, genannt »Moppel«, gewidmet. »Moppel« war von seinem Aussehen (er war fast so breit wie hoch) und Verhalten her ein Unikum und für mich wie viele andere Schüler des Friedrichsgymnasiums Kassel ein mitreißender Lehrer in Latein und Griechisch. Er hat es auch in die seriösere Literatur hinein geschafft, nämlich in das Buch »Zeit für ein Lächeln« von Rudolf Hagelstange, der ebenfalls in den Genuss von »Moppels« Lehrkünsten und Persönlichkeit gekommen war. Otto Kirchhoff liebte das Leben in seiner ganzen Breite und Tiefe. Es wurde über lange Jahre erzählt, er sei aus dem Leben geschieden, indem er in Griechenland (das er über alles liebte) weinselig vom Esel gefallen sei. Leider hat sich diese hochromantische Geschichte später als unzutreffend herausgestellt. Ebenso ist das Buch dem altsprachlichen Friedrichsgymnasium (FG) in Kassel gewidmet, dem Otto Kirchhoff über viele Jahre als Oberstudiendirektor diente. Ich besuchte das FG zwischen 1954 und 1963. Ich hatte überwiegend hervorragende Lehrer, die auch heute noch den gehobensten pädagogisch-didaktischen Ansprüchen genügen würden, indem sie es verstanden, Begeisterung für Lernen und Wissen zu wecken.

Lilienthal, Mai 2015

Vorwort zur ersten Auflage

Meine intensive Beschäftigung mit dem Thema »Lehren und Lernen« begann, abgesehen von meiner Lehrtätigkeit als Professor, vor rund zwölf Jahren mit der Bitte des damaligen Bremer Bildungs- und Wissenschaftssenators Willi Lemke an mich, im schönen Bremer Rathaus vor einer größeren Anzahl von Bremer Lehrerinnen und Lehrern einen Vortrag mit dem Titel »Warum sind Lehren und Lernen schwierig?« zu halten. In diesem Vortrag versuchte ich, eine Brücke zwischen den Fragen der schulischen Bildung und den neuen Erkenntnissen der Psychologie und der Hirnforschung zu Lehren und Lernen zu schlagen. Dies stieß auf großes Interesse, insbesondere bei meiner Kollegin Gisela Gründl von der Universität Bremen, die sich zusammen mit meinem Kollegen Prof. Heinz-Otto Peitgen mit Fragen der Mathematikdidaktik beschäftigte, und dies führte dann zur Gründung des »Forums Lehren und Lernen« an der Universität Bremen. Meine Berufung zum Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs (HWK) in Delmenhorst gab mir Gelegenheit und Mittel, solche Initiativen weiter zu verfolgen, wiederum ermutigt von dem damaligen HWK-Stiftungsratsvorsitzenden Willi Lemke. Es folgten zahlreiche Veranstaltungen mit Pädagogen, Didaktikern, Schulleitern, Lehrern und Lehramtskandidaten, in denen wir zusammen mit einer größeren Schar weiterer Verbündeter versuchten, unsere Ideen in die Schulen und Klassenräume zu tragen.

Nach anfänglicher Begeisterung mussten wir ernüchtert feststellen, dass dies erst einmal nicht gelang. Die Gründe hierfür sind komplex, und wir haben wohl die Schwierigkeit eines direkten Transfers neurowissenschaftlich-psychologischen Wissens in den Unterricht unterschätzt. Hinzu kommt, dass die Situation, in der sich unser Schulsystem in je nach Bundesländern unterschiedlicher Weise befand und auch heute noch befindet, äußerst verworren ist und das Kompetenzgerangel in der Bremer Bildungsbehörde sein Übriges tat. Jedenfalls hatte ich inzwischen bis auf gelegentliche Vorträge die Lust am Thema »Lehren und Lernen« verloren, bis mich der engere Kontakt zu Leitern und Lehrern von Schulen in Bremen und Umgebung wieder dazu brachte, mir die Frage des Transfers neurobiologisch-psychologischen Wissens in Schule und Bildung erneut zu stellen. Dies wurde bestärkt durch Gespräche mit dem Vorstandsvorsitzenden der Klett-Verlagsgruppe Philipp Haußmann und durch die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Dr. Heinz Beyer vom Lektorat des Klett-Cotta-Verlags, die mich dazu brachten, das vorliegende Buch zu schreiben.

Im Rahmen der Vorbereitung zu diesem Buch habe ich während rund zweier Jahre versucht, mich mit den aktuellen Problemen der schulischen Bildung erneut vertraut zu machen. Dies geschah in enger Zusammenarbeit mit den Schulleitungen und Lehrerinnen und Lehrern der Privatschule Gut Spascher Sand in Wildeshausen bei Bremen und der Gesamtschule Bremen-Ost GSO). Es kam zusammen mit Frau Dr. Monika Lück (Orbitak AG, Roth GmbH Bremen) zu zahlreichen Treffen mit diesem Personenkreis, und im ersten Halbjahr 2010 konnte ich als Zuhörer und gelegentlicher Mitwirkender am Mathematikunterricht in der GSO teilnehmen. Dem Schulleiter Herrn Bertold Seidel und seinem Stellvertreter Herrn Klaus Rumpel (Gut Spascher Sand) sowie dem Schulleiter Herrn Franz Jentschke und seiner Stellvertreterin Frau Annette Rüggeberg (GSO) danke ich herzlich für ihre Unterstützung. Mein besonderer Dank gilt Herrn Michael Koop, der als Lehrer an der GSO zusammen mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen meine »Erkundungen« nachhaltig unterstützt hat, und an dessen Mathematikunterricht ich teilnehmen durfte.

Mein weiterer Dank gilt den langjährigen Mitstreiterinnen im »Forum Lehren und Lernen« Frau Gisela Gründl (Universität Bremen) und Frau Anja Krüger (Oberschule Ronzelenstraße Bremen) sowie Herrn Jürgen Langlet (Schulleiter des Gymnasiums Johanneum Lüneburg), die mich über die vielen Jahre sachkundig unterstützt haben. Dank gilt auch meiner Kollegin und Frau Prof. Dr. Ursula Dicke für neurobiologisch-fachlichen Rat, meinem Bruder Dr. Jörn Roth, der auch Teile dieses Buches kritisch gelesen hat, Frau Anna-Lena Dicke (Universität Tübingen), die mich im Bereich der pädagogischen Psychologie beraten hat. Fachlichen Rat erhielt ich auch von meinen Kollegen Prof. Dr. Detlev Rost(1) (Marburg) und Prof. Dr. Günter Trost(1) (Bonn). Danken möchte ich – last but not least – Herrn Senator Willi Lemke, inzwischen UN-Sonderberater für Sport, für seine unermüdliche Arbeit für die schulische Ausbildung im Lande Bremen und die Förderung des Forums »Lehren und Lernen« an der Universität Bremen und am Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst.

Brancoli und Lilienthal, September 2010

Einleitung

Besser Lehren und Lernen – aber wie?

Klagen darüber, dass Schüler und Erwachsene in den bestehenden Bildungseinrichtungen zu wenig bzw. wenig Brauchbares lernen, existieren, seit es Hochkulturen gibt. Das hat sich auch in der Moderne nicht geändert, in der es Schulpflicht und eine systematische staatliche Lehrerausbildung gibt, in die die Gesellschaften sehr viel Geld investieren und die in der Pädagogik, Didaktik und Lehr- und Lernforschung(1) als etablierte akademisch-wissenschaftliche Disziplinen betrieben wird. Nicht nur in Deutschland werden seit 100 Jahren regelmäßig Bildungskrisen ausgerufen, die entsprechende Schulreformbewegungen nach sich ziehen. Hierzu gehörten die Reformpädagogik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und die berühmte Reichsschulkonferenz im Jahre 1920, dann die in den 1960er Jahren vom Philosophen und Pädagogen Georg Picht(1) ausgerufene Bildungskatastrophe, die erneut viele Maßnahmen im gesamten Bildungssystem hervorrief und u.a. zur Einführung der Gesamtschulen führte, bis zum PISA-Schock vor rund zwanzig Jahren, als die internationalen Schulvergleichsstudien in den OECD-Ländern Deutschland ein sehr mäßiges Abschneiden bescheinigten. Daran hat sich seither nicht viel geändert, wenngleich zwischen den einzelnen Bundesländern starke Unterschiede bestehen. Seit einigen Jahren ist die Diskussion über eine massive Einführung digitaler Medien(2) an den Schulen zu einem Dauerbrenner geworden, und durch den Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 wurde sie noch weiter angefacht.

Die Schuldigen sind jeweils schnell ausgemacht: die Kultusministerien, die Schulen, die Lehrer, die akademische Lehrerausbildung, die Schüler, der hohe Anteil an Migrantenkindern, die Lehrpläne, der exzessive Fernsehkonsum, der Zerfall der Familie, das Versagen der Eltern usw. Allerdings kann heutzutage kein Experte verlässlich erklären, welche dieser Faktoren am meisten zum angeblichen oder tatsächlichen Elend der Schule und zum Frust von Lehrenden und Lernenden beitragen und wo man entsprechend am dringendsten ansetzen müsste. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass auf vielen Gebieten sehr viele Reformmaßnahmen durchgeführt und ausprobiert werden, sich aber an den PISA-Ergebnissen Deutschlands im Vergleich zu anderen OECD-Ländern und zwischen den Bundesländern wenig geändert hat. Für einen kritischen Beobachter ist diese Situation typisch für ein Vorgehen, bei dem an zu vielen Punkten gleichzeitig angesetzt wird, nur ungenügend erprobte Mittel zum Einsatz kommen und mit zu wenig Geduld und unkoordiniert vorgegangen wird.

Die geringe Geduld ist dabei am ehesten verständlich, wenn man den großen Zeitdruck bedenkt, der auf den verantwortlichen Politikern und Beamten lastet. Die anderen Punkte sind schwerer zu durchschauen. Auffällig ist, dass die drei Institutionen, die für das Bildungssystem in unserer Gesellschaft verantwortlich sind, nicht oder nur sehr unwillig miteinander interagieren. Dazu gehören zum einen die Vertreter der staatlichen Bildungsbehörden. Diese sind von ehemaligen Lehrern durchsetzt, von denen zumindest einige nach eigenem Bekunden froh darüber sind, nicht in der Schule arbeiten zu müssen. Dieser Umstand hindert sie aber nicht daran, den Schulen eine bestimmte, meist parteipolitisch erwünschte Schulpraxis vorzuschreiben. Die zweite Gruppe wird gebildet von Professoren der Pädagogik und Didaktik, denen die Lehramtsstudenten ausgesetzt sind. Auch ich gehörte vor mehreren Jahrzehnten in meinem geisteswissenschaftlichen Studium zu diesen Lehramtsstudenten, und was wir damals im Bereich der Pädagogik gelernt haben, war für den Lehrberuf nutzlos und von unseren Professoren auch gar nicht als nützlich intendiert. Von führenden Pädagogen und Didaktikern wie Ewald Terhart(1) wurde vor einigen Jahren bescheinigt, dass die akademische pädagogische Ausbildung für die spätere Praxis der Schul- und Weiterbildung weitgehend wertlos ist. Experten bescheinigen auch der empirischen Lehr- und Lernforschung(2) eine ähnliche Abstinenz vom Schulalltag – es heißt, man konzentriere sich auf das von der Forschung am einfachsten Umsetzbare, und ich kann zumindest aus meiner eigenen Kenntnis des Schulalltags bestätigen, dass die Ergebnisse der Lehr- und Lernforschung(3) in den Unterricht bis heute (2021) keinen großen Eingang gefunden haben.

Schließlich gibt es die große Gruppe der Lehrenden in den Schulen, die sich mehr oder weniger redlich abmühen, an der Misere etwas zu ändern. Ihre Situation ist wiederum besonders bemerkenswert. Zum einen kennen sie oft moderne pädagogisch-didaktische Konzepte nicht bzw. haben das, was sie davon in der Hochschule einmal erfahren haben, längst vergessen, zum anderen halten sie solche Konzepte hinsichtlich ihres Berufsalltags oft für wertlos, und diese Einschätzung schließt nicht nur die akademische Ausbildung ein, sondern häufig auch die Ausbildung an den staatlichen Ausbildungsstätten für Lehramtskandidaten (vgl. (1)(2)(1)Terhart 2002; Becker 2006). Was aber am meisten beeindruckt, ist die Tatsache, dass alle Lehrer, mit denen ich in den vergangenen Jahren zu tun hatte, sich ihr Unterrichtskonzept individuell erarbeitet haben und überdies der festen Meinung sind, das sei gut so und ginge auch gar nicht anders. Das bedeutet: so viele Lehrer, so viele Unterrichtskonzepte! Dies verbindet sich mit der unter Lehrern noch immer verbreiteten Neigung, sich nicht in die Karten schauen zu lassen und mit anderen Lehrern keine Erfahrungen auszutauschen. Warum sollte man auch, wenn jeder Lehrer seine ganz individuellen Unterrichtsformen(1) finden muss!

Über so viel Individualismus mag man erschrecken, man mag ihn auch als »gottgegeben« oder sogar als positiven Zustand ansehen. Wenn es gilt, dass »kein Schüler ist wie der andere«, dann gilt dies wohl auch für den Lehrer. Dieser hat durch Versuch und Irrtum oder eigenes Nachdenken »selbstorganisiert« herauszubekommen, wie optimales Lehren funktioniert, genauso wie konstruktivistische Lehr- und Lerntheoretiker dies behaupten (davon später mehr). Wenn dies zuträfe, dann könnte man sich jede systematische Lehrerausbildung und erst recht jede Pädagogik und Didaktik sparen. Gutes Unterrichten – so die Abwandlung einer Äußerung der Lernpsychologin Elsbeth Stern(1) – wäre dann erlernbar, aber nicht lehrbar.

Obgleich ich einen solchen »pädagogischen Agnostizismus« nicht teile (sonst hätte ich das vorliegende Buch nicht geschrieben), ist die geschilderte Situation dennoch ernst zu nehmen. Bedenkenswert ist die Feststellung führender Experten wie Ewald Terhart(3) (vgl. Terhart 2002) oder Hilbert Meyer(1) (Meyer 2004) und vieler Lehrenden, dass die heute vorliegenden pädagogisch-didaktischen Konzepte wenig hilfreich für die Unterrichts- und Bildungspraxis sind. Dieses Manko kann zweierlei Ursachen haben. Zum einen mag es sein, dass sich Pädagogen und Didaktiker – wie viele Experten ihnen vorwerfen – zu sehr um das Konzeptuelle und Prinzipielle kümmern und nicht um die Praxis. Zum anderen kann es aber auch daran liegen, dass sie sich nicht genügend um Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften wie der Psychologie oder – neuerdings – der Neurobiologie kümmern, sondern »im eigenen Saft schmoren«.

Dies mag für einen beträchtlichen Teil der Pädagogen und Didaktiker gelten, die fernab von empirisch arbeitenden Disziplinen innerhalb philosophisch-soziologischer Denkweisen ihre Konzepte zu entwickeln versuchen. Für sie ist alles Empirisch-Experimentelle wertlos und ideologieverdächtig, man orientiert sich lieber an einer philosophischen Hermeneutik(1) und/oder an sozialkritischen Utopien (vgl. Kapitel 11). Es hat jedoch in der modernen Geistesgeschichte immer wieder intensive Bemühungen gegeben, Einsichten der empirisch-experimentellen Disziplinen, namentlich der Psychologie, zu nutzen, die pädagogische Konzepte entwickelt hat.

Einer der einflussreichsten Pädagogen war in neuerer Zeit Johann Friedrich Herbart(1) (1776–1841), der eine umfangreiche Lehr- und Lerntheorie entwickelte. Diese erlangte im 19. Jahrhundert und bis ins 20. Jahrhundert hinein als »Herbartianismus« eine weit über Deutschland hinausreichende Bedeutung, allerdings in einer aus heutiger Sicht stark verfälschten Form eines starren und autoritären Erziehungsstils. Herbarts eigene Anschauungen waren dagegen sehr liberal und klingen sogar heute noch fortschrittlich, wenn er fordert: »Machen, dass der Zögling sich selbst finde, als wählend das Gute, als verwerfend das Böse: Dies oder nichts ist Charakterbildung! Dies Erhebung zur selbstbewußten Persönlichkeit soll ohne Zweifel im Gemüte des Zöglings selbst vorgehen und durch dessen eigene Tätigkeit vollzogen werden; es wäre Unsinn, wenn der Erzieher das eigentliche Wesen der Kraft dazu erschaffen und in die Seele eines anderen hineinflößen wolle« (J. F. (2)Herbart, zitiert nach Benner 1997). Für Herbart stand die Persönlichkeitsbildung eindeutig im Vordergrund.

Das genaue Gegenteil dieses Herbart’schen(3) Ansatzes war das pädagogische Konzept, wie es gut 100 Jahre später der amerikanische Behaviorismus(1) vertrat und unter dem Schlagwort »Instruktionspädagogik«, »Instruktionspsychologie« und »lernzielorientierte Didaktik(1)« in abgewandelter Form auch heute noch bedeutsam ist. Der amerikanische Behaviorismus ist sicher die bisher erfolgreichste und folgenreichste Theorie menschlichen und tierischen Verhaltens. Er stellte eine radikale und strikt empiriegeleitete Auseinandersetzung mit einer philosophisch orientierten Humanpsychologie dar, die ihr Hauptziel in einer »verstehenden« Erklärung von Phänomenen wie Bewusstsein(1), Erleben, Geist und allgemein mentalen Leistungen sah. Deren Vorgehen bestand im Wesentlichen in der Introspektion, d.h. der Analyse des eigenen Erlebens – also aus etwas, das in den Augen des Behaviorismus(2) nicht objektiv nachweisbar und daher unwissenschaftlich war.

Als der eigentliche Begründer des amerikanischen Behaviorismus(3) ist der Psychologe John Broadus Watson(1) (1879–1958) anzusehen. Watson wollte die Psychologie zur Lehre von der Kontrolle und Voraussage von menschlichem und tierischem Verhalten machen. Bei der Erklärung solchen Verhaltens lehnte er »mentalistische« oder »internalistische« Begriffe wie Bewusstsein(2), Wille und Absicht radikal ab. Verhalten kann und muss nach Watson(2) ausschließlich über die Beziehung von Reiz und Reaktion erklärt werden und über die sich daraus ergebende Ausbildung von Gewohnheiten (habits). Diese sind nichts anderes als komplexe Verkettungen einfacher, konditionierter Verhaltensweisen. Nach Watson gelten für tierisches und menschliches Verhalten dieselben »objektiven« Gesetze; deshalb gibt es auch nur eine einzige Art von Psychologie, und zwar die Lehre von der Veränderung des Verhaltens nach den Prinzipien der klassischen und operanten Konditionierung(1)(1), die für tierisches und menschliches Verhalten gleichermaßen zutrifft. Jedes Verhalten ist hierdurch gezielt veränderbar, wenn man nur genügend Geduld und Umsicht aufbringt.

Andere Behavioristen(4)(1), wie Clark Hull (1884–1952), betonten gegenüber dem reinen Erlernen der Verkettung von Ereignissen die Bedeutung eines Reizes als Belohnung(1)(2)(1) (reward). Nach Hull liegt jedem Lernen das Streben zugrunde, ein bestimmtes Bedürfnis zu befriedigen bzw. einen sich daraus ergebenden Triebzustand zu beseitigen (need reduction): Kein Lernen ohne Belohnung! Diese Überzeugung übernahm auch der letzte große und vielleicht bedeutendste Behaviorist Burrhus F. Skinner(1) (1904–1990). Sein Hauptwerk ist das Buch »Science and Human Behavior« von 1953 (dt. 1973 »Wissenschaft und menschliches Verhalten«). Skinner erlangte in der Lernpsychologie und Verhaltensbiologie allein schon dadurch große Bedeutung, dass er die experimentellen Bedingungen der Erforschung menschlichen und tierischen Verhaltens stark verbesserte und verfeinerte sowie das Konzept der operanten Konditionierung(2) zu seiner klassischen Form entwickelte, die uns noch beschäftigen wird. Jedes willkürliche (also nicht reflexbedingte) Verhalten von Mensch und Tier – so lautet das Glaubensbekenntnis von Skinner(2) und seinen Anhängern – wird über (1)Verstärkungs- und Vermeidungslernen(1) gesteuert, und zwar über die Konsequenzen des Verhaltens. (3)Skinner verwandte große Sorgfalt darauf, die Wirkung unterschiedlicher Verstärkungsschemata oder Verstärkungsprogramme auf den Lernerfolg zu analysieren.

(5)Alldem liegt ein ungehemmter Erziehungsoptimismus zugrunde, der lautete, dass jedes Tier und jeder Mensch zu jedem erwünschten Verhalten erzogen werden kann, vorausgesetzt, die körperlichen Fähigkeiten dazu sind gegeben. Dies passte wunderbar in die USA der 1940er bis 1960er Jahre und hatte entsprechend einen großen Einfluss auf Pädagogik, Didaktik und Politik. (6)Auch in Deutschland wurde dieser Ansatz mit der entsprechenden Verzögerung sehr populär, vornehmlich in Form der »kybernetischen(1) Pädagogik«, wie sie von Felix von Cube(1) und Helmar Frank(1) proklamiert wurde, sowie in Form »programmierten Lernens«. Derzeit gibt es kaum Vertreter dieser pädagogischen Richtung, auch wenn sie im Zusammenhang mit der Einführung digitaler Medien(3) in die Schulen wieder interessant werden könnte.

In den USA und in Großbritannien begann in den 1960er Jahren der Niedergang des Behaviorismus(7)(1)(1)(1)(1)(1)(8)KognitionspsychologieKognitivismus(1)Sinn