Johann Georg Hamann, Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, Christian Friedrich Daniel Schubart, Georg Christoph Lichtenberg, Wilhelm Heinse, Johann Gottfried Herder, Gottfried August Bürger, Matthias Claudius, Heinrich Leopold Wagner, Johann Wolfgang von Goethe, Jakob Michael Reinhold Lenz, Friedrich Maximilian Klinger, Johann Anton Leisewitz, Johannes Friedrich Müller, Friedrich Schiller

Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang

e-artnow, 2022
Kontakt: info@e-artnow.org
EAN 4064066398903

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Sturm und Drang als Genieperiode der Literatur
Johann Georg Hamann
Sokratische Denkwürdigkeiten
Aesthetica in nuce
Heinrich Wilhelm von Gerstenberg
Ugolino
Gedicht eines Skalden
Christian Friedrich Daniel Schubart
Die Fürstengruft
Freiheitslied eines Kolonisten
Georg Christoph Lichtenberg
Aphorismen
Gedichte
Wilhelm Heinse
Ardinghello und die glückseligen Inseln
Johann Gottfried Herder
Fragmente über die neuere deutsche Literatur
Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften
Journal meiner Reise im Jahr 1769
Abhandlung über den Ursprung der Sprache
Von deutscher Art und Kunst - Einige fliegende Blätter
Volkslieder
Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
Gottfried August Bürger
Lenore
Der Bauer
Seufzer eines Ungeliebten
An ein Maienlüftchen
Die Esel und die Nachtigallen
Die Umarmung
An Arist
Der Ritter und sein Liebchen
Liebe ohne Heimat
Amors Pfeil
Die Aspiranten und der Dichter
Winterlied
Das neue Leben
Gegenliebe
Sinnenliebe
Der Raubgraf
Der Edelmann und der Bauer
Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen
Matthias Claudius
Gedichte
ASMUS omnia sua SECUM portans
Heinrich Leopold Wagner
Die Reue nach der That
Die Kindermörderin
Johann Wolfgang von Goethe
Urfaust
Faust
Die Leiden des jungen Werther
Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand
Clavigo
Stella
Zum Schäkespears Tag
Von deutscher Baukunst
Prometheus
Willkommen und Abschied
Mahomets Gesang
Ganymed
Adler und Taube
An Schwager Kronos
Mayfest
Jakob Michael Reinhold Lenz
Anmerkung über das Theater nebst angehängtem übersetzten Stück Shakespeares
Der Hofmeister
Die Soldaten
Der neue Menoza
Friedrich Maximilian Klinger
Sturm und Drang
Die Zwillinge
Simsone Grisaldo
Johann Anton Leisewitz
Julius von Tarent
Johannes Friedrich Müller
Golo und Genovefa
Friedrich Schiller
Die Räuber
Die Verschwörung des Fiesco zu Genua
Kabale und Liebe
Don Karlos, Infant von Spanien

Vorwort

Sturm und Drang als Genieperiode der Literatur
Inhaltsverzeichnis

Die Stürmer und Dränger waren sinnlich und dramatisch, heute würde man sagen: mehr politisch, mehr aktivistisch gerichtet. Sie litten unter der sozialen und politischen Ungerechtigkeit des Zeitalters. Das Motto Schillers, das er über »Die Räuber« setzte: in tyrannos! Kann man über die ganze Richtung setzen.

Die Stürmer und Dränger waren die deutschen Vorläufer und Brüder der französischen Revolution von 1789. Wie Wilhelm II. dem Erwachen der deutschen Dichtung aus dem patriotischen Winterschlaf nach dem siegreichen Krieg von 1870/71 zur Selbstbesinnung, zur Erhebung, zur Vergeistigung von seinem Standpunkt mit dem größten Recht mißtrauisch gegenüberstand – denn einer Revolution des Geistes pflegt eine solche der Tat auf dem Fuß zu folgen: so standen die damaligen Souveräne dem Ansturm der Stürmer ablehnend und erbittert gegenüber, denn es ging ums Gottgnadentum, es ging um Autokratie oder Demokratie schon damals. Es handelt sich darum, ob die deutschen Fürsten ihre Untertanen als Schlachtenfutter nach Amerika verkaufen könnten wie ein Stück Vieh, um aus dem Erlös ihre fetten Huren und lasterhaften Gelage zu bestreiten, oder ob der Mensch ein Mensch wie sie, ob es nicht unvergängliche »Menschenrechte« gäbe, die niemand wagen dürfe anzutasten, der nicht ein Hundsfott oder Lump sein wollte. In den »Räubern« und in »Kabale und Liebe« zog Schiller gegen die Tyrannen vom Leder.

Und es ist nicht zu verwundern, wenn Karl Eugen von Württemberg sich dieser Richtung gegenüber ähnlich äußerte wie später Wilhelm II.: »Die ganze Richtung paßt mir nicht!« Schiller wurde 1782 vierzehn Tage in »Schutzhaft« genommen; als der Fürst ihm wenig später überhaupt untersagte, weiterhin »Komödien« zu schreiben, machte Schiller dieser Komödie ein Ende und floh aus Württemberg ins Ausland.

Sein Gesinnungsgenosse, der Schwabe Christian Schubart (1739 bis 1791), mußte die Auflehnung gegen die Tyrannei mit einer zehnjährigen Gefangenschaft auf dem Hohenasperg büßen. Er schleuderte den Fürsten die Verse der »Fürstengruft« wie Pfeile entgegen.

Jakob Reinhold Lenz (aus Seßwegen, 1751 bis 1792) schrieb sein Drama »Die Soldaten«, in dem er die Immoralität des Soldatenlebens attackierte. Sein Leben wie sein Dichten zerrann ihm wie Wasser zwischen den Händen. Die Erscheinung Goethes blendete ihn, so daß er die Welt der Erscheinungen nicht mehr zu sehen vermochte und einer utopischen Welt verfiel, die halbe Wahrheit und ganze Dichtung nicht mehr auseinanderzuhalten verstand. Wäre er nur der Lenz geblieben, der er war! Vielleicht, daß er zu einem fruchtbaren Sommer gereift wäre! Aber er wollte ein Goethe werden.

Maximilian Klinger (aus Frankfurt 1752 bis 1831), dessen eines Drama der Bewegung den Namen gab, war eine bedächtigere Natur, obgleich seine Dramen selbst aus allen Fugen zu gehen scheinen. Im reiferen Alter resigniert er. In seinen »Betrachtungen« sind aus den Ungetümen und Unholden, die die Fürsten im Sturm und Drang waren, schwache Menschen geworden wie wir alle. In der Tendenz steht der Satiriker Georg Christoph Lichtenberg (aus Darmstadt, 1742 bis 1799) den Stürmern nahe, besonders in seinen geistvollen politischen Bemerkungen.

Als der eigentliche Prosaiker der Richtung muß Wilhelm Heinse (1749 bis 1803) betrachtet werden. Sein Renaissanceroman »Ardinghello und die glücklichen Inseln« predigt die Idee der Kraft, der Schönheit, der leiblichen und seelischen Nacktheit, der Scham- und Hüllenlosigkeit. Geschrieben in einem bezaubernden Stil, dessen Wohlklang nur noch von Geßner in seinen Idyllen und später von Jean Paul erreicht wird, bezaubert er auch durch die amoralische Anmut seiner Gestalten und durch die tropisch bunte Ausmalung des Schauplatzes. Der Starke hat Recht. Aber er siegt nicht durch seine Stärke, durch rohe Gewalt allein: sie muß sich mit Natürlichkeit, mit Geist, der Mut muß sich mit Anmut paaren. Heinses Genie war eine brünstige Flamme. Aber wer feuersicher ist (und nur der sollte sich ins Feuer wagen), der wird gestählt und gefestigt durch sie hindurchgehen.

Es ist für die Dichter der Sturm- und Drangbewegung bezeichnend, daß sie ausnahmslos ihre größten Würfe im jugendlichen Alter taten: es gilt dies sogar von den Klassikern Herder, Goethe und Schiller. Den Beginn machte Gerstenbergs »Ugolino« im Jahre 1767, eine prachtvolle dramatische Studie voll Farbe und Spannung, die durch die Kraßheit, mit der sie eine Art Morphologie des Hungers entwarf, größtes Befremden erregte. Gerstenberg war um etwa ein Jahrzehnt älter als die übrigen Originalgenies und starb erst im Jahre 1823 mit sechsundachtzig Jahren, hat aber nach diesem verheißungsvollen Auftakt nichts von Bedeutung mehr produziert. Der Göttinger »Hain«, ein Bund exaltierter junger Leute, gegründet 1772, suchte die alte Skaldenpoesie zu erneuern und schwärmte für Freiheit, Vaterland, Tugend und Klopstock. Die Mitglieder der eigentlichen Sturm- und Dranggruppe, die mit dem »Hain« nur äußerlich in Berührung stand, sind alle um die Mitte des Jahrhunderts geboren und wurden vielfach auch »Goethianer« genannt, weil man den Führer der ganzen Bewegung in Goethe erblickte, der sich aber bekanntlich sehr bald von ihr zurückzog. Die Werke erschienen anonym, und es ist ergötzlich zu beobachten, wie selbst Kenner in der Feststellung des Verfassers fehlgriffen. Lessing glaubte, daß Leisewitzens »Julius von Tarent« von Goethe und Wagners »Kindermörderin« von Lenz sei, einige Gedichte Lenzens sind in fast alle Goetheausgaben übergegangen, seine »Soldaten« galten allgemein für ein Werk Klingers, dafür wurde Klingers »leidendes Weib« noch von Tieck in Lenzens gesammelte Werke eingereiht, während bei Klingers »neuer Arria« Gleim und Schubart auf Goethe rieten und Lenzens »Hofmeister« von Klopstock, Voß und aller Welt ebenfalls Goethe zugeschrieben, ja sogar von vielen für dessen bedeutendstes Drama erklärt wurde. In der Tat ist Lenz nächst Goethe der weitaus interessanteste Dichter der Generation. Dieser nannte ihn »das seltsamste und indefinibelste Individuum« und Lavater sagte, Lenzens Stärke und Schwäche treffend zusammenfassend: »er verspritzt vor Genie«. Er erinnert in mancher Beziehung an Wedekind. In seinen Dramen herrscht eine wüste und doch kalte Sexualität, eine gehetzte Bilderflucht und Gedankenflucht, die aber gerade eine eminent dramatische Atmosphäre schafft, ein ins Pathologische und Karikaturistische gesteigerter Naturalismus, der den Figuren eine höchst eigentümliche Grelle und Panoptikumstarrheit verleiht, und ein aus Amoralität geborener Moralismus, der vor den schockantesten Motiven nicht zurückschreckt: in den »Soldaten« ist die Heldin eine Hure und der »Hofmeister« schließt damit, daß der Titelheld sich kastriert. Lenzens Stücke, die er selbst in der Erkenntnis, daß sie ein Mischgenre darstellten, Komödien nannte, erfüllten vollkommen die Forderung, die er 1774 in seinen »Anmerkungen über das Theater« an das Drama stellte: ein »Raritätenkasten« zu sein; der vorzügliche Ausdruck stammte eigentlich von Goethe, den er überhaupt in allem zu kopieren suchte. Er verliebte sich in Friederike Brion und Frau von Stein, stand in engem Freundschaftsverkehr mit Schlosser und Cornelia, traf in einigen seiner Gedichte täuschend den Ton des jungen Goethe und wollte in Weimar ebenfalls die Hofkarriere ergreifen. Karl August nannte ihn daher den Affen Goethes. Doch unterschied er sich von diesem, ganz abgesehen von allem andern, allein schon durch einen abnormen Mangel an menschlichem Fond und psychologischem Takt, der sein Leben nach kurzem Aufstieg ins Dunkel des Wahnsinns und der Vergessenheit schleuderte.

Eine alle Grenzen überspringende und doch im Grunde nur künstlich erzwungene Maßlosigkeit war auch der Grundzug Klingers. Wieland nannte ihn »Löwenblutsäufer« und er selbst schrieb in einem Brief vom Jahre 1775: »Mich zerreißen Leidenschaften, jeden anderen müßte es niederschmeißen ... ich möchte jeden Augenblick das Menschengeschlecht und alles, was wimmelt und lebt, dem Chaos zu fressen geben und mich nachstürzen.« Seine Gestalten leben in einer permanenten Siedehitze; seine Sprache erstickt in einem dicken Nebel von verstiegensten Tropen und widersinnigsten Wendungen. Später ging er nach Petersburg, wo er zum General und Liebling des Zaren avancierte, ziemlich zahme vielgelesene Romane schrieb und in hohem Alter starb. Von seinen Jugenddichtungen sagte er 1785: »Ich kann heut über meine früheren Werke so gut lachen, als einer; aber so viel ist wahr, daß jeder junge Mann die Welt mehr oder weniger als Dichter und Träumer ansieht. Man sieht alles höher, edler, vollkommener; freilich verwirrter, wilder und übertriebener.«

Heinrich Leopold Wagner war ein roher und krasser, aber sehr kräftiger Naturalist. Sein Drama »Die Reue nach der Tat« hatte unter Schröder, der ihm den kitschigen Titel »Familienstolz« gab, einen großen Erfolg. Er starb schon 1779. Der Maler Friedrich Müller, in der Literaturgeschichte unter dem Namen »Maler Müller« bekannt, schrieb ein Faustfragment und ein Schauspiel »Golo und Genoveva«: fein kolorierte, halb realistische, halb lyrische Szenenreihen, geschmackvoller, aber auch blasser als die der anderen. Der schwächste, gemäßigteste und daher erfolgreichste der Gruppe war Leisewitz.

1773 erschien Bürgers »Lenore«, eine der stärksten deutschen Balladen. Diese Dichtungsgattung erreichte überhaupt damals eine hohe Blüte: sie kommt von der »Moritat« der Jahrmarktsbuden her und ist eben darum ein volkstümliches, farbiges und lebenskräftiges Genre, ein lyrisch-episches Pendant zum Drama der Geniezeit. Der erste Musiker, der die geheimnisvoll düsteren Farben der Ballade wirksam zu treffen wußte, war Johann Rudolf Zumsteeg. Schiller hat an Bürger im Jahr 1791 in der »Allgemeinen Literaturzeitung« eine etwas einseitige Kritik geübt, die großes Aufsehen machte, von Goethe sehr beifällig aufgenommen wurde und den Dichter der »Lenore« tief verstimmte, obgleich sie sich an mehreren Stellen sehr anerkennend, ja bewundernd äußert und ihm nur die letzte Kunstreife abspricht.

Sturm und Drang ist eine Strömung der deutschen Literatur in der Epoche der Aufklärung, die etwa von 1765 bis 1785 hauptsächlich von jungen, etwa 20- bis 30-jährigen Autoren getragen wurde. Diese Strömung wird auch als Geniezeit oder Genieperiode bezeichnet.

Die Bezeichnung Sturm und Drang kam in den 1820er Jahren auf. Sie geht auf die 1776 verfasste, 1777 veröffentlichte Komödie Sturm und Drang des deutschen Dichters Friedrich Maximilian Klinger zurück – und damit letztlich auf den aus Winterthur stammenden „Genieapostel“ Christoph Kaufmann (1753–1795). Er hatte Klinger gedrängt, sein Schauspiel so zu nennen, anstelle des ursprünglichen Titels Wirrwarr. Die Uraufführung fand in Leipzig am 1. April 1777 durch die Seylersche Schauspiel-Gesellschaft statt.

Das Persönlichkeitsideal dieser jungen Generation in der deutschen Literatur wendete sich gegen Autorität und Tradition. An Stelle einer erlernbaren Regelpoetik, die man in Dichterakademien lernen konnte, setzten die „jungen Wilden“ die Selbstständigkeit des Original-Genies, das sein Erleben und seine Erfahrungen in eine individuelle künstlerische Form brachte, die mit den Regeln der traditionellen Poetik sehr frei umging. Man bezweifelte die Maßgeblichkeit der ratio und begann die emotio ins Zentrum zu rücken.

Die exaltierte, ungebändigte und doch gefühls- und ausdrucksstarke Sprache des Sturm und Drang war voller Ausrufe, halber Sätze und forcierter Kraftausdrücke und neigte zum derbrealistisch Volkstümlichen. Man nahm kein Blatt mehr vor den Mund und brachte die Sprache des Volkes und der Jugend auf die Bühnen. Die Frontstellung der jungen Schriftsteller gegen eine aristokratische Hofkultur nach französischem Vorbild sowie ihre Sympathie für Begriffe wie Natur, Herz und Volk fielen bereits den Zeitgenossen auf. Eine eigenständige „Jugendkultur“ in der Literatur war entstanden.

Sokratische Denkwürdigkeiten

Inhaltsverzeichnis
Mit einer doppelten Zuschrift an Niemand und an Zween.
An das Publicum, oder Niemand, den Kundbaren.
An die Zween.
Einleitung.
Erster Abschnitt.
Zweyter Abschnitt.
Dritter Abschnitt.

Mit einer doppelten Zuschrift an Niemand und an Zween.

Inhaltsverzeichnis

O curas hominum! o quantum est in rebus inane!
Quis leget haec? – – – Min' tu istud ais? – –
Nemo hercule – – Nemo? –
Vel DVO vel NEMO – – –

Pers.
Amsterdam, 1759.

An das Publicum,
oder
Niemand, den Kundbaren.

Inhaltsverzeichnis

– οδ' ΟΥΤΙΣ, που 'στιν; – –
          Eurip. Κυκλοψ.

Du führst einen Namen, und brauchst keinen Beweis Deines Daseyns, Du findest Glauben, und thust keine Zeichen denselben zu verdienen, Du erhältst Ehre, und hast weder Begrif noch Gefühl davon. Wir wissen, daß es keinen Götzen in der Welt giebt. Ein Mensch bist Du auch nicht; doch must Du ein menschlich Bild seyn, das der Aberglaube vergöttert hat. Es fehlt Dir nicht an Augen und Ohren, die aber nicht sehen, nicht hören; und das künstliche Auge, das Du machst, das künstliche Ohr, das Du pflanzest, ist, gleich den Deinigen, blind und taub. Du must alles wissen, und lernst nichts; Du must alles richten , und verstehst nichts, lernst immerdar, und kannst nimmer zur Erkenntnis der Wahrheit kommen; Du dichtest, hast zu schaffen, bist über Feld, oder schläfst vielleicht, wenn Deine Priester laut ruffen, und Du ihnen und ihrem Spötter mit Feuer antworten solltest. Dir werden täglich Opfer gebracht, die andere auf Deine Rechnung verzehren, um aus Deinen starken Mahlzeiten Dein Leben wahrscheinlich zu machen. So eckel Du bist, nimmst Du doch mit allem für lieb, wenn man nur nicht leer vor Dir erscheint. Ich werfe mich wie der Philosoph zu den erhörenden Füssen eines Tyrannen. Meine Gabe besteht in nichts als Küchlein, von denen ein Gott, wie Du, einst barst. Überlaß sie daher einem Paar Deiner Anbeter, die ich durch diese Pillen von dem Dienst Deiner Eitelkeit zu reinigen wünsche.

Weil Du die Züge menschlicher Unwissenheit und Neugierde an Deinem Gesichte trägst; so will ich Dir beichten, wer die Zween sind, denen ich durch Deine Hände diesen frommen Betrug spielen will. Der erste arbeitet am Stein der Weisen, wie ein Menschenfreund, der ihn für ein Mittel ansieht, den Fleiß, die bürgerliche Tugenden und das Wohl des gemeinen Wesens zu befördern. Ich habe für ihn in der mystischen Sprache eines Sophisten geschrieben; weil Weisheit immer das verborgenste Geheimnis der Politick bleiben wird, wenn gleich die Alchymie zu ihren Zweck kommt, alle die Menschen reich zu machen, welche durch des Marqvis von Mirabeau fruchtbare Maximen bald! Frankreich bevölkern müssen. Nach dem heutigen Plan der Welt bleibt die Kunst Gold zu machen also mit Recht das höchste Project und höchste Gut unserer Staatsklugen.

Der andere möchte einen so allgemeinen Weltweisen und guten Münzwaradein abgeben, als Newton war. Kein Theil der Kritick ist sicherer, als die man für Gold und Silber erfunden hat. Daher kann die Verwirrung in dem Münzwesen Deutschlands so groß nicht seyn, als die in die Lehrbücher eingeschlichen, so unter uns gang und gebe sind. Es fehlt uns an richtigen Verhältnis-Tabellen, die uns bestimmen, wie viellöthig an Korn und Schrot ein Einfall seyn müsse, wenn er eine Wahrheit gelten soll u. s. w.

Ω Ζευ, τι δη χρυσον μεν ος κιβδηλος η,
Τεκμηρι' ανθρωποισιν ωπασας σαφη
Ανδρων δ' οτω χρη τον κακον διειδεναι
Ουδεις χαρακτηρ εμπεφυκε σωματι
             Euripides Medea.

Weil diese Küchlein nicht gekaut, sondern geschluckt werden müssen, gleich denjenigen, so die Cosmische Familie zu Florenz in ihr Wapen aufnahm; so sind sie nicht für den Geschmack gemacht. Was ihre Wirkungen anbetrift; so lernte bey einem ähnlichen Gefühl derselben Vespasian zuerst das Glück Deines Namens erkennen, und soll auf einem Stuhl, der nicht sein Thron war, ausgeruffen haben: VTI PVTO, DEVS FIO!

An die Zween.

Inhaltsverzeichnis

– – σμικρα μεν ταδ', αλλ' ομως
α 'χω – – –
        Sophocles in Electra.

Das Publicum in Griechenland laß die Denkwürdigkeiten des Aristoteles über die Naturgeschichte der Thiere, und Alexander verstand sie. Wo ein gemeiner Leser nichts als Schimmel sehen möchte, wird der Affect der Freundschaft Ihnen, Meine Herren, in diesen Blättern vielleicht ein mikroskopisch Wäldchen entdecken.

Ich habe über den Sokrates auf eine sokratische Art geschrieben. Die Analogie war die Seele seiner Schlüsse, und er gab ihnen die Ironie zu ihrem Leibe. Ungewißheit und Zuversicht mögen mir so eigenthümlich seyn als sie wollen; so müssen sie hier doch als ästhetische Nachahmungen betrachtet werden.

In den Werken des Xenophons herrscht eine abergläubische, und in Platons eine schwärmerische Andacht; eine Ader ähnlicher Empfindungen läuft daher durch alle Theile dieser mimischen Arbeit. Es würde mir am leichtesten gewesen seyn denen Heyden in ihrer Freymüthigkeit hierin näher zu kommen; ich habe mich aber bequemen müssen meiner Religion den Schleyer zu borgen, den ein patriotischer St. John und platonischer Shaftesbury für ihren Unglauben und Misglauben gewebt haben.

Sokrates war, meine Herren, kein gemeiner Kunstrichter. Er unterschied in den Schriften des Heraklitus, dasjenige, was er nicht verstand, von dem, was er darin verstand, und that eine sehr billige und bescheidene Vermuthung von dem Verständlichen auf das Unverständliche. Bey dieser Gelegenheit redete Sokrates von Lesern, welche schwimmen könnten. Ein Zusammenfluß von Ideen und Empfindungen in jener lebenden Elegie vom Philosophen machte desselben Sätze vielleicht zu einer Menge kleiner Inseln, zu deren Gemeinschaft Brücken und Fähren der Methode fehlten.

Da Sie beyde meine Freunde sind; so wird mir Ihr partheyisch Lob und Ihr partheyischer Tadel gleich angenehm seyn. Ich bin etc.

Einleitung.

Inhaltsverzeichnis

Der Geschichte der Philosophie ist es wie der Bildsäule des französischen Staatsministers ergangen. Ein grosser Künstler zeigte seinen Meissel daran; ein Monarch, der Name eines ganzen Jahrhunderts, gab die Unkosten zum Denkmal und bewunderte das Geschöpf seines Unterthanen; der Scythe aber, der auf sein Handwerk reisete, und wie Noah oder der Galiläer des Projektmachers, Julians, ein Zimmermann wurde, um der Gott seines Volks zu seyn, dieser Scythe begieng eine Schwachheit, deren Andenken ihn allein verewigen könnte. Er lief auf den Marmor zu, both grosmüthig dem stummen Stein die Hälfte seines weiten Reichs an, wenn er ihn lehren wollte, die andere Hälfte zu regieren. Sollte unsere Historie Mythologie werden; so wird diese Umarmung eines leblosen Lehrers, der ohne Eigennutz Wunder der Erfüllung gethan, in ein Mährchen verwandelt seyn, das den Reliquien von Pygmalions Leben ähnlich sehen wird. Ein Schöpfer seines Volkes in der Sprache unsers Witzes wird nach einer undenklichen Zeit eben so poetisch verstanden werden müssen, als ein Bildhauer seines Weibes.

Es giebt in dem Tempel der Gelehrsamkeit würklich einen Götzen, der unter seinem Bilde die Aufschrift der philosophischen Geschichte trägt; und dem es an Hohenpriestern und Leviten nicht gefehlt. Stanley und Brucker haben uns Kolossen geliefert, die eben so sonderbar und unvollendet sind als jenes Bild der Schönheit, das ein Grieche aus den Reitzen aller Schönen, deren Eindruck ihm Absicht und Zufall verschaffen konnte, zusammensetzte. Meisterstücke, die von gelehrten Kennern der Künste immer sehr möchten bewundert und gesucht; von Klugen hingegen als abentheuerliche Gewächse und Chimären in der Stille belacht oder auch für die lange Weile und in theatralischen Zeichnungen nachgeahmt werden.

Weil Stanley ein Britte und Brucker ein Schwabe ist: so haben sie beyde die lange Weile des Publicums zu ihrem Ruhm vertrieben; wiewohl das Publicum auch für die Gefälligkeit, womit es die ungleichen Fehler dieser national Schriftsteller übersehen, gelobt zu werden verdient.

Deslandes, ein Autor von encyclischen Witz hat eine chinesische Kaminpuppe für das Kabinet des gallicanischen Geschmacks hervorgebracht. Der Schöpfer der schönen Natur scheint die grösten Köpfe Frankreichs, wie Jupiter ehmals die Cyclopen zur Schmiede der Strahlen und Schwärmer verdammt zu haben, die er zum tauben Wetterleuchten und ätherischen Feuerwerken nöthig hat.

Aus denen Urtheilen, die ich über alle diese ehrliche und feine Versuche von einem kritischen System der philosophischen Geschichte gefällt, läßt sich mehr als wahrscheinlich schlüßen, daß ich keines davon gelesen; sondern blos den Schwung und Ton des gelehrten Haufens nachzuahmen, und denenjenigen, zu deren Besten ich schreibe, durch ihre Nachahmung zu schmäucheln suche. Unterdessen glaube ich zuverläßiger, daß unsere Philosophie eine andere Gestalt nothwendig haben müste, wenn man die Schicksale dieses Namens oder Wortes: Philosophie, nach den Schattierungen der Zeiten, Köpfe, Geschlechter und Völker, nicht wie ein Gelehrter oder Weltweiser selbst, sondern als ein müßiger Zuschauer ihrer olympischen Spiele studiert hätte oder zu studieren wüste ως γραφευς τ' αποσταθεις.

Ein Phrygier, wie Äsop, der sich nach den Gesetzen seines Klima, wie man jetzt redt, Zeit nehmen muste, klug zu werden, und ein so natürlicher Tropf, als ein La Fontaine, der sich besser in die Denkungsart der Thiere als der Menschen zu schicken und zu verwandeln wuste, würden uns an statt gemalter Philosophen oder ihrer zierlich verstümmelter Brustbilder, ganz andere Geschöpfe zeigen, und ihre Sitten und Sprüche, die Legenden ihrer Lehren und Thaten mit Farben nachahmen, die dem Leben näher kämen.

Doch sind vielleicht die philosophischen Chroniken und Bildergallerien weniger zu tadeln, als der schlechte Gebrauch, den ihre Liebhaber davon machen. Ein wenig Schwärmerey und Aberglauben würde hier nicht nur Nachsicht verdienen, sondern etwas von diesem Sauerteige gehört dazu, um die Seele zu einem philosophischen Heroismus in Gährung zu setzen. Ein durstiger Ehrgeitz nach Wahrheit und Tugend, und eine Eroberungswuth aller Lügen und Laster, die nämlich nicht dafür erkannt werden, noch seyn wollen; hierinn besteht der Heldengeist eines Weltweisen.

Wenn Cäsar Trähnen vergießt bey der Säule des macedonischen Jünglings, und dieser bey dem Grabe Achills mit Eyfersucht an einen Herold des Ruhms denkt, wie der blinde Minnesänger war: so biegt ein Erasmus im Spott sein Knie für den heiligen Sokrates, und die hellenistische Muse unsers von Bar muß den komischen Schatten eines Thomas Diafoirus beunruhigen, um uns die unterirrdische Wahrheit zu predigen; daß es göttliche Menschen unter den Heyden gab, daß wir die Wolke dieser Zeugen nicht verachten sollen, daß sie der Himmel zu seinen Boten und Dollmetschern salbte, und zu eben den Beruf unter ihrem Geschlechte einweihte, den die Propheten unter den Juden hatten.

Wie die Natur uns gegeben, unsere Augen zu öfnen; so die Geschichte, unsere Ohren. Einen Körper und eine Begebenheit bis auf ihre ersten Elemente zergliedern, heißt, Gottes unsichtbares Wesen, seine ewige Kraft und Gottheit ertappen wollen. Wer Mose und den Propheten nicht glaubt, wird daher immer ein Dichter, wieder sein Wissen und Wollen, wie Buffon über die Geschichte der Schöpfung und Montesquieu über die Geschichte des Römischen Reichs.

Wenn kein junger Sperling ohne unsern Gott auf die Erde fällt; so ist kein Denkmal alter Zeiten für uns verloren gegangen, das wir zu beklagen hätten. Sollte seine Vorsorge sich nicht über Schriften erstrecken, da Er Selbst ein Schriftsteller geworden, und der Geist Gottes so genau gewesen den Werth der ersten verbotenen Bücher aufzuzeichnen, die ein frommer Eyfer unserer Religion dem Feuer geopfert? Wir bewundern es an Pompejus als eine kluge und edle Handlung, daß er die Schriften seines Feindes Sertorius aus dem Wege räumte; warum nicht an unserm HErrn, daß er die Schriften eines Celsus untergehen lassen? Ich meyne also nicht ohne Grund, daß Gott für alle Bücher, woran uns was gelegen, wenigstens so viel Aufmerksamkeit getragen als Cäsar für die beschriebene Rolle, mit der er in die See sprang, oder Paulus für sein Pergamen zu Troada.

Hatte der Künstler, welcher mit einer Linse durch ein Nadelöhr traf, nicht an einen Scheffel Linsen genung zur Übung seiner erworbenen Geschicklichkeit? Diese Frage möchte man an alle Gelehrte thun, welche die Werke der Alten nicht klüger, als jener die Linsen, zu brauchen wißen. Wenn wir mehr hätten, als uns die Zeit hat schenken wollen; so würden wir selbst genöthiget werden unsere Ladungen über Bord zu werfen, unsere Bibliothecken in Brand zu stecken, oder es wie die Holländer mit dem Gewürz zu machen.

Mich wundert daß noch keiner soviel über die Historie gewagt, als Bacon für die Physik gethan. Bollingbroke giebt seinem Schüler den Rath, die ältere Geschichte überhaupt wie die heydnische Götterlehre und als ein poetisch Wörterbuch zu studieren. Doch vielleicht ist die ganze Historie mehr Mythologie, als es dieser Philosoph meynt, und gleich der Natur ein versiegelt Buch, ein verdecktes Zeugnis, ein Räthsel, das sich nicht auflösen läßt, ohne mit einem andern Kalbe, als unserer Vernunft zu pflügen.

Meine Absicht ist es nicht, ein Historiograph des Sokrates zu seyn; ich schreibe blos seine Denkwürdigkeiten wie Düclos dergleichen zur Geschichte des XVIIIten Jahrhunderts für die lange Weile des schönen Publicums herausgegeben.

Es liesse sich freylich ein so sinnreicher Versuch über das Leben Sokrates schreiben als Blackwell über den Homer geliefert. Sollte der Vater der Weltweisheit nicht dieser Ehre näher gewesen seyn als der Vater der Dichtkunst? Was Cooper herausgegeben ist nichts als eine Schulübung, die den Eckel so wohl einer Lob- als Streit-Schrift mit sich führt.

Sokrates besuchte öfters die Werkstätte eines Gerbers, der sein Freund war, und wie der Wirth des Apostel Petrus zu Joppe Simon hieß. Der Handwerker hatte den ersten Einfall die Gespräche des Sokrates aufzuschreiben. Dieser erkannte sich vielleicht in denselben besser als in Platons, bey deren Lesung er gestutzt und gefragt haben soll: Was hat dieser junge Mensch im Sinn aus mir zu machen? – – Wenn ich nur so gut als Simon der Gerber meinen Held verstehe!

Erster Abschnitt.

Inhaltsverzeichnis

Sokrates hatte nicht umsonst einen Bildhauer und eine Wehmutter zu Eltern gehabt. Sein Unterricht ist jederzeit mit den Hebammenkünsten verglichen worden. Man vergnügt sich noch diesen Einfall zu wiederholen, ohne daß man selbigen als das Saamkorn einer fruchtbaren Wahrheit hätte aufgehen lassen. Dieser Ausdruck ist nicht blos tropisch, sondern zugleich ein Knäuel vortreflicher Begriffe, die jeder Lehrer zum Leitfaden in der Erziehung des Verstandes nöthig hat. Wie der Mensch nach der Gleichheit Gottes erschaffen worden, so scheint der Leib eine Figur oder Bild der Seelen zu seyn. Wenn uns unser Gebein verholen ist, weil wir im Verborgenen gemacht, weil wir gebildet werden unten in der Erde; wie viel mehr werden unsere Begriffe im Verborgenen gemacht, und können als Gliedmassen unsers Verstandes betrachtet werden. Daß ich sie Gliedmaassen des Verstandes nenne, hindert nicht, jeden Begrif als eine besondere und ganze Geburt selbst anzusehen. Sokrates war also bescheiden genung seine Schulweisheit mit der Kunst eines alten Weibes zu vergleichen, welches blos der Arbeit der Mutter und ihrer zeitigen Frucht zu Hülfe kommt, und beyden Handreichung thut.

Die Kraft der Trägheit und die ihr entgegengesetzt scheinende Kraft des Stolzes, die man durch so viel Erscheinungen und Beobachtungen veranlasset worden in unserm Willen anzunehmen, bringen die Unwissenheit, und die daraus entspringende Irrthümer und Vorurtheile nebst allen ihren schwesterlichen Leidenschaften hervor. Von dieser Seite ahmte also Sokrates seinen Vater nach, einen Bildhauer, der, indem er wegnimmt und hauet, was am Holze nicht seyn soll, eben dadurch die Form des Bildes fördert. Daher hatten die grossen Männer seiner Zeit zureichenden Grund über ihn zu schreyen, daß er alle Eichen ihrer Wälder fälle, alle ihre Klötzer verderbe, und aus ihrem Holze nichts als Späne zu machen verstünde.

Sokrates wurde vermuthlich ein Bildhauer, weil sein Vater einer war. Daß er in dieser Kunst nicht mittelmässig geblieben, hat man daraus geschlossen, weil zu Athen seine drey Bildsäulen der Gratien aufgehoben worden. Man war ehmals gewohnt gewesen diese Göttinnen zu kleiden; den altväterischen Gebrauch hatte Sokrates nachgeahmt, und seine Gratien wiedersprachen der Costume des damaligen Göttersystems und der sich darauf gründenden schönen Künste. Wie Sokrates auf diese Neuerung gekommen; ob es eine Eingebung seines Genius, oder eine Eitelkeit seine Arbeiten zu unterscheiden, oder die Einfalt einer natürlichen Schaamhaftigkeit gewesen, die einem andächtigen Athenienser wunderlich vorkommen muste; weiß ich nicht. Es ist aber nur gar zu wahrscheinlich, daß diese neugekleideten Gratien so wenig ohne Anfechtung werden geblieben seyn als die neugekleideten Gratien unserer heutigen Dichtkunst.

Hier ist der Ort die Übersichtigkeit einiger gegen das menschliche Geschlecht und dessen Aufkommen gar zu witzig gesinnter Patrioten zu ahnden, die sich die Verdienste des Bildhauers im Sokrates so groß vorstellen, daß sie den Weisen darüber verkennen, die den Bildhauer vergöttern um desto füglicher über des Zimmermanns Sohn spotten zu können. Wenn sie in Ernst an Sokrates glauben; so sind seine Sprüche Zeugnisse wieder sie. Diese neuen Athenienser sind Nachkommen seiner Ankläger und Giftmischer, abgeschmacktere Verläumder und grausamere Mörder dann ihre Väter.

Bey der Kunst, in welcher Sokrates erzogen worden, war sein Auge an der Schönheit und ihren Verhältnissen so gewohnt und geübt, daß sein Geschmack an wohlgebildeten Jünglingen uns nicht befremden darf. Wenn man die Zeiten des Heydenthums kennt, in denen er lebte; so ist es eine thörichte Mühe ihn von einem Laster weiß zu brennen, das unsere Christenheit an Sokrates übersehen sollte, wie die artige Welt an einem Toußaint die kleinen Romane seiner Leidenschaften als Schönfleckchen seiner Sitten. Sokrates scheint ein aufrichtiger Mann gewesen zu seyn, dessen Handlungen von dem Grund seines Herzens, und nicht von dein Eindruck, den andere davon haben, bestimmt werden. Er leugnete nicht, daß seine verborgene Neigungen mit den Entdeckungen des Gesichtsdeuters einträfen; er gestand daß dessen Brille recht gesehen hätte. Ein Mensch, der überzeugt ist, daß er nichts weiß, kann, ohne sich selbst Lügen zu strafen, kein Kenner seines guten Herzens seyn. Daß er das ihm beschuldigte Laster gehaßt, wissen wir aus seinem Eyfer gegen dasselbe, und in seiner Geschichte sind Merkmale seiner Unschuld, die ihn bey nahe loßsprechen. Man kann keine lebhafte Freundschaft ohne Sinnlichkeit fühlen, und eine metaphysische Liebe sündigt vielleicht gröber am Nervensaft, als eine thierische an Fleisch und Blut. Sokrates hat also ohne Zweifel für seine Lust an einer Harmonie der äusserlichen und innerlichen Schönheit, in sich selbst leiden und streiten müssen. Überdem wurden Schönheit, Stärke des Leibes und Geistes nebst dem Reichthum an Kindern und Gütern in dem jugendlichen Alter der Welt für Sinnbilder göttlicher Eigenschaften und Fußstapfen göttlicher Gegenwart erklärt. Wir denken jetzt zu abstrakt und männlich die menschliche Natur nach dergleichen Zufälligkeiten zu beurtheilen. Selbst die Religion lehrt uns einen Gott, der kein Ansehen der Person hat; ohngeachtet der Misverstand des Gesetzes die Juden an gleiche Vorurtheile hierinn mit den Heyden gebunden hielt. Ihre gesunde Vernunft, woran es den Juden und Griechen so wenig fehlte als unsern Christen und Muselmännern, stieß sich daran, daß der Schönste unter den Menschenkindern ihnen zum Erlöser versprochen war, und daß ein Mann der Schmerzen, voller Wunden und Striemen, der Held ihrer Erwartung seyn sollte. Die Heyden waren durch die klugen Fabeln ihrer Dichter an dergleichen Wiedersprüchen gewohnt; bis ihre Sophisten, wie unsere, solche als einen Vatermord verdammten, den man an den ersten Grundsätzen der menschlichen Erkenntnis begeht.

Von solchem Wiederspruch finden wir ein Beyspiel an dem Delphischen Orakel, das denjenigen für den weisesten erkannte, der gleichwol von sich gestand, daß er nichts wisse. Strafte Sokrates das Orakel Lügen, oder das Orakel ihn? Die stärksten Geister unserer Zeit haben für diesmal die Priesterinn für eine Wahrsagerinn gehalten, und sich innerlich über ihre Ähnlichkeit mit dem Vater Sokrates gefreut, der es für gleich anständig hielt einen Idioten zu spielen oder Göttern zu glauben. Ist übrigens der Verdacht gegründet, daß sich Apoll nach den Menschen richte, weil diese zu dumm sind sich nach ihn zu richten: so handelt er als ein Gott, dem es leichter fällt zu philippisiren oder zu sokratisiren als uns Apollos zu seyn.

Die Überlieferung eines Götterspruches will aber so wenig als ein Komet sagen für einen Philosophen von heutigem Geschmack. Wir müssen nach seiner Meynung in dem Buche, welches das thörichste Volk auf uns gebracht, und in den Überbleibseln der Griechen und Römer, so bald es auf Orakel, Erscheinungen, Träume und dergleichen Meteoren ankommt, diese Mährchen unserer Kinder und Ammen (denn Kinder und Ammen sind alle verfloßne Jahrhunderte gegen unser lebendes in der Kunst zu erfahren und zu denken) absondern, oder selbige als die Schnörkel unserer Alpendichter bewundern. Gesetzt, dieses würde alles so reichlich eingeräumt; als man unverschämt seyn könte es zu fordern: so wird Bayle, einer ihrer Propheten, zu dessen Füssen diese Kreter mit so viel Anstand zu gähnen gewohnt sind, weil ihr Gamaliel gähnt, diesen Zweiflern antworten; daß, wenn alle diese Begebenheiten mit dem Einfluß der Gestirne in gleichem Grade der Falschheit stehen, wenn alles gleichartig erlogen und erdacht ist, dennoch der Wahn, die Einbildung und der Glaube daran zu ihrer Zeit und an ihrem Ort würklich grössere Wunder veranlaßt habe und veranlassen könne, als man den Kometen, Orakelsprüchen und Träumen selbst jemals zugeschrieben hat noch zuschreiben wird. In diesem Verstande sollten aber die Zweifler mehr Recht als unsere Empyriker behalten, weil es menschlicher und Gott anständiger aussieht, uns durch unsere eigene Grillen und Hirngespinste, als durch eine so entfernte und kostbare Maschinerey wie das Firmament unseren blöden Augen vorkommt, zu seinen Absichten zu regieren.

Zweyter Abschnitt.

Inhaltsverzeichnis

Ein Mann, der Geld zu verlieren hatte, und vermuthlich auch Geld zu verlieren verstand, den die Geschichte Kriton nennt, soll die Unkosten getragen haben unsern Bildhauer in einen Sophisten zu verwandeln. Wer der etymologischen Mine seines Namens traut, wird diesen Anschlag einem weitsehenden Urtheil, ein leichtgläubiger Schüler der täglichen Erfahrung hingegen einem blinden Geschmack an Sokrates zu schreiben.

Die Reyhe der Lehrmeister und Lehrmeisterinnen, die man dem Sokrates giebt, und die Kriton ohne Zweifel besolden muste, ist ansehnlich genung; und doch blieb Sokrates unwissend. Das freche Geständniß darin war gewissermassen eine Beleidigung, die man aber dem aufrichtigen Klienten und Kandidaten scheint vergeben zu haben, weil sie auf ihn selbst am schwersten zurück fiel. Das Loos der Unwissenheit und die Blöße derselben macht eben so unversöhnliche Feinde als die Überlegenheit an Verdiensten und die Schau davon. War Sokrates wirklich unwissend, so muste ihm auch die Schande unwissend seyn, die vernünftige Leute sich ergrübeln, unwissend zu scheinen.

Ein Mensch, der nichts weiß und der nichts hat, sind Zwillinge eines Schicksals. Der Fürwitzige und Argwöhnische zeichnen und foltern den ersten als einen Betrüger; wie der Gläubiger und Räuber den letzten, unterdessen der Bauerstolz des reichen Polyhistors beyde verachtet. Eben daher bleibt die philosophische Göttin des Glücks eine bewährte Freundinn des Dummen, und durch ihre Vorsorge entgehen die Einfälle des Armen den Motten länger als blanke Kleider und rauschende Schlafröcke, als die Hypothesen und Formeln der Kalender-System- und Projektmacher der Stern- und Staatsseher.

Sokrates scheint von seiner Unwissenheit so viel geredt zu haben als ein Hypochondriaker von seiner eingebildeten Krankheit. Wie man dies Übel selbst kennen muß um einen Milzsüchtigen zu verstehen und aus ihm klug zu werden; so gehört vielleicht eine Sympathie der Unwissenheit dazu von der sokratischen einen Begrif zu haben.

Erkenne dich selbst! sagte die Thür jenes berühmten Tempels allen denen, die hereingiengen dem Gott der Weisheit zu opfern und ihn über ihre kleinen Händel um Rath zu fragen. Alle lasen, bewunderten und wusten auswendig diesen Spruch. Man trug ihn wie der Stein, in den er gegraben war, vor der Stirn, ohne den Sinn davon zu begreifen. Der Gott lachte ohne Zweifel unter seinen güldenen Bart, als ihm die küzliche Aufgabe zu Sokrates Zeiten vorgelegt wurde: Wer der weiseste unter allen damals lebenden Menschen wäre? Sophokles und Euripides würden nicht so grosse Muster für die Schaubühne, ohne Zergliederungskunst des menschlichen Herzens, geworden seyn. Sokrates übertraf sie aber beyde an Weisheit, weil er in der Selbsterkenntnis weiter als jene gekommen war, und wuste, daß er nichts wuste. Apoll antwortete jedem schon vor der Schwelle; wer weise wäre und wie man es werden könne? jetzt war die Frage übrig: Wer Sich Selbst erkenne? und woran man sich in dieser Prüfung zu halten hätte? Geh, Chärephon, lern es von Deinem Freunde. Kein Sterblicher kann die Achtsamkeit und Entäusserung eines Lehrmeisters sittsamer treiben, als womit Apoll seine Anbeter zum Verstande seiner Geheimniße gängelte. Alle diese Winke und Bruchstücke der ältesten Geschichte und Tradition bestätigen die Beobachtung, welche Paulus und Barnabas den Lykaoniern vorhielten, daß Gott auch unter ihnen sich selbst nicht unbezeuget gelassen, auch ihnen vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben. Mit wie viel Wahrheit singt also nicht unsere Kirche:

Wohl uns des feinen HErren!

Ein sorgfältiger Ausleger muß die Naturforscher nachahmen. Wie diese einen Körper in allerhand willkührliche Verbindungen mit andern Körpern versetzen und künstliche Erfahrungen erfinden, seine Eigenschaften auszuholen; so macht es jener mit seinem Texte. Ich habe des Sokrates Sprüchwort mit der Delphischen Überschrift zusammen gehalten; jetzt will ich einige andere Versuche thun, die Energie desselben sinnlicher zu machen.

Die Wörter haben ihren Werth, wie die Zahlen von der Stelle, wo sie stehen und ihre Begriffe sind in ihren Bestimmungen und Verhältnissen, gleich den Münzen nach Ort und Zeit wandelbar. Wenn die Schlange der Eva beweiset: Ihr werdet seyn wie Gott, und Jehova weissagt: Siehe! Adam ist worden als Unser einer; wenn Salomo ausruft: Alles ist eitel! und ein alter Geck es ihm nachpfeift: so sieht man, daß einerley Wahrheiten mit einem sehr entgegen gesetzten Geist ausgesprochen werden können.

Überdem leidet jeder Satz, wenn er auch aus einem Munde und Herzen quillt, unendlich viel Nebenbegriffe, welche ihm die geben, so ihn annehmen, auf eben die Art als die Lichtstrahlen diese oder jene Farbe werden nach der Fläche, von der sie in unser Auge zurück fallen. Wenn Sokrates dem Kriton durch sein: Nichts weiß ich! Rechenschaft ablegte, mit eben diesem Worte die gelehrten und neugierigen Athenienser abwieß, und seinen schönen Jünglingen die Verleugnung ihrer Eitelkeit zu erleichtern, und ihr Vertrauen durch seine Gleichheit mit ihnen zu gewinnen suchte: so würden die Umschreibungen, die man nach diesem dreifachen Gesichtspunkte von seinem Wahlspruche machen müste, so ungleich einander aussehen, als bisweilen drey Brüder, die Söhne eines leiblichen Vaters sind.

Wir wollen annehmen, daß wir einem Unbekannten ein Kartenspiel anböthen. Wenn dieser uns antwortete: Ich spiele nicht; so würden wir dies entweder auslegen müssen, daß er das Spiel nicht verstünde, oder eine Abneigung dagegen hätte, die in ökonomischen, sittlichen oder andern Gründen liegen mag. Gesetzt aber ein ehrlicher Mann, von dem man wüste, daß er alle mögliche Stärke im Spiel besässe und in den Regeln so wohl als verbotenen Künsten desselben bewandert wäre, der ein Spiel aber niemals anders als auf den Fuß eines unschuldigen Zeitvertreibes lieben und treiben könnte, würde in einer Gesellschaft von feinen Betrügern, die für gute Spieler gelten, und denen er von beyden Seiten gewachsen wäre, zu einer Parthey mit ihnen aufgefordert. Wenn dieser sagte: Ich spiele nicht, so würden wir mit ihm den Leuten ins Gesicht sehen müssen, mit denen er redet, und seine Worte also ergänzen können: » Ich spiele nicht, nämlich, mit solchen als ihr seyd, welche die Gesetze des Spiels brechen und das Glück desselben stehlen. Wenn ihr ein Spiel anbiethet; so ist unser gegenseitiger Vergleich den Eigensinn des Zufalls für unsern Meister zu erkennen, und ihr nennt die Wissenschaft eurer geschwinden Finger Zufall, und ich muß ihn dafür annehmen, wenn ich will, oder die Gefahr wagen euch zu beleidigen, oder die Schande wählen euch nachzuahmen. Hättet ihr mir den Antrag gethan mit einander zu versuchen, wer der beste Taschenspieler von uns in Karten wäre; so hätte ich anders antworten, und vielleicht mitspielen wollen, um euch zu zeigen, daß ihr so schlecht gelernt habt Karten machen, als ihr versteht die euch gegeben werden nach der Kunst zu werfen.« In diese rauhe Töne läßt sich die Meynung des Sokrates auflösen, wenn er den Sophisten, den Gelehrten seiner Zeit, sagte: Ich weiß nichts. Daher kam es, daß dies Wort ein Dorn in ihren Augen und eine Geissel auf ihren Rücken war. Alle Einfälle des Sokrates, die nichts als Auswürfe und Absonderungen seiner Unwissenheit waren, schienen ihnen so fürchterlich als die Haare an dem Haupte Medusens, dem Nabel der Egide.

Die Unwissenheit des Sokrates war Empfindung. Zwischen Empfindung aber und einen Lehrsatz ist ein grösserer Unterscheid als zwischen einem lebenden Thier und anatomischen Gerippe desselben. Die alten und neuen Skeptiker mögen sich noch so sehr in die Löwenhaut der sokratischen Unwissenheit einwickeln; so verrathen sie sich durch ihre Stimme und Ohren. Wissen sie nichts; was braucht die Welt einen gelehrten Beweis davon? Ihr Heucheltrug ist lächerlich und unverschämt. Wer aber so viel Scharfsinn und Beredsamkeit nöthig hat sich selbst von seiner Unwissenheit zu überführen, muß in seinem Herzen einen mächtigen Wiederwillen gegen die Wahrheit derselben hegen.

Unser eigen Daseyn und die Existentz aller Dinge ausser uns muß geglaubt und kann auf keine andere Art ausgemacht werden. Was ist gewisser als des Menschen Ende, und von welcher Wahrheit gibt es eine allgemeinere und bewährtere Erkenntnis? Niemand ist gleichwol so klug solche zu glauben, als der, wie Moses zuverstehen giebt, von Gott selbst gelehrt wird zu bedenken, daß er sterben müsse. Was man glaubt, hat daher nicht nöthig bewiesen zu werden, und ein Satz kann noch so unumstößlich bewiesen seyn, ohne deswegen geglaubt zu werden.

Es giebt Beweise von Wahrheiten, die so wenig taugen als die Anwendung, die man von den Wahrheiten selbst machen kann; ja man kann den Beweiß eines Satzes glauben ohne dem Satz selbst Beyfall zu geben. Die Gründe eines Hume mögen noch so triftig seyn, und ihre Wiederlegungen immerhin lauter Lehnsätze und Zweifel: so gewinnt und verliert der Glaube gleich viel bey dem geschicktesten Rabulisten und ehrlichsten Sachwalter. Der Glaube ist kein Werk der Vernunft und kann daher auch keinem Angrif derselben unterliegen; weil Glauben so wenig durch Gründe geschieht als Schmecken und Sehen.

Die Beziehung und Übereinstimmung der Begriffe ist eben dasselbe in einer Demonstration, was Verhältnis und Symmetrie der Zahlen und Linien, Schallwürbel und Farben in der musikalischen Composition und Malerey ist. Der Philosoph ist dem Gesetz der Nachahmung so gut unterworfen als der Poet. Für diesen ist seine Muse und ihr Hieroglyphisches Schattenspiel so wahr als die Vernunft und das Lehrgebäude derselben für jenen. Das Schicksal setze den grösten Weltweisen und Dichter in Umstände, wo sie sich beyde selbst fühlen; so verleugnet der eine seine Vernunft und entdeckt uns, daß er keine beste Welt glaubt, so gut er sie auch beweisen kann, und der andere sieht sich seiner Muse und Schutzengel beraubt, bey dem Tode seiner Meta. Die Einbildungskraft, wäre sie ein Sonnenpferd und hätte Flügel der Morgenröthe, kann also keine Schöpferinn des Glaubens seyn.

Ich weiß für des Sokrates Zeugnis von seiner Unwissenheit kein ehrwürdiger Siegel und zugleich keinen bessern Schlüssel als den Orakelspruch des grossen Lehrers der Heyden:

Ει δε τις δοκει ειδεναι τι ουδεπω ουδεν εγνωκε καθως δει γνωναι Ει δε τις αγαπα τον ΘΕΟΝ ουτος εγνωται υπ αυτον.

.–